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Denken mit Ludwig Marcuse E-Book

Ludwig Marcuse

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Beschreibung

Ein Wörterbuch für Zeitgenossen mit Schlagwörtern von Anarchie bis Zweisamkeit. Das Lebens-ABC eines illusionslosen Epikureers, eines menschenfreundlichen Pessimisten, der nach huma-
nisierenden Veränderungen sucht, ohne sich vor einen ideologischen Karren spannen zu lassen."

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Ludwig Marcuse

Denken mit Ludwig Marcuse

Über Aufklärung und Abstumpfung, Einsamkeit und Engagement, Macht und Massenkultur, Vergänglichkeit und Vernunft

Diogenes

An S.: Together!

A

Abenteurer

Der Abenteurer ist unentbehrlich; das wird allerdings erst erkannt, wenn sich herausstellt, daß er Amerika entdeckt hat.

Absolutismus der Theorien

Alle umfassenden Theorien sind zuerst immer als grenzenlos gültig angesehen worden und waren so immer ein billiger Einwand gegen ihre (lokale) Wahrheit.

Abstempelung

Es ist unfair, den Menschen nach seinem Beruf abzustempeln, der ihn nicht abstempelt.

Abstinenzler

Es ist ein Unterschied, ob man auf ein Glück verzichtet um des Glücks willen oder zugunsten einer glücksfeindlichen Moral.

Abstrakte Kunst

Jede Unähnlichkeit mit Lebenden oder Verstorbenen ist nicht beabsichtigt.

Abstumpfung

»Die schlimmste Folge der Theorie: wenn sie den Menschen gegen die Fakten abstumpft« (Lord Acton).

Kommentar: Dazu braucht es keine Theorie mehr, das schäbigste begriffliche Geglitzer des Tages tut es schon.

Aggression

Was bedeutet: niemand will Krieg?

Jeder will, was er will, risikolos – also: im Frieden. Der Krieg entstand meist aus der falschen Hoffnung, das Begehrte ›friedlich‹ grapschen zu können.

Akademisch

Es liegt im Wesen des Akademischen, nur das Tote zu berücksichtigen; ganz sicher ist man nur dessen, was sich nicht mehr rühren kann.

Alibis

›Eros versus Sexus‹: eine beliebte Ausflucht heute. Am besten zu übersetzen: ätherischer Beischlaf.

Fällt unter jene Alibi-Rubrik, in der man auch findet: naturwissenschaftliche Bibelgläubige, marxistische Christen und christliche Marxisten. Auch bürgerliche Kommunisten und sozialistische Päpste gehören hierher.

Alte Novitäten

Neu – das ist in der Regel nur, was einer Generation neu vorkommt.

Alter

Es wäre nicht so schlimm, zu altern, wenn alle ersten Lieben in ewiger Jugend blühten.

Alternativen

Tertium datur. Die weltberühmten Alternativen sind meist gar keine – zum Beispiel: Glaube oder Unglaube.

Anarchie

Ich wünschte, die Menschheit könnte sich eine Anarchie leisten. Sie kann es nicht, leider. Vergessen wir aber nie das Ideal: soviel Anarchie wie möglich.

Andere Völker

»Miss, ich habe viel erlebt und bin viel gereist. Ich kann Ihnen versichern, daß die Ähnlichkeiten viel größer sind als die Unterschiede, von denen Sie sprechen« (Raymond Cartier).

Kommentar: Tatsächlich werden die Zeiten für Reiseschriftsteller immer schlechter; denn die Besonderheiten ziehen sich immer mehr in Schutzparks zurück, und das eine große zivilisatorisch-kulturelle Uni überzieht die fünf Kontinente.

Anfang und Ende der Welt

Mit jedem Menschen entsteht das All.

Mit jedem Menschen geht das All zugrunde.

Anthropomorphismus ist noch ein zu zahmes Zeichen für den notwendigen – sagen wir: Singularismus.

Angriffslust

Das Wort ›Angriffslust‹ verbirgt, daß sowohl aus Lust als auch aus Unlust angegriffen wird.

Verbirgt noch mehr: Es gibt sogar den Angriff aus Menschlichkeit – obwohl alle Interessenten in dieser Maske ihre Feindseligkeiten zelebrieren.

Anhänger

Man furchtet seine Anhänger mehr als irgendeinen Feind; er läßt sich leichter abschütteln.

Antifaschisten

Die Diktatoren haben nicht nur ihr Gefolge verblendet, auch noch ihre Gegner. Viele Antifaschisten glauben, daß sie schon mit ihrem Anti human sind.

Anti-Hitlerianer

Was sind viele Anti-Hitlerianer geworden, nachdem Hitler abging? Dasselbe, was sie vor ihm waren: der Dung, auf dem er entstanden ist.

Antisemitismus

Der Antisemitismus ist unter anderem auch eine sexuelle Perversion: Lüsternheit und Jude wurden gleichgesetzt und miteinander verteufelt.

Aphorismen

Der Aphorismus: die Kunst der Kürze.

Kann auch die Kunst der Zu-kurz-Gekommenen sein.

Apriori

Wenn man nicht weiß, was man sehen will, kommt nicht mehr als ein lockeres Häufchen von Impressionen zustande.

Araber

In Spanisch-Marokko klärte mich einst ein Konsul auf, die Araber seien deshalb so schwer zu beruhigen, weil sie den Knall der Schüsse so liebten.

Das waren noch Zeiten!

Arbeitsmoral

Man arbeitet zuerst aus Notwendigkeit oder Lust; dann vielleicht nur, weil man es sich angewöhnt hat. Name dafür: Arbeitsbesessenheit.

Ärgernis

Für die Gesellschaft ungefährlich ist noch, wer sich nur ägert, nicht mehr, wer Ärgernis nimmt.

Argumente

Du sollst nicht vor einem Argument in die Knie brechen. Vielleicht überzeugt es nur, beweist aber nichts.

Atheismus 1

Weshalb war Gottlosigkeit immer ein Schimpfwort? An und für sich ist Gottlosigkeit nur privativ. Es sagt nichts aus über den Glauben des Gottlosen.

Weshalb war Gottlosigkeit immer so unbeliebt? Vielleicht auch deshalb, weil Menschen, die sich nicht um Gott kümmern, mehr Zeit und Kraft haben, sich um die Menschen zu kümmern.

Atheismus 2

Der blanke Atheismus ist nicht so gefährlich, wie die meinen, deren Position durch ihn angeblich gefährdet wird.

Man hatte sowieso immer nur wenig Zeit, an Gott zu denken oder an seine Abwesenheit.

Atombombe

Seien wir nicht zu eitel in der Verzweiflung über unsere superlative Macht, zu schaden! In der Drohung: Entweder das Ende der Welt oder völlige Umkehr … liegt nichts als die Panikmache von professionellen Zungenrednern.

Die Drohung mit dem Umfang an Zerstörung verdeckt, daß schon immer jeder nicht mehr als sein Leben zu verlieren hatte. Man sollte nicht verrückt spielen, die Zeiten (schlimm genug) waren wohl nie besser. Die ›Unterseele‹ (wie sie der Arzt und Poet Ernst Weiß taufte) war schon immer da. Die ›Entfremdung‹ gab es schon, als sie noch nicht so prominent war.

Aufklärung 1

Die Vernunft macht immer heller, in welchem Dunkel wir leben.

Aufklärung 2

Hundertfünfzig Jahre nach Kants Tod ist zu bedenken: kann man sich und andere aufklären – nur dadurch, daß man, wie er befahl, nicht faul und nicht feig, von seinem Verstand Gebrauch macht?

Was liefert der Verstand? Die Gesetze der Logik? Verständig ist auch die rechte Anwendung der Erfahrungen auf den besonderen Fall! Was kann der Verstand nicht? Erfahrungen schaffen, Fakten geben. Aufklärung im allgemeinen (zum Beispiel: die Zerstörung von Dogmen) ersetzt nicht Aufklärung im besonderen (zum Beispiel: die unangetastete Mitteilung eines einmaligen Vorgangs). Die Information ist eine Crux der Aufklärung – heute vielleicht mehr als je, weil jeder mehr hört als je. Das hat Kant so noch nicht erlebt.

In einigen Ländern ist es technisch unmöglich, sich zu informieren; es gibt eine einzige Morgenzeitung für zweihundert Millionen Leser. Unsere Sorge lebt geographisch näher: Wie kann die technische Möglichkeit, sich zu informieren, auch noch umgesetzt werden in Information? Der Einzelne, der seinen Abgeordneten wählt, der politische Urteile täglich abgibt, mag gründliche und die besten Grundsätze haben. Hat er ebenso gründliche Informationen und die Zeit, sie sich anzueignen? Sind die Intellektuellen, die, hochgestimmt, Politik machen, nicht faul in der Aneignung notwendiger Einzelheiten?

An Stelle von Informationen haben sie Theorien, zum Beispiel: die Lehre von der materialistischen Dialektik oder dem göttlichen Wettbewerb. Diese Pauschquanta sind die großen Lückenbüßer. Sie ersetzen, was man nicht weiß, durch Theorien. Aber selbst die feinste ist vor dem Detail nur eine Möglichkeit. Man verachtet gern und vornehm Propaganda und übersieht, wovon sie lebt: von einer Unterernährung an Wissen um die Vorgänge, zu denen man ja oder nein sagen muß.

Die Nachkommen der Aufklärer benehmen sich ganz unaufgeklärt: nicht, weil sie nicht die Hundert Großen Bücher gelesen haben, sondern, im Gegenteil, weil sie glauben, es genügt, mit Marx vertraut zu sein, um über China aus weiter Ferne urteilen zu können. Man wird noch nicht dadurch zum Aufklärer, daß man die Geschichte des Priesterbetrugs am kleinen Finger hat. Jede Zeit hat ihre spezifische Aufklärung. Die heute aufzuklären glauben, klären vielleicht gar nicht auf, sondern repetieren nur Hoffnungen von gestern.

Wer vorstürmt, ohne zu wissen, was ist vorn und hinten, ist faul – selbst wenn er sein Leben opfert.

Ausbeuter

›Links‹ gibt es politisch nicht mehr, weil es nicht mehr ›rechts‹ gibt. Rechts bedeutete immer: bewahrend; die Moral dazu: bremsen auf dem Weg ins Chaos.

Jetzt ist links – rechts: Konservierung des Utopismus oder Konservierung einer Staatsdiktatur, die unter dem Namen ›Sozialismus‹ teils wohlwollend-ausbeutend, teils heroisch-ausbeutend ist.

Die Ausbeuter (die kapitalistischen und die sozialistischen) sind weder rechts noch links, sondern Ausbeuter.

Auschwitz

Auschwitz im Geflügelten Wort ist ein Mangel an Ehrfurcht vor denen, die dort verbrannt wurden.

Außenansicht

Wenn ich meine Stimme auf der Schallplatte höre, erfahre ich zum ersten Mal, wie die andern mich hören.

Was würden wir erst entdecken, wenn wir nicht nur unsere Stimme, sondern unser ganzes Ich von außen zugetragen bekämen? Von außen: das heißt hier nicht vom Gerede.

Aussprachen

Viele entdecken erst bei Aussprachen zwecks Beseitigung kleiner Mißverständnisse, daß sie Todfeinde sind.

Avantgarde

Man pflegt, in immer neuer Ahnungslosigkeit, uralte Weisheiten jenen Mitbürgern zuzuschreiben, die sie am lautesten erneuern.

B

Bedeutende Menschen

»Meine Bedeutung für die Welt kommt mir ziemlich gering vor, meine Bedeutung für mich selbst ungeheuer groß« (aus Noel Cowards Autobiographie).

Kommentar: Die erste Einsicht ist nicht spektakulär, die zweite: die Einsicht eines freien Geistes, die meist weggeheuchelt wird.

Bedürfnislehre

Eine der fruchtbarsten Fragen an Mythos, Religion, Philosophie, Kunst und Wissenschaft lautet: Welche Bedürfnisse brachten sie hervor?

Es ist aber nicht gesagt, daß die Dringlichkeit, welche diese Schöpfungen ins Dasein rief, sie immer noch ruft. Und es darf nicht vergessen werden, daß, was wir mit jenen Sammelnamen bezeichnen, ganz gewiß mehr als einen Ursprung gehabt hat.

Beruf

Man hat im Hauptberuf einen Posten.

Man hat dann noch, als unbezahlten Nebenberuf, mit seinem Leben fertig zu werden.

Da Kraft und Zeit mangeln, erledigt man nur, wofür man bezahlt wird.

Das andere erledigt der Tod.

Bescheidenheit 1

Bescheidenheit ist mehr eine Konsequenz des Denkens als des guten Willens.

Wer erkannt hat, daß alle Theologien, Philosophien, Wissenschaften, Institutionen, Überzeugungen im besten Fall Zwischenlösungen waren, kann sich nicht helfen: er muß bescheiden sein oder ein Trottel.

Bescheidenheit 2

Nur wer bescheiden ist, wird nicht aufgeben.

Beschwörungen durch Negation

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«: weil man es besser weiß, verneint man die Problematik des Aufschiebens emphatisch. Es sollten die Sprichwörter daraufhin studiert werden: etwa »Lügen haben kurze Beine« (eine indirekte Negation).

Diese Art kräftiger Affirmationen sind mehr Beschwörungen: »O Herr, gib, daß Lügen kurzbeinig sind!«

Bildungsmengen

Halbbildung ist immerhin noch besser als Anderthalbbildung.

Bindungen

Bequemlichkeit hindert uns oft genug, Bindungen zu lösen; mancher verdorrt, dessen Wurzeln nicht nähren, nur festhalten.

Biographie 1

Die Jugend ihres Helden ist seit je der große Tummelplatz der Biographen gewesen; hier können nach Belieben die Ursachen gemischt werden – Abstammung, Erbe, Milieu: die Mischung soll dann alles Spätere ›erklären‹.

Weshalb gelingen diese Erklärungen immer?

Weil alle Erscheinungen vieldeutig sind; weil es zu jedem Rätsel nicht nur die eine, sondern Millionen Lösungen gibt.

Wenn sich alles gut zueinanderfügt, wenn eine hübsche Ursachenkette im Licht der Studierlampe funkelt: ich bin die legitime Fessel für das Tohuwabohu beziehungsloser Daten – dann kichert die Wahrheit; nicht alle sind bezwungen, die sich geduldig Ketten anlegen lassen.

Biographie 2

Das Vorurteil sagt, es sei leichter, das Leben eines anderen zu beschreiben. Manchmal: ja; manchmal: nein.

Wenn ich mit jemand spreche und beobachte zu gleicher Zeit ihn und mich, so ist nicht von vornherein ausgemacht, wen ich richtiger sehe. Es mag sogar sein: mich; weil ich in diesem Moment vielleicht nicht interessiert an mir bin.

Es ist ein Aberglauben, daß Selbstbildnisse mehr von Illusionen gefährdet sein müssen als Bildnisse von Zeitgenossen oder historischen Figuren.

Biographie 3

Ein Leben ist nicht zulänglich geschildert, in welchem nicht die Natur- und Sozialgeschichte der zur Seele gehörigen Haare und Ohren und Beine und Hoden und Gerüche und Gesten deutlich gemacht wird.

Blinder Fleck

Die Illusionen einer Zeit sind ihr nie so sichtbar wie ihre Desillusionen.

Blindgläubigkeit

Die Gläubigen sehen nie mit den Augen, immer nur mit dem Willen. Das ist im zwanzigsten Jahrhundert nicht anders, als es im ersten war.

Böser Blick

Wer zu oft auf die Grenze alles Irdischen blickt, verliert die Energie zu seiner Gestaltung.

Brot

»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein« –

Kommentar: – sagen sie, und leben vom Brot und von dieser Warnung.

Brotlose Künste

»Daß man Musik betreibt, hat vier Nachteile: die Hungrigen werden nicht gesättigt, die Frierenden nicht gewärmt, die Obdachlosen bleiben obdachlos, die Verzweifelten werden nicht getröstet« (Bert Brechts Mé Ti).

Kommentar: Diese Einsicht hinderte Mé Ti nicht, sein Leben mit Betrachtungen hinzubringen, welche die Hungernden nicht sättigten, die Frierenden nicht wärmten, die Obdachlosen nicht mit einem Haus und die Trostlosen nicht mit Trost versorgten.

Bürokratie 1

»Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur« (Freud).

Kommentar: Wichtiges Gegengift gegen Hegels und Marx’ großen Satz, daß die Geschichte der Fortschritt des Geistes im Bewußtsein und in der Verwirklichung der Freiheit ist.

Daß die Geschichte der Menschheit nichts ist als der Wandel ihrer Bürokratie – und noch in jenem umfänglichen Sinne, der auch Religionen, Künste und Philosophien einbezieht, ist einer der kräftigsten Aberglauben, mit denen zu leben wir vom ›Zeitgeist‹, dem mächtigsten aller Diktatoren, verurteilt sind.

Bürokratie 2

Die Zeit, welche die Technik erspart, kostet der Bürokrat, der sie organisiert.

C

Chancen des Einzelnen

Ein deutscher Lehrer hat keine Stimme im Kampf zwischen Weißen und Schwarzen in Amerika; er kann nicht mehr als sich aufregen. Er hat aber eine Chance, wenn es um die Lesebücher in seinen Klassen geht.

Charakter

Bismarck: »Politik verdirbt den Charakter.«

Kommentar: Da er unter Politik nur Außen- und Innenpolitik verstand, ist der Satz viel zu eng. Alles pragmatische Verhalten verdirbt den Charakter. Es gibt nur zwei Beziehungen zwischen Menschen: Politik und Freundschaft.

Christliche Naturforscher 1

Wenn man die ›Väter der Wüste‹, den extrovertierten Billy Graham und Arius von Alexandrien, den Schopenhauerianer Innozenz III. und den fröhlichen Bischof Channing, Meister Eckhart und die Kirche, die ihm den Kopf abschneiden wollte, Franziskus und Loyola, Leo x. und Luther, Tolstoi und die russische Orthodoxie, die ihm das Leben schwermachte, Kierkegaard und den feindlichen Bischof Mynster, Harnack und den Neo-Protestantismus so durchsiebt, daß übrigbleibt, was ihnen gemeinsam war – dann hat man nur noch, was nicht mehr der Rede wert ist.