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Auf der winzigen Insel Holm vor Göteborg wird ein Unbekannter ermordet aufgefunden. Das allein wäre schon ungewöhnlich genug, doch zum Entsetzen der Inselbewohner wird die Leiche im Gestühl der Kirche entdeckt; scheinbar wurde der Mann mit einem wuchtigen gläsernen Kreuz erschlagen. Doch in diesem Fall ist nichts wie es anfangs scheint, nicht einmal das Opfer selbst: es versuchte den Anschein zu erwecken, Rollstuhlfahrer zu sein, hatte aber Muskeln wie ein Bodyguard, die Haarfarbe war auch nicht echt und selbst die Identität nur ausgeliehen. Warum sollte jemand so tun, als sei er an einen Rollstuhl gefesselt? Wen hat der Fremde an diesem abgelegenen Ort getroffen? Sven Lundquists Ermittlungen reichen in die Vergangenheit zurück, in eine Zeit, an die sich auf Holm niemand gerne erinnern mag. Als plötzlich weitere Morde geschehen, gerät Lundquist in einen Strudel aus Verschleierung, Gewalt und Manipulation.
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Seitenzahl: 422
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Steinhauer
Mord im Hause des Herrn
Schweden-Krimi mit Rezepten
Franziska Steinhauer
Mord im Hause des Herrn
Der zweite Fall für Sven Lundquist
Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
© Oktober Verlag, Münster 2009
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung
des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
www.oktoberverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz: MV-Verlag
Umschlag: Linna Grage
unter Verwendung eines Fotos von stacey_newman/istockphoto.com
Rezepte: Franziska Steinhauer und Roland Tauber
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN: 978-3-938568-97-2
Der Weg zur alten Kirche hinauf war beschwerlich. Doch von hier oben mochte sich, wenn man unbedingt an solche Dinge glauben wollte, für die Toten eine berückende Aussicht auf das Tal eröffnen.
Hanne Steenkluth hielt das allerdings alles für Humbug.
Am Ende der Straße konnte sie schon die imposante Mauer erkennen, die den Kirkogaard umgab und deren Aufgabe es sein sollte, die Lebenden vor den Heimsuchungen durch die Toten zu schützen. Da mochte wohl so manchem daran gelegen sein, diesen Wall so hoch und unüberwindlich wie nur möglich zu bauen, dachte Hanne boshaft und zerrte an ihrem bockig tänzelnden Trolley.
Das ist das Alter, dachte sie ungehalten, es schwächt den Körper und zwingt den nach wie vor beweglichen Geist in immer engere Bahnen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Wer weiß, wie lange ich noch jeden Tag in die Kirche gehen kann, sorgte sie sich.
Wer sollte sich denn um die Kirche und die Gräber kümmern, wenn sie nicht mehr war! Die Jugend hatte doch an all dem heute kein Interesse mehr! Tot und vergessen galt heute. Gegen diese moderne Lebensauffassung hatte Pfarrer Landulf grade erst am letzten Sonntag wieder vehement gewettert. Ganz besonders die jungen Leute auf Holm hatten ihre Wurzeln gründlich vergessen. Sie zog es nach Göteborg zu den Abenteuern der Großstadt.
Bald war Weihnachten und sie würde wie in jedem Jahr zu ihrem Sohn und ihrer verhassten Schwiegertochter nach Göteborg fahren, um das Fest mit deren verzogenen Kindern zu verbringen. Auch wenn ihre Enkel immer nur auf ihr Geld aus waren, so würden die paar Tage doch eine willkommene Abwechslung bringen. In ihrem Leben passierten schon lange keine aufregenden Dinge mehr, und ohne das Fernsehen wäre es vor Langeweile wahrscheinlich gar nicht auszuhalten.
Schon wieder Weihnachten.
Wenn man älter wird, vergeht die Zeit wie im Flug, dachte sie nachsichtig lächelnd. Als sie noch ein Kind war, schien es Ewigkeiten zu dauern, bis man wieder Geburtstag hatte oder es endlich wieder Weihnachten war. Heute verging ein Jahr so schnell, dass sie manchmal gar nicht mehr genau sagen konnte, wie alt sie geworden war.
Sie seufzte, als sie die Friedhofsmauer erreicht hatte. Im Sommer hatte die Gemeinde den Hauptweg zum Kirchenportal mit kleinen, weißen Kieselsteinen auffüllen lassen. Seither versanken die Kirchenbesucher bei jedem Schritt fast bis zum Knöchel in diesem Kiessumpf, der Hanne jeden Morgen zwang, ihren Trolley mit blockierten Rädern durch die knirschenden Steine zu zerren.
Sie drehte sich um und betrachtete spöttisch die Spuren, die ihr Einkaufsroller gezogen hatte. Wahrscheinlich war das mit den Kieselsteinen nur ein Trick, um wenigstens den Arbeitsplatz des Gärtners zu sichern, dachte sie und verlor sich in allerlei Überlegungen über die letzte Predigt von Pfarrer Landulf, in der er von der Allgegenwart von Sünde und Verführung sprach, so dass sie das graue Auto mit dem fremden Kennzeichen gar nicht bemerkte, das etwas abseits von der Friedhofsmauer parkte.
Sven Lundquist sah den Wald vor lauter Weihnachtsbäumen nicht. Der Verkäufer, ein vierschrötiger, übergewichtiger Mann, der allen Ernstes behauptete, all seine Bäume eigenhändig frisch geschlagen zu haben, machte inzwischen keinen Hehl mehr aus seiner Ungeduld.
»Vielleicht willst du ihn ja erst mal probeschmücken, um die Wirkung der Kugeln am Baum zu testen?«
Lundquist grinste schief.
Er glaubte dem Mann kein Wort.
Wahrscheinlich waren die Bäume schon vor Monaten geschlagen worden und würden, einmal im Wohnzimmer, sofort ihre Nadeln abwerfen.
»Nein.«
»Also mehr Bäume hab ich nicht, als du dir angeschaut hast! Du solltest dich jetzt einfach entscheiden. Ich muss mich schließlich auch noch um die anderen Kunden kümmern.«
Er zeigte auf ein junges Pärchen, das sich durch Kuscheln warm hielt.
»Also gut«, sagte Lundquist, »den nehm ich.«
Zunächst staunte der Mann, weil Lundquist noch kurz zuvor den Baum seines zu krummen Wuchses wegen abgewiesen hatte, aber dann dachte er, dass das Leben eben oft krumme Wege ging, und zog ihn achselzuckend durch die Netzverspannung.
In diesem Jahr sollte es wieder ein fröhliches Fest werden, das war er seiner Tochter – und vielleicht auch sich selbst – schuldig, überlegte Lundquist. Er hatte kein Recht dazu, sie in ein Leben in Trauer zu zwingen. Drei Jahre war es nun her, dass Anna bei diesem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen war. Es wurde Zeit, Lisa wieder ein relativ normales Leben zu bieten. Eines, wie es die anderen Kinder, die sie kannte, auch führten. Da durfte weder die Erinnerung an Anna noch seine eigene schwere Krankheit eine Rolle spielen. Und da war ja auch noch Magda.
Mit ihr würde nun ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnen.
Beschwingt zog er einen Einkaufswagen heran und begann ihn zu füllen. Weihnachtsbier konnte er auch später noch kaufen, beschloss er, das Elchfleisch für das traditionelle Weihnachtsmenü der Familie Lundquist, Elchrouladen mit Gurkenmus, hatte er schon in der Tiefkühltruhe eingelagert.
Mehl, Kardamom, Zimt, Hefe, Mohn ...
Nach Annas Tod hatte er geglaubt, nie wieder glücklich sein zu können. Er lebte überhaupt nur für seine kleine Tochter weiter. Zusammen mit seiner Mutter war er in eine geräumige Wohnung in der Vasagatan in Göteborgs Innenstadt gezogen. Sie kümmerte sich um Lisa und den Haushalt, und er ging jeden Tag zur Arbeit. Seine ungeregelten Arbeitszeiten bei der Kriminalpolizei Göteborg waren deshalb kein Problem.
Doch dann, als er gerade zu hoffen begann, er könne wieder in einen relativ normalen Alltag zurückfinden, folgte ein weiterer Schicksalsschlag: Er wurde krank. Multiple Sklerose.
Vor einem Schaufenster blitzte sein Spiegelbild auf. Eigentlich sah er für einen Kriminalhauptkommissar zu harmlos aus, dachte er, und wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Sven Lundquist fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes dunkles Haar und forschte nach Anzeichen des nahenden Alters. Du bist hoffnungslos eitel, schalt er sich sanft. Ein bisschen schlanker war er geworden, nahm er erstaunt zur Kenntnis, denn viel Zeit für Sport blieb ihm nicht. Er dachte ein wenig neidisch an Lars’ athletischen Körperbau, Ergebnis eines harten und konsequenten Trainings. Nichts für ihn, er verbrachte seine Freizeit lieber mit Lisa und Magda.
Sein Körper straffte sich. Er spürte, wie das Leben sich in ihm wieder breit machte, seinen Gang beflügelte und den Kopf endlich befreite. Ja, sagte er sich, er wollte wieder glücklich sein – und das gelang ihm am besten mit Magda.
Weihnachten wird ein Neuanfang werden, dachte er voller Zuversicht.
Als er eine halbe Stunde später mit seinem Freund und Kollegen Lars Knyst in einem Café zusammentraf und sie sich gegenseitig Geschenkvorschläge für ihre Lieben machten, war die Welt für Sven Lundquist fast völlig in Ordnung.
Doch Mörder nehmen in der Regel weder Rücksicht auf Wochenenden oder Feiertage. Und zu diesem Zeitpunkt wusste außer den unmittelbar Beteiligten niemand von dem langsam erstarrenden Körper, der Lundquist und seinem Team in Kürze viele Rätsel aufgeben würde.
In der Kirche war es kalt. Hanne zitterte. Hoffentlich hatte dieser schusselige Pfarrer nicht wieder eines der Fenster offen gelassen. Gerade in der heutigen Zeit war das gefährlich und Hanne Steenkluth wurde nicht müde, ihn immer wieder darauf hinzuweisen, wie leichtsinnig sein Verhalten war. Dabei war er doch noch gar nicht alt genug, um so zerstreut zu sein.
Verärgert zog sie den Trolley zum Altar.
Mit routinierten Bewegungen legte sie Handschuhe, Mütze und Schal ab und schlug die Plane der Einkaufstasche zurück. Nacheinander holte sie einen Staubwedel nebst diversen bunten Tüchern sowie einen winzigen Eimer und ein Fläschchen selbst gemischter Möbelpolitur heraus.
Neulich hatte sich dieser vergessliche Pfarrer doch tatsächlich angemaßt zu behaupten, der Gestank ihrer Politur überdecke selbst den Geruch des Weihrauchs und werde von den Betenden bei der Andacht als störend empfunden.
Als ob der Duft von Sauberkeit einen bei der Zwiesprache mit Gott irritieren konnte! Blödsinn.
»Männer!«, spie sie aus und fegte mit einer lässigen Handbewegung alle Angehörigen dieses Geschlechts in den Orkus. Nur gut, dass sie keinen dieser ewig unzufriedenen Nörgler mehr zu versorgen hatte, nachdem ihr Josef vor nun schon mehr als vierzig Jahren an einer Lungenentzündung gestorben war. Als ihr Sohn endlich auszog, hatte sie sich geschworen, keinen Mann mehr in ihrem Leben zu dulden. Missbilligend schüttelte sie den Kopf und schlurfte mit dem Eimer in die Sakristei, um dort Wasser zu holen und nach den Fenstern zu sehen.
Das Gefühl nicht allein in der Kirche zu sein, beschlich sie erst später.
Und dann begann sie zu schreien, als wolle sie niemals mehr damit aufhören
»Ah – die beiden Ermittler!«, begrüßte sie Ortspolizist Einar Dahl und drückte ihnen kraftvoll die Hände.
Der wohlgenährte Mann in den besten Jahren schwitzte stark und versuchte gar nicht erst seine Erleichterung darüber zu verbergen, diesen seltsamen Fall in die Verantwortung anderer abgeben zu können.
Nach einem Blick in das Innere der Kirche konnte Sven Lundquist den Kollegen gut verstehen.
Das innen und außen weiß getünchte Gotteshaus, zu dem man sie gerufen hatte, war eine imposante Wehrkirche. Sie glich mehr einer Ritterburg als einer Stätte der inneren Einkehr. Der überdimensionierte viereckige Turm, dessen schmale Fensteröffnungen unwillkürlich die Assoziation von Schießscharten aufdrängten, war mit eindrucksvollen Zinnen bewehrt.
Das Kirchengebäude selbst war einfach und glich einer geräumigen Scheune. Das Gestühl teilte den schlichten und funktionellen Innenraum in einen Mittelgang und zwei Seitengänge, die von einzelnen Säulen in behagliche Nischen unterteilt wurden. Auf dem schmucklosen Altar aus hellem Holz standen nur ein schlichtes Kreuz und zwei Leuchter. Im Hintergrund hing ein kleines Kreuz aus tiefrotem Glas, das von innen heraus leuchtete, wenn der Pfarrer die Messe las. Links vom Altar erkannte Lundquist zwei Votivschiffe von beeindruckender Größe, die zu beiden Seiten von Gemälden flankiert wurden, deren Motive im Halbdunkel nur zu erahnen waren.
Die beschaulich-friedliche Atmosphäre des Gotteshauses war zweifellos empfindlich gestört. Auf einer der steinernen Stufen, die zum Altar führten, kauerte eine kräftige, weißhaarige Frau, die unentwegt laut schniefend »Oh Gott, oh Gott, oh Gott!« murmelte. Eine deutlich jüngere Frau mit mütterlicher Statur hockte daneben und versuchte die alte Dame zu beruhigen, strich ihr immer wieder sanft über die Schultern und redete leise auf sie ein.
Allerdings schienen ihre Bemühungen erfolglos zu bleiben.
Ein gutes Stück von ihnen entfernt entdeckte Lundquist eine kleine Menschenansammlung. Als er auf gleicher Höhe mit ihnen war, sah er auch das Opfer, um das sich der Arzt und der Pfarrer bemühten.
»Tja, das ist schon gewaltiges Pech, nicht wahr?«, flüsterte Einar Dahl.
Lundquist nickte.
In der Bank hatte ein wohlgenährter Herr in grauem Anzug gesessen. Ob sich nun sein auf den Boden gerichtetes Gesicht, von dem nur ein rotblonder Haarschopf zu sehen war, bereits vorher in Demut und Frömmigkeit zum Gebet gesenkt oder in Erschütterung über eigene sündige Schwächen und Laster gramgebeugt Deckung gesucht hatte, würde für immer ungeklärt bleiben müssen. Viel wahrscheinlicher aber war, dass der Mann aufrecht in der Bank saß, als ihn das schwere, riesige Glaskreuz gefällt hatte.
»Vom Kreuz erschlagen!«, flüsterte der Pfarrer fassungslos. »Vom Kreuz erschlagen!«
»Der Mann ist jedenfalls tot. Schon länger. Da war nichts mehr zu machen«, erklärte Dr. Stevensson.
Lundquist trat näher an den Toten heran.
»Kennt jemand den Mann?«
Einar Dahl schüttelte den Kopf.
»Nein, weder Pfarrer Landulf noch seine Haushälterin. Und ich auch nicht. Die Hanne haben wir lieber nicht so nah rangelassen, die ist ja auch schon so völlig durch den Wind.«
Lundquist streifte sich Latexhandschuhe über und begann behutsam die Taschen zu durchsuchen.
»Alle leer. Er hat nicht einmal ein Papiertaschentuch dabei. Und trotz der Kälte war er wohl ohne Mantel unterwegs«, stellte er fest und sah sich suchend um.
»Wir sind alle Reihen abgegangen – da war nichts«, versicherte Einar Dahl. Plötzlich traten rote Flecken auf seinem Hals hervor, die sich hektisch verbreiteten und auch sein Gesicht erreichten. Lars Knyst sah rasch zu der Zweiergruppe am Altar rüber, um ihn nicht anstarren zu müssen. Bisher hatte er immer geglaubt, dass diese nervöse Reaktion Frauen vorbehalten war.
Einar Dahl nahm mit seinen kurzen dicken Fingern die runde Nickelbrille ab, putzte sie umständlich und schob sie auf der Nase zurecht.
»Unser Dorf ist klein und überschaubar«, erklärte er leise mit wankender Stimme. »Gerade mal zweihundert Menschen leben hier auf Holm. Bei uns ist normalerweise nicht viel los. Es wird schon mal was geklaut, ein bisschen verleumdet, gezankt und geprügelt, innereheliche Streitigkeiten – aber so eine Sache hatten wir noch nie.«
Lundquist klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. »Bisschen wenig Blut hier, oder?«, fragte er dann den Arzt.
»Ich kann nicht beurteilen, welchen Schaden das Kreuz angerichtet hat. Möglicherweise hat es ihm das Genick gebrochen. Ich wurde ausdrücklich angewiesen, nichts zu verändern, falls der Mann tot ist, und auf das Team vom Erkennungsdienst zu warten«, sagte er und zeigte mit abgespreiztem Daumen diskret auf Einar. »Und er hat ständig auf mich aufgepasst.«
Lundquist sah zum verstörten Pfarrer rüber.
»Wo stand denn das Kreuz normalerweise?« Bereitwillig trat Pfarrer Landulf, ein großer, schlanker Mann mit vergeistigtem Gesicht, in den Seitengang und wies auf eine Stelle an der Wand einige Reihen weiter hinten.
»Hier!«
Seine Stimme überschlug sich und er hustete ein paarmal nervös.
»Normalerweise steht es hier. Es ist ein Geschenk eines berühmten Glaskünstlers aus unserer Gemeinde. Knut Hallmansson. Es ist so etwas wie sein Vermächtnis. Wir haben es an diesem Platz aufgestellt, weil hier direkt das Licht aus dem gegenüberliegenden Fenster hinfällt und es von innen in allen Farben erstrahlen lässt und die Seelen der Gemeinde berührt.«
Er hielt inne und sah sich verwirrt um.
»Man stelle sich das vor: Da kommt ein Fremder in meine Kirche, um zu beten und wird während der Zwiesprache mit Gott vom Kreuz erschlagen!«
»Vielleicht ein Fingerzeig Gottes«, raunte Jon Stevensson, was ihm einen vernichtenden Blick des Pfarrers eintrug.
Der Arzt zuckte die Schultern und füllte seufzend den Totenschein aus.
Lundquist kniete sich neben die Stelle, an der das Kreuz gestanden hatte und schätzte die Entfernung zum Opfer ab.
»Von hier aus kann das Kreuz nicht einfach auf ihn gestürzt sein. Der Weg ist zu weit. Und wenn das Kreuz so unglaublich schwer ist, wie es aussieht, müsste es schon ein Erdbeben gegeben haben, um es umfallen zu lassen. – Ich brauche gute Fotos von dieser Stelle hier«, wies Lundquist den Fotografen an, der gerade mit einer Gruppe von Kollegen der Spurensicherung hereingekommen war. »Lars, wir trommeln das ganze Team zusammen und warten auf den Staatsanwalt. Vielleicht war das ja kein Unfall und das Kreuz ist nicht gefallen, sondern wurde gestoßen.«
»Mord!«, gellte die Stimme von Hanne Steenkluth durch die Kirche und ließ alle erschaudern.
Pfarrer Landulf starrte Lundquist fassungslos an.
»Soll ich nun etwa glauben, ein Fremder, der zufällig in dieses abgelegene Gotteshaus kam, um seinem Schöpfer nahe zu sein, wurde hinterrücks mit diesem schweren Kreuz erschlagen?«
»Hanne Steenkluth?«
Hanne hatte sich erhoben, als die Inspektorin auf sie zutrat.
»Ich bin Britta Lilliehöök. Wir nehmen jetzt deine Aussage auf. Würdest du bitte mit in mein Büro kommen?«, stellte sich die junge Frau freundlich vor und dirigierte Hanne geschickt in ihr Büro zu dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, wo bereits das Diktiergerät auf sie wartete.
»Stört es dich, wenn ich das Gespräch aufzeichne? Sonst muss ich alles mitschreiben, und das dauert viel länger. Außerdem kann man sich dabei nicht so gut unterhalten.«
Hanne Steenkluth schüttelte den Kopf.
»Gut. Die Zeugin ist mit der Aufzeichnung einverstanden. Also, du bist Hanne Steenkluth, wohnst Skyttevej 25, Holm und hast heute Morgen in der Kirche eures Ortes einen toten Mann gefunden?«
»Ja.«
»Was wolltest du denn eigentlich schon so früh in der Kirche? Da ist doch noch keine Messe, oder?«
»Nein. So früh natürlich noch nicht. Ich komme aber jeden Tag schon um die Zeit. Einer muss sich doch um alles kümmern.«
»Was heißt kümmern genau?«
»Ich komme schon seit über fünfzig Jahren jeden Morgen und wische das Gestühl ab, reinige den Altar, putze den Staub weg, sortiere die Gesangbücher und zähle nach, ob noch alle da sind. So was eben. – Weißt du, die Jugend kümmert sich um solche Dinge nicht mehr. Die kommen sowieso nur noch zu Weihnachten zum Gottesdienst. Sonst triffst du die das ganze Jahr nicht in der Kirche. Wenn ich nicht das komplette Inventar in Schuss halten würde, könnten wir den Pfarrer hinter einer Nebelwolke aus Alltagsstaub nur noch erahnen«, sagte sie und sah Britta trotzig an, als hätte die Ermittlerin die Wichtigkeit der anstehenden Tätigkeit nicht verstanden. »Na, und weil sich für solche Arbeiten niemand mehr findet, mach ich das eben.«
»Aha.«
Hannes Augen blitzten erstaunt auf. Sollte die junge Frau etwa das Ausmaß ihrer, Hannes, Selbstlosigkeit noch immer nicht erfasst haben?
»Ich kümmere mich selbst um die Gräber von denen, deren Angehörige weggezogen sind – sonst würden die doch verwahrlosen. Dieser Faulpelz, der oben auf dem Friedhof arbeitet und sich ungestraft Gärtner nennen darf, der schert sich doch einen Dreck darum, ob die Gräber gepflegt aussehen oder eben nicht Aber so ist das heute. Das Geld stecken sie ein, aber wenn sie dafür arbeiten sollen, hört der Spaß auf. Ist ja auch kein Wunder, wenn keiner den Kerl kontrolliert, oder? Pfarrer Landulf ist viel zu nachsichtig mit seinen Schäfchen. Das hätte es bei unserem alten Pfarrer – Friede seiner Seele – nicht gegeben!«, schnaufte sie und senkte, wie um sich zu entspannen, den Kopf. »Und frische Blumen stelle ich auch auf den Altar. – Aber jetzt werde ich wohl nie mehr in unsere Kirche gehen können, ohne mich zu gruseln!«
Plötzlich brachen sich dicke Tränen Bahn.
Mitfühlend tätschelte Britta der Zeugin den feisten Unterarm und reichte ihr die bereitstehende Taschentuchbox. Dankbar zog Hanne sich eines heraus und putzte sich umständlich die Nase. Irritiert sah Britta Lilliehöök zu, wie sie das zusammengeknüllte Tuch in den Ärmel ihrer Strickjacke schob. Das musste wohl ein alterstypisches Verhalten sein, dachte sie. Ihre Großmutter hatte das auch immer gemacht; bei ihrer Mutter hatte sie es beim letzten Wochenendbesuch ebenfalls bemerkt und sie beschloss, ein wachsames Auge auf sich selbst zu haben.
»Heute Morgen hast du also auch Staub gewischt?«
»Ja. Ich habe einen dieser modernen Staubwedel dabei und mit dem gehe ich über alles rüber.«
»Und danach? Was tust du nach dem Staubwedeln?«
»Mit der Möbelpolitur reibe ich den Altar gründlich ein. Ab und zu auch die vorderen Reihen.«
Verschwörerisch beugte sie sich zu Britta über den Tisch.
»Ich mische sie selber. Altes Familienrezept. Der Pfarrer mag zwar den Geruch nicht, aber was sein muss, muss sein.«
»Und dabei hast du dann heute den Toten entdeckt?«
»Stell dir nur mal vor: Ich war die ganze Zeit mit dem Toten allein! Ich war mit dem Altar beschäftigt, und erst als ich anschließend die Reihen abwischte, sah ich ihn da im Gestühl hinter der Säule liegen.«
»Was hast du getan, als du den Mann entdeckt hattest?«
»Na, ehrlich gesagt dachte ich ja erst: du meine Güte, muss der aber besoffen gewesen sein. Schläft seinen Rausch dreist in der Kirche aus. Ich habe gleich gesehen, dass es ein Fremder sein musste. Wegen der Haarfarbe, weißt du? Die hat keiner der Männer von Holm. Dann bin ich ein bisschen näher ran. Vorsichtig natürlich. Schließlich weiß man bei Männern ja nie. Und da habe ich plötzlich das Kreuz auf ihm liegen sehen. Weißt du, dieses scheußlich moderne Ding von Knut Hallmansson. Pfarrer Landulf ist es das liebste Stück. Es ist verflixt schwer. Ich habe den Mann dann angesprochen und mit einem Mal war mir klar, dass der in diesem Leben niemanden mehr hört.«
»Vor der Kirche stand ein fremdes Auto. Aus Dänemark. Ist dir das aufgefallen, als du am Morgen gekommen bist?«
»Nein. Was für ein Wagen war das denn?«, fragte sie erstaunt.
»Ein grauer Saab – auf der hinteren Scheibe klebte ein blaues Schild mit einem Rollstuhlfahrer drauf.«
»Vielleicht war ich zu sehr in Gedanken ... Außerdem kenne ich niemanden, der im Rollstuhl sitzt.«
»Was hast du gemacht, als du gemerkt hast, dass der Mann tot ist?«
»Da habe ich so laut geschrien, wie ich kann – zum Glück kam gleich Grete angerannt. Und dann haben wir die Polizei angerufen.«
Hannes Stimme klang plötzlich merkwürdig piepsig, als wäre ihr dieser Teil der Geschichte peinlich.
»Meinst du, der Kerl wollte mich auch umbringen?«, fragte sie mit flackerndem Blick.
Britta seufzte.
»Nein, Hanne. Für dich bestand keinerlei Gefahr. Das Opfer war schon seit ein paar Stunden tot und der Mörder mit Sicherheit nicht mehr in der Kirche.«
»Der Herr wacht eben über die Seinen«, schloss Hanne selbstgerecht.
»Tja, dann hat er letzte Nacht wohl zumindest einen der Seinen aus den Augen verloren, meinst du nicht auch?«, fragte Britta scheinbar leichthin.
Das Ermittlungsteam traf sich im kleinen Besprechungsraum.
»Also, bisher haben wir noch nicht allzu viele Fakten. Aber klar ist, wir haben einen Toten in der Kirche auf Holm gefunden, erschlagen von einem massiven Glaskreuz. Das Ding war so schwer, dass wir extra ein Team mit einer Seilwinde anfordern mussten, um es zu heben.«
Hinter Lundquist waren schon die ersten Fotos aus der Kirche an der Magnetwand angepinnt worden.
Ole Wikström runzelte die Stirn.
»Wenn es so schwer war, können wir doch wohl kaum davon ausgehen, dass ein einzelner Kirchenbesucher es versehentlich umgestoßen hat, auch kann einer allein den anderen nicht damit erschlagen haben. Erdbeben?«
»Nein. Es gab kein Erdbeben. Wir haben schon mal vorsichtshalber nachgefragt. Keine seismologischen Besonderheiten«, antwortete Lundquist.
»Also doch Mord?«
Lundquist erhob sich etwas schwerfällig und zeigte auf die Aufnahmen.
»Es kann auch nicht einfach umgestoßen worden sein.«
Er wies auf einen Punkt auf einem der Fotos.
»Hier stand das Kreuz – der Fuß hat sich deutlich im Boden abgedrückt, und in der Umgebung finden sich jede Menge zum Teil tiefe Kratzer in den Dielen – und hier«, er wies auf den Toten, »und genau hier an dieser Stelle wurde das Opfer getroffen. Wir haben den Weg ausgemessen, und dabei wurde klar, dass das Kreuz um mindestens zwei Meter in Richtung Altar verschoben worden sein musste, um den Mann zu treffen.«
»Aber selbst wenn man es geschoben haben sollte – das ist doch laut. Warum hat sich der Mann nicht durch einen Sprung in Sicherheit gebracht?«, wollte Bernt Örneberg wissen.
»Vielleicht war er ja eingenickt. Viele Männer schlafen beim Gottesdienst ein«, stichelte Britta und sah Bernt herausfordernd an.
»Das ist eine der Fragen, die wir zu klären haben: Was wollte der Mann eigentlich um diese Zeit in der Kirche? Schließlich stammt er nicht aus dem Ort. Familiäre Krise? Suchte er Rat? – Vor der Kirche stand ein großer Saab mit dänischem Kennzeichen. Umgebaut für die Nutzung durch einen Rollstuhlfahrer. Was, wenn der Mann sich einfach nicht bewegen konnte?«, überlegte Lundquist laut.
Für einen Moment waren alle still.
Lähmendes Entsetzen lastete über dem Besprechungstisch. »Sich so was vorzustellen«, murmelte Ole leise, »jemand erschlägt mit diesem Riesending einen anderen, der die Gefahr zwar kommen sieht, aber hilflos der Situation ausgeliefert ist und ihm nichts anderes übrig bleibt, als darauf zu warten, dass der Mörder seine Tat vollendet. – Grausam.«
»Ja. Eine entsetzliche Vorstellung. – Nur haben wir es hier wohl nicht mit einem Einzeltäter zu tun. Es sei denn, er verfügt über übermenschliche Kräfte«, stellte Lundquist trocken klar. »Was die Sache allerdings keinesfalls erträglicher macht.«
»Und wie sollen wir uns das vorstellen? Mehrere Männer aus dem Ort treffen sich nachts in der Kirche, um dort einen wehrlosen Fremden zu erschlagen? Wieso sollten sie das tun?« Britta sah fragend in die Runde.
»Wenn dieses Kreuz so schwer war, warum wurde er dann nicht von der Wucht einfach zermalmt?«, warf Bernt ein.
»Die Spurensicherung meint, das läge daran, dass die vorderen Reihen des Gestühls fest mit dem Boden verschraubt sind. Weiter hinten stehen lockere Bankreihen, die sich automatisch verschoben hätten. Aber die ersten fünf Reihen sind fest verankert. Außerdem hatte sich das Kreuz mit einer Ecke an der Säule verkantet, es wurde so stark abgebremst, dass nur eine Ecke des linken Seitenarms ins Gestühl einschlug. Es entstand eine tiefe Kerbe, mehr nicht. Und da die Bänke verschraubt sind ... Natürlich wäre das Holz des Gestühls bei einem ungebremsten Aufschlag völlig zersplittert.«
»Wieso glaubst du denn, dass die Täter aus dem Ort gekommen sind?«, fragte Ole bei Britta nach.
Achselzucken in der Runde.
»Wir müssen so schnell wie möglich rauskriegen, wer unser Toter ist«, stellte Lundquist fest. »Dann wird sich bald zeigen, ob er eine Verbindung zu Holm hatte oder nicht.«
Es klopfte.
»Der Rechtsmediziner hat einen ersten Kurzbericht geschickt.«
Ein Polizist reichte Lars einen Aktenordner und zog sich eilig wieder zurück.
»Hier steht, der Mann war 1,90 Meter groß und wog 134,2 Kilogramm. Die äußere Inspektion hat keinen Anhalt auf eine andere, als die vermutete Todesursache ergeben. Das Genick ist gebrochen. – Ganz schön schwerer Brocken«, sagte Lars.
Er selbst war beinahe zwei Meter groß und achtete akribisch auf sein Gewicht. Jedem Gramm zuviel wurde im Fitness-Studio sofort zu Leibe gerückt.
»Tja – vielleicht alles Muskulatur«, sagte Bernt, der selbst ständig gegen seinen Schwimmring und den leichten Bierbauch ankämpfte.
»Übrigens: Dr. Wennerström möchte einen von uns bei der Autopsie dabeihaben«, sagte Lars.
»Ich gehe«, legte Lundquist fest und trat wieder an die Magnettafel.
»Bernt, du sprichst mit den Leuten im Ort. Vielleicht fällt dem einen oder anderen ja doch noch ein, dass er einen Rollstuhlfahrer kennt. Über das Kennzeichen des Saab finden wir den Halter. Lars, du suchst in dieser Richtung – die dänischen Behörden sind gerne behilflich. Britta – du besuchst den Pfarrer. Sprich mit ihm über seine Kirche und die Leute, die regelmäßig zum Gottesdienst kommen. Wir müssen auch wissen, ob die Kirche nachts offen war. Ole, wie kam der Tote rein? Er musste doch mit dem Rollstuhl über den Kiesweg. Das war sicher gar nicht so einfach. Frag bei den Kollegen von der Spurensicherung nach, ob sie tiefe Furchen gefunden haben. Wir haben auch bisher den Rollstuhl nicht entdeckt. Für mich sieht das so aus, als wollte jemand dieses Beweisstück verschwinden lassen. Vielleicht stand der Name des Opfers darauf oder es gibt eine Art Registriernummer. Und kläre, ob in der Gegend bei einem Feuer Metallteile die zu einem Rollstuhl gehören könnten, gefunden wurden. Wäre doch möglich, dass der Täter ihn auf diese Weise verschwinden lassen wollte.«
Lundquist streckte sich.
»Jetzt ist es 14 Uhr. Wir treffen uns um 19 Uhr wieder hier. Vielleicht wissen wir dann schon deutlich mehr.«
Er verließ den Raum und hoffte wie schon so oft, dass sein etwas unsicherer Gang keinem aus dem Team auffallen möge.
Nachdenklich betrachtete Dr. Wennerström den Toten, bevor er mit der Lupe Hals und Hinterkopf untersuchte, wo sich ein großes Hämatom gebildet hatte. Inzwischen war er sich sicher, dass das Opfer den ersten Schlag überlebt haben müsse.
Als er einen Blick auf die Fotos in der Akte warf, schnalzte er mit der Zunge. Ein liebenswerter Tick von ihm, an den sich inzwischen alle längst gewöhnt hatten, selbst sein Hund zuckte bei diesem Geräusch nicht mehr wie elektrisiert zusammen.
»Zwei Schläge mit so einem schweren Ding? Das ist doch wirklich mehr als unwahrscheinlich.«
Wieder schnalzte er mit der Zunge und richtete die Lichtquelle neu aus.
»Ja, was haben wir denn da?«
Er beugte sich noch tiefer über den Toten und stocherte vorsichtig mit einer langen Pinzette, die er von einem Tablett neben dem Seziertisch genommen hatte, in der Wunde herum. Schließlich zog er mit einiger Mühe einen winzigen Span heraus, den er behutsam auf einen Objektträger legte.
Leise summend trug er seinen Fund zum Mikroskop hinüber, nahm ungelenk die Brille ab und betrachtete den Span genauer.
Dann stieß er einen unmelodischen Pfiff aus.
»Wie soll ich das verstehen?«
Lars Knyst war gereizt.
»Wir ermitteln in einem Mordfall, Mann! Ich möchte doch nur wissen, wem der Wagen mit dem Kennzeichen Rufus 15 gehört. Und du erklärst mir, das sei nicht so einfach!«, fauchte er seinen Gesprächspartner am Telefon an. »Ach – das ist ein Leihwagen? Und von welcher ...? Aha. Na, geht doch. Jetzt muss ich nur noch wissen, von welcher Filiale der graue Saab vermietet wurde.«
Er angelte nach einem Stift, um sich die Nummer der Filiale zu notieren, als seine Augenbrauen plötzlich hochschnellten.
»Was? Die sind nicht vernetzt? Soll das heißen, ich muss jetzt jede der Filialen einzeln anrufen?«
Zwanzig Minuten später hatte der Kollege aus Dänemark die Liste mit den einzelnen Filialen und die entsprechenden Nummern gefaxt, und wider Erwarten hatte Lars schon beim dritten Versuch Erfolg.
Bernt Örneberg sprach mit Bjarne Jaspers, dem Wirt des Kro in Holm. Nach vier Tassen Kaffee mit viel Milch hatte Bernt zwar einen gewaltigen Druck auf der Blase, war aber bei den Ermittlungen noch keinen Schritt vorangekommen.
Bjarne Jaspers kannte niemanden, der im Rollstuhl saß. Er wusste auch nicht, ob man das schwere Kreuz in der Kirche verrücken konnte, er jedenfalls hatte das noch nie versucht und kannte auch keinen, der es je ausprobiert hätte. Ja, klar gäbe es im Dorf ein paar kräftige, junge Männer, aber die gingen ja nie in die Kirche und, ehrlich gesagt, es würde ihn eher überraschen zu erfahren, dass sie von dem Glaskreuz überhaupt wüssten. Und die Älteren wären ja wohl kaum in der Lage – und wieso sollte überhaupt jemand aus Holm mit der Sache zu tun haben? Ja, er gäbe schon zu: Ein zufälliges Zusammentreffen eines unbekannten Rollstuhlfahrers und einer unbekannten Gruppe von Tätern in einem selbst dem Tourismus unbekannten Ort wie Holm sei zumindest unwahrscheinlich – aber so sei der Zufall eben nun mal, oder nicht? Das sei doch wohl ein typisches Merkmal. Und seine deutsche Großmutter habe auch schon immer gesagt: Unverhofft kommt oft.
Außerdem solle der Ermittler doch nach so viel Kaffee lieber noch etwas essen.
Das sei gut für den Magen. Und gerade heute habe er so leckere Smörebröd im Angebot.
»Oder Toast? Wie wäre es mit einem Toast Skagen? Meine Frau bereitet ihn dir ganz frisch zu!«
Bernt gab auf und ging zur Toilette.
Britta Lilliehöök wurde von einer entrüsteten Haushälterin zum Tee ins Pfarrhaus gebeten.
»Seit über zwanzig Jahren mach ich nun für den Herrn Pfarrer den Haushalt – aber so was ist uns noch nie untergekommen. Wir waren schon in ein paar Gemeinden, das ist ja so üblich in einem Pfarrerleben – aber außer ein paar Prügeleien und Familienzwistigkeiten ist nichts Außergewöhnliches passiert. Du weißt schon: wenn der Alkohol das Regiment übernimmt, da bleibt das oft nicht aus. Aber ein Mord!«
Die dralle Wirtschafterin bugsierte Britta ins gemütliche Wohnzimmer. Der Inspektorin kam es vor, als träte sie durch ein Zeitfenster in ein Zimmer aus einem vergangenen Jahrhundert. Hier sah es genauso aus wie in einem der Agatha-Christie-Romane, die sie so liebte.
Fast erwartete man Miss Marple am Fenster vorbeihuschen zu sehen.
Die antiquierte Sitzgruppe, auf deren Armlehnen gehäkelte Schoner lagen, die dunklen Möbel, die das Zimmer ein wenig höhlenartig wirken ließen, die Lampe über dem Couchtisch, deren Troddeln sich im Laufe der Jahre gelblich verfärbt hatten, und die vielen Bücher, die sich ihren Weg aus den deckenhohen Regalen über Stapel auf dem Fußboden bis zu einem der Sessel gesucht hatten, alles schien aus Monkswell Manor in Die Mausefalle zu stammen. Auch die Haushälterin mit ihrem akkuraten schwarzen Kleid und der weißen Schürze passte perfekt hinein.
»So eine Frechheit – im Hause des Herrn, und dann auch noch mit einem Kreuz! Das ist pure Blasphemie! Also ich weiß nicht, ob der Pfarrer sich von dem Schock je wieder erholen wird. Er ist noch immer ganz verstört, der Ärmste.«
Britta nickte verständnisvoll.
»Wie rücksichtslos von diesen Unmenschen. Pfarrer Landulf hätte ja der Schlag treffen können! – Kräutertee oder Grünen Tee?«
»Ach, Quatsch. So schwer ist das Kreuz nun auch wieder nicht. Ungefähr 120 Kilo, schätz ich mal. Einer allein hätte es nicht bewegen können, aber so viele Leute hätt’s jetzt auch wieder nicht gebraucht. Die Gemeinde hat aus dem Aufstellen des Kreuzes ein Riesenhappening gemacht, mit Musik und Grillen – aber wirklich nötig wäre das nicht gewesen.« Knut Hallmannsson Augen blitzten Ole Wikström amüsiert an. Sein faltiges, deutlich verlebtes Gesicht schien noch furchiger zu werden, wenn er lachte. Seine Haare, falls er noch welche hatte, waren unter einer bunt geringelten Strickmütze verborgen, die perfekt zu seinem ebenfalls geringelten, völlig ausgeleierten Pullover passte. Der Mann sah eindeutig nicht gesund aus, fand Ole.
»Nur weil ich der Gemeinde das Kreuz geschenkt habe, muss ich doch nicht auch gleich irgendwas mit Religion am Hut haben! Hab ich nämlich nicht. Ist doch eh alles Quatsch. Aber wenn’s den Leuten gefällt. Mir soll’s egal sein. Du weißt schon: Religion ist Opium fürs Volk.«
Eine Welle aus Alkoholdunst schwappte auf Wikström zu. Er hatte Hallmannsson überraschend in der Kirche angetroffen, wo der Künstler mit gesenktem Blick den Boden nach Glassplittern absuchte. Offensichtlich hatte Hallmannsson keinen Besuch erwartet und konnte den Flachmann nicht so schnell in der Hosentasche verschwinden lassen, wie er das vorhatte.
Eine Alkoholfahne hatte in einem Gotteshaus etwas leicht Irritierendes, registrierte Ole und unterdrückte den Impuls sich abzuwenden.
»Warum bist du hier?«, fragte er.
»Gegenfrage: Was meinst du: in dem Nest oder hier in der Kirche?«
Ole überlegte kurz.
»Beides.«
»In dem Nest, weil ich hier in Ruhe arbeiten kann.
Außerdem will meine Frau hier nicht weg. Sie liebt unseren kleinen Hof und das ganze Viehzeug. Und hier in der Kirche, weil ich gucken wollte, ob das Kreuz Schaden genommen hat. Ist aber alles soweit in Ordnung. Ist doch irre, was?« Die Begeisterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ein Mann erschlagen von meinem Kreuz!«
Im Revier Einar Dahls ging es weit weniger gemütlich zu als im Haus des Pfarrers. Das Telefon stand kaum mal zwei Minuten still, und Einar gab jedem Anrufer die gleiche Auskunft: Ja, es habe einen Toten in der Kirche gegeben, nein, er wisse nicht, um wen es sich handle, weitere Auskünfte könne er nicht geben, der Fall läge in den Händen der Göteborger Kollegen.
Man hätte genauso gut eine Ansage vom Band schalten können, überlegte Ole und wartete gelangweilt darauf, dass Einar das Gespräch beendete.
»So, was also wolltest du genau wissen?«
»Ich hatte gefragt, ob du dir eine Verbindung des fremden Rollstuhlfahrers zum Dorf vorstellen kannst?«, wiederholte Ole.
»Wie denn? Ohne Namen, ohne irgendeinen Hinweis?«
»Na, vielleicht hat hier mal jemand gewohnt, der einen Rollstuhl benutzen musste. Der Tote war mittleren Alters, besonders auffällig waren seine hellroten Haare. Also?«
»Ich kann mich jedenfalls an keinen erinnern«, brummte Einar gereizt.
Das Telefon schrillte erneut.
Ole stand auf und sah aus dem Fenster. In so einem kleinen Dorf müsste man sich doch an einen Rollstuhlfahrer erinnern, dachte er übellaunig.
»Wer war denn eigentlich vor dir hier Ortspolizist?«, fragte er, als Einar den Hörer endlich auflegte.
»Uli Morgenstern.«
»Aha. Ungewöhnlicher Name. Wo kann ich ihn finden?« Wikström bemerkte, wie ihm die früh hereinbrechende Dunkelheit auf die Stimmung schlug. Kurz nach vier Uhr fiel bereits die Nacht über die Straßen her und fraß den Tag auf. Dabei hatte der Winter noch gar nicht richtig angefangen. Du wirst langsam reizbar, dachte er missbilligend. Seiner Schwester war das auch schon aufgefallen: Im Winter verwandelte sich der jugendlich lustige und originelle Ole in einen nörgligen und reizbaren Misanthropen. Vielleicht sollte er seinen Arzt mal nach dieser neuen Lichttherapie fragen, dachte er. Mist, jetzt hatte er die Antwort nicht mitbekommen.
»Wo?«
»Na, ich sag doch: auf dem Friedhof.«
»So? War er krank?«
»Nein. Ist vor ein paar Jahren mit seiner Jolle rausgefahren. War ein prima Segler, der Uli, aber an dem Tag war es sehr stürmisch, und da muss er wohl über Bord gegangen sein. Das Boot hat man erst nach Monaten gefunden. Er selbst wurde acht Tage nach seinem Verschwinden unten in Sandvik angespült. Ich musste hin – es war grausig.«
Einar schüttelte sich.
»Was kam bei der Untersuchung raus?«
»Er wurde obduziert. Als Todesursache hat der forensische Pathologe einen schweren Hieb auf den Hinterkopf festgestellt. Er war wohl vom umherschlagenden Segel getroffen worden und ist dann über Bord gegangen. Fremdverschulden war nicht anzunehmen – schließlich war er ja allein unterwegs. Man muss auch zugeben, dass es nicht mehr allzu viel gab, was der Rechtsmediziner hätte untersuchen können – du weißt schon, die Fische. Bei der feierlichen Beisetzung gab’s einen großen Auflauf. Alle waren da. Die ganze Insel.«
Er war sichtlich ergriffen.
»Wie konntest du ihn dann überhaupt identifizieren?«, fragte Ole.
»Na, er sah schon ziemlich schrecklich aus – unvorstellbar, so zerfetzt schon nach ein paar Tagen. Noch heute träume ich manchmal von diesem Gesicht, dann wache ich schweißgebadet auf. Nach so langer Zeit! Der Arzt meinte damals, vielleicht habe auch die Brandung das ihre dazu beigetragen. Jedenfalls hat der Gerichtsmediziner die eindeutige Identifizierung anhand der Zahnarztunterlagen vornehmen müssen.«
»Also gut. Wen kann ich denn sonst noch fragen?«
»Jens, dem gehört der kleine Supermarkt am Ende der Straße. Alle kaufen bei ihm ein – und dabei schütten wohl manche auch gleich ihr Herz bei ihm aus. Der weiß mehr, als ihm lieb sein kann.«
»Schön, dass du gerade kommst, Sven«, begrüßte Dr. Haakan Wennerström Hauptkommissar Lundquist. »Da kann ich dir gleich meine vorweihnachtliche Überraschung zeigen.«
Er nahm einen Objektträger vom bereitstehenden Instrumentenwagen und wies auf einen winzigen Span.
»Das ist ein Holzspan, lackiert. Unter dem Mikroskop sieht er irgendwie gerundet aus. Er stammt also nicht von einem Brett, einem Paddel oder so was. Ein Besenstiel oder Baseballschläger kämen eher in Betracht.«
Beifall heischend beobachtete er Lundquists Reaktion. Doch der Ermittler schien immer noch nichts mit der Information anfangen zu können.
»Verstehst du nicht, Sven? Dieser Span stammt von der Leiche aus der Kirche!«
»Was?«
»Ja. Den hab ich vorhin aus seinem Nacken präpariert – anders ausgedrückt: gepopelt. War gar nicht so einfach.«
»Er wurde aber von einem massiven Glaskreuz erschlagen. Wie kommt dann der Holzspan ins Spiel? Vom Kirchengestühl?«
»Vom Gestühl eher nicht. Schließlich lag er ja mit dem Kopf nach vorne, die Stirn berührte den vorderen Teil der Bank. Die Prellmarke passt auch nicht zu einem geraden Brett, und der Span auch nicht. Nein, nein. Ich glaube, er wurde mit einem schweren Gegenstand aus Holz erschlagen. Und anschließend arrangierte man alles so, dass alle glauben sollten, er sei durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen.« Wennerström wies mit dem Finger auf den Nacken des Toten.
»Es sieht sogar so aus, als hätte er mehrere Schläge abbekommen. Hier am Rand finden sich unterblutete Bereiche, siehst du, hier«, er wies mit seinem gelblichblassen Latexfinger auf einige Stellen im Nacken des Opfers, »– das bedeutet, dass er nach den Schlägen, zumindest nach den ersten, noch gelebt haben muss.«
»Dann diente das Kreuz also nur zur Tarnung. Wenigstens ein Trost für Pfarrer Landulf, wenn auch sicher nur ein schwacher.«
»Ja, sieht ganz nach einer gestellten Szene aus. Ich glaube, es wurde ganz vorsichtig auf ihm abgelegt.«
»Abgelegt? Du sprichst in Rätseln!«
»Ich weiß, dass es seltsam klingt. Bei der äußerlichen Inspektion konnte ich keine Verletzung finden, die eindeutig dem Kreuz hätte zugeordnet werden können – vielleicht eine Quetschung, aber das klären wir ja jetzt.«
Wennerström warf Lundquist eine Plastikschürze und eine Hygienehaube zu.
Während Lundquist sich die Schürze zuband, richtete der forensische Pathologe mit knappen Bewegungen seine Instrumente auf einem Edelstahltablett. Eine Atmosphäre der Endgültigkeit hing über dem Sektionsraum.
Nicht zum ersten Mal wünschte sich Hauptkommissar Lundquist weit weg von hier.
Der Körper auf dem Tisch war groß und massig. Wennerström nahm ein Skalpell und schnitt in den Brustkorb. Es knirschte leicht, als liefe jemand über verharschten Neuschnee.
»Er war sicher eine enorm stattliche Erscheinung. So groß und schwer – vielleicht Türsteher in einer Disko oder Leibwächter irgendeiner Unterweltgröße«, sagte Haakan Wennerström und griff nach der elektrischen Knochensäge.
Eine Ewigkeit später – so schien es jedenfalls Lundquist – waren alle nötigen Proben entnommen, gesichert und die Organe einer ersten Untersuchung unterzogen.
»Er war ungefähr Mitte vierzig bis Anfang fünfzig, litt an deutlichem Übergewicht, BMI bei 37. Aber nicht alles war Fett. Möglicherweise hat er seine beeindruckende Muskelmasse mit Hilfe anaboler Steroide aufgebaut ...«, mutmaßte Wennerström.
»Er war behindert. Da mag es nicht so einfach sein, eine gute Figur zu behalten. Auf jeden Fall steht fest, dass er im Rollstuhl saß«, unterbrach ihn Lundquist. »Das Auto, das wir vor der Kirche gefunden haben, war speziell für Behinderte umgerüstet. Lars klemmt sich dahinter. Vielleicht finden wir über die Firma, die dieses Fahrzeug behindertengerecht umgebaut hat, seinen Namen raus.«
Wennerström stand die Verblüffung deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Ich will dir ja nicht allen Wind aus den Segeln nehmen«, begann er zögernd, »aber dieser Mann wurde nicht nur nicht von diesem Glaskreuz erschlagen, er war auch nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Und wo wir gerade dabei sind: seine Haarfarbe ist auch nicht echt.«
»So, dann lasst uns mal zusammentragen, was wir bisher über den Toten wissen«, eröffnete Sven Lundquist die Gesprächsrunde in seinem Büro.
»Einar Dahl«, sagte Ole, »der Polizist von Holm, kann sich an keinen Rollstuhlfahrer in der Gemeinde erinnern. Sein Vorgänger kann nicht mehr befragt werden, er ist vor einigen Jahren bei einem Segelunfall ertrunken. Und Jens, der Besitzer des einzigen Supermarktes im Ort, war nicht da. Seine freundliche Tochter erklärte mir, er habe Saunatag, aber sie wisse nicht, in welche Sauna er gegangen sei. Er variiere da. Ich werde also morgen noch mal hinfahren müssen.«
»Die Obduktion hat Haakan Wennerström durchgeführt«, berichtete Lundquist. »Demnach war der Tote etwa Mitte vierzig, groß und schwer, deutliches Übergewicht und verfügte über eine beeindruckende Muskelmasse. Seine letzte Mahlzeit muss er wohl bei McDonald’s eingenommen haben, etwa drei Stunden vor seinem Tod. Pommes, Burger, Cola, kein Salat. Die genaue Analyse steht noch aus. Auch die Blutwerte sowie die Gift- und Medikamentenanalyse kommen erst in einigen Tagen. Der Todeszeitpunkt war etwa zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens.«
Er sah in die Gesichter seiner Kollegen, alle wirkten blass und übernächtigt.
Lauter Wintergesichter, dachte er, dabei war es noch nicht einmal Weihnachten und der Frühling noch so weit.
»Der Tote wurde weder vom Kreuz erschlagen, noch war er Rollstuhlfahrer!«, ließ er die Katze aus dem Sack.
Sofort redeten alle durcheinander.
»Wie, was soll das heißen: Er wurde nicht vom Kreuz erschlagen?« – »Wozu brauchte er dann ein umgerüstetes Auto?« – »Dann war er ja gar nicht hilflos der Situation ausgeliefert und hätte sich wehren können.« – »Wenn er nur so getan hat, als wäre er Rollstuhlfahrer – wozu sollte das gut sein? Ich meine, welchen Vorteil sollte das haben?«
Ja, welchen Vorteil hatte das schon, dachte Lundquist verbittert. Was würde sich in seinem Leben alles verändern müssen, wenn es bei ihm erst mal soweit wäre, die Multiple Sklerose ihm die Bewegungsfreiheit nahm.
Er warf einen Seitenblick zu Lars hinüber und bemerkte amüsiert, wie sein Freund verstohlen das Display seines Handys kontrollierte. Gitte, Knysts Frau, erwartete ihr erstes Baby, und der werdende Vater zeigte langsam deutliche Spuren von Schwangerschaftsstress.
»Wenn er nicht durch das Kreuz erschlagen wurde – wie ist er dann gestorben?«
Brittas energische Stimme hatte sich in der Kakophonie durchgesetzt.
»Er wurde tatsächlich erschlagen, aber eben nicht durch das Kreuz. Haakan meint, es wurde sorgfältig auf ihm abgelegt. Sonst hätte es womöglich den Kopf abgetrennt. Erschlagen wurde er mit einem stumpfen Gegenstand aus Holz. Und es waren offensichtlich mehrere Schläge notwendig. Haakan hat einen lackierten Holzspan in der Wunde am Genick gefunden. Er meint, von einem Baseballschläger vielleicht oder einem Werkzeugstiel.«
»Und dann sollen die Täter eine Leiche in die Kirche getragen haben, um dort alles so zu arrangieren, dass es wie ein tragischer Unfall aussieht?«
Ole war verärgert.
»Und ausgerechnet in einer Kirche wollten sie einen Mord vertuschen? Was für eine kranke Idee!«
»Blasphemie«, stellte Bernt trocken fest. »Woher will Haakan das eigentlich wissen, dass er kein Rollstuhlfahrer gewesen ist?«
»Er hat eine ausgeprägte Beinmuskulatur. Haakan tippt auf hartes Training in einem Fitness-Studio. Wir müssen uns also von der Vorstellung befreien, dass wir es mit einem wehrlosen Opfer zu tun haben. Der Tote war voll durchtrainiert. Das Gewicht stammt nicht allein vom Fett, sondern in erster Linie von Muskelmasse. Er hat wohl mehrmals in der Woche trainiert. Jedenfalls war er für den oder die Mörder ein ernst zu nehmender Gegner.«
»Der jetzt endlich auch einen Namen hat: Gunnar Thaisen«, schaltete sich Lars ein, dem gerade ein Zettel ins Büro gereicht wurde. »Und dieser durchtrainierte Mann mittleren Alters, der als Bodyguard eine gute Figur abgegeben hätte, bestellt sich bei Rent & Co. ein für Rollstuhlfahrer umgerüstetes Auto. Er hat dort den Namen Gunnar Thaisen angegeben und sowohl einen Ausweis, als auch einen Führerschein mit diesem Namen vorgelegt.«
»Ist der Name schon überprüft?«
»Nein. Ich habe den Namen ja gerade erst bekommen!
Die Mietwagenfirma war ein bisschen zickig. Aber die dänischen Kollegen wollten sich gleich drum kümmern.«
Lundquist nahm einen orangefarbenen Notizzettel vom Tisch, schrieb mit einem Filzstift Gunnar Thaisen drauf und pinnte den Zettel neben eines der Fotos aus der Kirche.
»So, nun hat er erst mal einen Namen. Ist immer gut, wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat. Wenn du einen Namen hast, hast du auch Familie, Freunde, Feinde – und Motive.«
Zufrieden setzte er sich.
»Britta, wie lief’s beim Pfarrer?«
»Pfarrer Landulf ist nach Angaben seiner Haushälterin noch immer völlig geschockt.«
»Landulf – was für ein seltsamer Name für einen Pfarrer«, sagte Bernt Örneberg überraschend. »Bedeutet so was wie Werwolf. Aber ich glaube, es gab schon mal irgendwo einen Bischof mit diesem seltsamen Namen.«
»Wahrscheinlich wussten seine Eltern bei seiner Geburt noch nicht, dass er später mal Pfarrer werden würde – sonst hätten sie sicher was Passenderes gewählt. So was wie Bernt. Das passt doch eigentlich immer, nicht wahr?«, konterte Britta schnippisch. »Seine Haushälterin, Grete Bein, schien jedenfalls noch immer ehrlich entrüstet, wenn wahrscheinlich auch eher über den Schock, den der Täter dem Pfarrer zugefügt hat, als darüber, dass jemand sterben musste. Mord in der Kirche gehört sich einfach nicht.«
»Und was sagt Pfarrer Landulf dazu?«, fragte Lundquist.
»Ich finde ihn ziemlich sympathisch«, sagte Britta, »auch wenn er manchmal etwas zur Verwirrtheit neigt. Er empfindet das Ganze mehr als Affront gegen die Institution Kirche. Nach seiner Schilderung schließt er die Kirche persönlich gegen 22 Uhr ab. Anschließend geht er ins Bett. Sein Schlafzimmer befindet sich auf der Rückseite des Pfarrgebäudes und daher hätte er wahrscheinlich ohnehin nichts gehört. Grete schläft im Dachgeschoss. Sie leidet seit einiger Zeit unter Tinnitus und setzt deshalb zum Einschlafen Kopfhörer auf.«
»Wo liegt eigentlich der Schlüssel, wenn Pfarrer Landulf schlafen geht?«, wollte Lars wissen.
»Er legt ihn immer in eine Spalte unter dem Grabstein von Julia Mehnert. Das ist ein Kindergrab gleich links neben dem Turm. Er meint, es könne doch immer mal sein, dass eines der Gemeindemitglieder nachts plötzlich göttlichen Zuspruchs bedürfe, und da müsse das Haus des Herrn dem Gläubigen auch offenstehen. Alle im Dorf wissen, wo der Schlüssel liegt. Es kann also jeder rein – zu jeder Zeit.«
»Keine Sperrstunde fürs Beten!«, kommentierte Bernt und lachte keckernd.
»Weder Grete noch Pfarrer Landulf können sich an jemandem im Rollstuhl erinnern«, fuhr Britta ungerührt fort. »Aber wenn das nur Tarnung war, nutzt uns die Information ja auch nichts.«
»Gut. So viel für heute«, beschloss Lundquist. »Jetzt bleibt abzuwarten, ob die dänischen Kollegen die Familie von Gunnar Thaisen ausfindig machen können. Wo wohnte der Mann?«
»In Skagen.«
»Er kam von der Spitze Jütlands, um ausgerechnet auf Holm zu sterben? Ist ja auch die nächste Ecke! Wie dem auch sei, wenn es ihn gibt und er Familie hat, müssen die Angehörigen verständigt werden. Wir sollten den Kontakt zu den Kollegen möglichst eng halten. Lars, check doch mal in deinem PC, ob dieser Gunnar Thaisen bei uns schon mal irgendwie aufgefallen ist.«
Er erhob sich etwas unsicher und griff sich in die rechte Seite.
Zu viel Sport, zu viel Ehrgeiz bei der Physiotherapie, schimpfte seine innere Stimme, das provoziert Muskelkater.
»Morgen früh treffen wir uns alle wieder hier«, presste er etwas mühsam hervor. »Dann sehen wir weiter. Und jetzt raus mit euch ins winterliche Schneetreiben. Für heute ist Feierabend.«
Später, als er am Fenster in seinem Büro auf die Lichter der Stadt schaute und nachdenklich das Schneegestöber beobachtete, wusste er nicht, ob er diese weiße Decke, die sich auf die Natur legte und das Leben verlangsamte, begrüßen sollte: Bedeutete die Verlangsamung des Lebens auch eine Verlängerung? Wollte er das überhaupt? Er betastete seine Rumpfmuskulatur, knete seinen Bizeps. Noch fühlte sich alles straff und gesund an. Die MS hatte eine Pause eingelegt. Dauer ungewiss. Und als er an Magda und Lisa dachte, wurde ihm bewusst, er, wie sehr er die stillen Zeiten des Winters begrüßte. Es war eine verzauberte Jahreszeit mit glitzerndem Schnee, gemütlichen Abenden bei Kerzenlicht. Hinten im Park rutschten bereits die ersten Kinder auf Schlitten den flachen Hügel hinunter. Er erinnerte sich, wie seine Mutter ihn das erste Mal zum Schlittenfahren im angrenzenden Wald mitnahm. Sie trug einen Hut mit einer Fasanenfeder und einen Pelzmantel aus Luchsfell. Völlig unpassend. Sie fiel augenblicklich auf zwischen all den Anorakträgern. Peinlich.
Sie zog ihn auf dem Schlitten zu einer Schlucht, von deren Anhöhe sich wagemutige Männer auf ihren Rodeln hinunterstürzten. Schließlich entschied sie, nicht hinunterzufahren, zumal die Bahn durch kräftiges Wurzelwerk oft unterbrochen wurde, was die Gefahr noch erhöhten.
Sven war ihr einziges Kind.
Sie wollte kein Risiko eingehen.
Auf der Heimfahrt hatte er die ganze Zeit traurig das Wippen der Fasanenfeder fixiert. Sie störte ihn. Machte seine Mutter so fremd, seltsam unnahbar.
Am nächsten Tag hatten sie ihn in der Schule ausgelacht.
Wütend prügelte er sich auf dem Heimweg mit Janne. Beide trugen sie ein blühendes Veilchen davon. Aber immerhin, er hatte eine Art Unentschieden erkämpft. Die Hänseleien hörten wieder auf.
Damals hatte er oft vor Zorn über die ständige Besorgnis seiner Mutter ins Kissen geweint. Heute, als Vater, konnte er sie verstehen.
Das gedämpfte hektische Rattern der Festplatte verriet ihm, dass das mit dem Namen Gunnar Thaisen gespeiste Rasterprogramm auf Hochtouren lief.
Eine leichte Nervosität breitete sich in ihm aus, wie eine Vorahnung von großem unvermeidlich heraufziehendem Ärger, als er an das Gespräch mit seiner Mutter von gestern Abend dachte. In letzter Zeit hatte es häufig sinnlosen Streit mit ihr gegeben, und ein wenig konnte er ihren Standpunkt auch nachvollziehen, aber schließlich hatte auch er ein Recht auf ein eigenes Leben. Er war alt genug!