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»Ludwig Marcuse hat seinen Nachruf auf Ludwig Marcuse 1969 zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Da versucht Marcuse... endlich die Wahrheit über Marcuse zu sagen... Ein bejahrter Philosophiestudent, wie er sich mit siebzig Jahren titulierte, ein Kritiker, der eine ganze Zivilisation, sein zwanzigstes Jahrhundert, so lange witzig und kritisch kommentiert hat, bis er zuletzt sich selber auseinandergenommen hat: ein Kulturkritiker am eigenen Ich.«
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Seitenzahl: 307
Ludwig Marcuse
Diogenes
Dem Freund Gerhard Szczesny
Ein Jahrzehnt nach der Auto-Biographie ›Mein zwanzigstes Jahrhundert‹ erscheint der Auto-Nekrolog, mein Nachruf auf mich. Damals machte ich den Versuch, ein Jahrhundert darzustellen, wie es sich mir in Freunden und Feinden, in schlimmen Situationen und glücklicheren gezeigt hatte; und nebenbei zeichnete ich mich etwas in das Bild hinein. Jetzt ist das Jahrhundert nur noch ein blasser Hintergrund, vor dem ich, vereinzelt, verloren, winzig in Großaufnahme stehe. Wie konnte ich mich unterfangen, im Zeitalter des prinzipiellen Verdachts zu probieren, mir am Ende des Lebens wissender zu begegnen als je zuvor und von dieser Begegnung auch noch zu berichten? Ich habe Bundesgenossen. Das Alter und das Schicksal, das mich traf, haben mich in hohem Grad von der Furcht befreit, die mehr als jede andere den Einzelnen fälscht: die Furcht, sich lächerlich zu machen, verlacht zu werden. Sie ist die Seele, die Seelenlosigkeit aller Konformismen, aller Verfremdung, mit denen einer von sich ablenkt. Es gibt kaum eine Seite in diesem Buch, über der nicht drohend die Frage hing: schreibt dies tyrannisierende Bedenken, sich zum Gespött zu machen, vielleicht mit? Stelle ich mich wirklich unentstellter dar als in allen Reden und Schreiben zuvor? Und weshalb bin ich darauf aus? Es gehört zu meiner Vorstellung von Menschenwürde, daß man sich nicht vor sich versteckt – und auch nicht vor der Welt, wie groß oder klein sie sein mag. Und zu meiner Idee von Humanität gehört das Wissen um unsere Kreatürlichkeit. Die Bibel und Sophokles und Schiller (am Anfang eines Jahrhunderts, das am Schluß recht despektierlich fin de siècle genannt wurde) priesen den Menschen als Krone der Schöpfung.
Es sollten aber unter allen Kronen die Gekrönten sichtbar werden; nicht um Menschenverachtung zu fördern, sondern um die Stolzen wirkungsvoller zu einen. Dazu müssen auch die Mauern niedergerissen werden, die errichtet werden, um dem Nachbarn die Sicht zu verstellen, um nicht gesehen zu werden, wie man ist. Der bloßgestellte Zirkusklown wird hämisch beklatscht, weil man von der eigenen Blöße abzulenken sucht. Die Hämischen sind die Häßlichsten unter allen Menschen.
Hiermit wird nicht ein Gelingen angezeigt, nur die Absicht. Im Nachruf auf sich selbst nimmt einer sich unermeßlich wichtig – aber nicht im Vergleich mit Anderen.
Ein Vorwort wird nicht immer seinen legitimen Platz sichtbar vor den Worten haben. Meist wird es nachher geschrieben, weil erst am Ende zu sehen ist, was dem Leser zuvor mitgeteilt werden sollte. Vielleicht, weil er gewarnt werden muß, nichts anderes und nicht ganz so viel zu erwarten, als der Titel verspricht; und besonders, wo er so anspruchsvoll ist, daß möglichst schnell hinzugefügt werden muß: in ihm steckt kein Anspruch, nur eine solide Absicht. Der Leser ist je nachdem, was es zu lesen gibt, mehr ein Partner oder mehr außerhalb. Hier gibt es keine Mitteilung zuvor jener Art, wie sie vielleicht vor einer Darstellung der Geschichte Islands angebracht wäre. Das Vor-Wort gehört bereits zu den Worten, die folgen.
Wäre es anspruchsloser auf diesen Blättern Ich zu sagen, statt (dem einem Nachruf angemesseneren) Er? Der, welcher schreibt, bin ich, und der, welcher beschrieben wird, ist Er – hier um so mehr, als dem Präteritum kein Präsens mehr folgen wird; immer winziger werde ich, immer mehr wächst Er. Das Er scheint auffälliger, prätentiöser zu sein, ist aber, in diesem Fall, das Pronomen der Distanz. Und dem Leser wird geholfen, wenn Er großgeschrieben wird; das große E ist nicht der hohe Sockel zu einer kleinen Figur; das peinliche Gefühl wird abklingen, wenn Er von den Niederlagen berichtet, die Er erlitten hat.
Ein Vor-Wort, das sich unmittelbar an den Leser wendet, wird mißbraucht, wenn es eine captatio benevolentiae ist, das Betteln um Nachsicht, oder, um dasselbe zu erreichen, eine Einschüchterung. Da soll der, an den es sich wendet, so oder so gefügig gemacht werden; auch zum Beispiel als Beichtvater, ein ungehöriger Anspruch. Wer von einem Anonymus, der gar keinen Auftrag dazu hat, Absolution will, ist ein Narr. Die Titel ›Confessiones‹, ›Confessions‹, ›Die Beichte eines Toren‹ … sind Zeichen der Dringlichkeit, wie vehement einer sich um sich kümmerte.
Dies Wort zuvor könnte das ernüchternde Motto tragen: doppelt genäht hält besser; so nähen nur Menschen, die zum unprofessionellen Leser und auch zum professionellen zu wenig Vertrauen haben: ein menschenfreundliches Mißtrauen. Wer (wie Er) Bescheinigungen über die vielen Bücher, die Er schrieb, in unschuldiger Eitelkeit gesammelt hat, kann vielleicht ob solchen Kleinmuts entschuldigt werden.
Ihm, von dem hier die Rede, ist es darum zu tun, sich gleich zu Beginn (wie ungern!) ein Etikett zu geben, um so viele falsche Stempel zu überkleben. Marx verherrlichte »die allgemeine Sonne« und verachtete »das Lampenlicht des Privaten«. Wer so denkt und wie der Lehrer Hegel (und viele Lehrer vor ihm und wie viele Schüler nach Marx) muß mit Nachdruck, und schon auf den ersten Seiten, aufmerksam gemacht werden, daß es im Kommenden nur um ein ›Lampenlicht‹ geht. Die ›allgemeine Sonne‹ seiner Tage war das Wilhelminische Reich und das zaristische Rußland, der Mord an Rosa Luxemburg und die Serie der Moskauer Stalin-Prozesse ab 1936, das zwölf Jahre alt gewordene deutsche Millennium, die Kapitalismen und die Sozialismen, die, zu Fahnen sublimiert, vom ewigen Konflikt ablenkten: der zwischen den Großmächten ausgetragen wurde, wie eh und je.
Diese Sonnenfinsternisse, bei denen ›die allgemeine Sonne‹ immer wieder einmal spärlich durchkam und dann mehr Finsternis hinterließ, sind nicht aufgezeichnet in diesem Buch. An guten Darstellungen der Zeitgeschichte fehlt es nicht. Er wäre nicht imstande, sie mit Statistiken und Kategorien der Psychologie, der Soziologie, der Politologie zu übertreffen.
Eher fehlt es an Selbstdarstellungen (nicht an Memoiren) der viel bescheideneren ›Lampenlichter‹; sie werden nur dann ein bißchen geachtet und geschätzt, wenn sie zugleich Sonnen (oder doch wenigstens Sonnenfinsternisse) sind: Stalin oder Hitler oder irgendeiner in dieser weltgeschichtlichen Preislage. Der Persönlichkeitskult ist nach wie vor en vogue; kann man keine Heroen haben, welche die allgemeine Sonne verfinstern, dann werden an regionalen Börsen Halbgötter kreiert. Noch werden die Favoriten kultureller Konventikel nicht auf Plakaten in Demonstrationen herumgetragen. Aber sie sind keine Lampenlichter mehr, sondern angesehene Aktien, der Eigenname ist ein Markenartikel.
In diesem Nachruf hat es der Leser mit einem ›Lampenlicht‹ zu tun, mit einem Privatmann. Die Lampe will nicht Licht verbreiten über die Menschheit: wie Adam und Eva sich auswirkten, Begründer der ersten Klassengesellschaft; sie setzte ein mit der ›Dialektik‹ zwischen Kain und Abel. Wer aber hat Interesse an einer Lampe, die nur den schmälsten Bezirk beleuchtet, den sehr engen der Erfahrungen eines einzelnen in ein paar Jahrzehnten? Wer braucht seinen Autonekrolog?
Eingeladen, ein Bildnis von sich zu entwerfen, würden Arbeiter, Kaufleute und Ladenmädchen unbefangen entweder in Fotografierpose gehen oder einige, vielleicht sehr hübsche Anekdoten ausplaudern. Schriftsteller, Musiker, Schauspieler und andere Träger der Kultur gehen, wenn sie renommiert sind und etwas auf sich halten, sofort in die Defensive. Sie denken nach, wie sie sich beschreiben können, ohne erkennbar zu sein. Fortschrittliche Maler kritzeln Beliebiges aufs Papier, Unterschrift: »Ich beim Mittagessen«; das können sehr reizvolle Kringel sein. Akteure, die sich selbst darstellen sollen und von den Stücken gelernt haben, in denen sie aufgetreten sind, verkriechen sich in eine Mülltonne oder streichen sich regenbogenfarbig an oder stülpen die Totenmaske einer vor Jahrtausenden verstorbenen Menschenart über Nase und Mund. Die nicht-gegenständliche Kunst hat viele Herkünfte; eine, wenig bemerkte, ist die Flucht vor der Ähnlichkeit, im besonderen vor der Ähnlichkeit zwischen sich und dem Abbild.
›Verfremdung‹ regiert die Stunde. Für einen Autonekrolog schickt sich das nicht. Es ist viel Kunst darauf verwendet worden, nicht nur die Oberfläche zum Verschwinden zu bringen; auch, was darunter ist, wurde als Oberfläche entlarvt. Jeder Intellektuelle ist ein deus absconditus geworden. Wer sich im Selbstporträt auf den Leib rücken will, fühlt sich verpflichtet, weit von sich abzurücken. Er aber will seine Selbst-Entfremdung aufheben, sich dem vertrautesten Fremden nähern. Novalis schrieb: »Alles wird romantisch, wenn man es in die Ferne rückt; so wird alles in der Entfernung Poesie.« Brechts Ästhetik der Verfremdung war beste Novalis-Schule; nur verwechselte er die Mittel der Poetisierung mit denen der Politisierung, romantisierte sie und setzte die öde Literatur gesellschaftskritischer Parabeln in die Welt. Die Epigonen haben es immer noch nicht gemerkt. Diese Aufzeichnungen wollen nicht schönen und nicht häßlichen Schein, sondern eine Aufhebung im Nekrolog. Die nüchterne Elegie, die folgt, ist nicht auf Dichtung und Wahrheit aus, auf eine poetisierte Wahrheit, eher auf eine ernüchterte. Es müssen noch viele Schleier fallen, bis sich die Maskerade der Mythen, der biographischen und der autobiographischen, ausgetobt hat. Ist solch ein prekärer Versuch der Entmythologisierung seiner selbst nützlich? Nützlich für wen? Sie mag den Bereich eines anderen Lampenlichts ein wenig erweitern; denn die allgemeine Sonne blendet zu vieles weg. Vielleicht wird einer in einem Geheimnis getroffen, das er barg, ohne es zu wissen. Die ›allgemeine Sonne‹ hat es mit Epochen zu tun, mit historischen Gesetzen, mit Völkern und mit der Richtung, in der das Ganze sich gradlinig vorwärts wälzt oder dialektisch hin und her springt, in eine gute Zukunft hinein. Aber der einzelne möchte manche Einzelheit kennenlernen, die im grellen Licht der allgemeinen Sonne (für soviel Helle zu winzig) nicht bemerkt wird. Ob gerade Er, aufdringlich nur in der Konzentration auf sein Lampenlicht mit dem engen Kreis, nützlich sein kann: von Winzigkeit zu Winzigkeit, ist ungewiß. Er kann nichts versprechen; nicht einmal, daß der wilde Wille zur Wahrhaftigkeit, der schon manchen betrogen hat, ihn zu Wahrheiten führte.
Die Eröffnung, daß Er auf die wahre (nicht nur wahrhaftige) Darstellung des beschriebenen Er aus ist (ein hybrider Ehrgeiz, im Verhältnis zu dem alles Erforschen des Alls ein Kinderspiel ist), muß dem Leser, der den Autor kaum kontrollieren kann, verdächtig sein, weil von recht unzulänglichen, dem Berichterstatter allein reservierten Bezirken berichtet wird. Um so mehr, als der Verdächtigte selbst Verdacht gegen sich hegt: er könnte zum Mogeln verführt werden, gegen seinen eindeutigen Willen. Wie leicht hätte Er es, wenn Er einen Mord begangen, einen Krieg angezettelt, die Bank von England ausgeraubt hätte – und könnte nun, mit Daten und Zeugen, die Untaten aus dem Dunkel hervorziehn.
Dem Leser kann nicht mehr Vertrauen zugemutet werden, als Er selbst zu sich hat; denn die unverrückbare Absicht, sich posthum zu beschreiben, losgelöst von jedem Interesse an dieser Beschreibung, ist keine Garantie, da Er noch am Leben ist, wenn auch fast nicht mehr in ihm. Er kann nur den Versuch machen, die einzige Selbst-Entfremdung, die Er in seinem Leben zu finden vermag, etwas aufzuheben: daß Er sich zu einem guten Teil, zum schlechtesten Teil gar nicht oder mit den Augen von Irgendwem gesehen hat und sich deshalb akklamierte und sich deshalb verurteilte. Das Gewissen war immer lebendig – aber war es seins? Auch die, welche das Wort Freiheit (neust-hochdeutsch: ›Authentizität‹) auf sich anwenden, haben keine Ahnung, wie gedankenlos, wie unwissend sie gerade hier sind … am häufigsten als ehrliche Betrüger, als Verlogene.
Die allgemeine Sonne, der objektive Geist, der Überwinder des ›falschen Bewußtseins‹ verbietet es heute dem Einzelnen, an das kleine Lampenlicht zu denken, das Er ist und auch sein Nachbar und auch der Vorbeter und auch die Myriade minimaler Sonnen neben ihnen. Wer sich dem widersetzt, wird mit der Schimpfwendung »Borniertheit des liberalistischen Individualismus« traktiert. Die elitären Gassenjungen wissen noch nicht, daß der nach-marxistische Individualismus, weil er überfällig ist, mit der Geburtszange herausgeholt werden muß.
Spricht er in diesem Nachruf immer zu sich, blinzelt Er nicht auch zu Freunden und Feinden hinüber? Ist nicht noch ein beträchtlicher Rest von Exhibitionismus da, der zu trennen ist vom Willen, Täuschungen aufzuheben? Drangen in dieses Selbstgespräch Rücksichten ein, nachdem der ursprüngliche Plan, es nach der Niederschrift zu vernichten, nicht ausgeführt wurde? Was für eine Schwäche hat ihn verhindert? Hat sich die Versuchung eingeschlichen, sich nicht zu ungünstig zu präsentieren, die nur nach Vernichtung des Manuskriptes hätte ausgeschlossen werden können? Gegen diese Gefahr machte Er immer wieder im harten Gespräch zwischen ihm und sich geltend: wie wenig Interesse er noch am Aufputz haben kann. Replik: nicht zu unterschätzen ist die Zähigkeit, die dem Tod noch dann ausweicht, wenn er schon gegenwärtig ist. Im Ertragen seiner Gegenwart ist immer noch die gewohnte Anhänglichkeit, man läßt noch nicht los, man strampelt nur, man fällt noch nicht. Ernst Toller handelte sehr eifrig mit seinem Agenten um ein Viertel Prozent, eine Stunde danach hängte er sich auf. Eine Sechsundachtzigjährige, mit schlechten Augen, schmerzhaftem Rücken, Atemnot, Langeweile, fünfundsiebzig Pfund Haut und Knochen, will es sich nicht nehmen lassen, einen Bikini zu kaufen. Daran denkt Er, wenn Er sich fragt, wie unabhängig sein Postmortem ist; denn einer manipuliert sich selbst intimer, gründlicher, als die gesammelte Gesellschaft es kann.
Wie abhängig ist Er vom Klima, in dem dies hier entstand: das Mißtrauen aller gegen alles und zugleich der primitivste Aberglaube. Vielen war es rätselhaft, wie die skeptische Generation plötzlich zur fanatischen wurde, wie die Ideologien-Feindschaft blitzschnell in eine Kreuzzügler-Mentalität umschlug, die nicht nur Mentalität blieb. Beide Diagnosen: die uninteressierte Jugend und die wilde, … sind zwei Aspekte eines einzigen Sachverhalts: Hippies und unorganisierte Pflastersteinwerfer gehören zusammen in der Flucht aus der Gegenwart (in welche Richtung auch immer), im Impuls, aus dem Alltag auszubrechen. Verzweiflung, Resignation und die rasende Hoffnung, die militante Wut ›Alles oder nichts‹ entstammen dem fundamentalen, aufrichtigen, aber nicht durchschauten und deshalb verfemten Nihilismus, der sowohl das rauschhafte Auslöschen des Bewußtseins als auch die Himmelfahrt der Reflektierenden hervorgebracht hat; der Himmel materialisierte sich (es ist nicht ernst zu nehmen) in zerbrochenen Fensterscheiben und Kot in Schreibtisch-Fächern. Alles ist eher zu ertragen als das Schritt für Schritt zum Ziel, das so deutlich ist wie die Straße zu ihm vernebelt, verwirrend.
›Die allgemeine Sonne‹ war zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene: in dem einen Jahrhundert Theologie, im anderen Architektur und lange Zeit: Wissenschaft. Sie scheint heute als politische; Wissenschaften und Künste und auch Religionen werden erst in diesem Lichte bedeutsam. Die zeitgenössischen elitären Revolutionäre, welche heute vor allem die ›allgemeine Sonne‹ repräsentieren, wollen ›das falsche Bewußtsein‹ der Alltäglichen dem richtigen Bewußtsein der Feiertäglichen unterwerfen. Das ›falsche‹ sei ein Relikt der Vergangenheit, bestehend aus einer verstorbenen Vorstellungs-, Gefühls- und Willens-Welt, das richtige ist weniger gegenwärtig als zukünftig, wobei Zukunft eine vorweggenommene gloriose Gegenwart ist. So wurde eine übersichtliche Landschaft von Lebenden und Abgestorbenen geschaffen. Die Lampen des Privaten liegen im Mülleimer. Aus ihm tritt Er, unansehnlich, heraus.
Marx’ Behauptung: »Die freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen« ist Metaphysik. Und außerdem: wer repräsentierte diesen ›Gattungscharakter‹? Marx oder Bakunin? Stalin oder Trotzki? Breshnew oder Dubcek? Die eine Schule der Soziologie, die in sich diesen ›Gattungscharakter‹ feiert, oder jede bescheidenere, die diesen Anspruch nicht hegt? Und welche Gesellschaft hat Marx’ Lehre: »Die positive Aufhebung des Privateigentums ist die positive Aufhebung aller Entfremdung« bestätigt?
Ein Zukünftler ist: wer zur Schar derer gehört, die souverän auf ›das falsche Bewußtsein‹ der Zeitgenossen hinabsehen. Er war nie besoffen von Zeitgeist und Zukunftsgeist, wie Er nie besoffen gewesen ist von der Ewigkeit. Er, ein Lampenlicht, war nie in den Reihen der Kolonnen, die (rechts oder links) sangen: »Und morgen gehört uns die Welt.« Er belegte nie die Zukunft mit Beschlag. Er hält die Zeit weder für einen werdenden Teufel noch für einen werdenden Gott (wie der gläubige Hegel und der noch gläubigere Marx und die allergläubigsten Geschichtsphilosophen, die an den Fortschritt auf dem Weg zur Hölle glauben). Das Wort ›unzeitgemäß‹ ist leider eine Koketterie geworden, ein Orden, den einer sich dünkelhaft verleiht, weshalb sich niemand dieses grell schmückende, schmockisch gewordene Adjektiv zulegen sollte. Daher möchte Er es lieber so sagen: es gibt die Liebe zu einer Zukunft, die unzeitgemäß ist, es gibt eine unzeitgemäße Utopie von einem Individualismus, im Jahre X nach Marxens Geburt. Wer glaubt, er wird es nicht erleben, sollte vorzeitig davon naschen. Er selbst hat es nicht herzhaft getan, das ist sein Einwand gegen sich.
Übrigens ist da eine lange Reihe von Produktionen, die unzeitgemäß sind (und deshalb ist dies Wort allein noch kein Schmuck): weil sie als Kopien auf die Welt kamen, Koryphäen der sich wandenlden Zeit und zugleich Totgeburten. Sie verwechseln neu mit ursprünglich und beten jede ausgeklügelte Machart an. Er aber glaubt, daß es nur deshalb heute keinen Mozart gibt, weil die Elite ihn als prähistorisch zum Tode verurteilen würde. Das weiß schon der Fötus und richtet sich danach; denn vor der Entfaltung des Menschen haben die herrschenden Götzen ihr Dagewesen und Zeitgemäß gesetzt. Ein Autonekrolog hat wenig Chancen, weil er nicht in Richtung Zukunft geschrieben wird.
Daß ein ›Authentischer‹ einige Jahrhunderte alt sein kann, ist heute außerhalb des Vorstellbaren. Das Klima, in dem Er lebt und seinen Nachruf schreibt, macht ihm deutlich: wie fremd ist ihm, dem zur Unzeit Gekommenen, der Zeitgeist, heute noch mehr als in den frühen Jahren. Am ehesten ist diese Fremdheit plausibel zu machen, wenn Er sich im politischen Gewand betrachtet. Deshalb versucht Er gleich zu Beginn, sein Politisches zu erhellen (seine Beziehungen zur allgemeinen politischen Sonne), bevor Er die intimere Lampe zeigt: nicht den Beiträger zur Geschichte öffentlicher Angelegenheiten, von der Lokalpolitik bis zur Philosophie, sondern den kleinen Rest, der übrig bleibt, wenn seine bescheidenen Beiträge abgezogen sind.
Die Gretchen-Frage: wie hältst Du’s mit der Politik? sollte nicht beantwortet werden mit der Angabe, wohin man letzten Endes will, daß man auf Seiten der Guten ist. Im letzten Ziel traf Er sich und trifft Er sich mit der Mehrzahl seiner denkenden Zeitgenossen: in einem guten Konformismus. Er ist mit ihnen konform im gemeinsamen Glauben, daß Eins und Eins zwei macht. Er ist auch, wie die meisten Weggenossen, gegen Mord, gegen Krieg, gegen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; nur hält Er es für wichtigtuerisch, dies Selbstverständliche lebenslänglich zu plakatieren. Problematischer sind immer die Straßen, auf denen man dorthin kommt, wohin man will. In seiner Jugend war Er ein schlichter Liberaler, der nie Leitartikel las und nie das Wirtschaftsblatt und glaubte, daß im Theater die Entscheidungsschlachten der Menschheit fallen. Damals stellte er sein Amt als Theaterkritiker zur Verfügung für den Fall, daß in seiner enthusiastischen Kritik von Tretjakows ›Brülle China‹ auch nur ein Komma geändert würde; obwohl Er (einst ein ungewöhnlich schlechter Schüler, besonders auch in Geographie) noch zur Zeit des brüllenden China nicht genau den geographischen Ort dieses Brüllens hätte angeben können. Aber da Er ein guter Mensch war, brüllte Er aufrichtig mit.
Zu seiner Erbauung (wie Er heute bemerkt) schrieb Er ein erbauliches Buch über einen großen Vormärz-Liberalen; und delektierte sich am Pathos des Biographierten und des Biographen. Dann kam 1933. Er hatte kurz zuvor die Schriften des jungen Marx zu lesen begonnen; und so machte Er sich auf, den breiten Königs-Weg zum Sozialismus zu beschreiten, auf dem Papier. In seiner politischen Entwicklung war Er erstens ein Spätling und zweitens nicht originell; kennt aber kaum jemand, der ihm glich in der Koexistenz von Nihilismus und dem Willen zu radikaler Gerechtigkeit, wie sie schon Fichte verkündet hatte: »Es sollen erst alle satt werden und fest wohnen, ehe einer seine Wohnung verziert, erst alle bequem und warm bekleidet sein, ehe einer sich prächtig kleidet.« Aber dieser Wille war erst ein Teil dessen, was ihn bewegte. Georg Büchner, der sowohl das stürmischste Manifest des Sozialismus als auch die nihilistischsten Dramen geschrieben hatte, wirkte auf ihn wie kaum ein anderer. Auch Er hatte zwei politische Glaubensartikel, die spinnefeind mit einander zu sein scheinen: »Die Welt muß verändert werden …« und »Rühre nimmer an den Schlaf der Welt«; die Atomspaltung gab Hebbel recht und auch die Sowjet-Revolution, die bald den Schlaf der Welt verteidigte.
Die Geschichte seines politischen Bewußtseins und seiner nicht vorhandenen politischen Wirksamkeit zeigt: daß mit ihm kein Staat zu machen war und keine Revolution. Das ist nicht eine (das Selbst aufplusternde) Selbstbeschimpfung, sondern der Beginn einer Beschreibung. Da sie nur kurz sein kann, wenn an gewohnte Wendungen angeknüpft wird, nimmt Er als Absprung die Sentenz mit den drei Sternen, den hochberühmten Satz, der das Interpretieren und das Verändern der Welt in Gegensatz zu bringen scheint. Marx aber tat beides. Er interpretierte und machte danach die ersten Schritte zur Veränderung gemäß seiner Interpretation. Ebenso war sein Vorgänger Platon ein auf Veränderung bedachter Interpret gewesen und scheiterte wie Marx: an einer großartigen unzulänglichen Interpretation. Bei ihm, von dem in diesem Nachruf die Rede ist, haperte es nicht an der Richtung, in der die Veränderung gehen sollte, nicht einmal an der Interpretation; der Nachkomme kann leicht gewitzter sein als der große Ahn, der ihn auf den Weg gebracht hat. An eine theologische oder mathematische oder physikalische oder biologische Metaphysik glaubte Er nie … auch nicht an eine soziologische, in welcher die Götter Zeit und Dialektik herrschen. Das Wohin-Er-wollte machte nie Schwierigkeiten: die jüdischen Propheten hatten das Ziel entdeckt und Platon und Marx; nur war der Weg dorthin immer problematisch. Politik aber ist der logisch nicht ableitbare nächste Schritt in die unproblematische Richtung; Utopisten, welche die Ankunft, vorwegnehmend, in Verse setzen oder in Essays, machen es sich recht bequem.
Er hat viel von Marx gelernt und weiß, wie der Kapitalismus seiner Zeit, von Engels anschaulich geschildert, aussah. Wenn Er aber die Schreibtisch-Kämpfer ringsum, die dasselbe wollen wie Er, betrachtet, dann hat Er nur den einen Reflex: so auf keinen Fall, so leichtsinnig darf man nicht junge Menschen ins Elend verführen, in einer höchst unmoralischen Gleichsetzung von Moral und Politik. Die Verführer bauen nicht einen brauchbaren Weg, sie blenden die Länge der Zeit und die Mühsal bis zur Ankunft weg; sie halten sich lieber vorzeitig in der Ankunfts-Station auf, die man früher ›Elfenbeinturm‹ nannte und heute ›Utopie‹ nennt. Sie werben für sie, indem sie behaupten, daß ihre Utopie keine ist, sondern eine zukünftige Realität; damit glaubt man schon auf dem Weg zu sein. Sie, die bei den Moskauer Prozessen stalinistischer waren als Stalin, sind heute vormarxistisch in ihren anti-autoritären Sprüchen, in ihrer Lokkung mit dem Köder ›heile Welt‹. Man sollte sie Fall für Fall psychologisch und soziologisch untersuchen und ihnen nicht gestatten, sich als Propheten des Heils im soziologischen Priester-Gewand zu etablieren, im unbeachtetsten Establishment. Es gibt keine militante Wissenschaft, nur eine, die in den Dienst einer menschenfreundlichen oder menschenfeindlichen Absicht gestellt wird; es gibt keine militante Philosophie, nur eine, welche nicht auf der Buchmesse, sondern erst in der Aktion, im Feld wirksam wird. Es gibt kein philosophisches oder wissenschaftliches Ziel; nur eins, für welches Philosophie und Wissenschaft eingesetzt werden kann. Er ist immer noch dabei, aufzuzeichnen, in welcher Atmosphäre sein Nachruf entstand.
Im elitär-militanten Establishment sich zu bergen gestattete Er sich nie, machte sich aber klar, daß auch Er immer nur schriftstellernd ›gekämpft‹ hatte. Sehr langsam holte Er seine Gegenwart ein: den ideologiefreien Sozialismus, der keine Philosophie ist, sondern ein Wirtschaftssystem, das die Solidarität der Kreaturen vor Not und Tod zeigt, nicht die Gemeinsamkeit der Kreaturen in einer ›Vernunft‹, die es nicht gibt. Weder der Westen noch der Osten konnten sich von der antikapitalistischen und antikommunistischen Kreuzzugs-Mentalität befreien; ein einziger Zank zwischen zwei einander feindlichen Aberglauben. Er hatte beide durchgemacht und schlug oft zu … und meinte im geheimen seine eigene Vergangenheit.
Damals, nach dem Ersten großen Krieg, der ihm beigebracht hatte, daß es Politik wirklich gibt, klammerte Er, ein ahnungsloser Liberaler, sich an das Wort ›Freiheit‹. Damals schon ging es um Geist und Macht, Kunst und Politik und so weiter und so weiter. Damals schon wurde das Schimpfwort ›Elfenbeinturm‹, das, in Frankreich entstanden, eine lange Geschichte hatte, völlig abgenützt und verschleierte, daß man ihm l’art politique pour l’art politique ahnungslos entgegensetzte, eine sublimierte Militanz. Damals schon war Er nicht imstande, den politischen Weg zum Ziel zu erkennen. Aber Er drückte sich nicht mit dem hegelmarxschen Märchen vom werdenden Gott oder der werdenden Verwirklichung der Utopie, da Er in der Geschichte eher eine große surprise party entdeckte; die unerwarteten Gäste waren die Hauptakteure. Solche Gedanken ließen sich die schreibenden Revolutionäre nie gefallen. Und wer Angst hat, reaktionär genannt zu werden, sollte sich nicht zu diesem Glauben an Gott Zufall, zum Tychismus bekennen.
Seine Schuld im Politischen ist nicht, daß Er ein ideologischer Reaktionär war, sondern (wie noch zu berichten) faul und feige: private Kategorien, vor denen die Liebhaber des ›Spätkapitalismus‹ und ähnlich schmucker Alibis sich drücken. Zum Bewußtsein bringen heißt nicht nur: zum Klassenbewußtsein bringen; wobei dann mit militanten Artikeln abgegolten werden soll, daß man zur herrschenden Klasse gehört und ihre Privilegien genießt.
Im Krieg von Neunzehnhundertvierzehn war Er, immer für ein paar Tage, in allen Truppengattungen, von der Kavallerie bis zum Arbeits-Bataillon, gewesen; nicht, weil Er es immer wieder versuchte, sondern weil Er sich immer wieder drückte; und nicht, weil sein Gewissen ihn trieb, nicht zu schießen (das auch), sondern weil Er nicht sterben und nicht einmal Kniebeugen machen wollte. Dann schrieb Er Anti-nazistisches; von dreißig bis dreiunddreißig in Deutschland, dann im Ausland, kam aber nie auf die Idee, im spanischen und amerikanischen Kampf gegen das gehaßte Regime zu kämpfen. Er war immer ein forscher Schreibtisch-Kämpfer, auf der guten Seite, bisweilen nicht unbegabt; aber wären seine Geschosse nicht abgefeuert worden, wir wären heute genau dort, wo wir sind. Er glaubt, daß nur Mensehen, die (wie manche Spanienkämpfer, wie die Rasse der Ossietzkys) bereit waren, ein Martyrium auf sich zu nehmen, berechtigt sind, aufzuhetzen. Wer zu Castro oder Ho Tschi-minh fährt, wie ein Staatspräsident zum Kollegen Souverän, sollte Staatspräsident werden. Die bellikosen Sätze, die Er schrieb, in ehrlichem Zorn, waren vor allem Ventile für einen Emotionsstau und l’art politique pour l’art politique. Erst spät merkte Er es.
Er machte nie ernst, setzte sich nie auf Tod und Leben ein … muß aber, der Genauigkeit halber, akzentuieren, daß Faulheit und Feigheit zwar dominierende Motive für den ständigen Aufenthalt in der Schreibtisch-Etappe waren, aber ein Drittes kam hinzu. Er glaubte nie, Er hoffte nie. Er hielt das Ganze (wie der alte Grieche, den Einstein verurteilte) für ein Würfelspiel – trotz der Logik, die einige Zusammenhänge aufweisen. In unpolitischer Zeit hätte seine ›Politik‹ nicht den Anspruch gemacht, die Selbstbesinnung einzuleiten.
Hier erscheint Er also nicht im Licht der ›allgemeinen Sonne‹, in dem ihn die Anderen sehen und gewiß nicht ohne Berechtigung, als zweite oder dritte Besetzung. Aber das mangelnde Interesse am Privaten stammt (wenn nicht aus anerzogener Tradition) aus dem Mangel an Mitleid und Mitfreude. Es gibt eine Menschenart, zu der Er gehört, weil Er viel las, Violine spielte, lebenslänglich ins Theater ging (auch zu Kongressen, eine Mitte zwischen Bühnen- und Straßen-Theater); auch gehört Er dazu, weil Er über Schauspieler schrieb und über Dichter und viel über sich selbst, auch unter Titeln, denen man es nicht anmerkte. Das heißt: Er war angesiedelt innerhalb einer Spezies Mensch, zu der Heraklit gerechnet werden kann und Oscar Wilde und ein unfähiger Referent, der zwar kein Referat zustande bringt, aber doch die Merkmale der Innung zeigt.
Die Ärzte behaupten, Ärzte, die Schauspieler behaupten, Schauspieler, die Komponisten behaupten, Komponisten seien der Ausschuß der Menschheit. Wo man angesiedelt ist, entdeckt man die allgemeine menschliche Schwäche und benennt sie zu Unrecht nach der Region, in der man sie fand. Hölderlin beklagte die Deutschen, weil er kaum Gelegenheit hatte, sein Vaterland zu verlassen. Aber es gibt Eigentümlichkeiten, zum Beispiel professionelle; in ihnen erscheint das Trübe mit individuellen Zügen. In seinem erleuchteten, vor allem beleuchteten Kreis war man zeit seines Lebens gewohnt, den Mann vor allem nach der Figur zu beurteilen, die er in der allgemeinen politischen Sonne machte. Und Er machte keine gute Figur.
Der, von dem hier die Rede ist, beschrieb einmal seine Privatkulte; und wirklich waren sie ihm näher als alle öffentlichen Bekundungen: vom »Heil Dir im Siegerkranz« des Pennälers bis zur öffentlichen Bekundung, daß Er gegen Krieg sei, auch gegen Unterdrückung, auch und auch und auch … Ihn langweilten die Unterschriften und die Unter-Unter; ihn faszinierten Privatideologien und Privatkulte, die es in Hülle und Fülle gibt. Er weiß nicht, was in ›Hülle‹ bedeutet, aber jedenfalls sind die meisten als objektiver Geist verhüllt. Sie spielen eine noch größere Rolle als die unverhüllten öffentlichen. Sie sind in ihrer privaten Herkunft geheim, weil (nach einem der honoriertesten Abkommen der Zeitgenossen) Privates entweder a) unwichtig ist oder gar b) lächerlich oder c) geradezu unanständig; unwichtig und lächerlich und gar nicht respektabel sowohl vor den Fünfjahresplänen als auch vor jenem besonders glänzenden, der nun schon einige Jahrtausende, spätestens seit den Tagen der hebräischen Propheten, nur ein Plan ist.
Immerhin ist das Unanständige, Lächerliche und Unwichtige im Mittelpunkt jeden Lebens, auch wenn es als öffentlicher Belang auftritt. Es gibt auch überpersonale Belange; nur sind sie nicht so zahlreich und dominierend, wie sie vorgeben. Da rumort der objektive Gott in einem der eitelsten Schriftsteller … und lenkt aller Augen ab von der kleinen, niedlichen Privatideologie, die er sich zur Beruhigung in einem Kurzessay über die Eitelkeit als einer Ausstrahlung der Geistigkeit schuf. Die große Heuchelei beginnt mit der Verhüllung des sehr besonderen Sterblichen im prächtig verbergenden Talar des unsterblichen Geistes. Die viel beredete Selbstentfremdung ist vor allem die humorlose Darbietung humorloser Kostüme, an die der Humorlose glaubt.
Hinter der fürstlichen Kultur, die glänzend ausgestellt ist, blühen im geheimen die unscheinbaren Kulte, mit denen man zwar keinen Staat machen kann, aber ein paar schwere Erdentage etwas leichter. Es ist ein bißchen genant, angesichts von Giganten wie: geschichtliche Mächte, soziale Kräfte, herrschende Tendenzen, epochale Ereignisse, die man alle vom Feldherrnhügel des Weltgeistes aus sieht, das Augenmerk zu richten auf jene bescheidenen Veranstaltungen, die der Einzelne sich festlich zubereitet, damit er etwas verpusten kann. Wie gesagt: es ist etwas peinlich. Aber Er zeigt, aus Trotz gegen den Zeitgeist, vier solcher Kulte vor, die nicht in Synagogen, nicht einmal im Fernsehen zelebriert werden. Die Phrase ›heile Welt‹ konnte ihn nicht heilen.
Der erste fand jeden Morgen statt. Das Ritual liegt fest. Die Tasse darf nicht kleiner sein und nicht größer als ein Gefäß für etwa hundert Kubikzentimeter. Das Wasser muß sieden, darf aber nicht kochen, wenn ein gehäufter Eßlöffel fein gemahlenen Kaffees hineingeschüttet wird. Die Flamme wird sofort abgedreht. Das Ziehen unter dem Deckel dauert etwa drei Minuten. Erst im Augenblick, in dem Er zum Trinken ansetzt, goß sie warme gequirlte Milch langsam zu. Der weiße Gischt erinnert an den Beinamen der Venus: die Schaumgeborene; auch der Kaffee scheint sonnengebräunt aus den Fluten aufzusteigen und trägt nun die helle, perlenweiße Krone; sie kann, bei geschicktem Trinken, erhalten werden, bis auf den letzten Schluck. Und draußen starben Menschen, an irgendeiner Pest, in irgendeinem Krieg, durch irgendeinen Mörder.
Jeder Tag begann mit dem Widerwillen, aufstehen zu müssen und mit diesem herrlichen Ereignis. Auf der Zunge verbreitet sich eine Schönheit, die nicht aus dem Tag kommt. Schon beim Anblick spürt Er die aufhellende Wirkung des Schwarzen, der etwas milchig und sehr königlich geworden ist. Die Augen sehen enthusiastischer, die Ohren hören plötzlich einen fernen Specht am Rande des Waldes, mehr Welt als zuvor dringt ein. Eine ›heile‹ Welt! Was man so Frühstück nennt, hält Er für eine Entweihung seines Kults. Er braucht nichts Flüssiges, um Materie wie Eier, Schinken, Brot und Marmelade hinabzuspülen. Er kennt in den ersten Minuten am Schreibtisch, wo Er Nektar nippt, keine Götter neben sich. So sehr ist Er beflügelt vom Geist, den Er trank.
Die sakralen Requisiten wechseln mit den Göttern, denen gehuldigt wird. Eine seiner strengst zeremoniellen Kulthandlungen war das Töten von Feinden. Er hat viele vergessen; so gingen sie ihm verloren. Dies Töten ist eine ganz schön ausgewachsene Prahlerei. Tatsächlich floß kein Blut; auch kann Er nicht einen Fall nennen, daß sein Satz einen Mitmenschen ins Grab gebracht hätte, obwohl doch alles mit priesterlicher Genauigkeit vorbereitet worden war.
Es begann mit dem Spitzen des Bleistifts, der sehr spitz sein muß, obwohl das recht unpraktisch ist; schon nach dem ersten Stoß war meist die Spitze weg. Er spitzte härtere und weichere; man kann auch im Umarmen erdrücken. Kam Er zu sehr ins Feuer, zerknickte alles Holz in seiner Faust, so griff Er zum Tintenstift. Ein Tintenfaß gibt’s nicht mehr, Er hatte es zu oft à la Luther nach dem Teufel geworfen und so manchen blanken Satz unleserlich gemacht. Mit dem Rotstift schreibt Er ungern, wenn Er schon rot sieht; dann nimmt Er lieber Himmelblau, damit die Zeilen nicht wegtanzen.
Die heilige Handlung wird weiter vorbereitet durch Invokation der Heiligen des Federstechens: Hutten und Luther und Voltaire und Lessing und Schopenhauer und Heine und Nietzsche – wenn Er sie doch nur ein einziges Mal erreicht hätte in ihrer Meisterschaft. Zu ihnen sah Er auf, bevor die erste Bleistiftspitze in Aktion trat … namentlich zu denjenigen unter ihnen, die sich nicht vormachten, daß ihre Feinde Feinde der Menschheit sind. Und draußen tummelten sich die Feinde der Menschheit.
Weshalb hält man Privatfehden für schlecht? Was ist dagegen zu sagen, daß man einen mit dem Bleistift in Stücke zerreißt, obwohl der also Zugerichtete weder Flöhen noch Menschen etwas getan hatte und mitnichten gegen das Wahre, Gute und Schöne ist? Es ist so köstlich, jemand, den man nicht verhauen darf, wenigstens in einem Satz zur Schau zu stellen; das befriedigt allerdings nur vollkommen, wenn der Satz vollkommen ist. Glückliche Schriftsteller, die Magengeschwüre nicht nötig haben, weil ihre ätherischen Giftpfeile funkeln! Sehr fürchtet Er für Deutschlands Magen; denn hier darf man niemand wehe tun, außer denen, die nicht im eigenen Lager der Guten sind. Neben dem Morgenkaffee konnte ihn nur wenig so heiter machen wie ein gutgezieltes Wort gegen einen Mann, den es (seiner Meinung nach) nicht geben dürfte.
Privatkulte sind ernster als die öffentlichen. Er hat keine heiligen Bücher, vom Ordinariat gesegnet, aber heilige Seiten in Büchern. Sie sind auch in seiner Bibliothek zu finden, gehören aber nicht zu ihr. Denn jede Büchersammlung ist zu einem beträchtlichen Teil ein Laderaum: für Stehengebliebenes, für Zugesandtes und nicht Abgeholtes. Die heiligen Seiten sind isoliert; am besten wäre es, sie wären extra gebunden. Dann redete sich niemand ein, er liebte Hölderlin, sondern hätte ganz abgesondert vor sich, was von ihm er liebt. Diese allerheiligsten Stellen brauchen vor jeder neuen Auferstehung einen sorgfältig geplanten Gottesdienst. Manches Gedicht verträgt nicht den strahlenden Tag, manches nicht künstliches Licht. Selbst unter den paar Stühlen, die ihm zur Verfügung stehen, wählt Er aus, bevor Er sich zu einer Handlung hinsetzt, die man nicht als Lektüre bezeichnen sollte. Und draußen wissen Mütter nicht, wie sie die Kinder satt machen können.
Erst wenn alles ordentlich vorbereitet ist, erscheint das Wunder; man liest nicht, man strömt über vor Freude. Was ist das vielbesungene Lesen, wenn es nicht zum Glück im Erkennen, im Wohllaut, in der Sehnsucht führt. Die Menschheit kann es nicht fühlen (dazu ist sie zuwenig existent), ein Volk kann es nicht fühlen, auch nicht eine Klasse (schon aus dem Grunde nicht, weil es das alles ein bißchen gar nicht gibt). Was es gibt, ist immer nur ein photographierbarer Sterblicher, der zur Erreichung der dringend benötigten Serenitas sich ein paar kleine Altäre schafft, vor denen er selig betet.
Die Mitteilung solch provokatorischer Veranstaltungen suchte die heiligen Kühe militanter Schreiber zu treffen, die im Elfenbeinturm auf der Stelle traten – und sich einbildeten, daß sie marschierten. Seine Preislieder auf seine Privatkulte wurden wortwörtlich genommen; nichts ist so gewagt, als wenn einer das Unpopuläre außerdem noch in Worte hüllt, welche den schlimmsten Verdacht zu rechtfertigen scheinen. In allen elitären Ukassen, die einen Mann an den Schandpfahl bringen sollen, steht heute das Wort reaktionär; sogar die Reaktionäre fürchten es.
Interjektionen wie ›Du Schwein‹, ›Du Affe‹ … sind nicht mehr so gefährlich wie zur Zeit der Duelle. Aber die Einstufung als ›kulinarisch‹ verletzt die Ehre des so Eingestuften, kann der Karriere eines strebsamen jungen Künstlers ein jähes Ende setzen. Das Wort, das nie ein Schwert war, nie so effektiv wie die Pistole, ist als elitäres Schimpfwort eine Macht im elitären Bereich; man vergesse nicht, daß ›Kapitalismus‹ und ›Kommunismus‹ die wirksamsten Schimpfworte geworden sind. Er wurde also als Vertreter der Borniertheit des liberalistischen Individualismus eingelocht. Lobte ihn einer, so war Er ein Mann des Engagement (als ob nicht jeder engagiert wäre – aber in wen oder was?); im Tadel war Er ein sitzengebliebener Aufklärer, dem Aufkläricht huldigend. So schlicht geht es zu in der Welt der kollektiven Geistlosigkeit, in die man nur aufgenommen wird, wenn man sich auf das Kennwort ›Dialektik‹ vereidigen läßt. In welchen Jahren gehörte auch Er zu einer ideologischen Kamorra?
Da einer erst genauer betrachtet wird, wenn er, unter den Zugehörigen, auch noch zum Thema für Doktorarbeiten zugelassen ist, saß Er zeit seines Lebens in dem umfangreichen Boot, in dem die vielen Chargen sitzen, die auf irgendeine Haltung festgelegt sind. Er selbst kümmert sich nicht mehr um die genormte Unterschrift unter seinem Bild in der Kartei; solange Er vor allem Ich war, machte ihm dieser falsche Paß Kummer. Denn da steht nicht, daß Er zwar ein Anarchist von Geblüt war, aber auch wie wenig Er geblüht hatte. Dem oft rezitierten Wort Clemenceaus, ein großväterliches Betätscheln der Jugend: »Mir tut jeder leid, der nicht mit Zwanzig Anarchist war« – möchte Er entgegensetzen: