My Generation - Christoph Dieckmann - E-Book

My Generation E-Book

Christoph Dieckmann

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Beschreibung

1991 erschien Christoph Diekmanns vielbeachteter Debütband "My Generation. Cocker, Dylan, Lindenberg und die verlorene Zeit", der zu einem dauerhaften Sittenbild der späten DDR geworden ist. Er spiegelt das Lebensgefühl einer ganzen ostdeutschen Generation, die vor allem in der Rockmusik jene freie Welt suchte, die ihr in der DDR vorenthalten wurde.
Hunderttausende wallfahrteten zu denselben Großkonzerten, sahen dieselben Filme, diskutierten dieselben Bücher. Dann fiel die Mauer. Dieckmann prophezeite: "Jetzt werden wir so verschieden, wie wir wirklich sind."
Die Nachauflage nimmt er zum Anlaß, um in einem neuen Text der Frage nachzugehen, wie weit die Träume von damals getragen haben. Angesichts einer viel grelleren, lauteren Welt, in der jeder für sich selbst steht, erzählt er, was von der gemeinsamen Zeit geblieben ist.

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Seitenzahl: 333

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Christoph Dieckmann

My Generation

Christoph Dieckmann

My Generation

Cocker, Dylan, Honeckerund die bleibende Zeit

»Put the message in the boxput the box into the cardrive the car around the worlduntil you get heard.«

World Party

Die Idee zu diesem Buch hatte Thomas Brussig.

Ich widme es meinen Eltern und allen Freunden, die mir halfen, auch in der Welt von gestern eine Art freier Autor zu sein.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, März 2017

entspricht der 2., veränderten Druckauflage vom Januar 1999 (Erstveröffentlichung 1991) unter Verzicht auf die Abbildungen

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Harald Hauswald

Lektorat: Edda Fensch (1. Aufl.); Dr. Petra Kabus (2. Aufl.)

eISBN 978-3-86284-387-9

Inhaltsverzeichnis

My Generation

Besuch einer Legende

Wishbone Ash in Weimar und Leipzig

Musik aus Leib und Seele

John Mayall und Carlos Santana in Berlin

How does it feel

Roger McGuinn, Tom Petty & The Heartbreakers und Bob Dylan in Berlin

Herbstmusik

John-Abercrombie-Trio in Berlin

Schmidt und die Stars

Dekade »Jugend im Palast« in Berlin

Ars longa? Vita brevis!

Johnny & The Drivers

Mode lang und Mode kurz

Uriah Heep und Depeche Mode

Mensch zu Menschen

Joe Cocker in Berlin und Dresden

Kleines Fest mit Sahne

Jazz Evenings in Greifswald-Eldena

You rock, we roll?

Springsteen-Nachlese

Wat ick bin

Der Rockfilm »Flüstern und Schreien«

Abschied vom Trabant

Die Puhdys treten ab

Neue Platte, alter Schnitt

Wolfram Bodag und Engerlings dritte LP

Texas auf der Themse

New Folkies und Michelle Shocked

Silencio

»Jazzbühne Berlin« 1989

Die Hitze in Dosen

Canned Heat

Rock gegen Gewalt

Rocker für Dialog

Nur der kleine Udo

Udo Lindenberg in der DDR

Neil Old

Amiga aktuell

Allerlei mit Partei

Rockmusik in ernster Stunde

Augen zu und Mund auf!

Molly Hatchet, Edgar Winter, Charlie Daniels, die Beat Farmers und das kleine Herz in der großen Welt

Milberts großer Tag

6. Juni 1990: Die Rolling Stones in West-Berlin

Baßknecht in der DDR

Jörg Schütze und Monokel

»Rock’n’Roll is here to stay«

Jugendkultur in der DDR

Gott in Berlin und die Folgen

Stadtgefühl und Kirchentag

Zeit und Zeitung

Gedrucktes aus der DDR

Der ewige Mensch (I)

Stefan Heyms Roman »Ahasver«

Der ewige Mensch (II)

Egon Günthers Roman »Der Piarat«

Die Welt von gestern

DDR-Gefühle im Umbruch

Vom Himmel auf die Erde

Wolf Biermann in der DDR

Drei Tage der Revolution

Als ich wie ein Vogel war

Wie die Musik alterte und die Zukunft verging

Quellenverzeichnis

Über den Autor

My Generation

»If I ask no questions I don’t get no lies.«Bad Company

1

Jedes Jahr im Oktober fuhren wir nach Warschau zum Jazz Jamboree. Das war unser herbstliches Fest: die nächtliche Reise ab Ostbahnhof, Grenzkontrolle, blechernes Polnisch, wenn der Zug seine ruckelnde Fahrt unterbrach. Ankunft im Morgengrauen, Schwarztausch (1 : 10). Die Tauben am Altstädter Markt, die bunten Parks, die Lesestuben mit Tee und »Spiegel«-Lektüre. Westplatten-Handel im Foyer des Kongreßpalastes, Konzerte bis weit nach Mitternacht, Sessions bis zum Morgen in den Clubs – »Stodola«, »Rynek«, »Remont«. Danach durch die eisige Frühe zurück zur Priesterschule St. Anna, wo wir in einem Klassenraum unsere Schlafsäcke ausbreiten durften.

Muddy Waters, Gil Evans, Woody Herman, Benny Goodman – viele der großen Toten habe ich in Warschau noch gehört. 1983 kam endlich Miles Davis, aber wegen des Kriegsrechts war Polen für uns zu. Irgendwie ergatterte ich ein Durchreisevisum, das mich über Polen und die Sowjetunion nach Iasi in Nordrumänien hätte bringen sollen. In Warschau wurde mir beim Gedanken an Weiterreise übel. Ich verließ den Zug, machte Quartier und begab mich auf die DDR-Botschaft, um dort einen Eindruck von meiner Erkrankung zu hinterlassen. Der Konsular-Attaché war besorgt. Er empfahl Bettruhe sowie, nach Genesung, Rückreise. »Nach Iasi fahren Sie besser ein andermal.« Ich sah es ein.

Die Miles-Davis-Tickets waren seit Wochen ausverkauft, doch ich besaß Währung: 40 DM hatten, versenkt in ein Brötchen mit Fleischsalat, die Grenze zum Bruderland überschritten. Dunkler Deal im »Hybrydy« an der Schummerbar. Das Brötchen reichte für alle sechs Festival-Tickets.

Eine Woche später spielte Miles Davis in West-Berlin.

Man kann die alte DDR unmöglich preisen für ihre Behinderungen, aber sie hat uns die Musik so teuer wie möglich gemacht. Man liebt doch nur, was man erkämpfen muß, und Kunst handelt von dem, was fehlt. Wir waren so romantisch mit diesem Klang der versagten Welt. Als Teens, Anfang der Siebziger, hingen wir täglich am Radio, um aufzunehmen. Reisemündige Großmütter wurden angestiftet, LPs von Colosseum und King Crimson zu schmuggeln. Heldische Hippies fochten mit Schuldirektoren, die kategorisch erklärten: Keine Abschlußprüfung mit dieser Frisur. Ha! Wir siegten, wie Crosby, Stills & Nash in »Almost Cut My Hair«, wie Lynyrd Skynyrd, benannt nach ihrem Sportlehrer Leonard Skinner, der den Long-hair-southern-boys immer mit der Schere nachstellte. Langsam öffnete sich unsere Republik. Unsere Sender (die wir bis dato nicht hörten) spielten die ersten Rocknummern. »Türen öffnen sich zur Stadt« von den Puhdys auf Radio DDR – ich war geschockt! 1974 wagte AMIGA das Ungeheuerliche und edierte eine Jimi-Hendrix-LP. Vor den Plattenläden stauten sich Massen – ein Naturereignis, das sich während der nächsten anderthalb Jahrzehnte wiederholte, wann immer es Lizenzen gab.

Es ging nicht nur um Musik. Es ging um Auswege. Die DDR, bei relativer Vielgestalt, war eine eindimensionale Gesellschaft. Die Mauer hielt zusammen und ab und fern und zurück, falls man sich irgendwo zu reiben wünschte. DDR – das waren wir alle. Wir sahen alle dasselbe Westfernsehen. Wir kriegten alle dieselben Ostzeitungen vorgesetzt. Wir fuhren alle in südosteuropäischen Urlaub. Sofern kulturinteressiert, gingen wir in dieselben Bergman-Filme. Wir lasen Christa Wolf und Kafka und »Der Name der Rose« zur selben Zeit, treulich auf den Spuren hiesiger Editions-Politik. Als DDR-Verlage Camus und Sartre riskierten, brach bei uns Mitte der sechziger Jahre flugs ein kleiner französischer Nachkriegs-Existentialismus aus – lyrisch bereichernd, intellektuell hilfreich mit seinem Trost, daß jeder einsam gefangene Wolf sein Schicksal immerhin verachten dürfe, wann immer die DDR sich Leseland nannte. Wie hätten wir auch anders fragen können als Arnold Zweig in »Verklungene Tage«: »Blieb Lesen nicht berauschender als Leben?«

So wurden wir irgendwie satt, denn wir nahmen, was die Kelle gab. Auswahl, Alternativen gab es nicht genug. Man sah uns alle bei denselben raren Konzerten. Unglaubliche Gestalten reisten nach Peitz, dem Jazz-Nest bei Cottbus, und hörten die westeuropäische Free-Jazz-Avantgarde, serielle Musik, Konzerte für Solo-Posaune. Man hätte in diesen groben Vertilgern von Hähnchen und ganzen Rotwein-Ernten eher Rock- oder Bluesfans vermutet. Das waren sie außerdem. Sie kamen auch zu den Folkfesten des »Berliner Liedersommers der FDJ«.

Jedes Jahr im Oktober fuhren wir nach Warschau zum Jazz Jamboree. Das wird es nie wieder geben. Zum letzten Mal zusammen waren wir am 4. November 1989 und staunten, wer alles zu uns gehörte. »Wir!« dachten und riefen fünfhunderttausend in Berlin – noch einmal Eintracht gegen die Welt von gestern. Jetzt werden wir so verschieden, wie wir wirklich sind.

2

Weltanschauung: Gemenge aus Herkunft, Absicht und Resignation. Jede Generation hat ihr Erklärungsmodell. Die Pfeiler sind früh gesetzt. Alles Spätere ist Ausbau und Stuck am selben Haus. Man wird darin geboren. Man richtet sich ein, wie man das kennt. Honecker verblieb in seinem proletarischen Kinderland aus Brot und billigen Mieten, und daß er dessen König geworden war, machte ihn froh und vergessen, wieviel er vergaß. Mein Vater (Jahrgang 1920) freut sich ehrlichen Herzens auf Deutschland: »Jetzt wächst zusammen …« Es wächst nicht zusammen. Es wird zusammengenagelt, wir bluten, und das tut weh. Kinderland ist abgebrannt.

Wir sind mehr Kinder unserer Zeit als Kinder unserer Eltern. Wir kannten die DDR und nur die DDR. Wir wurden hier hineingeboren und sahen sie nicht als Provisorium. Ich schreibe dies »wir« achtsam, auf Einspruch gefaßt. Aber ich glaube, daß viele aus meiner Generation, die als Künstler, Lehrer, Publizisten oder sonstwie moralisch urteilen wollten, ihren Staat immer noch ernsthaft behandelt haben. Nach uns tat das niemand mehr. Gerade dort, wo wir den Staat am bittersten beklagten, maßen wir ihn daran, was er zu sein vorgab. Sozialismus, das war nie ganz verschlissen, trotz aller Perversion. Ja, er hat uns angekotzt, der vulgär-ideologische Abhub, der Opportunismus der Mitläufer, der stinkende Müll der Medien, der Stuß der Parteilehrjahre, Fahnenappelle, Paraden, der zugeriegelte Alltag, der arrogante Umgang des Staates mit jenem Volk, dem er doch dienen sollte. Aber wir liefen nicht über, nicht nur, weil Ungarn noch geschlossen war. Die DDR schien von Bestand; sie machte auch historisch Sinn in einer bipolaren Welt, und daß die Geschichte dieses Ost-West aufgeben wollte, war nicht zu ahnen. Deutschland ein Staat? Gefährliches Geschwätz, die greise Marotte pfingstlich gestimmter Schlesier! Wir dachten links-rechts, nie national, und daß Kapitalismus, global gesehen, ein Killer ist. Und viele, die »Mandela« sagten, oder »Nikaragua«, importierten sich noch einmal jene politromantischen Hoffnungen, die wir für unser eigenes Land längst nicht mehr wagten.

Mit seiner Utopie verlor der Nischen-Sozialismus seinen einzigen, den moralischen Antrieb; einen materiellen hat er nie gehabt. Der typische DDR-Mensch investierte nicht in die gesellschaftliche Evolution, sondern in die vielzitierten materiellen Bedürfnisse. Daß deren Verkünder von sich ausgingen, mußte jeder wissen. Natürlich gab es da oben ungeahnte Schweinereien und Bereicherungen. Aber z. B. die Waid-Massaker unserer werktätigen Barone waren allgemein bekannt. Alljährlich im Januar blies Erich zur Diplomatenjagd. Als Günter Gaus, wahrlich nicht Top Gun, als »Ständiger Vertreter« der Bundesrepublik verabschiedet wurde, erhielt das ZDF Dreherlaubnis. Es filmte eine Glanznummer deutscher Satire: Gegen Ende des großen Hasenmordens begegnet Gaus Honecker: »Na, Herr Gaus, wieviel haben Sie denn?« – »Zwei.« Unbehagliche Pause. Gaus merkt, daß er zurückfragen soll: »Und Sie?« – »Siebzehn«, sagt Honecker und freut sich. Unbehagliche Pause. Wieder Gaus: »Ich habe Herrn Stoph getroffen. Er sagte, er habe neun.« – »Ja, ja, der Willi. Wenn er sagt, er hat neun, dann hat er auch neun.«

Wen schockten sie wirklich noch, die animalischen Abschußziffern unserer Willis und Harrys, ihre Pariser Deo-Roller, ihre Gelüste nach hochwertigen Nahrungsmitteln? Doch nur Heuchler, etwa jene Journaille, die im November 89 durch Wandlitz jagte, um alles, alles aufzudecken, was sie zuvor verhüllen half. Der Effekt war trotzdem ungeheuer und ein trauriges Beispiel des allgemeinen Rettesich-wer-kann. Zugleich mit ihren alten Auftraggebern setzte sich die Medien-Maschine selber matt, obwohl sie es nicht sofort zu spüren bekam. Der Kollaps der DDR-Medien 1990 war ein Symbol: Das Land verlor die Stimme. Dieser Staat vertrug keine Wende. Wir auch nicht. Die kollektive Psyche der DDR, ihre gesamte Struktur, stand und fiel mit dem alten System, das sich so erfolgreich aller kritischen Nothelfer und Sympathisanten entledigt hatte. Das System hielt, da es drohte, solange es log, obwohl ihm keiner glaubte. Als es gestand, war es verloren.

War das Ende logisch? Nur die DDR betrachtet, nein. Wenn ich heute meine Texte der gestrigen Zeit nachlese, finde ich in all meinen Irrtümern die Bestätigung dafür, daß nichts wirklich ein Ende erwarten ließ. Schien uns der Staat zu bessern? Wir dachten nicht strikt. Wir hielten das Denken an, wo es noch günstig war, da es sich sonst wohl illegal verkrallt hätte, denn die Machtfrage war geklärt. Wir dachten also: Man müßte die Medien offener gestalten (und schrieben, was möglich war). Der Staat sollte mehr für Umweltschutz tun (und brachten unsere Flaschen und Zeitungen zu Sero). Der Zustand unserer Städte ist schlimm, dachten wir (und lebten in Berlin). Und allen Ernstes nahm ich an, das peu à peu der Westreisen seit 1987 würde uns zufriedener machen, was so logisch gewesen wäre wie die Stillung des Durstes durch das zwölfte Bier. Wir waren nicht strikt, aber hier spaltet sich das Wir.

Viele Aktivisten der Post-Biermann-Zeit und noch mehr ganz normale Leute fanden einfach keinen Grund mehr für ein freundliches Auskommen mit diesem Staat, der immer weniger der ihre war. In den achtziger Jahren bildeten sich fast überall in der DDR »sozialisierende Gruppen« – Friedens-, Öko-, Dritte-Welt-Kreise, Menschenrechtsverbünde, Pazifisten-Treffs, kritische Lesezirkel, die mit einfachster Technik eine kaum übersehbare Samisdat-Literatur herstellten. Die bekanntesten dieser Underground-Magazine waren die »Umweltblätter« der Berliner Umweltbibliothek, »Kontext« (fürs geistig erhabene Gemüt) und »Grenzfall«, herausgegeben von der Initiative Frieden und Menschenrechte und wegen seiner Unverblümtheit von der Stasi besonders heftig gesammelt. Die »Umweltblätter« wurden im November 1987 zusätzlich berühmt, durch eine nächtliche Stasi-Razzia im Gemeindehaus der Berliner Zionskirche, wo die grünen Aufklärer ihre Matrizen abzogen, nicht aber den »Grenzfall«, wie unsere heimlichen Hüter hofften. Daß der Vorfall die Kirche betraf, war typisch. Überall im Land suchten Oppositionelle kirchliches Obdach – mit wechselndem Erfolg. Die protestantische »Kirche im Sozialismus« (»nicht gegen, nicht neben …«, so die Selbstdefinition) stand zwischen den Fronten. Staatshörig war sie keinesfalls, aber eben auch nicht unbedingt die Trutzburg der Opposition, zu der sie nach dem Sturz des SED-Regimes gern gemacht wurde. Die zornigen Liedermacher und Links-Anarchisten wurden bei weitem nicht überall umarmt, wo sie an Kirchentüren klopften. Des öfteren blieben sie draußen, wenn Pfarrer und Gemeinden ihren Glauben enger auslegten oder die Risiken wogen. »Die Kirche ist für alle da, aber nicht für alles«, sprach der Thüringer Bischof Werner Leich.

Die halbkirchliche Underground-Publizistik war eine großartige, idealistische Subkultur und, im elektronischen Medienzeitalter, von grotesker Wirksamkeit. Die Schöpfer hatten ihre Stärke in der Opposition. Ihr Verdienst bleibt, daß sie etwas taten, daß sie den maulenden Grundton des DDR-Volkes zur praktischen Kritik veredelten. Ihre Graswurzel-Träume von Basisdemokratie erfüllten sich nicht. Sie überschätzten ihren Einfluß und ihre Prominenz. Falls Otto Normalverbraucher Gerd Poppe oder Carlo Jordan kannte, sah er sie als städtische Intellektuelle und verdächtige Bohemiens, denen er sich schwerlich anvertrauen mochte, weil sie weder lebten noch sprachen wie er. Politiker wurden die Anarchos auch dann nicht, als sie am Runden Tisch Platz nehmen durften. Statt das Menetekel an der Wand zu lesen, das gegen ihre Illusionen sprach, taten sie lieber weiterhin, was sie am besten konnten, und traten den toten Riesen.

Ich schrieb nicht im Samisdat, sondern in der Kirchenpresse und im »Sonntag«, der immer Charakter bewahrte. Ich hatte das Dach der Kirche über mir; vieler Stumpfsinn blieb mir erspart und damit auch manche Wut. Ich wollte keine Bitternis verbreiten, aber Wahrheit und, wenn möglich, dennoch etwas Schönes. Musik war ein populäres Vehikel für allerlei Transporte. Vieles klingt in der Nachlese ästhetisch verspielt, zeitlos liberal, vielleicht zu melancholisch abgefunden. Street fighting man? – Candles in the wind. Let it bleed? – Let it be. Time is on my side? – Viele fühlten andersrum, mit einem Woodstock-Konservativismus erinnerter Zeiten. Warum nur war die Mehrheit so pikiert, als 1987 Bob Dylan kam, nicht revolutionärer als wir, ein Folkrock-Poet von sechsundvierzig Jahren, der keinerlei Rührung erkennen ließ, daß da hunderttausend Gläubige zwei Jahrzehnte auf seine Menschwerdung gewartet hatten. Man schritt heim in die Nische und legte den wahren Dylan auf: Was weg ist, kann mir keiner mehr nehmen.

3

Nach dem Dylan-Konzert schrieb ich »How does it feel«, was sich als fast einziger Nicht-Verriß entpuppte. Keine andere meiner Arbeiten hat je ein solches Echo gehabt. Wildfremde Menschen riefen an, schickten Dankesbriefe mit persönlichen Bekenntnissen, Gedichten und sogar ein Dylan-Gemälde. Ich war glücklich und etwas ratlos. Der Effekt hing natürlich mit der Medien-Situation in der DDR zusammen und mit Dylans Funktion als fernwestlicher Ikone. Überhaupt hat 1987, das Berliner Jubeljahr, den DDR-Rockfans zum ersten Mal westliche Rockkonzerte beschert (von ein paar früheren Ausnahmen abgesehen). Im April kamen John Mayall und Carlos Santana, noch von wenigen gehört, da sie drinnen auftraten. Der »Rocksommer der FDJ« begann im Treptower Park mit Barclay James Harvest – wahrlich kein erregendes Ensemble, doch viele der fünfundvierzigtausend weitgereisten Fans fühlten wie mein thüringischer Nachbar, der unentwegt stöhnte: »Das ist mein Woodstock! DAS IST MEIN WOODSTOCK!« Wir waren ja bescheiden, aber ich wünschte, wir würden auch in Zukunft etwas hungriges Glück bewahren. Nie vergesse ich den 17. Juli 1987, die »Friday Night In East Berlin« mit John McLaughlin & Paco de Lucia. Zehntausend quetschten sich auf die Insel der Jugend. Als man das kleine Eiland sperrte, weil Überlast es zu versenken drohte, durchschwammen die Fans die Spree.

Barclay James Harvest machten aus ihrer Ostlandfahrt ein Live-Album mit dem donnernden Titel »Glasnost« (und erhöhten die Zuschauerzahl kurzerhand auf einhundertfünfzigtausend). 1987 war es noch was für West-Rocker, hinter dem Eisernen Vorhang zu spielen. Das schliff sich ab, je üblicher es wurde, und die FDJ-Veranstalter sahen sich vor Devisenprobleme gestellt. Goodwill-Deals zum Billigpreis wichen dem verruchten Benehmen des Westens: »No pay – no play!« Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Dylan/ Petty/McGuinn gab’s noch für 10 Mark, Cocker für 15, Springsteen für 20. Für den unnötigen Genuß von Kool & The Gang mußte man schon 45 Mark berappen, aber das war immer noch hilfloses Ost-Geld. Also importierte die FDJ unbekannte Billig-Acts und hoffte, allein die Ankündigung »britische Band« würde das Fan-Volk verzücken. Ein Trugschluß. Wir pilgerten ja auch zu den großen Namen, um ENDLICH UNS SELBST zu spüren und daß ES nun schließlich zu uns kam.

Ohne Geldsorgen wäre die FDJ liebend gern fortgefahren mit der Gigantomanie. Nach dem Springsteen-Konzert am 19. Juli 1988 in Berlin-Weißensee verkündete die »Junge Welt« Europarekord: Einhundertsechzigtausend hatten »den Boß« gehört. Wirklich gehört haben ihn weit weniger, geschweige denn gesehen in einem chaotischen Tumult, der leicht Menschenleben hätte kosten können. Das Konzert war außerdem eine kuriose Begegnung zwischen östlicher und westlicher Showbiz-Ideologie. Die FDJ, Stimme und Hort unserer Jugend, bemühte sich angestrengt, ihr Entertainment wenigstens auf ein bißchen Standpunkt festzulegen. James Brown und die Rainbirds erhob man im Juni 1988 zum »Mandela-Solidaritätskonzert« (Wembley lag eine Woche zurück); Big Country und Bryan Adams wurden fortschrittlich präsentiert von der armen Katarina Witt, die ein Pfeifkonzert von der Bühne blies. Vor dem Springsteen-Auftritt drapierte man die Riesenbühne in Weißensee mit »Nicaragua im Herzen«, dem Motto des »FDJ-Rocksommers«. Das Springsteen-Management war entgeistert, mochte seinen Star nicht gegen die US-Administration ausspielen lassen und befahl Umdekoration. Springsteen spielte dann unter »Tunnel Of Love«, dem Motto seiner Tournee. Jugendradio DT 64 trug auf seine Weise zu einer denkwürdigen Sendung bei, als Bruce das Publikum adressierte: »Ich bin nicht für oder gegen irgendeine Regierung hier, sondern um Rock’n’Roll zu spielen. Ich hoffe, daß eines Tages alle Mauern fallen.« Der zweite Satz wurde weggeknipst. Inzwischen war Egon Krenz, den man über die jüngsten Entwicklungen nicht informiert hatte, ins Backstage-Areal gerollt. Nikaragua im Herzen und wie üblich sehr heiter, winkte er herzlich zur Bühne hinauf.

Wer Springsteens Bedacht bei allen öffentlichen Äußerungen kennt, muß über diesen Vereinnahmungsversuch den Kopf schütteln. Er zeigt nur, wie wenig der Mann als Künstler begriffen wurde. 1984, bei einem Wahlkampagnen-Stop in New Jersey, versuchte Ronald Reagan, Springsteen zu übernehmen: »Amerikas Zukunft ruht in tausend Träumen eurer Herzen. Sie ruht in der Botschaft der Hoffnung, in den Songs eines Mannes, den so viele junge Amerikaner verehren: New Jerseys Bruce Springsteen. Und meine ganze Aufgabe dreht sich darum, euch zu helfen, daß diese Träume wahr werden.« Ein paar Abende später stand Springsteen vor einem Arbeiterpublikum in Pittsburgh und gab Antwort: »Der Präsident hat kürzlich meinen Namen erwähnt«, sagte er, »und ich frage mich irgendwie, was wohl sein Lieblingsalbum ist. Ich glaube, es ist nicht ›Nebraska‹.«

»Nebraska«, Springsteens ungewöhnlichste Platte, ist ein stiller Lieder-Zyklus über die Contryside im Mittleren Westen, über Unglück und Gewalt und den Niedergang des Traums, ganz Amerika sei eine Familie. »Die ökonomische Ungerechtigkeit fällt auf jedermanns Haupt und stiehlt jedermanns Freiheit. Deine Frau kann nachts nicht auf die Straße gehen. Leute haben Guns in ihren Häusern (…) Es ist nicht einfach so, daß da draußen böse Leute sind. Es ist ein erzeugter Teil der Art, wie wir leben und was wir alle akzeptiert haben.« Ein amerikanischer Prophet war Springsteen spätestens seit dem 5. November 1980. Am Tag zuvor hatte das Land mit Ronald Reagan einen Präsidenten gewählt, der versprach, die vom Vietnam-Krieg, dem Watergate-Skandal und der iranischen Geisel-Krise gedemütigte Nation wieder zur Größe zu führen. Springsteen verbrachte den ganzen Tag in seinem Hotelzimmer und überlegte, ob er kommentieren sollte. Dann ging er auf die Bühne in Tempe/Arizona und sagte: »Ich weiß nicht, wie ihr Leute darüber denkt, was letzte Nacht passiert ist, aber ich denke, es ist ziemlich erschreckend.« Und dann spielte er »Badlands«, denselben Song, mit dem er in Berlin begann: »I wanna spit in the face of these badlands.«

Bruce Springsteens Berliner Auftritt folgte nicht die Enttäuschung des Dylan-Konzertes. Dylan gab sich als skeptischer Roots-Rock-Poet ohne Botschaft, das geschätzte Hochgefühl. Springsteen, der Botschaft hatte, ging glatt als Rock’n’Roller durch. Alles, was uns erreichte, war bereits Klassik, die guten alten Bands genauso wie die politischen Aufbrüche des Rock: Dylan & Civil Rights & Hippies sowieso, »Band Aid«, »Farm Aid«, »USA For Africa« nicht minder. Das »No-Nukes«-Konzert in New York: ein prima Dreifach-Album, keine Kritik an DDR-Atomkraftwerken. Umgekehrt hatten wir Rassismus gegen Gastarbeiter, aber nicht »Rock gegen Rassismus«. Wir hatten Neonazis, aber nicht »Rock gegen rechts«. Ein Springsteen war nirgends zu ahnen. Wir hatten lang etablierte Bands, die von Jahr zu Jahr an öffentlicher Integrität verloren. Die besten von ihnen versanken in Melancholie; die Platten von City (»Casablanca«), Silly, Pankow, Kerschowski bleiben tapfere Ehrenrettungen. »Rock für den Frieden« hatten wir, das jährliche Bekenntnis des DDR-Rock-Establishments zu Weltfrieden, guter Laune und besten Absichten. Und das »Festival des Politischen Liedes«, trotz vieler schöner Konzerte, litt fast bis zum Schluß unter propagandistischer Selbstgerechtigkeit und dem agitatorischen Zwang, die DDR als Hoffnung aller guten Menschen zu feiern.

Ich sagte schon: Das System hielt, solange es log. Auch die verdrehte Welt ist Heimat, solange alle dort wohnen. Wir saßen fest in uns selbst. Es gab uns und nur uns, seit eh und für je. Es gab da drüben AMERIKA und keine Brücke hinüber, auch wenn Bruce Springsteen für einen Tag aus den Postern stieg. Er war da. Wir waren da. Er flog zurück in die andere Welt. Wir blieben zu Hause. Immer nur Klassik, geronnenes Leben. Wir waren nicht zu ändern, da nichts zu ändern war.

4

Aber wir waren ehrlich, und Ehrlichkeit galt als Bedingung für unsere Musik. Zappa-Zynismen, Crosby/Stills/Nash-Belcanto, Yes-Hymnologie – alles willkommen, wenn nur was dahinter war. Kaum ein Konzert hat mich mehr ernüchtert als Depeche Mode: Yuppie-Entertainment, eine Verherrlichung all jener modischen Images und Stereotypen, die wir immer verachtet haben. Die Feigheit des Mainstream: Was passiert, passiert; man stehe seiner Zeit nicht entgegen. Wir taten es damals, ein wenig; wir spürten Gegenwind, aber lag Nonkonformismus nicht ebenso in unserer Zeit wie in dieser der Wunsch, sich zur Mehrheit zu schlagen? Rockmusik ist biographische Kunst, auch in den jüngeren Mythen, die uns nichtig scheinen. Depeche Mode, Madonna, Michael Jackson – Abziehbilder der Postmoderne, platt und trotzdem tief wie jedes Behältnis von Illusion. Wir hatten bessere Musik. Doch ist Jim Morrison nicht auch ein aufgeblasener Entblößer gewesen, Jimi Hendrix ein schüchterner Protz, Janis Joplin eine hurende Schnapsdrossel? Den Unterschied macht, daß sie unsere Behälter und Spiegel waren – und es bleiben, denn sie starben zu mythologisch günstiger Zeit. Sie hinterließen die Botschaft, die sie umbrachte: Leben hat Überschüsse. Das hörten wir uns wieder und wieder an. Es klang so schön.

Vermutlich würde Jim Morrison heute singen wie Chris Rea: Rauch im Organ und Wehmut am nächtlichen Strand. Chris Rea – ein gutes Beispiel, weil nicht das schlimmste – ist zuverlässig geeignet für immer denselben Kummer. Popmusik und ihre Videos erschaffen nicht. Sie schütteln wie in einem Kaleidoskop vorhandene Klischees, die nach den Regeln kollektiver Übereinkünfte wiedererkannt werden. Postmoderne Popmusik ist eine leere Box, die deren Käufer nach eigenem Belieben füllen muß. Nur die Etiketten sind schon dran.

Einerseits ermutigt das: Hören und Schauen sind nicht passiv. Anderseits zerstört es das Vertrauen zur Kunst. What’s new? Schon das Original ist Reproduktion gesammelter Sounds, eine rasselnde Ausschüttung gehäufter Effekte. Kants Satz, wonach hundert gedachte Taler klängen wie hundert echte, wird im postmodernen Pop zur baren Münze. Die Hightech-Positivisten erfreut, daß ihre Computer alles imitieren können, als ob Musik nicht vox humana wäre, weil doch Musiker denken, fühlen, lieben, leiden, irren, steigen und fallen und bitte mit uns älter werden und weil das alles auch so klingen muß. Ich muß wissen, daß nicht die Maschine spielt. Pop ist Michael Jacksons geschönter Nasenstups, Rock Pete Townshends Riesenzinken.

Wahrscheinlich sind unsere Pop-Teens besser auf den Westen vorbereitet als wir. Sie haben mehr Pragma und Wendigkeit und messen nicht allem soviel Bedeutung bei. Pop ist Fun, kein Kreuzzug zum Gral. Wer über dreißig war, als die DDR sich nach Deutschland verabschiedete, wird das Happy Dancing nie so richtig hinkriegen. Wir glaubten an die Wahrheit von Musik (und bisweilen an den Ernst des Bieres), wie man heute an Photos glaubt. Bei der »Chicago Tribune« haben sie mir vorgeführt, wie hübsch man mit dem Mackintosh-Computer Photos putzen kann: Hier dieser Ast muß weg, und statt des Sandhügels nehmen wir lieber Gras (natürlich nur zu Werbezwecken). Ein paar Tage später brachte die »New York Times« das berühmte Foto von Jalta: Churchill und Roosevelt fand man historisch treu, aber Stalin war durch Groucho Marx ersetzt, und von hinten übers Sofa lehnte sich Sylvester Stallone ins Jahr 1945. Die Kamera kann jetzt lügen, und da sie es kann, wird sie es tun. Die Musik lügt längst, doch wer damit aufwächst, denkt nicht an Betrug. Vielleicht dienen Photos in Zukunft mehr zur Imagination denn zur Dokumentation. Wie Tonbänder vor Gericht keine Beweiskraft haben, so wird man auch der Photographie nicht mehr die Last der Wahrheit anvertrauen können. Bloß – wem sonst? Der Geschichte, die wir so schleunig umschreiben? Archiven, die keiner mehr aufschließen kann? Unseren dunkelnden Gedächtnissen? Uns? – Wem sonst? Ich vergesse gar nichts.

5

Dann betrat der Präsident den Rosengarten. Man erhob sich für die Hymnen. Die Kapelle der US-Marines spielte »Deutschland über alles« und das Bundeswehr-Blasorchester »Star Spangled Banner«. George Bush, kein Mann der Rührung, sang leise mit. Es wurde viel gesungen an diesem 3. Oktober 1990 im Weißen Haus – »It’s a gift to be simple and free« und »Auf der schwäbschen Eisenbahne«. Der Präsident sprach von den Glocken der Freiheit und Freude. Dann ging er, umtollt von seinen beiden weißbraunen Hunden, hinüber zum Kinderchor der Deutschen Schule, und jenen Knaben, die Blockflöte gespielt hatten, strich er übers Haar. »Man staunt ja«, bemerkte mein Nachbar, »wieviel Menschenmaterial zu so einer Feier gehört.«

Ich fand mich sehr verloren. Alles außer mir war bundesdeutsch – der Botschafter und seine Botschaft, der Chor, das Biberach im Kinderlied. Fast wäre ich aufgesprungen, um »Aber!« zu rufen: »Aber! Es geht aber auch vieles den Bach runter jetzt in East Germany!« Aber ich war ja nur ein selbsternannter Ehrengast, ein eingeschlichenes Gemisch aus Photograph und Diplomat, und wollte gern auch wieder unenttarnt nach Hause. Anderntags lud die nunmehr alldeutsche Vertretung in Washington alles zum Feiern ein, was deutsch fühlte und sprach. Ich nahm meine bulgarische Freundin Dilyana Grosdanowa mit, zwecks osteuropäischen Beistands. Sie war skeptisch, nicht nur, weil ihrem Land keine deutsche Lösung winkt. »Werden sie sehr viel Bier trinken? Werden sie so entsetzlich laut singen?« Nein, das taten sie nicht. Fünfzehnhundert Leute vertilgten Klopse, Rippchen und Holsteiner Bier, Botschafter Ruhfus sprach nur kurz, und Walter Momper schrieb Autogramme. Und da stand Micha Möller am Buffet, einst mein Kommilitone in Theologie, nun amtsenthobener DDR-Botschafter der letzten Stunde, und wir wunderten uns gründlich, wo es uns hingetrieben hatte. Ein Bundeswehr-Musikus erbat meinen DDR-Fähnlein-Sticker und bot dafür einen Ansteck-Hubschrauber. Ein blondes Kind aus Köln flog mir an den Hals und behauptete, sie sei Sylvia und glücklich, mit mir von Stund an im selben Land zu leben. Und daß ich jetzt frei wäre!

Freiheit heißt: FÜRCHTE DICH NICHT! Ich bin noch nicht frei; ich werde noch lange befangen sein von DDR. Ich habe sie verlängert. Ich bin aus dem deutsch-deutschen Expreß gesprungen, denn ich kann nicht so schnell. Ich weiß, daß es vorbei ist mit uns, und habe wütende Phantomschmerzen. Seit vier Monaten fahre ich kreuz und quer durch dieses selbstgewisse Riesenreich, das sich so gern Amerika nennt, als sei es ein ganzer Kontinent und möglichst noch mehr. Dies ist, unter anderem, eine herbe Lektion in Relativität. Freiheit: heiliges Wort Amerikas, Immigranten-Sakrament, und ich trete ungläubig hinzu und finde: Es ist doch nur Brot und Wein!

Und Cola. Auch so ging ja der Osten hin: Im April 1990 standen zwei kleine Jungs in einer Ost-Berliner Kaufhalle, durstig und verschwitzt, und zählten die Münzen in ihren schmutzigen Händen. Die Wahl bestand zwischen der großen Ost-Cola für 95 Pfennig (30 Pfennig zurück für die leere Flasche) und der kleinen Coke zu 2 Mark 60. Natürlich, sie kauften die westliche Büchse. Ich erzählte diese Geschichte beim Lunch mit dem Coca-Cola-Präsidium in Atlanta/Georgia und löste beim Gastgeber Freude aus: »Die Dinge laufen großartig in East Germany«, nun endlich auch dort, wie im Werbespot mit den glücklichen Eskimos und den strahlenden Kamelen in der Wüste, denn »überall, wo eine Coke geöffnet wird, kommt ein wenig Freude in die Welt«. Ob ich den Herren dieser Freude was über Kultur-Barbarei erzählt habe? Na klar. Das kannten sie allerdings schon.

Amerika zwingt so sehr zu Pragma, Markt und Trend, daß Don Quichotte sich zuerst eine Windmühle kaufen müßte, auf Kredit, und dann den Kampf nach Las Vegas vermarkten. Der Anpassungsdruck ist ungeheuer und das merkantile Strahlen laut und schön. Erfolg: ein absoluter Wert. Geld: Glück, Talent und Nutzen. Nicht das Geld fragt nach Sinn – der Sinn hat die Börse zu zeigen. Der Markt ist die gegebene Welt, als ob man nicht gegenüber eine zweite brauchte, um dieser einen zu entkommen und sie zu beschreiben. Verblüffend leicht läßt sich die hinderliche Wahrheit aus dem Marktbild entfernen: »Hier dieser Ast muß weg!«

Hüten wir uns! Und hüten wir die Welt von gestern zu unseren eigenen Teilen, die keiner uns ersetzen kann: Herkunft, Landschaft, inneres Getriebe, Trotz, Schwejk-Humor, östliche Schnauze und östlichen Umgang mit jenem Geld, das nicht so wichtig war. Und Distanz zur herrschenden Ideologie. Denn was anderes sind Markt und Trend? In Mode kommen wir nicht, wir ollen Ostler. Uns kauft uns keiner ab.

6

Keep on rockin’ in a free world! In diesem Sommer ging mein Rock-Traum in Erfüllung. Noch einmal, nach acht Jahren, tat sich die Allman Brothers Band zusammen. Ich sah sie im kalifornischen Concord, und ich habe nie ein besseres Konzert gehört. »Statesboro Blues«, »In Memory Of Elizabeth Reed«, »Whippin’ Post« – all diese langen, federnden Orgelfahrten und Gitarrenritte durch eine ländliche Welt aus Hitze und Passion. Der alte Süden: ES ändert sich nie. Keine Nebel, keine Show; nur der Mond hing über den Bergen der San Francisco Bay. Nachher kamen sie an den Bühnenrand und schüttelten Hände. Dickey Betts, der Rambling Man, nahm seinen Hut vom langen grauen Haar: »Wir danken euch, Leute, wir danken euch allen!« Da war nichts weiter denkbar als Musik, und ich begriff endlich, warum die Rocker der nächsten Generation Punk, New Wave usw. spielen mußten: Diesen Leuten war mit Musik nicht beizukommen. Bach machte seiner Ära ein Ende. DAS war getan. Schrecklich für die danach.

Mir wurde öfters vorgeworfen, ich scherte mich zuwenig um neuere Gruppen. Da sie in diesem Buch nirgends auftauchen, nenne ich mit Respekt Sandow, Herbst in Peking, Expander des Fortschritts … Sie und viele andere der Jüngeren haben immer Musik gemacht, die etwas wollte; was sie wollten, hätte nicht in jedem Fall Musik gebraucht. Sie entdeckten aufs neue die Subversivität des Rock; sie standen aus, was die Berluc, IC, NO 55 lieber nie riskierten; sie hatten Botschaften, die in der fröhlichen Plattheit des Pop so wenig zu finden sind wie in der erhabenen Klassik der Allman Brothers.

Die meisten Texte dieses Buches wurden nicht nur in der alten DDR geschrieben, sondern – bis auf die vier westlich gedruckten Essays im zweiten Teil – auch bei uns veröffentlicht, was bekanntlich schwierig war. Mir half, daß Rockmusik, als ich darüber zu schreiben begann, staatlicherseits längst den Stempel der Unbedenklichkeit bekommen hatte. Freilich nicht jede, wie die Kollegen bezeugen können, die sich mit den »anderen Bands« befaßten, Jürgen Winkler zum Beispiel oder Lutz Schramm. Ich schrieb nicht darüber, weil das nicht mehr meine Sache war. Ich schrieb nicht über Post Punk, World Music, Rap, Metal, so wichtig das alles ist. Ich schrieb über meine Generation, für Leute, die so ähnlich sind wie ich. Musik nahm ich als Nagel, um unser Weltbild daran aufzuhängen.

»My Generation« ist kein Rockbuch.

New Orleans/St. Paul, Herbst 1990

Besuch einer Legende

Wishbone Ash in Weimar und Leipzig

Ehrlich gesagt, ich wußte gar nicht, daß es sie noch gibt: Wishbone Ash, die britische Rocklegende und eine der ganz großen Gitarrenbands zu Beginn der siebziger Jahre. Unvergeßliche Musik, die damals über den Äther kam: hämmernder Bluesrock, heulende, brüllende Slidegitarren. [Freilich war oft nicht restlos zu klären, was da heulte – die desolate Mittelwelle oder die Stahlsaiten von Mountain, Ten Years After und von Jimi Hendrix, der damals starb. Und eben Wishbone Ash gehörten dazu, in meiner Radio-Kladde nach Gehör als »Fischborn Esch« notiert. Naja, das war halt Umschrift.]* Nun kamen sie nach Weimar und zur »Popmesse«, dem jährlichen Leipziger Rock-Höhepunkt. Dies bedeutete allerdings nicht die DDR-Premiere des 1969 in London gegründeten Quartetts. In unserem Fernsehen waren Andy Powell, Laurie Wisefield, Martin Turner und Steve Upton bereits vor einigen Jahren bei »rund« zu sehen. Zu hören nur mit Vorbehalt: Playback verlangte man von ihnen, ein Tort für jede gestandene Live-Band und fürs Publikum sowieso. Gitarrist Andy Powell »improvisierte« deshalb auf der Rückseite seines Instruments … Davon diesmal keine Spur. Live und laut und virtuos ging es her. Eingestimmt waren die Tausende in Messehalle 2 bereits durch einen anderen britischen Gast: Tony Sheridan, Institution in Sachen Rhythm & Blues und bereits mit den Beatles aufgetreten, als noch keiner die Jungs aus Liverpool kannte. (Auf der Beatles-Oldies-LP von AMIGA ist diese Zusammenarbeit dokumentiert.)

Danach gab’s Amor & The Kids, Leipzigs Lokalmatadore, dann R-Go aus Ungarn und schließlich, endlich Wishbone Ash. Mit »Livin’ Proof« legten sie los – kundig, ohne Mätzchen, ohne Show, ganz der Musik verpflichtet. Neueres folgte. Die Masse wogte und schwelgte. So ging das eine ungestüme Stunde lang. Zum Schluß das große Finale mit den Klassikern: »The King Will Come«, »Jail Bait«, »Blowin’ Free«. Läutende Gitarren, endlose Soli, köstlicher Satzgesang [– Gott, was war das für Musik damals und was für eine Zeit, die dies als Jugendkultur besaß!]

Es war eine Musik, die ganz dem Ausdruckswillen der Musiker entsprang. Es war eine Zeit, in der dieses Ausdrucksmittel noch nicht als geläufig galt. Der Rock-Gemeinde machte das vieles schwer. Es gab ihr aber jenes frische, naive Pathos einer neuen Kultur, von dem sie unvergleichlich beflügelt wurde. Das hat sich geändert, nicht nur durch Kommerzialisierung. Rock ist, mitunter zu seinem Schaden, völlig akzeptiert – als kultureller Gemeinplatz, als Volksbelustigung ohne originale ästhetische Ambitionen. Das schlägt auf Musiker und Publikum zurück. Die einen verzichten auf Innovation, weil die anderen sie nicht erwarten. Und umgekehrt.

Stärker als jede andere Kunst muß Rockmusik vom Individuellen zum Allgemeinen finden, von der persönlichen Impression hin zum großen Publikum. Aber den Anfang machen soll auch hier das Individuelle. Die Rock- und Popmusik unserer Tage krankt weithin an ihrem eigenen Zynismus. Denn alle Kunst ist zynisch, die ausschließlich im Trend liegen will und die schon funktional entworfen wird. Aus dieser Art von Rockmusik ziehen Sinn und Bewußtsein aus. Niemand verantwortet sie.

Zwei Wege gibt es zur Erneuerung: Entwicklung und Tradition. Manchmal führen sie in eins. Der Engländer Billy Bragg, ein Mann und seine Gitarre, hat uns 1986 seinen herben, innigen Cockney-Punk vorgesungen und gezeigt, wie einfach Entwicklung sein kann, wenn man Herz und Gewissen bemüht und seiner Kunst etwas zutraut. Braggs Landsleute von Wishbone Ash, einige Rock-Generationen älter, verfolgen eher die konservative Variante: Rock’n’Roll, Rockmusik der bodenständigen Art, eine musikalische Weltsprache im persönlichen Idiom. Das bringt heute dort keine Charts-Erfolge mehr, ist aber immer noch ein herrliches Ätzmittel gegen Plastik-Popkultur. Wishbone Ash und Tony Sheridan in der DDR waren ein Erlebnis und eine Ermutigung. Mögen diese Altvorderen des Rock Monokel bestärken und Pankow und Rockhaus und all die anderen unserer Bands, die ihre Mentalität und Inspiration aus älteren, gewachsenen Rockmusikformen schöpfen. Was nützt die raffinierteste Sound-Technologie, wenn sie Musik ohne Geschichte und ohne kulturelle Identität hervorbringt? Stil ist Charakter, nicht Mode.

Januar 1987

*Die mit eckigen Klammern gekennzeichneten Textstellen waren bei früheren Presseveröffentlichungen nicht enthalten und wurden aus dem Originalmanuskript übernommen.

Musik aus Leib und Seele

John Mayall und Carlos Santana in Berlin

Sie kamen spät. Sie kamen wirklich. Fast war es ein bißchen zuviel für diesen 5. April 1987 in Berlin. Zwei Rocklegenden. Hinterher war man nicht mehr ganz von dieser Welt.

Dabei empfahl sich zuvor ein wenig Skepsis – wie das so ist mit lebenden Legenden. Carlos Santana und John Mayall haben ihren Ruhm in den sechziger Jahren begründet, zu einer Zeit, da Musik mehr war als nur Musik: weltweites Instrumentarium für Phantasie, Toleranz und Gewissen. Das hat sich ziemlich geändert seither. Die Jugendmusik ist cleverer heute, abgebrühter. Sie hat Kalkül und Technologie. Nur fehlt ihr oft Seele. Auch Santana und Mayall haben zeitweilig auf marktgängige Muster gesetzt. Wie schön, nun hören zu können: Das ist vorbei.

Mayall, der »Vater des britischen Blues«, wurde mit seinen Bluesbreakers angekündigt. Da fast alle seiner bisherigen Bands so hießen, sagte das wenig. Nach Berlin kam Mayall, jetzt bei Los Angeles ansässig, mit einer amerikanischen Gruppe, die seit etwa zwei Jahren zusammen ist. Diese Bluesbreakers bestehen neben dem Meister an Orgel, Harmonika und Gitarre aus Bobby Haynes am Baß, Joe Yuele am Schlagzeug und den beiden großartigen Gitarristen Coco Montoya und Walter Trout – beide expressive Slidespieler, jedoch von ganz unterschiedlichem Klang. Mayall ließ ihnen allen Raum für wahre Gitarrenorgien. Montoya stieg hoch in die Ränge des Kinos »Kosmos« und spielte dort inmitten der Fans Stevie Ray Vaughans »The Things That I Use To Do«. Trout schürte das Feuer noch mit einer langen, lodernden Version von »Rollin’ With The Blues«. Beim Blues ist es ja ziemlich egal, welches Stück man gerade am Wickel hat; es geht mehr um Gestus und Intensität als um die Komposition. Zur Freude der Menge packte Mayall trotzdem die alten Nummern aus: »All Your Love« von Otis Rush, »Parchman Farm«, den Knast-Song von Mose Allison, die Canned-Heat-Ode »The Bear«, »Ridin’ On The L&N« und natürlich »Room To Move«, sein Mundharmonika-Renommierstück. Obwohl er sich dabei mit ein paar Keyboard-Tricks behalf: Mayall, immerhin Jahrgang 1933, zeigte sich in bester Verfassung, hielt alle Fäden in der Hand, sang wunderbar und war zudem ein uneigennütziger Mitspieler. Zum Schluß, bei Sonny Boy Williamsons »Checkin’ On My Baby«, ging er dann in die Massen hinein. Der Jubel war ungeheuer.

John Mayall hat auf klassischen LPs wie »Blues From Laurel Canyon« (1968) und »The Turning Point« (1969) subtile Beispiele für Rock-Impressionismus veröffentlicht. Trotzdem kommt seine Musik irdischer, physischer daher als die von Carlos Santana. Der gebürtige Mexikaner aus San Francisco, der in diesem Jahr vierzig wird, ist ein Mann, dessen Kunst aus bewußter Spiritualität rührt – ein religiöser Musiker, allerdings ohne Bekenntnis zu einer bestimmten Religion. In seinen Latino-Rock sind viele Elemente nord-, mittel- und südamerikanischer Musik hineingeschmolzen – Blues und Samba, Tex-Mex, Reggae, Rock’n’ Roll. Kein Zweifel, daß Santana »richtige« Rockmusik spielt. Aber die Bestandteile dieser Musik sind allamerikanisch; sie zitieren den gesamten Kontinent und eignen sich deshalb für keinen US-Pop-Imperialismus.

Die Band: Vielleicht muß man hier bei denjenigen Musikern anfangen, die Santanas unablässig rollende Rhythmusmaschine bedienen: Graham Lear am Schlagzeug und die Percussionisten Armando Peraza, Raul Rekow und Orestes Vilato. Dazu hörte man Chester Thompson mit fliegenden Orgeltönen, Ex-Weather-Report-Bassist Alphonso Johnson sowie die Sänger Alex Ligertwood und Buddy Miles, der auch Gitarre spielte. Selbst ein Rock-Heros, ließ Miles mit »Texas« und »Them Changes« die seligen Zeiten erstehen, da er bei Mike Bloomfields Electric Flag und in Jimi Hendrix’ Band of Gypsies sang und am Schlagzeug saß.