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Hungrig ermitteln – das geht gar nicht! Sie hantieren nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit dem Kochlöffel: Die beliebtesten deutschen Serienermittler bitten zu Tisch. Kulinarische Kurzkrimis und mörderisch gute Rezepte von: Eva Almstädt Friedrich Ani Jean Bagnol Jacques Berndorf Horst Eckert Lukas Erler Dietrich Faber Joe Fischler Nicola Förg Christiane Franke & Cornelia Kuhnert Fredrika Gers Norbert Horst Karr & Wehner Ralf Kramp Tatjana Kruse Susanne Mischke Gisa Pauly Till Raether Claudia Rossbacher
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Seitenzahl: 329
Cornelia Kuhnert
Mord macht hungrig
Kulinarische Kurzkrimis mit den beliebtesten Ermittlern – inklusive mörderischer Rezepte
Anthologie
Cornelia Kuhnert (Hg.)
Mord macht hungrig
Kulinarische Kurzkrimis mit den beliebtesten Ermittlern – inklusive mörderischer Rezepte
Anthologie
Hungrig ermitteln – das geht gar nicht!
Sie hantieren nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit dem Kochlöffel: Die beliebtesten deutschen Serienermittler bitten zu Tisch.
Kulinarische Kurzkrimis und mörderisch gute Rezepte von:
Eva Almstädt
Friedrich Ani
Jean Bagnol
Jacques Berndorf
Horst Eckert
Lukas Erler
Dietrich Faber
Joe Fischler
Nicola Förg
Christiane Franke & Cornelia Kuhnert
Fredrika Gers
Norbert Horst
Karr & Wehner
Ralf Kramp
Tatjana Kruse
Susanne Mischke
Gisa Pauly
Till Raether
Claudia Rossbacher
Die Herausgeberin, Cornelia Kuhnert, lebt in Hannover. Sie hat bereits zahlreiche (Krimi-)Anthologien herausgegeben. Gemeinsam mit Christiane Franke schreibt sie die Reihe um das ostfriesische Kulttrio Henner, Rudi und Rosa, von der im Rowohlt Taschenbuch Verlag bislang folgende Bände erschienen sind: «Krabbenbrot und Seemannstod», «Der letzte Heuler», «Miss Wattenmeer singt nicht mehr». Der vierte Band «Mörderjagd mit Inselblick» erscheint im Mai 2017.
Friedrich Ani
Eine Tabor-Süden-Geschichte
Etwas zu essen wäre gut gewesen, aber wir hatten nichts da, also begnügten wir uns mit Grünem Veltliner aus dem Kühlschrank und einer halben Flasche Mineralwasser. Edith Liebergesell, die Chefin der Detektei, und ich standen am Fenster und sahen hinunter auf den Sendlinger-Tor-Platz, wo die Frühlingssonne in die Biergläser der Gäste schien, die vor dem Wirtshaus neben dem Kino im Freien saßen und offensichtlich nicht mehr zu tun hatten als wir. Unseren letzten Auftrag hatten wir vor genau einer Woche abgeschlossen, seither vermieden wir Gedanken an die Zukunft und redeten uns, ohne es laut auszusprechen, einen sommerlichen Aufschwung ein.
«Zum Wohl», sagte sie.
«Möge es nützen!» Wir stießen mit den Gläsern an und tranken. Ich spürte den Alkohol und hatte kein Problem damit.
Das Telefon klingelte. Edith zuckte zusammen und hätte beinah etwas von ihrem Wachauer Erfrischungsgetränk verschüttet. Ich hatte mein Glas schon geleert.
«Detektei Liebergesell», sagte sie in den Hörer und stellte vorsichtshalber das Glas auf ihrem Schreibtisch ab, bevor sie den Lautsprecherknopf drückte.
«Reinhard, Paul Reinhard, ich möcht gern wen suchen lassen.»
«Einen Verwandten?»
«Nein …» Der Mann machte eine lange Pause. «Einen … einen Stammgast. Das hört sich vielleicht seltsam an.»
«Überhaupt nicht. Wie heißt der Mann?»
«Krohn. Den Vornamen weiß ich nicht, ich bin Taxifahrer, und er … Ist wahrscheinlich eine Schnapsidee, ich weiß ja nicht mal, ob er wirklich verschwunden ist …»
«Aha», sagte Edith Liebergesell.
«Er kommt einfach nicht mehr.»
«Wohin kommt er nicht mehr?»
«In … zu mir …»
Ich überlegte, ob ich mir die Zähne putzen sollte, bevor ich mich auf den Weg machte.
Als ich Paul Reinhard traf, saß er am Tresen bei «Costa’s», aß unter einem Berg Joghurtsoße begrabenes Gyros und schaute einem Gast dabei zu, wie dieser sich an einem Spielautomaten abrackerte. Da ich der Soße keinerlei Knoblauchlosigkeit unterstellte, dachte ich an das Gesicht des Fahrgastes, der als Nächster in Reinhards Taxi steigen würde und erst einmal einen olfaktorischen Schock verdauen müsste.
Obwohl Reinhard kein Wort sagte, redete der Wirt unaufhörlich auf ihn ein – zumindest kam mir das in den ersten Minuten so vor, bis ich begriff, dass Costa noch einen Zweitberuf hatte. Er war Zutexter. Egal, ob Gast oder Glas, Tisch oder Theke, Mensch oder Radio – er schimpfte und brummte, kommentierte und beantwortete seine eigenen Fragen, und wenn er vor die offene Tür trat, um eine Zigarette zu rauchen, grüßte er Passanten oder rief einparkenden Autofahrern, die ihn nicht hören konnten, Anweisungen zu.
Das «Costa’s» lag in der Klenzestraße im Münchner Glockenbachviertel, einer Gegend voller renovierter Altbauwohnungen, neu eröffneter Szenekneipen und stilvoller Geschäfte. Für die Kraken der Gentrifizierung stellte das Costa’s ein einziges Rückstoßprinzip dar.
Ich hatte mich neben Reinhard an den Tresen gesetzt und trank unterirdisches Mineralwasser. Mit phantastischer Geschwindigkeit verzehrte der Taxler das Fleisch und die weiße Masse, und was auf dem Teller liegen blieb, war nichts als ein grünes Salatblatt, von dem er akribisch die Soße abgekratzt hatte. Er warf die rote Papierserviette auf den Teller und nahm einen Schluck Cola, schmatzte, behielt das Glas in der Hand und drehte zum ersten Mal den Kopf in meine Richtung. Dann nickte er und wandte sich wieder ab. Vielleicht war er weitsichtig und hatte mich nicht erkannt.
«Herr Reinhard», sagte ich. Hinter meinem Rücken beglückte die Stimme des Wirts die Luft. «Sie haben bei uns angerufen. Detektei Liebergesell. Sie wollen jemanden suchen lassen, Herr Reinhard.»
«Buckel.»
«Herr Reinhard.»
Wieder sah er in meine Richtung, und ich roch die Würze Griechenlands. «Ich heiß Buckel, alle nennen mich so. Und Sie sind?»
«Tabor Süden. Sie wissen, dass die Detektei fünfundsechzig Euro in der Stunde kostet. Ich möchte Sie nicht hetzen, aber wir sollten nicht unnütz Zeit verstreichen lassen.»
«Sie kriegen Ihr Geld schon.»
Der Wirt räumte den Teller ab, erzählte etwas von Straßenbauarbeiten in Singapur oder Sendling, so genau war er nicht zu verstehen, und führte anschließend einen Diskurs mit jemandem in der Küche, einem Spüler vielleicht oder einer Spülmaschine.
«Geht mich eigentlich nichts an», sagte Reinhard. «Ich kenn den Mann kaum, das heißt, ich kenn ihn schon, wie man halt einen Stammkunden kennt. Frage: Kennt mich der Costa? Ich bin hier Stammgast. Kennt der mich? Eher unwahrscheinlich. Sind Sie wo Stammgast?»
«Nein.»
«Keine Stammkneipe?»
«Ich tauge nicht zum Stammgast.»
«Das weiß man vorher nie. Möchten Sie lieber Wirt sein? In so einer Kneipe?»
Möglicherweise hatte Reinhard einen Palaverkurs bei Costa absolviert.
«Costa», sagte er, «der kommt aus Griechenland, da kann man verstehen, dass er lieber in so einer Bruchbude rumsteht als daheim in seinem Korruptionsstadl.»
Ich klammerte mich an die Vorstellung, dass Knoblauch Blutdruck senkend wirkte, auch in ätherischer Form. «Sie kennen den verschwundenen Herrn Krohn seit langem», sagte ich ausatmend.
«Seit einem Jahr ziemlich genau.»
«Er hat Ihnen von sich erzählt.»
«Eher wenig.» In seinem Schweigen atmete ich zügig ein. «Sie sind auch nicht gerade der große Redner. Mir sind Fahrgäste, die nichts reden, lieber als die anderen, die meinen, sie müssen ihr Leben bei mir loswerden. Jetzt hab ich Ihren Namen vergessen.»
«Süden.»
«Sie können Buckel zu mir sagen.»
Meiner Erfahrung nach war Vergesslichkeit noch eine der angenehmeren Eigenschaften von Münchner Taxifahrern. «Herr Krohn war ein schweigsamer Mensch, trotzdem haben Sie sich angefreundet.»
«Im weiteren Sinn.»
«Im engeren Sinn nicht.»
«Was ich mein, ist, er hat zwar wenig geredet, aber er war nicht abweisend, eher zugewandt. Verstehen Sie, was ich mein?»
«Erklären Sie mir, was Sie mit zugewandt meinen, Herr Reinhard.»
«Buckel. Umgänglich, ruhig. Wir waren ja fast zweimal pro Woche unterwegs, außer an den Wochenenden, das hab ich Ihnen ja gesagt.»
«Nein.»
«Dann jetzt. Er rief regelmäßig an. Wenn ich grad andere Touren zu erledigen hatte, wartete er auf mich. Wir fuhren dann jeweils ungefähr eine Stunde, gelegentlich auch zwei, quer durch die Stadt, in die Peripherie. Manchmal muss ich anhalten, dann geht er in ein Geschäft und kommt nach fünf Minuten wieder raus. Kauft nie was. Weiß nicht, was er da drin treibt. Dann geht’s weiter, von einem Stadtteil in den nächsten. Ein System hab ich bis heut nicht erkannt, er fährt einfach drauflos, ohne Ziel. Und am Ende bring ich ihn wieder zurück, Luisenstraße 62, Rückgebäude. Da wohnt er.»
«Sie waren in den vergangenen Tagen dort und haben nach ihm gefragt.»
«Da macht niemand auf. Hab eine Nachbarin gefragt, die hatte keine Ahnung. Er ist weg. Seit … was ist heut? Freitag. Seit Ende letzter Woche. Da ist was faul, er hätt mir Bescheid gesagt, wenn er die Stadt verlässt, ganz sicher.»
«Er vertraut Ihnen also.»
«Denk schon.»
«Bei der Polizei waren Sie nicht.»
«Witzig. Der Mann ist ungefähr fünfzig, der kann machen, was er will. Wenn er abhaut, haut er halt ab, was soll die Polizei da machen? Aber er ist nicht abgehauen, das weiß ich, das spür ich, das ist so.»
Er trank seine Cola aus, schaute auf die Uhr, fischte seinen Geldbeutel aus der Windjacke.
Ich sagte: «Ihre Kollegen haben ihn auch nicht gesehen.»
«Hab ein paar gefragt, die ich besser kenn. Will mich ja nicht outen, was denken die andern dann von mir? Dass ich mich in einen Fahrgast verliebt hab? Niemand hat ihn gesehen, und das ergäb ja auch keinen Sinn. Er fährt nur mit mir, ausschließlich, hat er selber gesagt.»
«Warum gerade mit Ihnen?»
«Hab ich ihn auch gefragt. Er hat gesagt … er sagt, ich hätt ihn schon mal chauffiert, vor längerer Zeit, und da hätt ich was Wichtiges zu ihm gesagt, das ihm sehr geholfen hat. Auf jeden Fall hat er sich meinen Namen gemerkt, der steht ja auf meinem Ausweis am Armaturenbrett.»
«Und er hat genügend Geld für die langen Fahrten.»
«Offensichtlich.»
«Dann machen wir uns gleich morgen früh auf den Weg.»
«Ich muss ausschlafen, bin die ganze Nacht gefahren.»
«Wir fahren die Strecken ab, die Herr Krohn genommen hat.»
«Ist nicht Ihr Ernst.»
«Unbedingt.»
«Und ich muss Sie dafür in meinem eigenen Taxi bezahlen?»
«Ich arbeite für Sie.»
Er dachte nach, klopfte mit dem Portemonnaie auf den Tresen, hauchte mich an. «Hoffentlich finden Sie was raus. Pagare, Costa!»
Am Anfang sah es so aus, als würden wir wahllos Straßen abfahren, Stadtteile durchqueren und vor willkürlich ausgewählten Geschäften anhalten. Immer wieder fragte ich Paul Reinhard, ob er die Strecken richtig in Erinnerung habe, und er meinte, er fahre nicht erst seit vorgestern Taxi, er könne sich Wege und Orte merken. Trotzdem erschienen mir die Routen keinen Sinn zu ergeben.
Was wollte Krohn in der Bergsonstraße nahe der S-Bahn-Haltestelle Langwied am ausfransenden Westteil der Stadt? Wer wohnte hier? Was gab es hier zu sehen? Er stieg nicht aus, blieb einige Minuten im Taxi sitzen und dirigierte den Fahrer zurück in die Innenstadt, über die Verdistraße, vorbei am Botanischen Garten und zurück in die Maxvorstadt, wo er wohnte. Am nächsten Tag in den Norden der Stadt, über Milbertshofen hinaus bis zum Hasenbergl, ein andermal fast bis nach Waldtrudering im Osten oder nach Grünwald, jedes Mal mit kurzen Zwischenstopps an einem Laden, einem Kiosk, einem Haus, an dessen Gartenzaun Krohn verweilte, ohne hinterher ein Wort darüber zu verlieren.
Auf diese Weise gab er etwa einhundert Euro in der Woche fürs Taxifahren aus, in einem Jahr knapp fünftausend Euro.
«Die Summe könnt hinkommen», sagte Buckel Reinhard.
«Und Sie haben ihn nicht gefragt, für was er so viel Geld ausgibt.»
«Ein Wohltäter der Taxigenossenschaft.»
Als langjähriger Taxibenutzer vermutete ich, dass die meisten Fahrer denselben Gag-Schreiber beschäftigten, irgendeinen grauhaarigen Ex-Alkoholiker aus Giesing, der seine Pointen seinerzeit im Augustinerstüberl an mumifizierten Stammgästen erprobt hatte.
«Beschreiben Sie Herrn Krohn», sagte ich. «Sein Aussehen, seine Ausstrahlung, sein Gemüt.»
Er schaute sich um, als wäre er in Kirgisien gelandet. «Wo jetzt weiter? Die Einbahnstraßen im Westend machen mich fertig.»
«Richtung Grünwald, Harlaching.»
«Das liegt ja fast auf meinem Heimweg.»
«Wo wohnen Sie?», fragte ich.
«Untersbergstraße.»
«Ich wohne auch in Giesing.»
«In Giesing wohnen die wahren Münchner.»
Bestimmt wieder ein Bonmot jenes legendären Gag-Schreibers. «Weiter mit Krohn», sagte ich.
«Ich denk nach. Groß ist er. Eins fünfundachtzig, circa. Schlank, eher dürr. Haare sehr kurz, dunkel. Hände eigentlich immer in den Manteltaschen, hellbrauner Wildledermantel. Rollkragenpullover, glaub ich. Ja, stimmt. Bartstoppeln, also eher unrasiert. Und eine runde Brille, Nickelbrille. Blasser Typ, wirkt müde. Erschöpft. Aber nicht lethargisch, klar? Er weiß schon, was er will. Was er will? Keine Ahnung. Lacht selten, aber kein mürrischer Mann. Verschlossen. Höflich distanziert. Was war das Dritte?»
«Sein Gemüt.»
Reinhard hupte einen Autofahrer an, der mit seinem Wagen bei Gelb immer noch nicht losgefahren war. «Das Gemüt eines unabhängigen Mannes, würd ich sagen. Er trägt keine Uhr, fällt mir grad ein. Hat auch nie nach der Uhrzeit gefragt. Ein freier Mensch.»
«Trotzdem müde und erschöpft.»
«Sie sagen es. Was machen wir in Harlaching, wenn wir da sind?»
«Sie halten an derselben Stelle wie mit Krohn.»
«Ist ja lächerlich.»
«Warum?»
«Die Stelle weiß ich nicht mehr, das ist Monate her.»
«Krohn besitzt auch kein Handy.»
«Ich hab ihn nie telefonieren sehen. Nicht, wie andere Leute, die ständig …»
«Er wirkt auch nicht verwahrlost.»
«Auf keinen Fall.»
«Er hat immer im Voraus bezahlt.»
«Woher wollen Sie das wissen?»
«Stimmt’s nicht?»
«Stimmt schon. Ist doch egal.»
«Er hat Ihnen keine Straße genannt, zu der er wollte. Wenn er nicht im Voraus bezahlt hätte, hätten Sie ihn nicht mitgenommen.»
«Ich muss überhaupt niemanden mitnehmen, wenn ich nicht will, egal, wie viele Scheine der hinblättert.»
«Krohn haben Sie mitgenommen, von Anfang an.»
«Er wirkte absolut seriös.»
«Und er hat Ihnen kein Geld gegeben.»
Buckel Reinhard krümmte sich hinter dem Lenkrad. Vielleicht wollte er seinem Spitznamen alle Ehre machen, oder er unterdrückte Flatulenzen aufgrund griechischer Gewürzmischungen. Letzteres würde ich ihm hoch anrechnen. Mit den bisherigen Gerüchen war der Sauerstoff im Taxi voll ausgelastet.
«Ja, gut, er gab mir einen Hunderter und meinte, er will einfach nur rumfahren, durch bestimmte Viertel, nichts Spezielles. Ob das möglich sei, fragte er. Das war an einem Nachmittag, also keine Nachtfahrt irgendwohin. Er setzte sich nach hinten, und los ging’s.»
Ich schwieg. Er wartete auf weitere Fragen.
Ich schwieg.
Nach fünfzehn Minuten erreichten wir Harlaching.
«Wissen Sie noch, wo Ihre erste Fahrt hinging?», sagte ich.
«Ich glaub, hierher. Aber wir sind gleich wieder umgekehrt, glaub ich.»
«Und er hat nie einen Beruf erwähnt.»
«Nein. Einmal, glaub ich, hat er davon gesprochen, dass er mal als Kameramann gearbeitet hat. Anscheinend nicht lang, wenn ich das richtig verstanden hab. Das Thema war dann erledigt.»
«Kameramann», sagte ich.
«Nachdem er nicht drauf eingestiegen ist, hab ich nicht weiter nachgebohrt. Ich horch meine Kunden nicht aus, erst recht nicht meine Stammkunden. Ich halt dann mal hier am Kiosk. Ich könnt ein Wasser vertragen, Sie?»
Ich könnte atlantische Salzluft vertragen und sagte: «Nein. Verdienen Sie gut als Taxifahrer?»
Er drehte sich zu mir um. Schlagartig erinnerte ich mich an einen Felsen in der Bretagne, auf dem ich vor Jahren gestanden und den Wind inhaliert hatte.
«Was soll die Frage? Kennen Sie einen reichen Taxifahrer? Ich nicht. Wir sind ungefähr dreitausend in der Stadt und der näheren Umgebung. Gut verdienen geht anders.»
«Trotzdem beauftragen Sie eine Detektei, um nach einem Mann suchen zu lassen, den Sie kaum kennen. Woher haben Sie das Geld?»
Er wandte sich um, öffnete die Fahrertür, hielt inne.
«Hat er Ihnen Geld geschenkt?», sagte ich. «Der verschwundene Herr Krohn? Und jetzt haben Sie ein schlechtes Gewissen?»
«Das Geld spar ich mir vom Mund ab, klar?» Er stieg aus und machte sich auf den Weg zum Kiosk. Das Klingeln einer Straßenbahn ertönte.
«Auf deine Bitte hin hab ich mehrere Produktionsfirmen angerufen, anschließend ein paar Fernsehsender, die in Unterföhring und Freimann sitzen», sagte Edith Liebergesell am Telefon.
Ich stand vor Costas Kneipe, hielt mir das Handy ans Ohr und versuchte, die Stimme des Wirts zu ignorieren, der einen Passanten in einen Disput über Steuerhinterziehungen in Burma oder Belgien oder Berg am Laim verstrickt hatte, sein Deutsch hörte sich an wie der ausgestorbene Dialekt einer intergalaktischen Esperantoform.
«Es gab tatsächlich einen Kameramann mit dem Namen Krohn, Georg Krohn», sagte Edith. «Er machte früher Shows, dann Serien und stieg offenbar ins Kinogeschäft ein. Aber niemand konnte mir sagen, was er heute macht.»
«Hast du seine Telefonnummer?»
«Eine Festnetznummer. Ich hab angerufen, kein Anrufbeantworter.»
«Hat Krohn eine Familie?»
«Er war verheiratet, und wir haben Glück: Seine Exfrau ist Cutterin, sie arbeitet für eine der Firmen, mit denen ich gesprochen hab. Ines Wells. Nach der Scheidung nahm sie wieder ihren Mädchennamen an. Sie wohnt in der Georgenstraße.»
Costa rauchte und fing dann an, mit finsterer Miene auf mich einzureden. Als wäre ich schuld an seiner Existenz als Steuer zahlender Wirt. Worum es genau ging, war schwer zu sagen. Als ich den Namen Buckel Reinhard erwähnte, bezeichnete Costa ihn als selbstgefällig und ausländerfeindlich. Für Buckel, so der Kosmopolit Costa, seien sämtliche Südländer nichts als Faulpelze und Schmarotzer. Auf meinen Einwand, Reinhard mache am Tresen so gut wie nie seinen Mund auf, spuckte der griechische Wirt auf die Straße, drückte seine Kippe im Sandaschenbecher neben der Treppe aus und warf mir einen brutal anmutenden Blick zu. Der Buckel, sagte er, brauche nur einen Satz zu sagen, dann sei klar, was er denke. Außerdem habe er in jüngster Zeit mit Hundert-Euro-Scheinen um sich geworfen.
Nachdem Costa wieder reingegangen war, sortierte ich seine Worte in meinem Kopf und rief den Taxifahrer an.
«Der Wirt ist verrückt, ein irrer Grieche», rief Reinhard ins Telefon. «Sie können dem Mann doch nicht glauben, das wär ja Wahnsinn.»
«Sie haben nicht mit Geldscheinen geprahlt.»
«Ich prahl nicht, Herr Süden. Und jetzt möcht ich ins Bett, ich hab morgen Tagschicht.»
«Woher stammt das Geld, das Sie in der Kneipe hergezeigt haben und mit dem Sie auch mich bezahlen?»
«Alzheimer? Ich hab Ihnen gesagt, wo’s herkommt, aus meinem kargen Privatbesitz. Und deswegen wär’s sehr angenehm, wenn Sie den Mann bald finden würden. Damit ich nicht noch einen Kredit aufnehmen muss wegen Ihnen und Ihrer Detektei.»
«Sie haben Angst, Krohn könnte sich etwas antun.»
«Möglich.»
Sie war schwer erkältet, schniefte, hustete und trank Tee mit Rum.
«Wenn Sie nichts dagegen haben, leg ich mich wieder auf die Couch», sagte Ines Wells. «Mir zittern irgendwie die Beine.»
«Ich bleibe nicht lang. Sagen Sie mir, was Sie von dem halten, was ich Ihnen am Telefon erzählt habe.»
«Dass mein Exmann womöglich verschwunden ist? Dass er sich was antun will? Dass er ständig mit dem Taxi fährt?» Sie hustete. «Wir haben keinen Kontakt mehr, seit unserer Scheidung. Das letzte Mal vor … Bei der Beerdigung von Linus … Das ist unser Sohn, das war … Ja …»
«Linus ist jung gestorben.»
«Dreiundzwanzig. Er … Er war im Gefängnis, ein Mithäftling hat ihn … Sie hatten Streit, Linus neigte zu … Er konnte sehr gewalttätig werden. Wieso setzen Sie sich nicht? Bitte, wenn Sie so rumstehen …»
«Ich stehe lieber.»
Sie schnäuzte sich, vergrub die Hände unter der Decke und schien kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Ich sagte: «Linus wurde im Gefängnis getötet.»
«Er wurde erstochen.»
«Warum war er verurteilt worden?»
Sie setzte mehrmals an, bis ihr die Sätze gelangen. «Ach, Herr Süden … Wir haben ihn verloren, schon lang. Sein Vater hat Tag und Nacht gearbeitet. Georg wollte Karriere machen … Ins Filmgeschäft einsteigen, stattdessen drehte er eine Serie nach der anderen. Er verdiente gutes Geld, aber …»
Sie wurde von einem Husten geschüttelt. «Entschuldigung. Er wollte immer da raus und richtige Filme drehen. Aber Linus … Und ich hab auch viel gearbeitet … Er hat eine Frau erschlagen, Linus, nachts, mit einem Freund, einem … Sie haben die Frau verfolgt, sie kam aus der U-Bahn … Schrecklich. Linus war wahrscheinlich nur ein Mittäter, angetrunken, sehr betrunken … Sie wurden beide wegen Totschlags verurteilt, Linus war achtzehn, der andere siebzehn …»
Nach einem Schweigen sagte ich: «Ihr Exmann hatte keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn.»
«Er hat ihn öfter besucht, aber … Linus verachtete alles, was wir machen, die Filme, das Schauspielermilieu, das Drumherum, das alles … Ich glaub, ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Süden.»
«Sie helfen mir sehr, Frau Wells. Sie haben sich wegen Linus scheiden lassen, weil er Ihr gemeinsames Leben zerstört hat.»
«Ja. Oder: ich weiß nicht, vielleicht deswegen auch. Der wesentliche Grund für mich war, dass …»
«Bleiben Sie doch liegen.»
Unter Stöhnen richtete sie sich auf, stützte sich mit beiden Armen auf dem Polster ab. «Mir wird schwindlig. Georg unterschrieb allen Ernstes bei einem Film, der … Ein Film, der von der Frau handelte, die unser Sohn erschlagen hatte, stellen Sie sich das vor! Eine Liebesgeschichte, die ein schwedischer Regisseur verfilmen wollte, hier in München. Keine Ahnung, wieso ein Schwede auf die Idee kam … Ich hab Georg gefragt, ob er sich nicht schämt, da mitzumachen, und er hat nur geantwortet, das sei sein erster Kinofilm, seine große Chance, endlich …»
«Wo in München wurde gedreht?»
«Überall in der Stadt. In einer Villa draußen in Harlaching … Der Film wurde nie fertig. Ich hab das nicht ertragen, ich hab Georg einfach nicht verstanden. Ich fand sein Verhalten zynisch, der toten Frau gegenüber, der ganzen Geschichte … Ehrlich gesagt, es ist mir egal, ob er verschwunden ist und je wieder auftaucht.»
«Sie sind gefahren, Herr Reinhard, und haben Ihr Geld verdient.»
«Ich bin Taxifahrer, wer zahlt, schafft an.»
«Verständlich bei 2999 Konkurrenten.»
«Was?»
«Wie viel Geld hat er Ihnen geschenkt?»
«Keins.»
«Sie lügen. Das ist normal. Aber ein Restgewissen besitzen Sie noch, sonst hätten Sie mich nicht beauftragt, den selbstmordgefährdeten Mann zu suchen.»
«Aussteigen!»
Ich sagte: «Erst, wenn wir da sind. Ich zahle, Sie fahren.»
Buckel Reinhard setzte mich an der Nördlichen Münchner Straße ab, an der Abzweigung der Forsthausstraße, unweit des Bavaria Filmgeländes. Hier, hatte Reinhard erklärt, sei Krohn öfter ausgestiegen und spazieren gegangen, ohne zu erklären, wohin und warum.
Nach etwa zweihundert Metern entdeckte ich ein offensichtlich unbewohntes Einfamilienhaus mit angegrauter Fassade, an dessen Fenstern die Rollos heruntergelassen waren. Das Gartentor war nicht verschlossen.
Ich ging zur Rückseite des Gebäudes und schaute durch die Terrassentür. Im Wohnzimmer, einen Meter von der Tür entfernt, stand ein Mann in einem hellbraunen Wildledermantel, die Hände in den Taschen, und starrte reglos nach draußen.
Als er schließlich die Terrassentür öffnete, sah ich, dass hinter ihm ein Seil von der Decke baumelte und sein bleiches Gesicht nass von Tränen war.
Mit schlurfenden Schritten ging er auf dem Parkettboden auf und ab, die Hände in den Taschen seines Mantels. Manchmal, wie aus Versehen, hob er den Kopf und sah mich an. «Der Taxifahrer hat nie Fragen gestellt, das gefiel mir», sagte Georg Krohn. «Auch wenn ich schnell gemerkt habe, dass er nicht rücksichtsvoll sein wollte, er war einfach nur normal gleichgültig. Gut für mich. Ich fuhr wie besessen hin und her, kreuz und quer, zu den Orten, die wir uns als Motive ausgesucht hatten, damals, Filip und ich.»
«Der schwedische Regisseur.»
«Regisseur und Produzent. Er wollte Ariadne heiraten. Die Frau, die dann auf so bestialische Weise erschlagen worden ist. Die mein Sohn erschlagen hat, gemeinsam mit dem anderen Jungen, ja, aber den kenne ich nicht. Filip drehte damals in der Bavaria eine europäische Co-Produktion, Ariadne arbeitete als Assistentin des Aufnahmeleiters. Filip hat ihren Tod nie verwunden, deswegen beschloss er, einen Film zu machen. Um seinen Schmerz zu kanalisieren. Geht das? Kann das klappen?»
«Manchmal», sagte ich.
Krohn nickte. «Und über seinen Co-Produzenten lernte ich ihn kennen. Sein Kameramann war krank geworden, und der Produzent schlug mich vor. Meine Chance. Ich wusste zuerst nicht, worum es in dem Film gehen sollte. Erst als wir uns zum ersten Abendessen trafen, Filip, die Produzenten, ich …»
«Sie haben ihm nicht gesagt, dass Ihr Sohn an der Tat beteiligt war.»
Krohn rang nach Worten. «Er hätte mich umgebracht. Ich wollte den Film drehen, unter allen Umständen.»
«Aber der Film wurde nicht gemacht.»
«Acht Wochen Vorbereitung, eine Woche Dreh, Ende. Filip wurde verhaftet. Er hatte Schwarzgeld in Luxemburg gebunkert, fast zwei Millionen Euro. Blöder Kerl.»
«Und Ihre Frau hatte die Scheidung schon eingereicht.»
«Ich bin zu ihr gegangen und habe ihr achtzigtausend Euro auf den Tisch gelegt. Das Geld war von Filip, er hat es mir dagelassen, er sagte, ich soll es aus dem Fenster werfen. Hab fast alles in die Isar geworfen. Siebentausend habe ich dem Taxifahrer geschenkt, der hat seinen Augen nicht getraut.»
«Doch Ihre Frau kam nicht zu Ihnen zurück.»
«Nein. Mein Sohn kam auch nicht zu mir zurück. Er wurde erstochen, im Knast. Elendiglich.»
«Sie sollten jetzt das Seil abschneiden, Herr Krohn», sagte ich.
Er sah hin. «Zu feig, mich aufzuhängen. Zu feig, Filip ins Gesicht zu sagen: mein Sohn hat deine Geliebte erschlagen. Zu feig. Zu feig.»
Eine Weile standen wir wortlos da.
«Der Taxifahrer soll damals etwas zu Ihnen gesagt haben, was Sie nie vergessen konnten, deswegen hätten Sie ihn wiedererkannt.»
Ein mickriges Lächeln huschte über Krohns Gesicht. «Ganz bestimmt nicht, das bildet er sich ein. Wie gesagt, seine Gleichgültigkeit machte das Jahr nach dem Tod meines Sohnes für mich erträglicher. Ich fuhr durch die Gegend wie in einem endlosen Film. Und wie geht’s jetzt weiter?»
«Und wie geht’s jetzt weiter mit dem Mann?», fragte Edith Liebergesell.
Etwas zu essen wäre gut gewesen, aber das hatten wir wieder einmal zu spät begriffen und waren bereits beim vierten Glas angelangt. Ein dürftiger Veltliner, den sie in dem Lokal gegenüber der Detektei servierten, aber wir hatten uns daran gewöhnt, vor allem ich, dessen Körper seit jeher die Heimat des Bieres war. Das Bier jedoch, das in der Torstubn aus dem Hahn kam, wurde mit Wasser aus der Kanalisation gebraut, anders war der Geschmack nicht zu erklären.
«Krohn hat versprochen, sich wieder bei einem Sender zu bewerben», sagte ich. «Gute Kameraleute werden immer gebraucht.»
«So akribisch wie diesmal hast du selten deine Arbeitsstunden aufgeschrieben. Buckel Reinhard wird sich dafür den Buckel krumm arbeiten müssen.»
«Dafür hat er von jetzt an viel Zeit. Er will nämlich Costa’s Kneipe nie wieder betreten. Seine Zeit als Stammgast sei vorbei, sagt er.»
«Das sagen wir hier auch immer.» Edith Liebergesell hob ihr Glas. «Zum Wohl.»
«Möge es nützen!»
Wir tranken.
«Hast du ein Kilo Knoblauch gegessen?», fragte sie und schnupperte beleidigend.
Nicht zu verifizieren, basiert auf vagen, auch widersprüchlichen Aussagen eines gewissen Costa G., Betreiber der «Grillstation», Untersbergstraße, München-Giesing.
Gyros: mehrere Schichten Schweinenacken am Grillspieß, neun Knoblauchzehen, sechs Zwiebeln, als Gewürze Koriander, Oregano, Basilikum, Rosmarin, Thymian (alles getrocknet), Cayennepfeffer, Meersalz (!), Kreuzkümmel, Sonnenblumenöl. Serviert mit gemischtem Salat und scharfem Tzaziki im Teigfladen (Pita). Jägermeister bei Bedarf gratis.
Gisa Pauly
Carlotta Capella horchte auf, als das Martinshorn sich näherte. Sie blieb stehen, setzte ihren Einkaufskorb ab und lauschte, bis sie sicher war, woher das schreckliche Geräusch kam. Es war ihr von Feinkost Meyer gefolgt, wo sie fürs Mittagessen eingekauft hatte, raste jetzt an ihr vorbei, so laut, dass es in den Ohren weh tat, und jagte die Westerlandstraße hinunter, auf die Nordseeklinik zu. «Dio mio», flüsterte sie.
Wer mochte in diesem Krankenwagen liegen? Irgendein armer Tropf, der mit dem Tod rang? Womöglich nur durch eine riskante Operation zu retten? Und daheim bangten Angehörige um sein Leben, zündeten in der Friesenkapelle von Wenningstedt eine Kerze an und …
Bevor ihre lebhafte Phantasie ihr das Bild von sieben unmündigen Kindern, einer an Schwindsucht dahinsiechenden Mutter und einem mit Hypotheken belasteten Eigenheim vorgaukeln konnte, wurde sie abgelenkt. Ihr Blick fiel auf Frau Kemmertöns, die die Westerlandstraße überquerte. Diese blickte dem Krankenwagen genauso besorgt nach wie die Schwiegermutter des Sylter Kriminalhauptkommissars.
«Schrecklich», begann Mamma Carlotta das Gespräch, kaum dass die Nachbarin auf Hörweite herangekommen war. «Was mag da passiert sein?»
Frau Kemmertöns wollte ein paar Mutmaßungen äußern, kam jedoch nicht dazu. Carlotta Capella war wie immer schneller, ihr italienisches Temperament dem friesischen weit überlegen. Während Frau Kemmertöns noch darüber nachdachte, wie sie ihren Gedanken Ausdruck verleihen und ihre Meinung formulieren könnte, hatte Mamma Carlotta schon alles herausgesprudelt, was sie bewegte. Das, was Frau Kemmertöns auf der Zunge lag, gleich mit. Wenn Carlottas Deutsch auch noch nicht fehlerfrei war, redete sie dennoch bereits schneller als jede Friesin, die mit der deutschen Sprache aufgewachsen war.
Während sie Seite an Seite den Süder Wung hinabgingen, erfuhr Frau Kemmertöns etwas von der medizinischen Versorgungslage in Mamma Carlottas italienischem Dorf und bei dieser Gelegenheit auch gleich von der verzweifelten Sorge ihrer Nachbarin Signora Maldini, als deren Mann sich beim Heimwerken mit der Säge den kleinen Finger abgetrennt hatte. Die entsetzte Gattin rief sofort nach dem Rettungswagen, und das verzweifelte Warten begann, nachdem die Sanitäter am Telefon die Anweisung gegeben hatten, den abgetrennten Finger im Mund aufzubewahren, damit er am Leben erhalten wurde und später im Krankenhaus wieder angenäht werden konnte. «Madonna, wir mussten eine Stunde warten!»
Während dieser Zeit fühlte Signor Maldini aufgrund seiner Schmerzen sein letztes Stündchen nahen und hatte das Bedürfnis, sein Gewissen zu erleichtern, bevor er diese Welt verließ. Was er seiner Frau während des Wartens gestand, machte diese so wütend, dass sie unmöglich den Mund halten konnte, in dem sie eigentlich den Finger ihres Mannes am Leben erhalten sollte. Das Bedürfnis, dem untreuen Gatten die Meinung zu sagen, war zu groß. «Sie vergaß den Finger in der rechten Backentasche, verschluckte sich prompt und …» Frau Kemmertöns’ Augen wurden groß, ungläubig starrte sie Mamma Carlotta an, als diese ergänzte: «Der Finger war weg. Zwar hat Signora Maldini noch versucht, ihn herauszuwürgen, aber vergeblich.» Als der Rettungswagen kam, waren weder der Finger noch die Ehe der Maldinis zu retten. Wohl aber der Verletzte! Er überlebte! «Allerdings musste er von da an mit neun Fingern und ohne Ehefrau auskommen.»
Nach Mamma Carlottas Meinung wäre das auf Sylt nicht passiert, wo der Krankenwagen in wenigen Minuten zur Stelle war und genauso schnell in der Nordseeklinik ankam, während es in Umbrien Stunden dauern konnte, bis er sich von Città di castello die Serpentinen heraufgequält und in ähnlicher Geschwindigkeit wieder vom Berg herunterbewegt hatte. «Ein Blaulicht haben wir in Umbrien zwar auch, und Krach machen unsere Krankenwagen ebenso, aber bis ein Todkranker endlich im Krankenhaus von Città di Castello liegt, ist er meist nicht mehr zu retten.» Bevor sie an der Haustür angelangt waren, pries sie noch ausführlich die hervorragende ärztliche Versorgung auf Sylt, die breiten Straßen, auf denen der Krankenwagen so schnell fahren konnte, wie es nötig war, und die Nähe der Nordseeklinik. «Auf Sylt ist alles einfacher.»
Nun gelang Frau Kemmertöns ein Einwand: «Ich habe übrigens gesehen, wer neben dem Arzt im Krankenwagen saß.»
«Ein Angehöriger? Ehemann, Ehefrau, Sohn, Tochter?» Mamma Carlotta hätte die Nachbarin am liebsten geschüttelt, damit die Neuigkeiten schneller aus ihr herauspurzelten.
«Der Bruder von Frau Johannsen», entgegnete Frau Kemmertöns bedächtig. «Die beiden wohnen seit dem Tod ihrer Eltern zusammen in dem kleinen Häuschen Richtung Braderup. Beide unverheiratet. Anscheinend ist Stine etwas zugestoßen.»
Mamma Carlotta ließ sich Frau Johannsen und ihren Bruder beschreiben, musste aber einsehen, dass ihr diese beiden nicht bekannt waren.
«Dann haben Sie Stine und Wilko noch nie erlebt. Wer einmal mitbekommen hat, wie sie sich an der Kuchentheke oder bei Gosch streiten, vergisst sie nicht. Ob es am Nachmittag Friesentorte oder Apfelkuchen geben soll zum Beispiel. Oder am Abend Kartoffelsalat oder Fischbrötchen.» Frau Kemmertöns schüttelte bekümmert den Kopf. «Zank und Streit ist bei denen an der Tagesordnung. Morgens geht es schon los, weil jeder die Zeitung als Erster lesen will, und das bleibt so, bis sie sich am Abend über das Fernsehprogramm in die Haare kriegen.»
Dieses interessante Zusammenleben hätte Mamma Carlotta eigentlich gern länger erörtert, aber ihr fiel ein, dass sie frischen Fisch in der Tasche hatte, der allmählich das Einwickelpapier durchfeuchtete. «Ich werde meinen Schwiegersohn fragen, ob er weiß, was mit Stine Johannsen geschehen ist.»
Sie erschrak, als Frau Kemmertöns mit einem Mal eine Hand vor den Mund schlug. «Du lieber Himmel! Da fällt mir was Schreckliches ein! Oh Gottogott, die arme Stine!»
Als Erik Wolf zum Mittagessen nach Hause kam, hatten Mamma Carlotta und die Nachbarin ihr Entsetzen und ihre Angst bewältigt, indem sie den Grappa ausgetrunken und, als die Flasche leer war, auch noch den Vin Santo vernichtet hatten. Danach waren die Sorgen erträglicher geworden, ihre Zungen jedoch schwerer, und ihre Urteilskraft war komplett lahmgelegt. Keine der beiden war mehr zur Objektivität fähig und in der Lage, auf Übertreibungen zu verzichten, was Mamma Carlotta schon in nüchternem Zustand schwerfiel. Dass der Fischtopf, den seine Schwiegermutter am Morgen angekündigt hatte, fertig geworden war, ohne anzubrennen oder durch Versalzen ungenießbar zu werden, versetzte Erik in Staunen.
Noch bevor er sich nach dem Grund für das außerplanmäßige Gelage erkundigt hatte, hob er den Deckel, schnupperte, nahm eine Kostprobe und schloss genießerisch die Augen. «Wunderbar!»
Dann erst konnte er glauben, dass die Sylter Bevölkerung und die Wenningstedter Touristen von einer schrecklichen Gefahr heimgesucht wurden. Frau Kemmertöns hielt er auch im angetrunkenen Zustand für eine vernünftige Frau, die nichts aufbauschte und nichts hinzufügte, nur um eine Erzählung spannender zu gestalten, wie es die Gewohnheit seiner Schwiegermutter war. Dennoch ließ er sich erst auf den Bericht ein, als sein erster Hunger gestillt war. Danach wuchs seine Sorge mit jeder Gabel, und als er aufgegessen hatte, nahm er sein Handy und wählte die Nummer der Nordseeklinik. Erst nach dem Gespräch mit dem diensthabenden Arzt rief er Kommissar Kretschmer an. «Es könnte sein, Sören, dass bei Feinkost Meyer Tiefkühlware vergiftet wurde. Römischer Fischtopf!» Mit einem Mal wurde er blass, hielt den Hörer vom Ohr weg und fragte seine Schwiegermutter: «Du hast den Fischtopf, den ich gerade gegessen habe, doch selbst gemacht?»
«Certo, Enrico!», beteuerte Mamma Carlotta. «Du glaubst doch nicht, dass ich ein Fertiggericht auf den Tisch bringe.»
Nein, das glaubte Erik tatsächlich nicht. So konnte er Sören in aller Ruhe auseinandersetzen, was der Insel Sylt drohte. «Die Patentochter von Frau Kemmertöns ist eine Nachbarin der Geschwister Johannsen. Und Wilko Johannsen hat ihr in betrunkenem Zustand anvertraut, dass er sich mit dem Gedanken trägt, seine Schwester umzubringen. Und zwar mit genau dem Fischtopf, den sie ihm ständig vorsetzt, obwohl er ihn nicht mag. Er soll gesagt haben, dass seine Schwester den tiefgekühlten Fischtopf immer bei Feinkost Meyer kauft. Und vorsichtshalber wolle er dort das gesamte Angebot vergiften, damit der Verdacht nicht auf ihn fällt, sondern auf die Tiefkühlfirma.»
Sören war nicht überzeugt. «Wer so was plant, der redet doch nicht vorher darüber.»
«Er war betrunken.»
«Im Suff hat er sich was zusammenphantasiert, was er gern täte, sich aber niemals trauen wird, wenn er nüchtern ist.»
«Es heißt auch, Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit.»
Sören schwieg eine Weile, dann antwortete er leise: «Sie meinen, wir dürfen kein Risiko eingehen?»
«Tatsache ist, dass Stine Johannsen heute ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Und die Symptome könnten auf eine Vergiftung hinweisen, das hat mir der Arzt gerade bestätigt.»
Der Filialleiter von Feinkost Meyer raufte sich die Haare, als Erik und Sören bei ihm vorsprachen. «Ich habe dreißig Packungen ‹Römischer Fischtopf› in der Tiefkühltruhe.»
«Wir müssen sie beschlagnahmen.»
Der Filialleiter wehrte sich mit Händen und Füßen, hielt es für ausgeschlossen, dass sich jemand mit finsteren Absichten unbemerkt seiner Tiefkühltruhe nähern könnte, und war ganz sicher, dass ein Kunde mit einer Giftspritze in der Hand von einem Angestellten bemerkt worden wäre … aber schließlich knickte er ein. Als Erik ihm ausmalte, was geschehen würde, wenn ein Kunde durch ein vergiftetes Tiefkühlgericht, das er bei Feinkost Meyer gekauft hatte, ums Leben kam, sah er ein, dass er handeln musste. Er gab Anweisung, den gesamten Bestand «Römischer Fischtopf» aus dem Sortiment zu nehmen.
«Wie viele sind in den letzten Tagen verkauft worden?», erkundigte sich Erik.
Der Filialleiter bemühte seine Buchführung, dann wusste er, dass zwölf Packungen über die Ladentheke gegangen waren. «Hoffentlich lagern die noch in irgendwelchen Tiefkühltruhen», jammerte er. «Was, wenn sie schon verzehrt worden sind?»
«Dann hätte uns die Nordseeklinik längst informiert», beruhigte Erik ihn. «Nun müssen wir verhindern, dass die zwölf Packungen aufgetaut und gegessen werden.»
Mamma Carlotta hatte sich inzwischen entschlossen, die aufregenden Neuigkeiten dorthin zu tragen, wo niemand sie unterbrach, wo man ihr Glauben schenkte, wenn auch nur aus Bequemlichkeit, wo man sie nicht der schamlosen Übertreibung bezichtigte, wie Erik es gern tat, und wo man sich freute, dass eine redete und die anderen den Mund halten konnten. Als sie nach der Siesta den Eindruck hatte, dass sie den Alkoholgenuss vom Vormittag verkraftet hatte, machte sie sich auf den Weg zu Käptens Kajüte, einer Imbissstube am Hochkamp, wo eine Bratwurst schwarz wie ein Espresso war und dieser die Farbe eines Bratherings hatte, wo aus den Fischbrötchen der Sud tropfte und die Fischfrikadellen mit Vorsicht zu genießen waren. Der Rotwein jedoch war exzellent. Tove Griess, der Wirt, hatte ihn immer unter der Theke stehen, sobald die Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars auf Sylt erwartet wurde, wenn er sich auch sonst nicht durch besondere Zuvorkommenheit auszeichnete. Kein Wunder, dass er nur einen einzigen Stammgast hatte, den Strandwärter Fietje Tiensch, der in Käptens Kajüte seine gesamte Freizeit verbrachte. Beide, Wirt und Strandwärter, hatten in Wenningstedt keinen guten Ruf. Tove Griess war cholerisch und gewalttätig und wurde regelmäßig von Erik in Polizeigewahrsam genommen, und Fietje Tiensch war ein inselbekannter Spanner, der immer wieder Vorladungen erhielt, weil empörte Touristen ihn vor ihrem Schlafzimmerfenster ertappt hatten. Natürlich wollte Erik Wolf nicht, dass seine Schwiegermutter diese beiden zu ihrem Bekanntenkreis zählte, und sie hatte sogar Verständnis dafür. Aber es war ja ein Leichtes, Erik die Sorge zu nehmen und trotzdem in Käptens Kajüte einzukehren: Sie achtete eben sorgfältig darauf, dass ihr Schwiegersohn nichts davon mitbekam.
«Buon giorno!», rief sie enthusiastisch, als sie die Imbissstube betrat, und sah darüber hinweg, dass Tove Griess vor Schreck eine der Frikadellen aus der Hand rutschte, die er gerade in sein Angebot platzierte. «Come sta? Tutto bene?»
Tove Griess verzichtete auf eine Antwort, hob die Frikadelle auf, befreite sie mit einem undefinierbaren Lappen von verräterischen Spuren und wollte sie zuoberst auf seine Frikadellenpyramide setzen … da meldete Fietje Tiensch die Absicht an, die Frikadelle zu verzehren, sofern er sie umsonst bekam.
Es entspann sich ein kurzer Streit über den hygienischen Standard des Sylter Gewerbeaufsichtsamtes, dann hatte Fietje den Sieg davongetragen und schob sich, während er ungerührt in die Frikadelle biss, vergnügt seine Bommelmütze in den Nacken. Die trug er zu jeder Jahreszeit. Der Strandwärter von Wenningstedt war noch nie ohne diese Kopfbedeckung gesehen worden.
Mamma Carlotta ließ sich auf einem Hocker vor der Theke nieder, lehnte den Rotwein ab, den Tove Griess ihr einschenken wollte, und bat stattdessen um einen Espresso. «Einen besonders starken, prego. Ich habe Kopfschmerzen.»
Woher sie kamen, behielt sie für sich, und als Tove das Radio anstellte und kurz darauf der griechische Wein besungen wurde, verzog sie nur ganz kurz das Gesicht. Toves zweiten Versuch, sie mit vino rosso zu beglücken, lehnte sie genauso strikt ab wie den ersten. «Kennen Sie die Geschwister Johannsen?», fragte sie stattdessen.
Noch ehe Tove und Fietje antworten konnten, berichtete sie schon, dass Stine Johannsen in die Nordseeklinik eingeliefert worden war und ihr Bruder im Verdacht stand, sie mit dem Fischgericht vergiftet zu haben, das sie ihm ständig vorsetzte. «Obwohl er es nicht mag. Allora … das ist doch pure Bosheit.»
«Kein Wunder, dass dem Kerl irgendwann die Nerven durchgegangen sind», fand Tove.
Und Fietje brummte in seine Bartflusen, dass er froh sei, allein zu leben, und überdies mit Bier als Hauptnahrungsmittel bestens zurechtkomme.
Mamma Carlotta war noch längst nicht fertig mit ihrer Erzählung, die sie mit vielen Details ausschmückte. Sie entsprachen zwar nicht voll und ganz den Tatsachen, sorgten aber für Spannung und Dramatik. «Madonna, hoffentlich muss kein Unschuldiger sterben! Wenn Wilko Johannsen wirklich alle ‹Römischen Fischtöpfe› von Feinkost Meyer vergiftet hat …»
Eine Geste von Tove brachte sie zum Schweigen. Er drehte