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In 19 Minuten kann man das Gras in seinem Vorgarten mähen, die Haare färben oder einen Kuchen backen. Man kann die Wäsche für eine fünfköpfige Familie falten. 19 Minuten kostet es, von der Grenze zu Vermont nach Sterling, New Hampshire, zu fahren. In 19 Minuten kann man die Welt zum Stillstand bringen oder einfach aus ihr herausfallen. 19 Minuten kostet es, Rache zu nehmen. Das hat der 17-jährige Peter Houghton getan. Noch weiß niemand in Sterling, wofür, doch mit diesem unaussprechlichen Akt der Gewalt ist die Welt des kleinen Ortes für immer aus den Angeln gehoben. Josie Cormier, die Tochter der Richterin, hat das Massaker an der Schule überlebt. Sie wäre die beste Zeugin. Aber sie kann sich nicht erinnern, was geschehen ist.
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Für Emily Bestler,
die beste Lektorin und glühendste Fürsprecherin,
die ich mir wünschen kann.
Du schaffst es,
dass ich mein Bestes gebe, jedes Mal.
Danke für dein scharfes Auge, deinen Ansporn
und vor allem deine Freundschaft
Übersetzung aus dem Amerikanischen von
Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
8. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-95975-9
© 2007 Jodi Picoult Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Nineteen Minutes«, Atria Books, New York 2007 Deutschsprachige Ausgabe: © 2008 Piper Verlag GmbH, München All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Atria Books, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York. Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagfotos: James Nazz / Corbis and Jason Todd / Getty Images Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
TEIL EINS
Wenn wir nie die Richtung ändern, steht schon vorher fest, wo unser Weg enden wird.
CHINESISCHES SPRICHWORT
Wenn Du das hier liest, bin ich hoffentlich tot.
Man kann das, was geschehen ist, nicht ungeschehen machen; man kann kein Wort zurücknehmen, das einmal ausgesprochen wurde. Du wirst über mich nachdenken und Dir wünschen, Du hättest mir die Sache ausreden können. Du wirst Dir das Hirn zermartern, was Du besser gesagt oder getan hättest. Und ich sollte Dir wahrscheinlich versichern: Du musst Dir keine Vorwürfe machen, es ist nicht Deine Schuld, aber das wäre gelogen. Wir wissen beide, dass ich nicht von allein an diesen Punkt gelangt bin.
Du wirst auf meiner Beerdigung weinen. Du wirst sagen, es hätte nicht so weit kommen müssen. Du wirst Dich so verhalten, wie alle es von Dir erwarten. Aber wirst Du mich vermissen?
Entscheidender noch – werde ich Dich vermissen?
Wollen wir wirklich die Antwort darauf haben?
6. März 2007
In neunzehn Minuten kann man den Rasen vor dem Haus mähen, sich die Haare färben, Brötchen backen, sich vom Zahnarzt eine Füllung machen lassen oder die Wäsche für eine fünfköpfige Familie zusammenlegen.
Neunzehn Minuten dauert die Fahrt mit dem Auto von der Grenze Vermonts nach Sterling in New Hampshire. In neunzehn Minuten kann man einem Kind eine Gutenachtgeschichte vorlesen oder einen Ölwechsel machen lassen. Man kann eine Meile gehen. Man kann einen Saum nähen.
In neunzehn Minuten kann man die Welt anhalten oder einfach von ihr abspringen.
In neunzehn Minuten kann man Rache nehmen.
Alex Cormier war spät dran, wie üblich. Zweiunddreißig Minuten dauerte die Fahrt von ihrem Haus in Sterling bis zum Kammergericht in Grafton County, New Hampshire, und das auch nur, wenn sie sich in Orford nicht ans Tempolimit hielt. Sie hastete auf Strümpfen nach unten, die Pumps in der einen Hand, die Akten, die sie übers Wochenende bearbeitet hatte, in der anderen. In der Diele drehte sie sich das volle, kupferrote Haar zu einem Knoten und steckte es im Nacken fest. Im Spiegel sah sie jetzt die Person, die sie draußen sein musste.
Alex war seit genau vierunddreißig Tagen Richterin am Kammergericht. Nach fünf Jahren als Bezirksrichterin hatte sie geglaubt, der neue Posten würde ihr weniger Probleme bereiten. Aber mit vierzig war sie in ganz New Hampshire noch immer die Jüngste in ihrem Amt und musste nach wie vor beweisen, dass sie unparteiisch Recht sprach – bei einer ehemaligen Pflichtverteidigerin argwöhnten die Staatsanwälte stets, sie würde die Verteidigung bevorzugen. Alex war Richterin geworden, weil sie den ehrlichen Wunsch hatte, dafür zu sorgen, dass jeder Angeklagte bis zum Beweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hatte. Sie hätte nie geglaubt, dass ihr selbst dieses Recht nicht eingeräumt wurde.
Frischer Kaffeeduft lockte Alex in die Küche. Ihre Tochter saß über eine dampfende Tasse gebeugt am Tisch und las in einem Schulbuch. Josie sah hundemüde aus – ihre blauen Augen waren gerötet, die kastanienbraunen Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden. »Bitte sag mir, dass du nicht die ganze Nacht auf warst«, sagte Alex.
Josie hob nicht einmal den Blick. »Ich war nicht die ganze Nacht auf«, gehorchte sie.
Alex goss sich einen Kaffee ein und setzte sich auf den Stuhl gegenüber ihrer Tochter. »Ehrlich?«
»Ich hab gesagt, was ich sagen sollte«, erwiderte Josie. »Du hast nicht nach der Wahrheit gefragt.«
Alex runzelte die Stirn. »Du solltest keinen Kaffee trinken.«
»Und du solltest nicht rauchen.«
Alex spürte, wie sie rot wurde. »Ich hab nicht –«
»Mom«, seufzte Josie, »auch wenn du das Badezimmerfenster aufmachst, ich riech es an den Handtüchern.«
Alex zog es vor, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Immerhin war das Rauchen ihr einziges Laster. Für mehr hatte sie überhaupt keine Zeit. Sie wünschte, sie hätte mit Gewissheit sagen können, dass auch Josie keine Laster außer einer Tasse Kaffee zuviel am Tag hatte. Aber damit würde sie nur den gleichen voreiligen Schluss ziehen wie alle, die Josie kennenlernten: eine hübsche, beliebte Musterschülerin, die besser als die meisten wusste, welche Folgen es haben konnte, vom Pfad der Tugend abzuweichen. Ein Mädchen, das es mal weit bringen würde. Eine junge Frau, die genauso war, wie Alex sich ihre Tochter gewünscht hatte.
Noch ein paar Jahre zuvor war Josie unglaublich stolz gewesen, eine Richterin zur Mutter zu haben. Sie ließ keine Gelegenheit aus, den Beruf ihrer Mutter zu erwähnen, und wollte immer alles über Alex’ Prozesse und Urteile wissen. Aber das hatte sich vor drei Jahren geändert, als Josie auf die Highschool gekommen und die Kommunikation zwischen ihnen immer spärlicher geworden war. Alex glaubte nicht unbedingt, dass Josie ihr mehr verheimlichte als irgendein anderer Teenager seiner Mutter, aber es gab einen wesentlichen Unterschied: Die anderen Mütter konnten die Freunde ihrer Kinder nur im übertragenen Sinne verurteilen, Alex dagegen konnte es im juristischen Sinne.
»Was steht heute bei dir an?«, fragte Alex.
»Klausur. Und bei dir?«
»Haftprüfungen«, erwiderte Alex. Sie warf einen Blick auf Josies Schulbuch. »Chemie?«
»Katalysatoren.« Josie rieb sich die Schläfen. »Substanzen, die chemische Reaktionen beschleunigen, aber unverändert bleiben. Wenn du zum Beispiel Kohlenmonoxid und Wasserstoff nimmst und Zink und Chromoxid untermischst, dann …«
»Okay, okay, ich war in Chemie nie eine Leuchte. Hast du gefrühstückt?«
»Kaffee«, sagte Josie.
»Kaffee zählt nicht.«
»Aber schon, wenn du es eilig hast«, entgegnete Josie.
Müsste eine Siebzehnjährige nicht in der Lage sein, sich morgens allein zu versorgen? Alex beschloss, sich um weitere fünf Minuten zu verspäten, und holte Eier, Milch und Schinkenspeck aus dem Kühlschrank. »Ich musste mal entscheiden, ob eine Frau gegen ihren Willen in der Psychiatrie bleiben sollte. Sie hielt sich für Fernsehkoch Emeril, und ihr Mann hatte sie einweisen lassen, nachdem sie ein Pfund Schinkenspeck im Mixer püriert hatte und dann mit einem Messer auf ihn losgegangen war.«
Josie blickte von ihrem Buch auf. »Echt?«
»Oh, glaub mir, so was denke ich mir nicht aus.« Alex schlug zwei Eier in die Pfanne. »Als ich sie fragte, wieso sie den Schinkenspeck püriert habe, hat sie mich bloß angesehen und gesagt, sie und ich hätten wohl unterschiedliche Methoden in der Küche.«
Josie stand auf und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, schaute ihrer Mutter am Herd zu. Kochen war nicht gerade deren Stärke. »Entspann dich«, sagte Alex trocken. »Ich krieg das hin, ohne das Haus abzufackeln.«
Aber Josie nahm ihr trotzdem die Pfanne aus der Hand und legte die Schinkenspeckstreifen ordentlich nebeneinander hinein. »Wieso ziehst du dich so an?«, fragte sie.
Alex sah an sich herunter, auf ihre Bluse, den Rock und die Pumps. »Wieso? Zu sehr wie Maggie Thatcher?«
»Nein, ich meine … ist doch eigentlich egal, was du anhast. Sieht doch eh keiner unter der Robe. Du könntest, was weiß ich, einen Pyjama drunter tragen.«
»Nun, man erwartet von mir, dass ich mich … na ja, richterlich kleide.«
Josies Gesicht verfinsterte sich, als hätte Alex irgendwie die falsche Antwort gegeben. Alex musterte ihre Tochter – die abgekauten Fingernägel, die Sommersprosse hinter dem Ohr, der Zickzackscheitel – und sah stattdessen das kleine Mädchen, das im Haus der Tagesmutter am Fenster wartete, wenn die Sonne unterging, weil sie wusste, dass Alex sie dann abholen kam. »Ich hatte zwar noch nie einen Pyjama bei der Arbeit an«, gab Alex zu, »aber manchmal schließ ich meine Bürotür ab und mache ein Nickerchen auf dem Fußboden.«
Ein überraschtes Lächeln machte sich auf Josies Gesicht breit, nur für einen Moment. Dann legte sie den Speck zum Abtropfen auf Küchenpapier. »Ich kapier noch immer nicht, wieso ich was frühstücken muss und du nicht«, murmelte sie.
»Weil man erst ab einem bestimmten Alter das Recht hat, sich zu ruinieren.« Alex zeigte auf die Eier in der Pfanne. »Versprichst du mir, dass du das isst?«
Josie sah sie an. »Versprochen.«
»Dann bin ich jetzt weg.«
Alex nahm ihre Thermoskanne mit Kaffee. Als sie aus der Garage fuhr, kreisten ihre Gedanken bereits um die vielen Haftanträge, die seit Freitag bestimmt auf ihrem Schreibtisch gelandet waren. Sie war weit weg von zu Hause, wo ihre Tochter gerade das Rührei aus der Pfanne in den Mülleimer kratzte.
Manchmal empfand Josie ihr Leben als ein Zimmer ohne Türen und Fenster. Es war ein Luxuszimmer, zugegeben, ein Zimmer, um das die halbe Sterling Highschool sie beneidet hätte, aber es war auch ein Zimmer, aus dem es kein Entrinnen gab.
Josie hielt ihr tränennasses Gesicht in den Strahl der Dusche – das Wasser war viel zu heiß, ließ die Scheiben innerhalb weniger Sekunden beschlagen. Sie zählte bis zehn, dann stieg sie aus der Dusche und trat tropfnass vor den Spiegel. Ihr Gesicht war verquollen und rot. Das Haar klebte ihr in dicken Strähnen an den Schultern. Sie drehte sich seitlich, begutachtete ihren flachen Bauch und zog ihn ein wenig ein. Sie wusste, was Matt sah, wenn er sie betrachtete, was Courtney und Maddie und Brady und Haley und Drew sahen – sie wünschte nur, sie könnte es auch sehen. Wenn Josie in den Spiegel schaute, sah sie jemand, der sie nicht sein wollte, oder jemand, den keiner wollte.
Sie wusste, wie sie auszusehen und sich zu verhalten hatte. Sie trug das Haar lang und glatt. Sie kaufte ihre Klamotten nur bei Abercrombie & Fitch und hörte Musik von Dashboard Confessional und Death Cab for Cutie. Sie genoss es, die Augen der anderen Mädchen an der Schule auf sich zu spüren, wenn sie sich in der Cafeteria Courtneys Make-up auslieh. Sie genoss es, wenn Lehrer bereits am ersten Unterrichtstag ihren Namen wussten. Sie genoss es, von Jungs angestarrt zu werden, wenn sie mit Matts Arm um ihre Taille den Gang hinunterging.
Doch es verging kaum ein Tag, an dem Josie sich nicht fragte, was wohl passieren würde, wenn sie ihnen ihr Geheimnis verriete– dass sie morgens manchmal Mühe hatte, aufzustehen und das Lächeln einer Fremden aufzusetzen. Dass sie sich fühlte wie eine Schauspielerin, die über die richtigen Witze lachte und den richtigen Klatsch tuschelte und auf den richtigen Typen anziehend wirkte, eine Schauspielerin, die vergessen hatte, wie es sich anfühlte, echt zu sein … und die sich auch gar nicht mehr daran erinnern wollte, weil das nur noch schmerzhafter gewesen wäre.
Es gab niemanden, mit dem sie reden konnte. Wenn du auch nur leise Zweifel hegtest, ob du zu den privilegierten, beliebten Leuten gehörtest, hattest du nichts bei ihnen verloren. Und Matt– nun, der war auf Josies schöne Fassade reingefallen, wie alle anderen auch. Das war die verquere Logik der Highschool: Eine Prinzessin war sie nur, weil sie mit Matt ging. Und Matt ging mit ihr, weil sie eine der Prinzessinnen an der Sterling High war.
Josie konnte sich auch nicht ihrer Mutter anvertrauen. Ich höre nicht auf, Richterin zu sein, nur weil ich Feierabend habe, sagte ihre Mutter oft. Deshalb trank Alex Cormier nie mehr als ein Glas Wein in der Öffentlichkeit; deshalb wurde sie auch niemals laut, fiel nie aus der Rolle. Vieles von dem, worauf ihre Mutter so stolz war – die hervorragenden Noten ihrer Tochter, dass sie gut aussah, zu den »richtigen« Leuten gehörte – hatte Josie nicht erreicht, weil sie selbst es unbedingt wollte, sondern weil sie so große Angst davor hatte, nicht perfekt zu sein.
Josie schlüpfte in eine Jeans und zog zwei langärmelige T-Shirts übereinander, in denen ihre Brüste zur Geltung kamen. Sie sah auf die Uhr – wenn sie nicht zu spät kommen wollte, musste sie sich beeilen.
Doch ehe sie ihr Zimmer verließ, zögerte sie. Sie ging vor ihrem Bett in die Hocke und zog den Plastikbeutel hervor, den sie unten am Rahmen befestigt hatte. Darin bewahrte sie ihren geheimen Vorrat Stilnox auf – das Schlafmittel, das ihre Mutter sich regelmäßig verschreiben ließ. Fünfzehn Tabletten hatte sie ihr im Lauf von fast sechs Monaten geklaut, einzeln, damit es nicht auffiel. Wenn sie sie mit reichlich Wodka runterspülte, müsste es reichen, dachte sie. Nicht dass sie einen konkreten Plan hatte, sich demnächst umzubringen – es war eher so etwas wie ein Plan für den Notfall: Wenn die Wahrheit herauskam und keiner mehr etwas mit ihr zu tun haben wollte, würde Josie sich selbst auch nicht länger ertragen.
Sie verstaute die Tabletten wieder unter dem Bett und eilte nach unten. Als sie in die Küche kam, um ihren Rucksack zu holen, sah sie, dass ihr Chemiebuch noch aufgeschlagen auf dem Tisch lag – mit einer langstieligen Rose darauf.
Matt lehnte am Kühlschrank in der Ecke. Er musste durch die offene Garage hereingekommen sein. Wie immer kamen ihr bei seinem Anblick die Jahreszeiten in den Sinn – sein Haar hatte sämtliche Farben des Herbstes, seine Augen waren leuchtendblau wie ein Winterhimmel, sein Lächeln strahlend wie die Sommersonne. Er trug eine nach hinten gedrehte Baseballkappe und ein T-Shirt vom Eishockey-Team der Sterling High über einem Thermohemd, das Josie einmal einen ganzen Monat lang in ihrer Wäschekommode versteckt hatte, damit sie seinen Geruch einatmen konnte, wann immer sie das Bedürfnis hatte. »Bist du noch sauer?«, fragte er.
Josie zögerte. »Wer von uns beiden war denn sauer?«
Matt stieß sich vom Kühlschrank ab und kam näher, schlang die Arme um Josies Taille. »So bin ich eben.«
Ein Grübchen erschien auf seiner rechten Wange, und schon merkte Josie, wie sie weich wurde. »Ich hätte dich wirklich gern gesehen. Aber ich musste lernen.«
Matt strich ihr das Haar aus dem Gesicht und küsste sie. Genau deshalb hatte Josie ihn am Vorabend gebeten, nicht rüberzukommen – wenn sie mit ihm zusammen war, hatte sie das Gefühl, sich in Luft aufzulösen.
Er schmeckte nach Ahornsirup, nach Entschuldigungen. »Das ist alles deine Schuld, weißt du«, sagte er. »Ich würde mich nicht so bescheuert verhalten, wenn ich dich nicht so lieben würde.«
In dem Augenblick konnte Josie sich nicht an die Tabletten erinnern, die sie in ihrem Zimmer hortete, nicht an ihre Tränen unter der Dusche. Sie konnte sich an nichts anderes erinnern als an das Gefühl, abgöttisch geliebt zu werden. Was hab ich doch für ein Glück, dachte sie, was hab ich für ein Riesenglück.
Patrick Ducharme, der einzige Detective bei der Polizei von Sterling, saß ganz hinten auf der Bank in der Umkleidekabine und hörte, wie die Kollegen von der Streife einen Neuling aufs Korn nahmen, der um den Bauch etwas füllig war. »He, Fisher«, sagte Eddie Odenkirk, »wer kriegt denn eigentlich das Baby, du oder deine Frau?«
»Meine Güte, Eddie«, sagte Patrick, der Mitleid mit Fisher empfand. »Kannst du nicht wenigstens warten, bis wir alle eine Tasse Kaffee intus haben?«
»Würd ich ja, Captain«, lachte Eddie, »aber wie’s aussieht, hat Fisher alle Donuts aufgefuttert und – ich seh wohl nicht richtig.«
Patrick folgte Eddies Blick nach unten, auf seine Füße. Er zog sich normalerweise nicht bei den Streifenkollegen um, aber heute Morgen war er ins Präsidium gejoggt, statt mit dem Auto zu kommen, um ein paar von den Kalorien abzuarbeiten, die er übers Wochenende zu sich genommen hatte. Er hatte Samstag und Sonntag nämlich mit seiner fünfeinhalbjährigen Patentochter Tara Frost verbracht. Ihre Mutter Nina war Patricks älteste Freundin, und seine große Liebe, über die er wohl nie hinwegkommen würde, während sie ohne ihn recht gut klarkam. So hatte er Tara nach zig Memory-Runden und Huckepackritten erlaubt – ein kapitaler Fehler –, ihm die Zehennägel neonpink zu lackieren, was er bis zu diesem Moment völlig vergessen hatte.
»Die Frauen stehen drauf«, sagte Patrick trocken, während die sieben Männer sichtlich Mühe hatten, nicht in schallendes Gelächter über ihren Vorgesetzten auszubrechen. Patrick streifte sich rasch Socken über, schlüpfte in seine Slipper und marschierte aus dem Raum, die Krawatte noch in der Hand. Eins, zählte er. Zwei, drei. Prompt brach die Lachsalve los und verfolgte ihn den Flur hinunter.
In seinem Büro schloss Patrick die Tür, band sich die Krawatte um und nahm an seinem Schreibtisch Platz.
Zweiundsiebzig E-Mails hatten sich übers Wochenende angesammelt – und alles über fünfzig bedeutete in der Regel Überstunden. Er fing an, sie zu sichten, ergänzte gelegentlich die höllische Liste mit Dingen, die der Erledigung harrten. Die Liste wurde einfach nicht kürzer, egal, wie hart er arbeitete.
Als einziger Detective in einer Kleinstadt lief Patrick stets auf Hochtouren. Anders als die Kollegen in größeren Präsidien musste Patrick sich um alles persönlich kümmern, was auf seinem Schreibtisch landete. Es war nicht leicht, sich für Fälle wie einen ungedeckten Scheck zu begeistern oder einen Ladendiebstahl, für den der Täter maximal zweihundert Dollar Geldstrafe aufgebrummt bekam, während es das Fünffache an Steuergeldern kostete, weil Patrick eine Woche Arbeit in die Sache investiert hatte. Doch jedes Mal, wenn er seine Fälle als reine Lappalien empfand, wurde er wieder unmittelbar mit einem Opfer konfrontiert: die aufgelöste Mutter, der man das Portemonnaie gestohlen hatte, das Rentnerehepaar, das auf einen Trickbetrüger reingefallen war, der fassungslose Lehrer, dem man das Konto leergeräumt hatte. Hoffnung, so wusste Patrick, war genau der Abstand zwischen ihm und der Person, die sich Hilfe suchend an ihn wandte. Wenn Patrick sich nicht hundertprozentig einsetzte, dann würde das Opfer immer Opfer bleiben. Und genau deshalb hatte Patrick bislang in Sterling jeden einzelnen Fall gelöst.
Und dennoch. Wenn er nachts im Bett lag, fielen ihm nicht seine Ermittlungserfolge, sondern die begangenen Taten der anderen ein. Wenn er den gestohlenen Wagen ausgeschlachtet im Wald entdeckte oder der schluchzenden Frau, die bei einem Date vergewaltigt worden war, ein Taschentuch reichte, hatte Patrick das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Er bekämpfte das Verbrechen, aber er konnte es nicht verhindern. Es war ihm stets einen Schritt voraus.
Es war der erste warme Tag im März, an dem man zum ersten Mal glauben konnte, dass der Schnee doch demnächst schmelzen würde. Josie saß auf der Motorhaube von Matts Saab auf dem Schülerparkplatz und dachte daran, dass sie in knapp drei Monaten in die Abschlussklasse kam.
Neben ihr lehnte Matt an der Windschutzscheibe, das Gesicht der Sonne zugewandt. »Komm, wir machen blau«, sagte er.
»Wenn du blaumachst, kommst du auf die Reservebank.«
Am Nachmittag sollte die Highschool-Eishockeymeisterschaft von New Hampshire anfangen, und Matt spielte Rechtsaußen. Sterling hatte letztes Jahr den Titel geholt und rechnete fest damit, ihn erfolgreich zu verteidigen. »Zum Spiel sind wir zurück. Du kommst mit«, sagte Matt. Er war es nicht gewohnt, Fragen zu stellen. Er machte Ansagen.
»Aber nur wenn du richtig gut bist.«
Matt grinste und zog Josie an sich. »Bin ich denn nicht immer richtig gut?«, sagte er, aber er sprach nicht mehr vom Eishockey, und sie spürte, wie sie rot anlief.
Plötzlich prasselte ein Hagelschauer auf Josies Rücken. Als sie und Matt sich aufsetzten, sahen sie Brady Pryce aus der Footballmannschaft Hand in Hand mit Haley Weaver, die auf dem letzten Oberstufenball zur Schönheitskönigin gekürt worden war. Haley warf einen zweiten Pennyhagel – so wünschte man auf der Sterling High einem Sportler Glück. »Zeig’s ihnen, Royston«, rief Brady.
Ihr Mathelehrer kam über den Parkplatz, in der einen Hand eine abgegriffene schwarze Lederaktentasche, in der anderen einen Becher Kaffee. »He, Mr. McCabe«, rief Matt. »Wie hab ich in der Klausur abgeschnitten?«
»Zum Glück haben Sie noch andere Talente, Mr. Royston«, sagte der Lehrer und griff in die Hosentasche. Er zwinkerte Josie zu, als er die Münzen warf, Pennys, die ihr vom Himmel auf die Schultern fielen. Wie verlorene Sterne.
Na toll, dachte Alex, während sie weiter in ihrer Handtasche wühlte. Sie hatte ihre Keycard vergessen, und jetzt kam sie nicht durch den Personaleingang ins Gerichtsgebäude.
»Verdammter Mist«, knurrte sie, während sie auf dem Weg zum Vordereingang den Pfützen auswich. Auf keinen Fall wollte sie sich ihre Krokodillederpumps ruinieren.
Vorne am Eingang hatte sich eine Schlange von zwanzig Leuten gebildet, doch die Sicherheitsbeamten erkannten Alex und winkten sie nach vorn. Als sie allerdings die Metalldetektorschleuse passierte, lösten ihr Schlüsselbund und die Thermoskanne aus Edelstahl den Alarm aus, sodass alle in der Lobby sich umdrehten. Mit gesenktem Kopf eilte Alex über den glänzenden Fliesenboden, während ein untersetzter Mann anzüglich grinste. »He, Baby, deine Schuhe gefallen mir.«
Alex hastete weiter. Von ihren Kollegen und Kolleginnen hatte sonst niemand dergleichen zu fürchten. Richter Wagner war ein netter Kerl, aber er hatte ein Gesicht, das aussah wie ein Kürbis nach Halloween. Richterin Gerhardt trug Blusen, die älter als Alex waren. Als Alex anfing, hatte sie gedacht, es könnte von Vorteil für den Job sein, wenn eine relativ junge, recht attraktive Frau auftauchte – gerade weil sie nicht dem Klischee entsprach. Aber nach Situationen wie heute Morgen bezweifelte sie das.
In ihrem Büro warf sie die Handtasche auf den Boden, zog ihre Robe an und nahm sich noch fünf Minuten Zeit, um ihren Kaffee zu trinken und die Haftanträge zu sichten. Jeder Fall hatte eine eigene Akte, aber Fälle von Wiederholungstätern waren mit einem Gummiband zusammengebunden, und manchmal schrieben die Richter sich gegenseitig auf einem Post-it-Zettel in der Akte Kommentare. Alex schlug eine auf und sah ein Strichmännchen mit Gittern vor dem Gesicht – ein Hinweis von Richterin Gerhardt, dass der Delinquent noch eine letzte Chance bekommen sollte, bevor er beim nächsten Mal ins Gefängnis wandern würde.
Alex drückte den Summer, um dem Gerichtsdiener zu signalisieren, dass es losgehen konnte, und wartete auf ihr Stichwort: »Bitte erheben Sie sich. Den Vorsitz hat die ehrenwerte Richterin Alex Cormier.«
Alex ging mit forschen Schritten hinter die Bank und setzte sich. Siebzig Haftanträge standen heute Morgen auf dem Programm, und der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Der erste Kandidat wurde aufgerufen und schlurfte mit gesenktem Blick nach vorn.
»Mr. O’Reilly«, sagte Alex, und als der Mann sie ansah, erkannte sie in ihm den Typen, der sich in der Eingangshalle über ihre Schuhe geäußert hatte. Ihm war jetzt sichtlich unbehaglich zumute. »Sie sind doch der Gentleman, dem ich vorhin schon begegnet bin, nicht?«
Er schluckte. »Ja, Euer Ehren.«
»Wenn Sie gewusst hätten, dass ich die Richterin bin, Mr. O’Reilly, hätten Sie dann auch gesagt, ›He, Baby, deine Schuhe gefallen mir?‹«
Der Mann schlug die Augen nieder. »Ich glaub schon, Euer Ehren«, sagte er schließlich. »Es sind echt tolle Schuhe.«
Der ganze Gerichtssaal wartete gebannt auf ihre Reaktion. Alex lächelte.
»Mr. O’Reilly, da bin ich völlig Ihrer Meinung.«
Lacy Houghton beugte sich über das Gesicht ihrer schluchzenden Patientin. »Sie schaffen das«, sagte sie mit fester Stimme. »Und lang wird’s nicht mehr dauern.«
Nach sechzehn Stunden Wehen waren alle erschöpft – Lacy, die Patientin und der zukünftige Vater. »Bitte stellen Sie sich hinter Janine«, sagte Lacy zu ihm, »und stützen Sie ihr den Rücken. Janine, Sie schauen mich jetzt an und pressen noch einmal mit aller Kraft …«
Die Frau biss die Zähne zusammen und tat wie geheißen, verausgabte sich bis zur Selbstaufgabe, um einen neuen Menschen hervorzubringen. Lacy tastete nach dem Kopf des Kindes, ohne dabei jedoch den Blickkontakt mit ihrer Patientin zu verlieren. »Die nächsten zwanzig Sekunden wird Ihr Baby der neueste Mensch auf diesem Planeten sein«, sagte Lacy. »Möchten Sie es endlich kennenlernen?«
Die Antwort war ein mächtiges Pressen. Höchste Willenskraft, ein Aufschrei, ein glitschiger, lila Körper, den Lacy der Mutter rasch in die Arme legte, damit das Neugeborene, wenn es den ersten Schrei seines Lebens tat, gleich getröstet werden konnte.
Die junge Mutter fing wieder an zu weinen – Tränen hatten eine ganz andere Melodie, wenn kein Schmerz mitschwang. Die frischgebackenen Eltern beugten sich über ihr Baby, ein in sich geschlossener Kreis. Lacy trat zurück und schaute zu. Auf sie als Hebamme wartete gleich nach einer Geburt reichlich Arbeit, aber im Augenblick wollte sie nichts anderes als das kleine Wesen zu betrachten. Denn Lacy sah einen Blick, in dem Weisheit und Frieden lagen – acht Pfund unverstellter Möglichkeiten. Neugeborene erinnerten sie an winzige Buddhas, Gesichter voller Göttlichkeit. Dieser Zustand war aber nur von kurzer Dauer. Wenn Lacy die Babys eine Woche später zur Kontrolluntersuchung wiedersah, hatten sie sich bereits in normale – wenn auch winzige – Menschen verwandelt. Das Heilige war verschwunden, und Lacy fragte sich jedes Mal, wohin.
Während seine Mutter auf der anderen Seite der Stadt den neuesten Bürger von Sterling, New Hampshire, auf die Welt holte, wurde Peter Houghton gerade geweckt: Sein Vater klopfte an die Tür, ehe er zur Arbeit fuhr. Wie jeden Morgen. Unten würde eine Schüssel und die Packung Frühstücksflocken auf ihn warten – daran dachte seine Mutter selbst dann, wenn sie morgens um zwei zu einer Geburt gerufen wurde. Sie würde ihm auch einen Zettel hingelegt haben, auf dem sie ihm einen guten Schultag wünschte. Als wenn das so einfach wäre.
Peter stand auf. Er tappte in seiner Pyjamahose zum Schreibtisch, setzte sich vor den PC und ging ins Internet.
Die Wörter auf dem Message Board waren verschwommen. Er griff nach seiner Brille, die immer neben dem PC lag. Als er sie aufgesetzt hatte, fiel ihm das Etui auf die Tastatur – und plötzlich erschien er wieder, dieser Text, den er nie mehr hatte sehen wollen.
Peter drückte CONTROL + ALT + DELETE, aber er sah ihn noch immer vor seinem geistigen Auge, auch nachdem der Bildschirm endlich leer geworden war, auch nachdem er die Augen geschlossen hatte. Nachdem er schon angefangen hatte zu weinen.
In der Cafeteria-Schlange stand Josie hinter Natalie Zlenko, einer bekennenden Lesbe, die wenig Kontakt zu den anderen Schülern und Schülerinnen pflegte.
Neben Josie stand Courtney Ignatio, das Alphaweibchen an der Sterling High. Mit ihrem honigblonden Haar, das ihr wie ein Seidentuch über die Schultern hing, und ihren mega-hippen Outfits hatte sie eine ganze Entourage von Klonen hervorgebracht. Auf Courtneys Tablett befanden sich eine Flasche Wasser und eine Banane. Auf Josies stand ein Teller Pommes. Inzwischen war sie ausgehungert.
»He«, sagte Courtney so laut, dass Natalie es mitbekommen musste. »Sagst du der Vagitarierin mal, sie soll uns vorbeilassen?«
Natalie errötete, und sie drückte sich gegen das Geländer der Salatbar, damit Courtney und Josie vorbeikonnten. Sie bezahlten ihr Essen und suchten sich einen Tisch.
In der Cafeteria kam Josie sich manchmal vor wie eine Naturforscherin, die verschiedene Spezies in ihrem natürlichen Lebensraum beobachtete. Da saßen die Streber, blätterten in Schulbüchern und lachten über Mathewitze, die außer ihnen keiner auch nur verstehen wollte. Dahinter kamen die Kunstfreaks, die heimlich Nelkenzigaretten rauchten und auf den Rand ihrer Schulhefte Mangas zeichneten. Nicht weit von den Besteckkästen hockten die Tüftler, die schwarzen Kaffee tranken und auf den Bus warteten, mit dem sie nach dem Nachmittagsunterricht zur Technical High drei Orte weiter fuhren; und schließlich die Drogies, die morgens um neun schon zugedröhnt waren. Dann waren da noch ein paar Außenseiter – Leute wie Natalie und Angela Phlug, die notgedrungen flüchtig miteinander befreundet waren, weil sonst niemand sie wollte.
Und es gab Josies Clique. Sie nahmen zwei Tische in Beschlag, nicht weil sie so viele waren, sondern weil sie überlebensgroß waren: Emma, Maddie, Haley, John, Brady, Trey, Drew. Josie konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie die Namen am Anfang immer durcheinandergebracht hatte, so austauschbar waren sie.
Sie sahen sich auch alle ähnlich – die Jungs trugen ihre kastanienbraunen Eishockeytrikots und die Kappen nach hinten gedreht, helle Haarsträhnen lugten aus den Ösen auf der Stirn. Die Mädchen waren alle Abziehbilder von Courtney, bis ins Detail. Josie hatte sich ihnen unauffällig anschließen können, weil auch sie wie Courtney aussah. Sie hatte ihr gewelltes Haar glatt geföhnt, und ihre Absätze waren sieben Zentimeter hoch, obwohl noch immer Schnee lag. Wenn sie äußerlich genauso aussah wie die anderen, ließ es sich wesentlich leichter ignorieren, dass sie gar nicht wusste, wie sie sich innerlich fühlte.
»Hi«, sagte Maddie, als Courtney sich neben sie setzte.
»Hi.«
»Hast du das mit Fiona Kierland gehört?«
Courtneys Augen leuchteten auf. »Die mit den verschieden großen Titten?«
»Nein, die jüngere Fiona.«
»Die dauernd mit ner Packung Kleenex herumläuft, weil sie Heuschnupfen hat?«, fragte Josie, während sie Platz nahm.
»Von wegen«, sagte Haley. »Ratet mal, wer wegen Koksen in die Reha musste.«
»Erzähl keinen Quatsch!«
»Es kommt noch dicker«, fügte Emma hinzu. »Ihr Dealer war der Leiter dieser Bibelgruppe, die sich manchmal nach der Schule trifft.«
»Das gibt’s nicht!«, sagte Courtney.
»Kannst du laut sagen.«
»Hi.« Matt ließ sich auf dem Stuhl neben Josie nieder. »Wo warst du denn so lange?«
Sie wandte sich ihm zu. An seinem Ende des Tisches drehten die Jungs aus Strohhalmhüllen und Spucke Kügelchen, während sie über das Ende der Skisaison sprachen. »Was meint ihr, wie lange die Halfpipe in Sunapee noch geöffnet ist?«, fragte John und beschoss einen Schüler, der einen Tisch weiter eingeschlafen war, mit einem Kügelchen.
Der Junge hatte im letzten Jahr zusammen mit Josie das Wahlfach Gebärdensprache belegt. Er hatte dünne, weiße Arme und schnarchte mit offenem Mund.
»Daneben, du Penner«, sagte Drew. »Wenn Sunapee zumacht, ist Killington noch auf. Die haben Schnee bis August.« Sein Kügelchen landete im Haar des Jungen.
Derek. Der Junge hieß Derek.
Matt warf einen Blick auf Josies Pommes. »Die willst du doch wohl nicht essen, oder?«
»Ich hab nen Bärenhunger.«
Er kniff ihr in die Hüfte, prüfend und kritisch zugleich. Josie blickte auf ihre Pommes. Vor zehn Sekunden hatten sie noch goldbraun ausgesehen und himmlisch geduftet. Jetzt sah sie nur noch das Fett, das den Pappteller befleckte.
Matt nahm sich eine Handvoll und reichte den Rest an Drew weiter, der gerade den schlafenden Jungen getroffen hatte: in den offenen Mund. Würgend und hustend fuhr Derek hoch.
»Super!« Drew und John klatschten einander ab.
Derek spuckte in eine Serviette und wischte sich heftig den Mund ab. Er blickte sich um, um zu sehen, wer sonst noch zugeschaut hatte. Josie fiel plötzlich wieder ein Zeichen aus ihrem Gebärdesprachenkurs ein, von dem sie gleich nach der Abschlussklausur fast alles vergessen hatte. Eine geschlossene Faust, die kreisend über dem Herzen bewegt wurde, bedeutete, es tut mir leid.
Matt beugte sich zu ihr und küsste sie auf den Hals. »Komm, wir hauen ab.« Er zog Josie auf die Beine und sagte zu seinen Freunden: »Bis nachher.«
Die Sporthalle der Sterling Highschool lag im ersten Stock, über drei Klassenräumen, die statt der nicht genehmigten Schwimmhalle gebaut worden waren und in denen ständig der Lärm von Turnschuhgetrappel und springenden Basketbällen zu hören war. Michael Beach und sein bester Freund, Justin Friedman, beide in der Unterstufe, saßen am Spielfeldrand und schauten ihrem Sportlehrer zu, der zum x-ten Mal die Dribbeltechnik vorführte. Es war reine Zeitverschwendung – Jungs in dem Alter hatten es entweder im Blut wie Noah James oder sie kriegten es nie im Leben hin – wie Michael und Justin. Beide saßen im Schneidersitz und lauschten dem durchdringenden Quietschen von Coach Spears’ weißen Turnschuhen, während er von einer Seite des Spielfelds zur anderen dribbelte.
»Zehn Mäuse, dass ich wieder als Letzter in eine Mannschaft gewählt werde«, flüsterte Justin.
»Wenn die Stunde doch bloß ausfallen würde«, jammerte Michael. »Vielleicht gibt’s ja eine Feuerschutzübung.«
Justin grinste. »Oder ein Erdbeben. Mir wär alles recht.«
Nach dem Duschen brühte Lacy Houghton sich eine Tasse grünen Tee auf und schlenderte in aller Ruhe durchs Haus. Wenn ihr, als die Kinder noch klein waren, manchmal alles zu viel wurde, hatte Lewis sie oft gefragt, was er tun könne, damit sie sich besser fühlte. Aus seinem Mund empfand sie die Frage immer als absurd, denn Lewis’ Spezialgebiet als Volkswirtschaftler am Sterling College war die Ökonomie des Glücks. Ja, es war ein seriöses Forschungsgebiet, und er war einer der führenden Experten. Er gab Seminare und schrieb Aufsätze und war auf CNN dazu interviewt worden, wie sich Spaß und Glück finanziell niederschlugen – und doch hatte er keine Ahnung, worüber Lacy sich freuen würde. Über ein schönes Essen im Restaurant? Eine Pediküre? Ein Nickerchen? Wenn sie ihm dann sagte, was ihr größter Wunsch wäre, schüttelte er verständnislos den Kopf. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ganz allein zu Haus zu sein, ohne irgendetwas Dringendes erledigen zu müssen.
Sie öffnete die Tür zu Peters Zimmer und stellte ihre Tasse auf der Kommode ab, um das Bett zu machen. Was soll das bringen, sagte Peter jedes Mal, wenn sie ihn ermahnte, sein Bett gefälligst selbst zu machen, in ein paar Stunden ist ja doch alles wieder durcheinander.
Ansonsten betrat sie Peters Zimmer eigentlich nur, wenn er drin war. Vielleicht hatte sie deshalb das Gefühl, dass irgendwas mit dem Raum nicht stimmte, dass irgendetwas Wichtiges fehlte. Das Zimmer kam ihr einfach leer vor, weil Peter nicht da war, vermutete sie zunächst. Doch dann fiel ihr auf, dass der Computer – ein ständiges Summen, ein grüner Bildschirm – ausgeschaltet war.
Sie zog das Laken straff und stopfte die Ecken in die Ritzen; dann breitete sie die Decke darüber und schüttelte die Kissen auf. An der Tür blieb sie kurz stehen und lächelte: Das Zimmer sah perfekt aus.
Zoe Patterson fragte sich, wie es wohl war, einen Jungen zu küssen, der eine Zahnspange trug. Nicht dass das für sie auf absehbare Zeit auch nur im Entferntesten konkrete Formen annehmen könnte, aber es war auf jeden Fall ratsam, schon mal darüber nachzudenken, um nicht völlig überrumpelt zu werden, wenn es denn passierte. Eigentlich fragte sie sich, wie es wohl war, einen Jungen zu küssen, Punkt aus – selbst einen, der nicht kieferorthopädisch behindert war wie sie. Und es gab keinen besseren Zeitpunkt für derartige Gedankenspielchen als eine langweilige Mathestunde, auch wenn Mr. McCabe redlich bemüht war, den trockenen Algebra-Stoff etwas aufzulockern.
Zoe warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Sie zählte mit, bis der große Zeiger auf 9.50 sprang, schoss dann von ihrem Stuhl hoch und reichte Mr. McCabe ihre Entschuldigung. »Aha, Kieferorthopäde«, las er laut. »Tja, aber pass auf, dass er dir nicht den Mund zudrahtet, Zoe.«
Zoe warf sich ihren Rucksack über die Schulter und spazierte aus dem Klassenzimmer. Ihre Mom würde sie um zehn vor der Schule abholen, und so eilte sie nach einem kurzen Abstecher ins Sekretariat, wo sie sich abmeldete, durch die leeren Flure nach draußen.
Es war warm genug, um die Jacke zu öffnen und vom Sommerlager zu träumen und davon, wie es wäre, wenn sie ihren Gaumenexpander endlich los wäre. Wenn man einen Jungen küsste, der keine Zahnspange hatte, und zu fest drückte, konnte der sich dann im Mund irgendwas aufschneiden? Und wenn er auch eine Spange hatte, würden sie sich dann ineinander verhaken und müssten in der Notaufnahme getrennt werden? Wäre das nicht unendlich peinlich?
Zoe fuhr sich seufzend mit der Zungenspitze über den Metallzaun im Mund. Dann spähte sie die Straße hinunter, ob der grüne Explorer ihrer Mom nicht allmählich in Sicht kam. Als plötzlich irgendetwas explodierte.
Patrick wartete in seinem Zivilwagen vor einer roten Ampel, um auf den Highway einzubiegen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag eine Papiertüte mit einem Arzneifläschchen voller Kokain. Der Dealer, den sie an der Highschool geschnappt hatten, hatte gestanden, dass es Kokain war, und trotzdem musste Patrick einen halben Tag damit verplempern, eine Probe davon ins Labor zu bringen, damit jemand in einem weißen Kittel ihm etwas bestätigte, das er bereits wusste. Er drehte gerade am Lautstärkeknopf des Funkgeräts, als die Zentrale meldete, dass die Feuerwehr wegen einer Explosion auf dem Weg zur Highschool sei. Wahrscheinlich der Heizkessel. Kein Wunder, das Schulgebäude war alt und fiel langsam auseinander. Hauptsache, es hatte keine Verletzten gegeben.
Schüsse gemeldet …
Die Ampel sprang auf Grün, aber Patrick rührte sich nicht.
Schüsse in der Highschool … Sterling High …
Die Stimme wurde schneller, eindringlicher. Patrick wendete und raste mit Blaulicht Richtung Schule. Weitere, von statischem Rauschen untermalte Stimmen meldeten sich über Funk – Officer, die ihren Standort durchgaben, der diensthabende Einsatzleiter, der alle Kräfte koordinierte und Verstärkung aus Hanover und Lebanon anforderte. Die Stimmen vermischten sich, übertönten einander, bis kein Wort mehr zu verstehen war.
Signal 1000, meldete die Zentrale. Signal 1000.
In Patricks gesamter Laufbahn als Detective hatte er diesen Code nur zweimal gehört. Einmal in Maine, als ein Vater, der seiner Unterhaltspflicht nicht nachkam, einen Officer als Geisel genommen hatte. Und einmal in Sterling, als ein Bankraub gemeldet wurde, der sich dann aber als falscher Alarm entpuppte. Signal 1000 bedeutete, dass alle Einsatzkräfte die Funkfrequenz ab sofort ausschließlich für die Zentrale frei zu lassen hatten.
Es bedeutete, dass sie es mit einem absoluten Ernstfall zu tun hatten.
Es herrschte pures Chaos. Schüler, die in Panik aus der Schule rannten, trampelten über am Boden liegende Verletzte hinweg. Ein Junge hielt ein selbst geschriebenes Schild mit der Aufschrift HILFE an ein Fenster im oberen Teil des Gebäudes. Zwei Mädchen umschlangen einander schluchzend. Blut färbte den Schnee rosa, Eltern trafen zuerst vereinzelt ein, dann kamen mehr und mehr, bis sie ein tosender Strom waren und die Namen ihrer vermissten Kinder zu einem einzigen unverständlichen Schrei wurden. Chaos, das war eine Fernsehkamera direkt vor deinem Gesicht, nicht genug Rettungswagen, nicht genug Officer und keinen Schimmer, wie du reagieren solltest, wenn die Welt in Stücke brach.
Patrick hielt halb auf dem Gehweg und schnappte sich seine Schutzweste vom Rücksitz. Das Adrenalin pulsierte durch seine Adern, schärfte seine Sinne. Er rannte zu Chief O’Rourke, der mit einem Megafon mitten im Tohuwabohu stand. »Wir wissen noch nicht, womit wir es zu tun haben«, sagte der Chief. »Die Spezialeinheit ist auf dem Weg.«
Patrick interessierte das nicht. Bis die Einheit vor Ort war, konnten noch zig weitere Schüsse fallen. Es konnte Tote geben. Er zog seine Pistole. »Ich geh rein.«
»Kommt gar nicht infrage. Das ist gegen die Vorschriften.«
»Für so was gibt es keine Vorschriften«, fauchte Patrick. »Feuern können Sie mich später.«
Als er die Stufen zur Schule hinauflief, nahm er wahr, dass zwei weitere Officer sich über die Befehle ihres Chiefs hinweggesetzt hatten und ihm auf den Fersen folgten. Patrick schickte sie in der Eingangshalle jeweils in einen anderen Korridor und schob sich durch das Gedränge fliehender Schüler den Hauptgang hoch. Durch den Lärm der gellenden Alarmanlage konnte Patrick die weiterhin fallenden Schüsse kaum hören. Er hielt einen Jungen an der Jacke fest. »Wer schießt da?«, brüllte er.
Der Junge schüttelte nur stumm den Kopf und riss sich los. Patrick sah ihm nach, wie er panisch den Gang hinunterrannte und durch die Doppeltür in ein Rechteck aus Sonnenlicht stürmte.
Schüler brandeten um Patrick herum, als wäre er ein Felsbrocken in einem Fluss. Rauchschwaden brannten ihm in den Augen. Wieder hörte er eine Reihe von Schüssen. »Wie viele sind es?«, rief er einem vorüberrennenden Mädchen zu.
»Ich … ich weiß nicht …«
Der Junge neben ihr drehte sich um und schrie: »Nur einer … ein Schüler … der schießt auf alles, was sich bewegt.«
Das genügte ihm. Sofort schwamm Patrick weiter gegen den Strom. Der Boden war übersät mit losen Blättern. Patronenhülsen rollten ihm vor die Füße. Deckenplatten waren heruntergeschossen worden, und die verrenkten Körper von Verletzten, die vereinzelt herumlagen, waren mit feinem grauem Staub bedeckt. Patrick ignorierte das alles, hielt sich an keine Grundregel seiner Ausbildung – lief an Türen vorbei, hinter denen ein Täter lauern konnte, sicherte keinen einzigen Raum – sondern eilte einfach nur weiter, mit gezückter Pistole, während ihm das Herz bis zum Hals schlug.
Er rannte durch Flure, die alle kreisförmig aufeinander zuzulaufen schienen. »Wo?«, bellte er jedes Mal, wenn er an einem Schüler auf der Flucht vorbeikam – seine einzige Navigationsmöglichkeit. Er sah Blut, Schüler, die sich am Boden krümmten, doch er zwang sich wegzusehen. Er lief die Haupttreppe hinauf, und kaum war er oben angelangt, öffnete sich eine Tür einen Spaltbreit. Patrick wirbelte herum, die Pistole schussbereit. Eine junge Lehrerin sank mit erhobenen Händen auf die Knie. Hinter dem weißen Oval ihres Gesichts waren ein Dutzend andere zu sehen, konturlos und verängstigt. Patrick nahm den Geruch von Urin wahr.
Er senkte die Waffe und winkte Richtung Treppe. »Los raus«, befahl er der Lehrerin und ihren Schülern, wartete aber nicht ab, ob sie auch tatsächlich losliefen.
Als Patrick um eine Ecke bog, war der Boden rutschig von Blut, und dann fiel wieder ein Schuss, diesmal so laut, dass Patrick die Ohren klingelten. Er stürmte durch die offene Doppeltür in die Sporthalle und ließ den Blick über die hingestreckten Körper schweifen, den umgestürzten Basketballkarren, die Bälle, die bis zur entgegengesetzten Wand gerollt waren – aber es war kein Schütze zu sehen.
Patrick wusste, dass er am anderen Ende des Gebäudes angelangt war. Der Schütze hielt sich also irgendwo hier in der Halle versteckt, oder er war wieder zurückgelaufen, ohne dass Patrick ihn bemerkt hatte … er könnte sich sogar in diesem Moment von hinten anschleichen.
Patrick wirbelte herum Richtung Eingang. Im selben Augenblick hörte er einen weiteren Schuss. Er lief zu einer Tür, die er bislang noch gar nicht bemerkt hatte. Sie ging von der Sporthalle ab und führte in einen Umkleideraum, dessen Wände und Boden weiß gefliest waren. Er warf einen Blick hinein, sah Blutspritzer zu seinen Füßen und schob den Kopf vorsichtig um die Ecke.
Zwei Körper lagen reglos an einem Ende der Umkleide. Am anderen hockte ein schmächtiger Junge neben einer Reihe Spinde. Er trug eine Nickelbrille, die ihm schief im mageren Gesicht saß. Er zitterte heftig.
»Bist du verletzt?«, flüsterte Patrick, um dem Schützen nicht seine Position zu verraten.
Der Junge blinzelte ihn nur an.
»Wo ist er?«, fragte Patrick.
Der Junge zog unter dem Oberschenkel eine Pistole hervor und hielt sie sich an den Kopf.
Eine neue Hitzewelle durchströmte Patrick. »Keine Bewegung«, brüllte er und zielte auf den Jungen. »Lass die Waffe fallen, oder ich schieße.« Der Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus, und er spürte, wie ihm der Pistolengriff aus den Händen zu rutschen drohte, aber er war entschlossen, den Jungen mit Kugeln zu durchsieben, wenn es sein musste.
Patrick hatte den Zeigefinger fest am Abzug, als der Junge die Finger spreizte. Die Pistole fiel zu Boden und schlitterte über die Fliesen.
Patrick stürzte sich auf ihn. Einer der beiden Officer, der ihm inzwischen gefolgt war, nahm die Waffe des Jungen an sich. Patrick drehte den Jungen auf den Bauch, drückte ihm ein Knie in den Rücken und legte ihm Handschellen an. »Ist noch jemand bei dir?«
»Ich bin allein«, stieß der Junge hervor.
Patrick war schwindelig und sein Puls raste, aber er nahm vage wahr, wie der Officer über Funk Meldung machte: »Sterling, wir haben einen Verdächtigen festgenommen; wir wissen nicht, ob noch jemand beteiligt ist.«
So plötzlich, wie es begonnen hatte, war es vorbei – soweit so etwas überhaupt je vorbei sein konnte. Patrick wusste nicht, ob irgendwo in der Schule womöglich Sprengsätze versteckt waren. Er wusste nicht, wie viele Menschen getötet worden waren, wie viele Verletzte das Dartmouth-Hitchcock Medical Center und das Alice Peck Day Hospital aufnehmen konnten. Der mutmaßliche Täter war überwältigt, aber wie viel nicht wiedergutzumachenden Schaden hatte er angerichtet? Patrick begann, am ganzen Körper zu zittern, und er wusste, dass er für so viele Schüler und Eltern und Bürger wieder einmal zu spät gekommen war.
Er machte ein paar Schritte und fiel auf die Knie, eigentlich, weil ihm einfach die Beine wegknickten, doch er tat so, als wollte er sich um die beiden Opfer kümmern, die am anderen Ende des Raumes lagen. Er hörte, wie der Officer den Schützen abführte, aber er drehte sich nicht noch einmal um, sondern konzentrierte sich ganz auf den Körper vor ihm auf dem Boden.
Ein Junge, der ein Hockeytrikot trug. Unter einer Seite war eine Blutlache, und er hatte eine Einschusswunde in der Stirn. Patrick hob die Baseballkappe auf, die dem Jungen vom Kopf gefallen war. Sie trug den gestickten Schriftzug STERLING HOCKEY.
Das Mädchen daneben lag mit dem Gesicht nach unten, Blut breitete sich unter ihrer Schläfe aus. Sie war barfuß, und ihre Zehennägel waren leuchtend pink lackiert – fast die gleiche Farbe, mit der Tara Patrick aus Spaß die Nägel verziert hatte. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Dieses Mädchen war genau wie seine Patentochter und ihr Bruder und Millionen andere Mädchen und Jungen heute Morgen aufgestanden und zur Schule gegangen, ohne die Gefahr auch nur zu ahnen, in die sie geraten würde. Sie hatten darauf vertraut, dass all die Erwachsenen ihre Sicherheit garantieren würden. Sie vor Angriffen schützen würden.
Plötzlich bewegte sich das Mädchen. »Helfen … Sie … mir …«
»Ich bin ja da«, sagte Patrick und berührte sie sanft. »Bleib ganz ruhig.« Er drehte sie ein wenig herum, bis er sah, woher das Blut kam. Sie hatte eine Wunde am Kopf, aber nicht von einer Kugel, wie er vermutete. Er tastete ihre Gliedmaßen ab. Er murmelte ihr beruhigende Worte zu, damit sie wusste, dass sie nicht mehr allein war. »Wie heißt du?«
»Josie …« Sie versuchte, sich aufzusetzen, doch Patrick hinderte sie daran und schob sich zwischen sie und den Jungen. Sie stand bereits unter Schock, und er wollte nicht, dass sie völlig durchdrehte. Sie hob eine Hand an die Stirn, und als sie das Blut fühlte, fragte sie panisch: »Was … ist denn passiert?«
Anstatt ihr zu antworten, hob Patrick Josie auf und trug sie aus dem Umkleideraum, in dem sie beinahe getötet worden wäre, die Treppen hinunter und durch die Schultür nach draußen, als könnte er sie beide retten.
Siebzehn Jahre zuvor
Lacy wusste natürlich besser als irgendwer sonst, dass alle Babys verschieden waren – winzige Geschöpfe mit eigenen Vorlieben und Gewohnheiten und Launen und Wünschen. Aber sie war unwillkürlich davon ausgegangen, dass ihr zweiter Anlauf in Sachen Mutterschaft ein Kind wie ihr erstes hervorbringen würde – wie Joey, ein richtiges Wonnebaby, das immer von Passanten bewundert worden war, wenn sie ihn im Kinderwagen spazieren fuhr. Ein Sonnenschein, der jeden mit einem Strahlen bedachte. Peter war genauso schön, aber er war eindeutig viel anstrengender. Er schrie endlos, wenn er Koliken hatte, und beruhigte sich erst wieder, wenn er in seinem Autositz auf den vibrierenden Wäschetrockner gestellt wurde. Und manchmal wollte er sich partout nicht stillen lassen, ohne dass Lacy die leiseste Idee gehabt hätte, was mit ihrem zweiten Sohn los sein könnte.
Es war zwei Uhr morgens, und die übermüdete Lacy versuchte, Peter wieder zum Einschlafen zu bringen. Anders als Joey, der immer auf der Stelle einschlief, wehrte Peter sich vehement dagegen. Sie streichelte seinen Rücken und rieb kleine Kreise zwischen seinen winzigen Schulterblättern, während er wimmerte und heulte. Eines stand fest, ihr war auch nach Heulen zumute. Seit zwei Stunden mühte sie sich nun schon ab, und vor Erschöpfung tat ihr alles weh. »Was ist denn nur los, lieber kleiner Mann?«, seufzte sie. »Wie kann ich dich bloß glücklich machen?«
Glück war relativ, laut ihrem Mann. Er musste es wissen, denn er befasste sich beruflich damit, einen Preis für Freude festzusetzen, und das war schließlich genau das, was Volkswirtschaftler machten: für die immateriellen Dinge im Leben messbare Werte zu finden. Lewis’ Professoren-Kollegen am Sterling College hatten Aufsätze über die relativen Vorteile einer guten Ausbildung oder allgemeiner Gesundheitsfürsorge oder Zufriedenheit im Beruf verfasst. Lewis’ Spezialgebiet war nicht weniger wichtig, wenn auch unorthodox. Es machte ihn zu einem beliebten Gast in Talkshows, denn offenbar wurde das Jonglieren mit Zahlen erotischer, wenn es um den Gegenwert eines herzhaften Lachens ging oder auch um den von regelmäßigem Sex.
Allerdings konnte einem Menschen das, was ihn früher glücklich gemacht hatte, heute bedeutungslos erscheinen. So hätte Lacy vor fünf Jahren alles dafür gegeben, von ihrem Mann einen Strauß roter Rosen zu bekommen; während bei ihr heute die Aussicht darauf, zehn Minuten ungestört zu schlafen, reines Entzücken ausgelöst hätte.
Lewis hatte eine mathematische Formel für Glück aufgestellt: R:E, Realität dividiert durch Erwartungen. Es gab zwei Wege zum Glück: die Realität verbessern oder die Erwartungen niedriger schrauben. Einmal hatte Lacy ihn auf einer Party gefragt, was passieren würde, wenn ein Mensch gar keine Erwartungen hätte. Hieß das, dass man nie glücklich werden könne, wenn man alle Schläge des Lebens einsteckte? Später, auf der Fahrt nach Hause, hatte Lewis ihr ärgerlich vorgeworfen, sie habe ihn blamieren wollen.
Lacy verdrängte die Frage, ob Lewis und sie und die Kinder wirklich eine glückliche Familie waren. In letzter Zeit, wenn Lewis Überstunden machte, weil er wieder mal einen Abgabetermin hatte, und Lacy vor Erschöpfung im Stehen hätte einschlafen können, redete sie sich sein, es sei einfach eine Phase, die wieder vorübergehen würde. Schließlich hatte sie einen Mann, der sie liebte, zwei gesunde Jungs und einen Beruf, an dem sie sehr hing – und sie war gern bereit, Strapazen auf sich zu nehmen, wenn sie ihn nur weiter ausüben konnte. War nicht gerade das die Definition vom Glücklichsein, dass man bekam, was man schon immer hatte haben wollen?
Sie merkte, dass Peter wunderbarerweise an ihrer Schulter eingeschlafen war, die süße Pfirsichwange an ihre nackte Haut gedrückt. Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinauf, legte ihn behutsam in sein Bettchen und warf dann einen Blick zu dem Bett hinüber, in dem Joey schlief. Das Mondlicht liebkoste ihn förmlich. Sie fragte sich, wie Peter wohl in Joeys Alter sein würde. Sie fragte sich, ob Eltern ein zweites Mal so viel Glück haben konnten.
Alex Cormier war jünger, als Lacy gedacht hatte. Vierundzwanzig – das entnahm Lacy dem Anmeldeformular für den Geburtsvorbereitungskurs –, aber Alex Cormier strahlte so viel Selbstbewusstsein aus, dass sie zehn Jahre älter wirkte. »Was machen Sie beruflich?«, fragte Lacy.
Alex blickte sie einen Moment skeptisch an. »Juristin«, sagte sie dann.
»Sie sind Anwältin?«, fragte Lacy und blickte von ihren Notizen auf.
»Pflichtverteidigerin. Seit Kurzem.« Alex machte sich innerlich auf eine abfällige Bemerkung gefasst.
»Das ist bestimmt eine anspruchsvolle Arbeit«, sagte Lacy. »Wissen Ihre Kollegen bereits von Ihrer Schwangerschaft?«
Alex schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, sagte sie knapp. »Ich werde nämlich keinen Mutterschaftsurlaub nehmen.«
»Und wenn Sie es sich doch noch anders überlegen, sobald –«
»Ich behalte das Baby nicht«, verkündete Alex.
Lacy lehnte sich zurück. »Verstehe.« Sie verurteilte grundsätzlich keine Mutter, die sich gegen ein Kind entschied. »Wir können auch über andere Optionen reden«, sagte Lacy. In der elften Woche konnte Alex sich noch immer für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
»Ich hatte eine Abtreibung vor«, sagte Alex, als hätte sie Lacys Gedanken gelesen. »Aber ich hab den Termin verpasst.« Sie blickte auf. »Zweimal.«
»Wenn das so ist«, sagte sie, »kann ich Ihnen Informationsmaterial über Adoptionen geben, falls Sie sich noch nicht selbst an entsprechende Stellen gewandt haben.« Sie griff in eine Schublade und holte Broschüren heraus – konfessionelle Adoptionsvermittlungen, Anwälte, die auf private Adoptionen spezialisiert waren. Alex nahm die Faltprospekte und hielt sie wie Spielkarten in der Hand. »Aber fürs Erste können wir auch über Sie reden, darüber, wie Sie sich fühlen.«
»Ich fühl mich prima«, erwiderte Alex prompt. »Mir ist nicht übel, ich bin nicht müde.« Sie sah mit einem Anflug von Gereiztheit auf die Uhr. »Ich habe allerdings einen dringenden Termin.«
Das letzte Mal, als Alex’ Körper nicht auf ihren Verstand gehört hatte, war sie schwanger geworden. Es hatte ganz harmlos angefangen – Logan Rourke, ihr Professor für Prozessrecht, hatte sie in sein Büro bestellt, um ihr zu sagen, dass sie den Gerichtssaal mit Kompetenz beherrsche, dass kein Geschworener die Augen von ihr lassen könne – genauso wenig wie er. Für Alex war Logan Starjurist und Gott in einem. Prestige und Macht konnten einen Mann so attraktiv machen, dass es einem den Atem raubte – und Logan in das verwandeln, wonach sie ihr Leben lang gesucht hatte.
Sie glaubte ihm, wenn er sagte, er habe in seinen zehn Jahren an der Fakultät noch keine Studentin erlebt, die eine so rasche Auffassungsgabe hatte wie Alex. Sie glaubte ihm, als er sagte, seine Ehe bestehe nur noch auf dem Papier. Und sie glaubte ihm, als er sie nach der Uni nach Hause fuhr, ihr Gesicht in beide Hände nahm und sagte, sie sei der Grund, warum er morgens aufstand.
Nachdem Alex sich mit Logan eingelassen hatte, verlor sie ihre nüchterne Zielstrebigkeit. Auf einmal verschob sie Pläne, wartete auf seinen Anruf, der manchmal kam und manchmal nicht. Sie tat so, als würde sie nicht mitbekommen, wenn er mit den Erstsemesterinnen flirtete, die ihn genauso anhimmelten wie sie ihn einst. Und als sie kurz vor dem Examen schwanger wurde, redete sie sich ein, sie würden für immer zusammenbleiben.
Logan hatte ihr gesagt, sie solle es wegmachen lassen. Sie hatte sofort einen Termin für eine Abtreibung vereinbart, dann jedoch vergessen, ihn in ihren Kalender einzutragen. Sie vereinbarte einen neuen Termin, merkte aber zu spät, dass er sich mit einer Examensklausur überschnitt. Danach war sie zu Logan gegangen. Es ist ein Zeichen, hatte sie gesagt.
Sei vernünftig, hatte Logan gesagt. Du hast jetzt den Abschluss, aber eine alleinerziehende Mutter wird es nie zur Prozessanwältin bringen. Sie müsse sich zwischen Karriere und Baby entscheiden.
Doch in Wahrheit meinte er, sie müsse sich zwischen dem Baby und ihm entscheiden.
Als Alex Logan Rourke kurze Zeit später eröffnete, sie würde eine Stelle als Pflichtverteidigerin annehmen, hatte er gelacht. Das hältst du keine Woche durch, hatte er gesagt. Dazu bist du viel zu weich.
»Ich weiß, es kommt Ihnen wie eine Ewigkeit vor«, sagte Lacy zu der Frau auf dem Geburtsbett. »Aber wenn Sie noch eine Stunde schön mitmachen, ist Ihr Baby da.«
Lacy wies gerade den Ehemann an, seine Frau von hinten zu stützen, während sie presste, als sie an der Taille ihrer meerblauen Kluft den Piepser vibrieren spürte. Wer zum Teufel konnte das sein? Ihre Sekretärin wusste doch, dass sie schon bei einem Einsatz war.
»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie und bat eine Krankenschwester, sie kurz abzulösen, während sie nach nebenan zum Telefon ging. »Was ist denn?«, fragte sie, als sich ihre Sekretärin meldete.
»Eine Patientin will unbedingt mit Ihnen sprechen.«
»Ich hab zu tun«, sagte Lacy knapp.
»Sie hat gesagt, sie wartet. Egal wie lange.«
»Wer ist sie denn?«
»Alex Cormier«, erwiderte die Sekretärin.
Die Juristin, dachte Lacy, die mit den dringenden Terminen, die ihr Baby nicht behalten will. Normalerweise hätte Lacy der Sekretärin gesagt, sie solle die Patientin zu einer anderen Hebamme in der Praxis schicken. Aber Alex Cormier hatte irgendetwas an sich, das Lacy nicht genau benennen konnte, irgendetwas, das nicht ganz stimmig war und sie neugierig machte. »Also schön«, sagte Lacy. »Aber sagen Sie ihr, es kann eine ganze Weile dauern.«
Sie hängte ein und eilte zurück in den Geburtsraum.
Vierzig Minuten später verabschiedete Lacy sich von den glücklichen Eltern eines sechs Pfund schweren Mädchens und eilte den Gang hinunter zum Personalraum, wo sie sich Wasser ins Gesicht spritzte und eine frische Montur anzog. Dann ging sie hinauf ins Wartezimmer. Alex Cormier erhob sich bei ihrem Anblick sofort, mit roten Augen und unsicher, als würde sie von Lacy magnetisch auf die Beine gezogen.
»Guten Tag, Alex«, sagte sie, »bitte kommen Sie doch mit.«
Sie führte Alex in einen leeren Untersuchungsraum und nahm ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz. Im selben Augenblick fiel Lacy auf, dass Alex ihren blassblauen Pullover verkehrt herum trug – das Etikett lugte vorn aus dem Kragen. So etwas konnte natürlich jedem passieren, wenn er es eilig hatte. Aber nicht Alex Cormier.
»Ich hatte eine Blutung«, sagte Alex mit ruhiger Stimme. »Nicht stark, aber, ähm, doch ein bisschen.«
Ebenso ruhig erwiderte Lacy: »Dann schauen wir mal nach.«
Sie führte Alex den Gang hinunter zum Ultraschall und bat sie, sich auf der Liege auszustrecken. Lacy schaltete das Gerät ein und bewegte den Schallkopf über Alex’ Bauch. In der sechzehnten Woche sah der Fötus winzig, knochig und bereits verblüffend vollkommen aus. »Sehen Sie das da?«, fragte Lacy und zeigte auf einen winzigen schwarz-weiß blinkenden Trommelschlag. »Das ist das Herz.«
Alex drehte das Gesicht weg, aber Lacy hatte die Träne auf ihrer Wange noch gesehen. »Dem Baby geht’s gut«, sagte sie.
»Ich dachte, ich hätte eine Fehlgeburt.«
»Bei einem normal entwickelten Baby wie Ihrem liegt das Risiko einer Fehlgeburt bei einem Prozent. Anders ausgedrückt– Ihre Chance, ein gesundes Baby zur Welt zu bringen, beträgt neunundneunzig Prozent.«
Alex nickte und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Gut.«
Lacy zögerte. »Es geht mich ja wirklich nichts an. Aber Alex, für eine Frau, die ihr Kind nicht behalten will, wirken Sie ungemein erleichtert darüber, dass das Kleine gesund ist.«
»Ich – ich kann nicht –«
»Denken Sie einfach mal drüber nach«, sagte Lacy.
Ich hab schon eine Familie, sagte Logan Rourke, als Alex ihm eröffnete, dass sie das Baby behalten würde. Ich brauche nicht noch eine.
Und noch am selben Abend vollzog Alex eine Art Exorzismus. Sie warf ihren Holzkohlegrill an und verbrannte jede Hausarbeit, die sie je für Logan Rourke geschrieben hatte. Sie hatte keine Fotos von ihnen beiden, keine Liebesbriefe von ihm – im Nachhinein wurde ihr klar, wie vorsichtig er gewesen war, wie leicht er sich aus ihrem Leben tilgen ließ. Und sie sich aus seinem.
Dieses Baby, beschloss sie, würde ihr allein gehören. Sie schaute den Flammen zu und dachte, wie viel Raum es in ihr einnehmen würde. Sie stellte sich vor, wie ihre Organe, selbst ihr Herz, beiseite rückten und ihre Haut sich dehnte, um Platz zu machen. Sie dachte nicht darüber nach, ob sie das Baby bekommen wollte, um zu beweisen, dass sie sich die Beziehung zu Logan Rourke nicht nur eingebildet hatte, oder um ihm heimzuzahlen, wie er sie behandelt hatte. Denn wie jede Prozessanwältin weiß, stellt man Zeugen keine Fragen, auf die man selbst die Antwort nicht kennt.
Noch Jahre später fragte Alex sich manchmal, ob sie deshalb eine gute Pflichtverteidigerin geworden war, weil sie wirklich das Zeug dazu hatte oder weil sie Logan hatte beweisen wollen, dass er sich getäuscht hatte. Wie auch immer, Alex urteilte nicht über ihre Mandanten, als Juristin tat sie alles für sie, egal, was sie persönlich über sie dachte. Sie hatte es sich schlicht zum Prinzip gemacht, Straftätern – und darunter waren wirklich üble, gewalttätige Burschen – zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne sie dabei an sich herankommen zu lassen.
Den Fehler hatte sie einmal gemacht – mit Logan.
Fünf Wochen nachdem sie sie untersucht hatte, war Lacy nicht mehr nur Alex’ Hebamme. Sie war ihre Vertraute, ihre beste Freundin, ihr Kummerkasten. Obwohl sie normalerweise keine Privatkontakte mit Patientinnen pflegte, hatte sie bei Alex die Regeln gebrochen. Sie begründete diese Ausnahme vor sich selbst damit, dass Alex jetzt, da sie das Baby behalten wollte, Unterstützung brauchte, weil sie sonst niemanden hatte, bei dem sie sich wohlfühlte. Alex und Lacy waren zwar grundverschieden – so verdrehte Alex die Augen, wenn Lacy einem stadtbekannten Penner einen Zehndollarschein zusteckte, den der doch nur in die nächste Kneipe tragen würde –, aber sie mochten sich gern.
Wenn sie Zeit hatten, trafen die beiden Frauen sich auf einen Kaffee. Meistens hatte Lacy dann den kleinen Peter bei sich. Alex beobachtete fasziniert, wie selbstverständlich Lacy mit ihrem Baby umging, es etwa mühelos aus einigen Schichten Kleidung schälte und sich auf den Schoß setzte. Oder sich, während sie plauderten, ein Tuch über die Schulter legte und Peter stillte.
»Ist das schwer?«, wollte Alex eines Tages wissen.
»Das Stillen?«
»Nicht nur das«, sagte Alex. »Ich meine, alles.«
»Naja, es ist eindeutig eine erlernte Fähigkeit.« Lacy hob den Kleinen an ihre Schulter. Er kickte ihr mit seinen Schühchen gegen die Brust, als wollte er jetzt schon Distanz zu ihr herstellen. »Aber verglichen mit deinem Job ist Mutterschaft vermutlich ein Klacks.«
Lacy putzte Peter behutsam die Nase.
»Darf ich dich mal was fragen?«, begann sie, und Alex nickte langsam. »Wieso wolltest du dein Baby zuerst abgeben?«
»Weil der Zeitpunkt nicht gut war«, sagte Alex.
Lacy lachte. »Ich weiß nicht, ob es überhaupt einen guten Zeitpunkt gibt, ein Baby zu bekommen. Das Leben wird so oder so auf den Kopf gestellt.«
Lacy richtete kurz das Hemdchen ihres Babys. »In gewisser Weise sind unsere Berufe gar nicht so verschieden.«
»Wahrscheinlich ist die Rückfallquote ungefähr gleich«, sagte Alex.
»Nein … ich meine, wir sehen die Menschen, mit denen wir zu tun haben, im unverfälschten Zustand. Deshalb bin ich so gern Hebamme. Da sieht man, wie stark jemand in einer Extremsituation ist.« Sie blickte Alex an. »Wenn man sich auf das Wesentliche konzentriert, sind Menschen erstaunlich ähnlich, findest du nicht?«
Also gut, dachte Alex. So ist das also, wenn man stirbt.
Eine weitere Wehe durchbohrte sie, Schüsse auf Metall.
Sie musste an den Geburtsvorbereitungskurs denken, zu dem Lacy sie überredet hatte, in dem sie die einzige Teilnehmerin ohne Partner war. Sie hatten Fotos zu sehen bekommen von Frauen in den Wehen, Frauen mit verzerrten Gesichtern und zusammengebissenen Zähnen, Frauen, die nicht mehr wie sie selbst aussahen. Alex hatte bloß spöttisch die Nase gerümpft. Die zeigen die schlimmsten Fälle, hatte sie sich eingeredet. Jeder Mensch hat eine andere Schmerzverträglichkeit.
Die nächste Wehe wand sich wie eine Kobra an ihrer Wirbelsäule hinab, wickelte sich um ihren Bauch und schlug ihre Fangzähne in ihre Eingeweide. Alex fiel in der Küche hart auf die Knie.
In dem Kurs hatte sie gelernt, dass die Wehenphase zwölf Stunden oder länger dauern könnte.
Wenn sie bis dahin nicht längst tot war.
Als Lacy in der Hebammenausbildung war, hatte sie stets ein kleines Lineal zum Messen dabei. Jetzt, nach Jahren in dem Beruf, konnte sie mit einem einzigen Blick den Durchmesser einer Tasse oder einer Orange schätzen. Sie zog die Finger zwischen Alex’ Beinen hervor und streifte sich den Latexhandschuh ab. »Zwei Zentimeter«, sagte sie, und Alex brach in Tränen aus.
»Nur zwei? Das schaff ich nicht«, schnaufte Alex und krümmte den Rücken, um die Schmerzen zu lindern. Sie hatte versucht ihre Qual hinter der kompetenten Maske zu verbergen, die sie normalerweise trug, merkte aber, dass sie ihr irgendwo abhandengekommen war.
»Ich weiß, du bist enttäuscht«, sage Lacy. »Aber sieh’s mal positiv – du machst deine Sache gut. Wenn eine Frau ihre Sache bei zwei Zentimetern gut macht, dann auch bei acht. Also, lassen wir’s langsam angehen, schön eine Wehe nach der anderen.«
In einer Wehenpause half Lacy Alex aus dem Bett und führte sie zum Whirlpool. Sie dimmte das Licht, stellte die Entspannungsmusik an und zog Alex den Bademantel aus. Alex hatte inzwischen jede Schamhaftigkeit abgelegt, wäre zu allem bereit gewesen, wenn dadurch nur die Wehen aufhörten.
»Rein mit dir«, sagte Lacy, und Alex ließ sich auf sie gestützt in den Whirlpool hinab.
»Lacy«, keuchte Alex, »du musst mir was versprechen …«
»Was denn?«
»Dass du es ihr nicht erzählst. Der Kleinen.«
Lacy ergriff Alex’ Hand. »Dass ich ihr was nicht erzähle?«
Alex schloss die Augen und presste die Wange an den Rand der Wanne. »Dass ich sie erst nicht wollte.«
Ehe sie antworten konnte, sah Lacy, wie Alex sich erneut verkrampfte. »Ganz ruhig atmen«, sagte sie. »Ganz ruhig.«
Wer große Schmerzen hat, zieht sich in sich selbst zurück. Lacy hatte das unzählige Male erlebt. Endorphine – das natürliche Morphium des Körpers – werden freigesetzt und tragen dich weit weg, dorthin, wo der Schmerz dich nicht finden kann.
Seit drei Stunden nun hatte Alex die Fassung wieder gewonnen, dank des Anästhesisten, der ihr eine Epiduralanästhesie gegeben hatte. Sie hatte eine Weile geschlafen; sie hatte mit Lacy Karten gespielt. Doch jetzt hatte sich das Baby gesenkt und sie begann zu pressen. »Wieso hab ich wieder Schmerzen?«, fragte sie mit zunehmend hysterischer Stimme.
»So ist das bei der Epiduralanästhesie. Wenn wir die Dosis erhöhen, kannst du nicht pressen.«
»Ich kann kein Baby kriegen«, platzte Alex heraus. »Ich bin noch nicht so weit.«
»Na«, sagte Lacy. »Darüber sollten wir vielleicht noch mal reden.«
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier mache. Ich bin keine Mutter, ich bin Anwältin. Ich weiß ja nicht mal, wie man ein Baby wickelt.«
»Die kleinen aufgedruckten Figürchen gehören nach vorne«, sagte Lacy, nahm Alex’ Hand und führte sie zwischen ihre Beine, wo der Kopf des Babys bereits hervorschaute.
Alex riss ihre Hand weg. »Ist das …?«
»Ja.«
»Es kommt?«
»Ob du so weit bist oder nicht.«
Wieder setzte eine Wehe ein. »Oh, Alex, ich kann die Augenbrauen sehen …« Lacy zog das Baby aus dem Geburtskanal, hielt den kleinen Kopf gebeugt. »Ich weiß, das tut höllisch weh … das ist das Kinn … wunderschön …« Lacy wischte dem Baby das Gesicht ab, säuberte den Mund. Sie schwang die Nabelschnur über den Hals des Babys und blickte ihre Freundin an. »Alex«, sagte sie. »Den Rest machen wir zusammen.«
Lacy legte Alex’ zitternde Hände um den Kopf der Kleinen. »Halt sie so, ich versuch die Schulter zu fassen …«
Als das Baby schließlich in Alex’ Hände glitt, ließ Lacy los. Schluchzend, erleichtert, hob Alex den kleinen, sich windenden Körper an ihre Brust. Wie immer war Lacy überwältigt davon, wie präsent ein Neugeborenes ist. Sie rieb den Rücken des Kindes und sah, wie die Kleine die verschwommenen blauen Augen das erste Mal auf ihre Mutter richtete. »Alex«, sagte Lacy. »Sie gehört dir, nur dir.«