Der Philosoph und der Diktator - Ludwig Marcuse - E-Book

Der Philosoph und der Diktator E-Book

Ludwig Marcuse

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Beschreibung

Die uralte Antithese von Geist und Macht, in unserem Jahrhundert in der Sorge um die Bewahrung des Menschlichen vor der anonymen Gewalt eines menschenfeindlichen Staatsapparates zu weltweiter Bedeutung gelangt, ist in Ludwig Marcuses Buch Der Philosoph und der Diktator zu einem lebendig-dramatischen Gleichnis geworden. Die Auseinandersetzung zwischen Plato und Dionys, dem Weisen und dem Tyrannen von Syrakus, schlägt über zweitausend Jahre hinweg die Brücke zur Problematik unserer Tage.
So erzwingt dieses Buch wie alle bleibenden Bücher auf mehreren Ebenen unser Interesse: als packende Erzählung, als lebendigste Nachschöpfung der antiken Welt, endlich als philosophisch-politische Streitschrift von brennendster Aktualität."

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Ludwig Marcuse

Der Philosoph und der Diktator

Plato und Dionys. Geschichte einer Demokratie und einer Diktatur

Diogenes

An den Leser

In den letzten Jahrzehnten entstanden drei Bücher, die, Figuren des dritten griechischen Jahrhunderts vor Christus, des spanischen sechzehnten und des deutschen neunzehnten Jahrhunderts darstellend, als historische Biographien katalogisiert wurden, obwohl sie ohne die blutigen deutschen Ereignisse nicht entstanden wären.

Loyola: Ich versuchte den radikalsten Verkünder und Exekutor des Gehorsams und der Gleichschaltung zu beschreiben. Richard Wagner: Ich versuchte einen Deutschen nachzuzeichnen, der wie kein anderer Künstler die deutsche Politik schlimm beeinflußt hat; nicht durch seine Musik, nicht durch die (lächerlicherweise als teutsch charakterisierten) Figuren des »Rings«, nicht einmal vor allem durch seine politischen Schriften – sondern durch Cosimas und Chamberlains Bayreuth, von Wagners Rassismus und Chauvinismus geprägt, und die gewaltige Fülle von politisierenden Wagner-Propagandisten.

Und ich schrieb »Plato und Dionys«: nicht nur, weil der mächtigste Tyrann jener Tage durch eine syrakusische Harzburger Front hochgekommen war, vor allem, weil Platon der erste große Marxist gewesen ist sowohl in der Entdeckung des Klassenkampfs als auch in der Verknüpfung von Interpretation und Aktion. Auch Marx dachte zuerst und handelte dann.

Platon scheiterte politisch wie er, weil ihre Praktische Vernunft, voll großartiger Teilwahrheiten, damals und später nicht stimmte. Jede Revolution muß mißglücken, wenn zwar die Utopie vollendet gut, der nächste Schritt aber oder irgendein weiterer, der in ihre Richtung gehen sollte, falsch ist. Haben wir das nicht in diesem Jahr gelernt?

August 1968

L.M.

 

Die Jahre brachten es so mit sich, wie jeder weiß, daß eine Reihe von deutschen Büchern zuerst als Übersetzung erschien. Dies geschah auch diesem Buch. Es hat so bereits einige Erfahrungen mit Lesern – und möchte einen Augenblick davon sprechen.

Einer der ersten schrieb auf den Schutzumschlag der amerikanischen Ausgabe: dies sei eine romanhafte Biographie. Sie ist weder romanhaft noch so vorsichtig dokumentiert, daß man nur vor sich hat, was wir über Plato – nicht wissen. Sie ist eher zu bezeichnen als eine Rekonstruktion: als ein Höchstwahrscheinlich-ist-es-so-oder-ähnlich-gewesen. Das Wort Rekonstruktion hat einen behaglich-archivarischen Unterton; so aber ist es nicht gemeint. In einer Zeit, in der die schriftstellernden Politiker meist noch unernster sind als die exekutierenden, ist der rekonstruierte Plato hoffentlich eine Herausforderung.

Ein anderer Leser, der ein Schulbuch erwartet hatte – und seine Enttäuschung drucken ließ, stellte an mich die Frage: Weshalb, o Autor, steht bei dir nichts geschrieben über die Unsterblichkeit der Seele (nach dem »Menon«) und nichts über Frömmigkeit und Gottlosigkeit (nach dem »Eutyphron«) und nichts über Mäßigkeit (nach dem »Charmides«) und nichts über Freundschaft (nach dem »Lysis«) und nichts über Mut (nach dem »Laches«)?

Man wird noch viel mehr in diesem Buch – nicht finden; es ist nichts weniger als ein Plato-Kompendium. Allerdings lieferte Plato sehr erhebliche Beiträge zur Geschichte der Metaphysik, der Ethik, der Logik und vieler anderer »Fächer« – zum Beispiel auch zur Geschichte der Kosmologie und Anthropologie. Hier wird er nicht als Beiträger dargestellt.

Eher als ein ungewöhnlich langlebiges Wesen, das immer wieder einmal einem begegnet und ihm etwas Dringendes mitteilt: wie der Abendstern und der Mohn und der Mond und Nietzsche und eine erste Liebe immer wieder einmal einem begegnen und ihm etwas Dringendes mitteilen. Es war nötig, daß ich, der Autor, der bin, welcher ich bin, und daß die Jahre, die ich durchlebte, die waren, welche sie waren, damit mir Plato mitteilte, was in diesem Buch zu finden ist.

Was der Leser sich außerdem noch wünscht – zur Ergänzung von Bildungslücken, wird er leicht in jeder Bibliothek finden.

Und vielleicht ist dieser Versuch: einen Philosophen darzustellen, ohne ihn zu zerlegen in privates Leben und wissenschaftliche Resultate, nicht ganz unplatonisch. Das große Vorbild ist: was er selbst an Sokrates getan hat. Wie Sokrates war auch Plato etwas anderes als ein Privatmann, der außerdem noch Theorien hinterließ. Er war: Philosophieren in Person. Sein Dasein illuminiert den oft übersehenen Befund, daß erst das Philosophieren den Menschen voll konstituiert. Wer nicht philosophiert, ist nicht. Und das sagt nichts gegen die Tatsache, daß, wer nicht ißt, auch nicht ist.

Es gibt keinen Unterschied zwischen Nachdenken und Leben. Es gibt nur einen Unterschied zwischen Vegetieren und Leben.

Und da ich bei den artifiziellen Unterscheidungen bin, komme ich zum dritten Leser, an den ich denke, wenn ich dieses Buch dem deutschen Leser präsentiere.

Einer meiner Bekannten, dem ich es leichtsinnigerweise verehrt hatte, war ganz besonders unzufrieden mit mir. Er hielt mir vor, daß Plato bekanntlich ein Künstler gewesen sei, daß seine Politik nur die liebenswerte Spielerei eines großen Zauberers mit Worten war – und daß mein Ernstnehmen dieser schönen politischen Phantasien amusisch ist. Und da mein Kritiker sich selbst zu den Künstlern rechnete, schwenkte er die Fahne der Kunst ganz dräuend vor meinen Augen.

Wer wüßte nicht, daß Plato gelungen ist, was nur den größten Künstlern gelang: neben Odysseus, Don Quijote, Hamlet, Don Juan und Faust lebt sein Sokrates viel ausgiebiger als irgendein Irdischer. Dennoch, was ist unplatonischer als diese bürokratische Scheidung zwischen Kunst und Politik – nur gültig in einer Sphäre, in der Kunst eine handwerkliche Spezialität ist und Politik die Summe jener Pfiffigkeiten, in denen die Hauspolitik (und morgen gehört ihnen die Welt) aller Cliquen besteht (auch der welthistorischsten). Politik war aber einmal ein feierliches Wort – was man ihm allerdings nicht mehr ansieht. Politik war einmal der Inbegriff aller Hoffnungen auf den Menschen – damals, als Plato bestimmte, was Politik ist; mehr als die Hälfte seines Gesamtwerks und ein guter Teil seiner Tage waren dieser Bestimmung gewidmet.

Seine Schriften haben auch reizende poetische Einfälle. Und der Dramatiker Georg Kaiser hat mit gutem Recht den Ideen-Dramatiker Plato gepriesen und zum Vorbild erkoren. Aber nicht in den lyrischen Intermezzos und nicht in den farbenreichen Skizzierungen athenischen Lebens und nicht in der großartig theatralischen Dialektik – nicht einmal in diesem überwältigenden, ein Geschlecht nach dem andern überwältigenden Sokrates-Porträt ist Plato auf der Höhe seines Künstlertums. Sondern in jenem meisterhaften Bau, dessen Allerheiligstes eine nach der Wahrheit geordnete Menschheit ist. Platos Politik ist Herrschaft über den schrecklich wuchernden Mißwuchs. Platonische Kunst ist Herausarbeitung des Menschen aus dem rohen Block des historischen Materials.

Die Wahrheit, die er fand, verpflichtet uns nicht; sie ist zum Teil Wahrheit, zum Teil Unwahrheit. Wer auf historische Wahrheiten schwört, will aus dem Kindergarten nicht heraus. Dies Buch macht nicht Reklame für einen platonischen Kindergarten. Platoniker, Thomisten, Spinozisten, Schopenhauerianer, Marxisten sind in der Regel Leute, die glauben, sich vom Denken dispensieren zu dürfen – weil andere so übermäßig viel gedacht haben. So tradiert man fleißig ihr vergängliches Alles und schleppt es stur weiter – statt sich von dem unbändigen Leben, das in dem von vielen Moosen überwachsenen Gebilde rumort, beflügeln zu lassen. Ein echter Platoniker, Kafka, schrieb den Satz: »Zeitweilige Befriedigung kann ich noch von meinen schriftstellerischen Arbeiten haben, Glück aber nur, falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann.«

Was sagt mir Plato, wenn ich nicht in der Schule sitze? Was sagt Plato, wenn ich mich nicht an seine Rockschöße hänge? Dies Buch macht einen bescheidenen Versuch, dies wiederzusagen.

 

War Plato nicht ein Metaphysiker, der die Welt der Ideen entdeckte? Ein Logiker, der begann, die fundamentalen Kategorien des Denkens zu zergliedern?

Er war vor allem ein Mann, der leidenschaftlich erkannt hatte, daß es so mit den Menschen nicht weitergeht. Und sein Leben, so wenig wir auch von ihm wissen, ist das sichtbarste Zeugnis dieser Leidenschaft. Sie hatte ein einziges Ziel: laßt uns dem ewigen (offenen oder geheimen) Krieg aller gegen alle ein Ende machen!

Was wissen wir von diesem Leben? Unter Platos Namen ist neben den Dialogen auch eine Reihe von Briefen überliefert worden. Die meisten von ihnen werden von den Kennern für Fälschungen gehalten. Aber der längste Brief, der sogenannte siebente, wird kaum angezweifelt. Er ist ein Rückblick des Greises auf seine politischen Erfahrungen.

Das Selbstporträt eines Mannes, der das Zusammenleben der Menschen von Grund auf ändern wollte. Plato schuf es im sechsundsiebzigsten Jahr seines Daseins. Er erzählt von seinen drei Reisen nach der Insel Sizilien. Dreimal unternahm er dort den Versuch, aus dem Reich Syrakus, dem mächtigsten Militärstaat der Zeit, den gerechten Staat zu formen. Dreimal erlitt er Schiffbruch. Das war die zentrale Tragödie seines Lebens.

Er konnte sein Ideal nicht verwirklichen. Aber das Buch, in dem er den Plan aufgezeichnet hat, wurde eine der folgenreichsten Schriften der Weltliteratur: »Die Republik«.

Sie erzählt von einem, der sich nicht begnügte, das Elend, das er erlebte, als gottgewollt hinzunehmen. Außerdem erzählt sie noch von zwei Diktatoren und ihrem Feind.

 

Plato ist nicht so lebendig wie seine Lehre. Philologische und philosophische Probleme verstellen den Blick.

Als ich zu studieren begann, im ersten Weltkrieg, wurde Plato von den deutschen Philosophieprofessoren sehr umworben. Jeder verlangte von ihm, daß er mit seiner Autorität gerade diese oder jene Nuance der neuesten Erkenntnistheorie sanktionierte. Über den Mann selbst, der auf zwei Jahrtausende Einfluß ausgeübt hatte, hörten wir nichts. Nicht einmal von dem enthusiastischsten deutschen Griechen jener Zeit. Das war der Professor der klassischen Philologie an der Universität Berlin und eine Autorität in der Welt, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Er begeisterte viele Generationen, die zu seinen Füßen saßen, für die Herrlichkeit des attischen Reichs. Aber er weigerte sich ausdrücklich, das Leben Platos zu zeichnen. Unserem dringenden Wunsch, ein Bild zu geben von dem Schöpfer des »Gastmahls«, setzte er immer wieder den gelehrtenhaft-spröden Satz entgegen: »Was wir außer den Werken Verläßliches über Platos Leben erfahren, läßt sich auf ein Quartblatt schreiben.« Er erlebte die Dionyse unserer Tage nicht mehr.

Unsere Jahrzehnte waren eine ausgezeichnete Schule für einen Biographen Platos. In den Jahren, in denen die Demokratien zusammenfielen und Tyranneien ohne Zahl den europäischen Kontinent übersäten, las ich wieder einmal Platos Briefe und dann die »Republik« und dann ein Werk nach dem anderen – und diesmal gelang mir, was mir nie vorher geglückt war: ich sah den Mann, der die Platonischen Werke geschrieben hatte. Die grauenhaften Einsichten, welche jene Jahrzehnte uns eingebleut hatten, halfen, Plato persönlich zu begegnen.

Es ist immer eine Gegenwart, welche einem Augen schenkt für eine Vergangenheit. Sobald der Leser das erste Kapitel gelesen haben wird (»Die Karriere des Tyrannen«), wird ihm klar sein, wie die bitteren Erfahrungen unsere Augen geschärft haben für jene ferne Vergangenheit.

Sie lenkten meinen Blick besonders auf Platos mächtigen Gegenspieler: Dionys I. von Syrakus; und dann auf seinen Sohn, Dionys II. Sie waren, nacheinander, die »Führer« der gewaltigsten Diktatur jener Zeit.

Dionys I. war die markanteste politische Figur des vierten vorchristlichen Jahrhunderts: zwischen Perikles und Alexander dem Großen. Platos Werk erhielt sich durch die Jahrtausende. Von seinem mächtigen Feind ist nichts mehr da außer einem Haufen von Steinen. Man kann sie noch heute besichtigen. Sie sind der Rest jenes Riesengefängnisses, das Dionys aus dem Reich Syrakus gemacht hatte.

Die Bücher seines Hofbiographen Philistos sind verlorengegangen. Aber spätgriechische Historiker haben ihn benutzt. Und Plutarch hat uns die beiden Dionyse geschildert, wie sie ihm die historische Tradition übermittelt hat. Aber erst, wenn wir bei Plato lesen, was er durchgemacht hat – und uns erinnern, was wir in unseren Jahren über das Aufkommen und Wuchern demagogischer Autokraten am eigenen Leibe erfahren haben, werden die beiden Dionyse gegenwärtig.

So wurde der vorliegende biographische Versuch notwendigerweise eine Doppelbiographie: Plato und sein Antipode geben einander wechselseitig Licht. Wird den Dionysen damit zu viel Raum gewährt und zu viel Ehre angetan? Es reizte mich, die Teufel unserer Tage in einem ihrer größten Ahnen darzustellen. Und vielleicht ist ein solches Unternehmen: das Allzunahe in die Ferne rücken, nicht ganz unnütz. Ein Welterfolg blendet die Zeitgenossen. Auch ein Weltmißerfolg. Da er die Interessen von Millionen fördert und verletzt, wird er millionenfach gepriesen und verdammt – mit allen Argumenten, welche das menschliche Gehirn, dieser gehorsamste Sklave, zu ersinnen weiß. Deshalb ist es gut, will man den Verteufelten und Vergotteten klarer sehen, ein paar Jahrtausende zurückzugehen und ihn im Ahnherrn zu studieren. Deshalb ging ich dem Leben der Dionyse so eifrig nach. Der Leser halte es nicht für ein Spiel, wenn das totalitäre Syrakus des Jahres 399 so aussieht, als wäre es das »Dritte Reich« persönlich – in leichter historischer Vermummung. Und der Leser fürchte nicht, daß er getäuscht wird, wenn er im Athen des Jahres 399, in welchem Jahr Sokrates zum Tode verurteilt wurde, peinliche Züge der Weimarer Republik wiederfindet. Wir fälschen nicht. Wir erfinden nicht. Wir inszenieren nicht. Wir übersehen nicht die zweitausend Jahre dazwischen. Europa – das war zu Platos Zeiten nicht viel mehr als der obere Rand des Mittelmeerbeckens. Griechenland, die Mitte der europäischen Kultur, war nur etwa fünftausend Quadratmeilen groß. Athen, die bevölkertste unter allen griechischen Städten, hatte einen Umfang von fünf Meilen. Phidias baute den Parthenon, Sophokles schrieb die »Antigone« für viereinhalb Millionen Griechen. Europa ist inzwischen größer geworden.

Es soll nichts verhehlt werden. Es gab im vierten Jahrhundert vor Christus noch keine Eisenbahn, keinen Rundfunk, keine Magnetmine und keine Atombombe. Aber es gab zum Beispiel schon einen kleinen Schreiber, der von reichen Leuten aufgepäppelt wurde, auf daß er ein großer Volksverführer werde – und es gab schon Demokraten, deren Prinzip war: Freiheit auch für die Feinde der Demokratie. Die materielle Kultur hat sich seit zweitausend Jahren so üppig entfaltet, daß es scheint, als gäbe es zwischen Platos Welt und unserer überhaupt keinen Vergleich. Aber die wichtigste Aufgabe, an der sich Plato versuchte, ist immer noch die wichtigste – und immer noch ungelöst. Er hatte, wie einige vor uns, sehr viel auf dem Herzen gegen die zeitgenössische Demokratie – und haßte, wie einige von uns, leidenschaftlich die Autoritären: ebenso den legitimen Großkönig in Persien wie den illegitimen Kleinbürger, den Herrn von Syrakus. Was wollte er?

 

Unsere Geschichte beginnt mit der Darstellung der Karriere des mächtigsten Mannes der griechischen Antike, Dionys’ I. von Syrakus. Er war ein kleiner Stadtschreiber mit einem großen Rednertalent, den die Finanz seiner Demokratie gegen die Demokratie finanzierte. Die Entwicklung dieser ahnungslosen Republik zur größten Militärmacht der damaligen Welt wird dem Leser sehr bekannt vorkommen.

Im Gegensatz zur Diktatur Syrakus lebte, wie im zweiten Kapitel dargestellt wird, die berühmte Demokratie Athen, in der es viel Freiheit gab und ebensoviel Schwäche. In dieser sterbenden Freiheit spielte sich der Prozeß des Sokrates ab.

Die Spannung zwischen der starken und blutigen Diktatur und der humanen und schwächlichen Demokratie war das Kraftfeld, in dem Platos Leben sich entfaltete. Er war ein Aristokrat aus Athen, der ein Jahr nach dem Tode des Perikles geboren wurde. Als Plato vierundzwanzig war, wurde sein Vaterland, das athenische Reich, vom kriegerischen Sparta geschlagen. Als Plato neunundzwanzig war, wurde sein Lehrer Sokrates von der Demokratie Athen hingerichtet. Plato war antidemokratisch: von Geburt und durch Erfahrung; wobei unter Demokratie nicht ein Ideal zu verstehen ist, sondern die Wirklichkeit, die er erlebte.

Aber er haßte auch, wie jeder Athener, die Tyrannis. Und er war voll Widerwillen gegen die Herrenmenschen jener Kaste, der er angehörte. So war er zwischen den Parteien. Und sah keine Möglichkeit, in seiner Heimat ein Amt anzunehmen. Da ging er auf Reisen, um mit großen Gelehrten in Ägypten und Unteritalien wissenschaftliche Fragen zu besprechen. Unterwegs empfing er eine Einladung an den Hof von Syrakus. So kam er mit dem größten Zaren der Zeit in persönliche Berührung.

Plato war neununddreißig. Dionys war einundvierzig. Sie waren Altersgenossen; aber das war auch alles, was sie verband. Dionys ärgerte sich über die Moralpredigt, die Plato anläßlich der gewährten Audienz anbrachte. Der General rächte sich, indem er den Gelehrten in die Sklaverei verkaufen ließ. Plato rächte sich dann, einige Jahre später: er schrieb das Buch »Die Republik«. Man kann dort nachlesen, was er von Leuten wie Dionys hielt – und von allen Führern, die ihm folgten.

Enttäuscht kehrte der Gelehrte in seine Vaterstadt zurück. Er hatte sich Hoffnung gemacht, mit dem starken Mann aufzubauen, was er mit den schwachen Männern von Athen nicht aufbauen konnte. Nun leistete er Verzicht darauf, zu schaffen, wozu er geboren war: eine Gemeinschaft von Menschen – nach dem Bilde, das ihm vorschwebte. Mit einigen Freunden gründete er in ländlicher Stille vor den Toren der Stadt die Akademie, in der gelernt, gelehrt und geforscht wurde. Doch lag ihm am meisten am Herzen, das Zusammenleben der Menschen menschlich zu machen. Da ihm versagt war, das als Staatsmann zu tun, schrieb er diese »Republik«. Was ist gerecht? Daß diejenigen, welche an der Macht sind, für ihr persönliches Leben nichts wollen, während die, welche das Leben genießen wollen, keine Macht haben. Dies umstürzende Buch wurde auch ein Schlüsselroman, dessen Hauptfigur Dionys von Syrakus war.

Den störten die Angriffe seines ohnmächtigen Gegners wahrscheinlich ganz und gar nicht. Seine Macht wurde immer größer, sein Leben immer genußreicher, und schließlich wurde ihm vor seinem Tode noch sein ausschweifendster Wunsch erfüllt: die berühmte Demokratie Athen, oberster Schiedsrichter in allen Fragen der Künste und Wissenschaften, verlieh ihm für eine seiner Dichtungen einen literarischen Preis.

Als Plato einundsechzig war, starb Dionys. Ein Jahr später kam in der Akademie ein Brief an vom Thronfolger Dionys II. Das war ein Schreiben, wie es frischgebackene Herrscher bisweilen verfertigen. Ein Schüler Platos hatte dem jungen Mann auf dem Thron aus der »Republik« vorgelesen. Der Jüngling war Feuer und Flamme für den gerechten Staat und seinen Erfinder. Plato wurde eingeladen, so schnell wie möglich zu kommen – und mit dem Umbau zu beginnen.

Der zweite Dionys konnte den ersten nicht übertrumpfen, indem er noch mehr Macht häufte. Aber, so versicherte man ihm, er könne größer werden als der beneidete Erste: er könne ein vollkommener Herrscher werden, nach Platos Rezept. Da brannte der Ehrgeizige darauf, den Wundermann zu haben. Plato hatte keine große Neigung zu fahren. Das Alter drückte ihn. Und es verbanden ihn keine angenehmen Erinnerungen mit Syrakus und dem Haus Dionys. Aber hatte er nicht selber geschrieben: Es kann in der Welt nicht besser werden, bis nicht der Sohn eines mächtigen Herrschers sich einem Philosophen unterwirft und Geist und Macht eins werden? Jetzt war es soweit. Die Sehnsucht seines Lebens konnte sich erfüllen. So fuhr er zum zweitenmal nach Syrakus. Er ging daran, den jungen Herrn in seine Lehre einzuweihen. Der aber unterschied sich nur darin, daß er großen Wert darauf legte, seinen ungerechten Staat zu zieren mit dem berühmten Autor des gerechten Staats. Zwar verkaufte er Plato nicht als Sklaven, wie sein hochseliger Vater es getan hatte. Aber auch aus der Höhle des Sohnes kam der unbequeme Ratgeber nur gerade mit einem blauen Auge davon. Plato ging in die Akademie zurück. Er lebte für seine Forschungen und für seine Schule.

Er war fast siebzig. Da wurde er zum drittenmal nach Syrakus gelockt. Jetzt setzte er allen Lockungen ein stürmisches Nein entgegen. Man setzte ihm von allen Seiten zu. Man versicherte ihm, der junge Regent habe sich zum Guten gewendet; Plato brauche nur nach Syrakus zu fahren, um seinen Staat zu gründen. Da flackerte in dem Greis noch einmal die Sehnsucht seines Lebens auf: zum erstenmal seit dem Verschwinden des Goldenen Zeitalters Menschlichkeit in das Leben der Menschen zu bringen. So machte er seine dritte Überfahrt. Sie ging noch schlimmer aus als die vorhergehende. Er wurde schließlich in einer Söldnerkaserne interniert; die Söldner waren seine geschworenen Feinde. Er kam nur knapp mit dem Leben davon.

Und das ist immer noch nicht das Ende. Platos Lieblingsschüler Dion, ein Vetter des zweiten Dionys, rüstete eine Expedition gegen Syrakus aus, stürzte den Tyrannen – und wurde drei Jahre später ermordet, ohne Platos Plan verwirklicht zu haben. Nicht der gerechte Staat, sondern ein Zustand der Halbheiten löste die Diktatur ab, die Plato zu einer Diktatur der Gerechtigkeit hatte machen wollen. Die Welt, die er wirklich machen wollte, blieb ein Buch.

 

Vielleicht wird ein Leser aus der Geschichte, die hier nacherzählt wird, trübe Folgerungen ziehen.

Vielleicht wird er fragen: Sind Philosophen nicht immer zum Scheitern verurteilt, wenn sie sich um Dinge dieser Welt kümmern? Soll nicht, wer die Weisheit liebt, die Finger lassen von der Wirklichkeit? Und dies nicht sowohl zu seinem eigenen Vorteil als auch zum Vorteil der Mitmenschen? Jedenfalls sagte Friedrich der Große: Wenn ich eine Provinz bestrafen wollte, würde ich ihr einen Philosophen zum Gouverneur geben.

Plato war nicht nur Philosoph. Er war obendrein noch ein notorischer Idealist. Idealisten aber (sagt der realistische Leser) werden nie fertig mit dem wenig idealen Alltag. Es gibt tausend schöne Ideen. Sie gehen wie ein weicher Wind über die harten Dinge hin – und bringen sie nicht vom Fleck. Idealisten erfrischen, erfreuen, erbauen vielleicht – nur ändern sie nichts an der alten Geschichte vom unzulänglichen Adam und seinem Geschlecht. Solch ein Nachwort könnte ein Leser dem traurigen Ausgang dieser Geschichte anhängen.

Aber ist es angebracht, die Philosophen verächtlich zu machen – in einer Zeit, in der die Ganz-und-gar-Unphilosophischen demonstriert haben, wohin ihr Weg führt? Und ist es Zeit, der Idealisten zu spotten – in einer Zeit, in der die Realisten bewiesen haben, welche Realitäten sie in die Welt setzen?

Und war Plato überhaupt dieser idealistische Popanz, den das Wort Idealist im zwanzigsten Jahrhundert bezeichnet? Plato war nicht machtblind. Er hatte die für Idealisten entscheidende Einsicht, die immer wieder verlorenging – und die den vielen Demokratien des zwanzigsten Jahrhunderts fehlt: daß es darauf ankommt, dem Ideal eine Gasse zu bahnen in den Bereich der Macht, auf daß das Ideal auch noch groß und stark werde. Was gut ist und was schlecht, ist kinderleicht zu erfahren – falls man nicht den törichten Versuch macht, es auch noch beweisen zu wollen. Auch gab es darüber nie einen ernsthaften Streit, wie uns manche Geschichte der Moralen vorspiegeln möchte. Unendlich schwer hingegen ist es, den Weg zu finden, auf dem das Gute zur Macht gelangen und an der Macht bleiben kann.

Plato suchte ihn. Er fand ihn nicht – obwohl er manches fand, was diesen Weg eines Tages möglich machen könnte. Auch fand ihn niemand seit ihm. Aber jeder, der ihn suchte, entzündete sich an seiner Leidenschaft: bis zu Tolstoj hin. Deshalb ist der Mann, der vor 2375 Jahren geboren wurde, bis zu diesem Tag nicht vergessen.

Und deshalb ist diese schlimme Geschichte mit dem Unhappy-End – eine erhebende. Der Leser erinnere sich, daß mißglückte Experimente die Vorgeschichte jedes geglückten Experiments gewesen sind. Plato: der unzerstörbare Wille, in der neuen geschichtlichen Situation mit den Erfahrungen zweier Jahrtausende sein Experiment zu wiederholen und zu wiederholen.

Oktober 1950

L.M.

Zeittafel

v. Chr. Geb.

431

Beginn des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta

429

Tod des athenischen Staatsmannes Perikles

406

Tod der Dramatiker Sophokles und Euripides

404

Ende des Peloponnesischen Krieges

Athen kapituliert

Übernahme der Staatsgewalt durch die Dreißig Tyrannen

399

Sokrates im Alter von siebzig Jahren in Athen zum Tode verurteilt

398

Platos Apologie und Krito erscheinen

389

Platos Gorgias erscheint

389–388

Plato bereist Italien und Syrakus

385?

Gründung der Akademie in Athen

372?

Platos Politeia (Der Staat) erscheint

367

Tod Dionys’ des Großen von Syrakus im Alter von dreiundsechzig Jahren

366–365

Zweiter Besuch Platos in Syrakus

361–360

Dritter Besuch Platos in Syrakus

357

Zug Dions gegen Syrakus, um Dionys II. zu stürzen

356

Geburt Alexanders des Großen

354

Ermordung Dions im Alter von fünfundfünfzig Jahren

347

Tod Platos im zweiundachtzigsten Lebensjahr. Seine Nomoi (Gesetze) erscheinen

IEine Diktatur und eine Demokratie

1Die Karriere des Diktators

Der Marktplatz von Syrakus brodelte in einem heißen Atem. Vom Norden – einer Wildnis aus Felsengräbern, Höhlen und moderneren Quartieren – waren die Männer, an Steinbrüchen vorbei, den engen Felspfad herabgestiegen. Vom Inselchen Ortygia her waren sie über den schmalen Damm gekommen, der das kleine zipflige Eiland mit der sumpfigen syrakusanischen Bucht verband. Der Marktplatz von Syrakus, zwischen Morast und Stein, schwappte über von Lärm und Hast und Furcht.

Ein gewaltiger Schmerz hatte das Blut zum Herzen der Stadt gejagt – und hier toste es nun stürmisch: Die sizilische Stadt Akragas war gefallen. Es floß nicht viel Wasser zwischen den Städten Karthago und Akragas; die Nordküste Afrikas und die Südküste Europas sind hier wie die Lippen eines Mundes, der nur etwas offensteht. Man hatte zueinander gehört. Akragas hatte Ölbäume und Reben im Überfluß gehabt. Karthago war begierig gewesen nach Wein und Oliven. Karthago war satt geworden und Akragas sehr reich. Dann aber war den afrikanischen Händlern plötzlich eingefallen, daß man sich, auch ohne zu zahlen, in den Besitz begehrter Früchte setzen konnte. In dunkler Nacht war die karthagische Streitmacht übers Meer geschwommen – ein lautloser Schatten, in dem Iberer, balearische Schleuderer, Mauretanier, Numider und Kampaner nicht mehr zu unterscheiden gewesen waren. Die Lichter an den Masten der Schiffe hatte man so gut gedeckt, daß nicht ein einziges Strählchen ausschlüpfen konnte. Und Akragas fiel.

Wer immer vom Süden übers Meer nach Sizilien gesegelt war, hatte hoch oben, auf der Spitze eines Berges, den Eingang zum Paradiese erblickt – fünf leuchtende Tempel: Akragas, nach Selinus und Himera die schönste unter den sterblichen Städten. Vorbei! Und das Schicksal ganz Siziliens stand jetzt auf dem Spiel. Denn nun war die Reihe an Gela, Kamerina, Syrakus, Katana, Naxos und Messana. Flüchtlinge, die aus vielen sizilischen Städten nach Syrakus gekommen waren, gaben der schlimmen Kunde das Gesicht des Schreckens und die Stimme der Furcht. Wer nicht gleich über die Meerenge bis nach Italien geflohen war, suchte in Syrakus Schutz – und verängstigte hier seine Beschützer. Auf dem Markte von Syrakus hämmerte die Angst des ganzen Landes Sizilien.

Man denkt an Tote oft viel freundlicher als an Lebende; der Abgeschiedene hat für sich, daß er nicht mehr ist. Akragas, der alte, nicht allzu geliebte Konkurrent, feierte jetzt seine Auferstehung – im verklärenden Lichte des Todes. Akragas! Aus goldenen Gefäßen hatten sie getrunken, mit silbernen Striegeln ihre Tiere geliebkost, in elfenbeinernen Betten geschlafen – und so viel Wein in sich hineingeschüttet, daß sie bisweilen ihr Haus für ein Schiff im Sturme halten mußten und deshalb allerlei zum Fenster hinauswarfen; sie luden gern etwas zu schwer. Wenn dann die hohe Obrigkeit gegen solchen Unfug einschreiten wollte, mußte sie sich’s gefallen lassen, im Rahmen des besoffenen Spiels als eine Korona von Meergöttern zu figurieren.

So lustig war es zugegangen im Hause des verewigten Nachbarn. Die jungen Herren hatten ihren preisgekrönten Pferdchen Denkmäler gesetzt, die jungen Damen ihren Lieblingsvögeln – und den jungen Herren ebenso wie den jungen Damen war von Empedokles, dem weisesten Mitbürger, dieses dauerhafte Monument errichtet worden: das Sätzchen – sie gäben sich den Lüsten hin, als ob sie morgen stürben, bauten aber ihre Häuser, als ob sie ewig lebten … Wo in aller Welt, Athen eingerechnet, war dem olympischen Zeus solch ein Tempel erbaut worden? Siebzig Jahre hatte man daran geschafft – für eine Ewigkeit, die nun so jung hatte sterben müssen. Der Tod des Schönen ist mehr Tod als der Tod des Unscheinbaren. Erschüttert starrten die Syrakusaner in das Loch, das der Untergang von Akragas in ihre Welt gerissen hatte.

Sie waren mitbesiegt. Die Karthager hatten nun den Weg frei zum Angriff auf Syrakus. Die Unruhe war unerträglich. Und so griff man zum bewährtesten Trostmittel – nach Schuldigen, die dem Unterlegenen erlauben, den Schmerz über die Niederlage untergehen zu lassen in der Lust, einem Sündenbock Schmerz zuzufügen. Wen konnte man verantwortlich machen? Die Männer von Syrakus fragten drohend: Was haben unsere Feldherren zum Schutz von Akragas getan? Die Frage nach der Schuld bestätigt oft schon die halbe Unschuld – dem, der fragt.

Der Markt von Syrakus brauste – als versuchte ein Meer, menschliche Laute zu formen. Jedes Wort, das von der Versammlungstribüne abgeschickt wurde, sank tonlos zu Boden, bevor es noch das erste Ohr erreicht hatte. Da bahnte ein junger Mensch von fünfundzwanzig seinen Sätzen eine Gasse, mitten durch den Lärm hindurch. Er war laut und heftig – doch nicht das war es, was ihm half. Er hätte sich gewiß mit Gleichmut viel eher Ruhe verschafft; denn alle schrien. Doch er drang durch, weil er die unerträgliche Spannung zu lösen wußte. Er rief auf zu einer Aktion, die kräftig genug war, alles Unbehagen wegzunehmen. »Mitbürger! Wozu noch regelrecht abstimmen? Wozu gar eine gesetzliche Untersuchung? Geduld ist eine Tugend ruhiger Zeiten. Man kann nicht, wenn man heute erregt ist, übermorgen seine Unruhe beisetzen in einem Entschluß …« Also machte der Ungeduldige alle, die ebenso ungeduldig waren, scharf gegen die träge Staatsmaschine. »Sofort, in einer einzigen Sekunde, muß geurteilt, verkündet und vollstreckt werden. Schlagt die Schuldigen tot! …« Die neue Ära der Republik Syrakus begann mit der Einsicht, daß eine Niederlage nur im Blut von Mitbürgern ertränkt werden kann.

Alle Herzen flogen dem Retter zu. Er gab ihnen die süßen Worte, die alle Leidenden lieben: schnell und gründlich. Die leidenden Syrakusaner waren für ihn, nach seinem ersten Griff. Wie stürmisch er vorstieß! Und wie gut das tat, wenn man nicht ein noch aus wußte. Wie schlicht sein Programm war! Und wie das Schlichte erquickte, wenn man zu aufgebracht war für den umständlichen Ritus ausgeklügelter Rechtsverfahren. Der junge Dionys gewann das arme, bang klopfende Herz seiner bedrängten Mitbürger, indem er ihnen schenkte, was sie dringend brauchten: ein Sofort. Wenn das Theater brennt, laufen die Leute alle zum nahen, engen Notausgang – und nicht zum fernen, breiten Hauptportal; erst später stellt sich dann heraus, daß deshalb alle zugrunde gegangen sind.

Es gab auch noch einen Vorsitzenden auf dem Markte zu Syrakus – ein bißchen festes Land, mitten in der erregten See. Pflichtgemäß wachte er über die Regeln, welche die Republik sich gesetzt hatte. Nach dem großen Vorbild Athen hatten sie ihn mit der Bohne erlost; in diesem Unwetter war er nicht eine Bohne mehr wert. Da ragte er nun verlassen heraus – ein armer, hilfloser Deichwächter, der mit zwei nackten Händen eine Springflut aufhalten soll. Er durfte nicht mehr, wie einst der präsidierende Feldherr, einem ungebärdigen Redner das Wort entziehen. Er hatte erst recht nicht mehr die Macht, die Herren Syrakusaner, wenn sie sich allzu unverständig anstellten, ihren Weibern dankend zurückzuschicken; zu oft hatte man schon erlebt, daß solch ein energischer Herr dann plötzlich entdeckte, wieviel besser es sich ohne Debatten regieren ließ. Er konnte den stürmischen Dionys nur mit einer Geldstrafe belegen. Allerdings, wenn nötig, so oft – bis der wilde Mann zahm geworden war und langsamer zu fahren begann. Und dem kleinen Stadtschreiber wäre ganz gewiß der Atem sehr schnell ausgegangen, denn er hatte nicht allzuviel zu verreden – wenn ihm nicht ein mächtiger Bundesgenosse unerwartet neuen zugeführt hätte. Plötzlich stand der reiche und angesehene Herr Philistos an Dionys’ Seite. Niemand hätte es eben noch für möglich gehalten.

Bei jeder Erschütterung zittert am meisten, wer am wenigsten fest steht; und am wenigsten steht fest, wer am wenigsten hat. Auf dem Marktplatz zu Syrakus gab es aber auch einige weniger wacklige Leute, die reichen Herren der Stadt. Sie widmeten sich nicht so sehr der allgemeinen Klage – als der besonnenen Frage: Was läßt sich aus dieser trächtigen Stunde machen? Diese Festen werden um so ruhiger, ja um so heiterer, je aufgeregter die ahnungslose Masse wird; revolutionäre Stunden sind nämlich sehr fruchtbar für gescheite Rückschrittler. Solch ein Gescheiter war dieser Philistos. Während das Volk vollauf beschäftigt war, seine Rache vorwegzukosten – und obendrein noch glaubte, große Politik zu machen, erkannte er, mit dem Blick des Kenners, die vorzügliche Qualität des aufgebrachten jungen Redners. Der reiche Philistos setzte auf den Plebejer Dionys. Die Summe, die der Herr riskierte, war nicht sehr hoch. Die Demokratie Syrakus war billig zu haben. Der kleine Stadtschreiber Dionys war kein unbeschriebenes Blatt. Erst kürzlich hatte er als Soldat nicht nur mit Bravour, sondern auch auf der richtigen Seite gefochten – unter dem Kommando eines Parteifreundes des Herrn Philistos nämlich, des Generals Hermokrates. Die Fischer und die Schuhmacher und die Markthelfer hatten den General verbannt; dann war der Verräter beim Marsch auf Syrakus gefallen. Auf jener Walstatt hatte, wie tot, neben vielen Kadavern auch der Soldat Dionys gelegen; allerdings hatte damals noch niemand von ihm Kenntnis genommen. Deshalb konnte das Volk von Syrakus ihn jetzt als seinen Mann entdecken. Philistos aber wußte schon lange von diesem Dionys und sah nun mit Entzücken, daß der alte Kämpfer, der für die gute Sache gegen das schlechte Volk losgegangen war, auch noch das Zeug in sich trug, ein Held dieses Volkes zu werden. Ein seltener Fall. Ein Glücksfall. Denn das Schicksal pflegt den Herren vieles zu geben – nur gerade nicht das Talent, zu kleinen Leuten sprechen zu können. Die kühle Stimme der Überlegenen dringt nie ins Herz der erregten Menge. Dem Dionys aber, seinem Dionys, ihrem Dionys, folgten sie.

Philistos trat also vor – nicht, eine Ansprache zu halten. Was hätte er erzählen können, das über die Kluft hinübergegangen wäre? Er trat vor, den lärmenden Stadtschreiber zu ermuntern, nur alles herauszuschreien, was ihm zu schaffen mache. Selbstverständlich war der hohe Protektor bereit, der beleidigten Geschäftsordnung Satz für Satz zu vergüten – und sollte der kostspielige Redestrom erst in die Dunkelheit münden. Dies fürstliche Angebot war sein gutes demokratisches Recht. Schließlich hat in einer Demokratie ein Reicher nicht weniger politische Rechte als ein Armer – und die Verfassung gestattete jedem Bürger, so viel Verfassungswidriges vorzubringen, wie er bezahlen konnte.

Der Vorsitzende prüfte die Lage und fand sie einwandfrei. Die Leute hielten den Atem an, als der Aristokrat seinen Reichtum dem Volksfreund zur Verfügung stellte; sie hatten nun die Wahl, den Philistos für einen der Ihren zu halten (was kaum anging) – oder der Rede des Dionys einen Zauber zuzuschreiben, der den Volksfeind hatte erblinden lassen (was schon besser war). Auch Philistos war sehr zufrieden. Mit einem einzigen Dreh hatte er die großmäulige Republik, die der tapfere General Hermokrates, schwer bewaffnet und mit vielen todesmutigen Soldaten, nicht hatte niederringen können, mundtot gemacht. So widerstehen Völker den furchtbarsten Höllenmaschinen – und gehen dann zugrunde an einem Taschenspielerstück; denn mit den Gehirnen ist es meist viel schlechter bestellt als mit den Fäusten. Philistos nahm für so viel Erfolg auch gern die paar unfreundlichen Phrasen des Gernegroß Dionys gegen die Standesgenossen seines Gönners in Kauf. Schließlich konnte man einem Rattenfänger nicht vorschreiben, mit welchen Flötentönen er zu locken hatte.

Dionys war ganz überrascht von der unerwarteten Hilfe. Ihm war zumute, als hätten alle Gesetze des Irdischen plötzlich ihre Geltung verloren – und nun flog er, mit keiner andern Hilfe als seinen zwei Armen, durch die Lüfte; federleicht. Der Präsident schützte ihn; denn er glaubte, so die Verfassung vorbildlich anzuwenden. Die Menge umjubelte ihn; denn sie glaubte, im Bunde mit ihrem Dionys endgültig gesiegt zu haben. Der reiche Herr Philistos förderte ihn; denn der wiederum glaubte, sein Meisterstück zu vollbringen. Da griff der kleine Stadtschreiber, der plötzlich alle Mächte auf seiner Seite sah, die großen Herren immer tollwütiger an – und war immer wieder erstaunt, daß dies so mühelos ging.

Die Zuhörer waren beseligt. Dionys verkündete ganz gewiß nur Wahrheiten, die ihnen sehr vertraut waren: daß die Reichen nichts wollen als die Macht im Staat. Aber nun, und das war märchenhaft, klatschten diese Reichen selbst Beifall – und finanzierten obendrein noch die Entdeckung ihres Totengräbers. »Die Reichen verachten ihre ärmeren Mitbürger«, schrie Dionys. »Die Reichen behandeln die Armen wie Sklaven. Die Reichen sehen im Unglück des Landes ihren Vorteil …« Auch diese Sätze bezahlte der reiche Herr Philistos bar. Und er zahlte sogar für die Anweisung: »Aus dem Volk muß man die leitenden Männer nehmen, nicht aus dem kleinen Kreis der großen Herren.«

Es fiel dann allerdings später gar nicht auf, daß diese Sentenz des Tribuns nicht wortwörtlich Wirklichkeit wurde; man war viel zu glücklich, um ganz genau hinzusehn. Neben dem jungen Dionys, dem sogenannten Mann aus dem Volk, wurde der alte Hipparinos, ein prominenter Aristokrat, zum Feldherrn gewählt. Und Dionys – und auch das ging im Freudentaumel unter – machte sofort Stimmung für seine Kameraden von einst, die noch im Exil schmachteten – für die lebende Gefolgschaft des toten Generals. »Welche Torheit, liebe Volksgenossen! Man sucht Hilfe in Italien und im Peloponnes – und läßt die Söhne von Syrakus in der Fremde verkümmern! Und dabei sind diese Verbannten die besten Patrioten; denn sie haben es abgelehnt, zusammen mit den Karthagern gegen die Heimat zu gehn. Gibt ihnen das nicht ein Anrecht auf die Dankbarkeit des Vaterlandes? Will man nicht endlich die alten Zwiste begraben?« Und der Volksheld Dionys begrub: indem er erstens die Leute, welche ausgerückt waren, die Demokratie zum Teufel zu jagen, in den Schoß der Demokratie zurückrief – und zweitens auch noch die Tochter des verstorbenen Demokratenfressers Hermokrates heiratete. Dionys begrub die Demokratie Syrakus.