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Versprechen, Verrat und Versuchung Will Grayson war schon immer rücksichtslos, wild und hat sich nie an eine einzige Regel gehalten, außer genau das zu tun, was er wollte. Und genau deshalb ist er jetzt in Blackchurch. Ein abgelegenes Herrenhaus an einem geheimen Ort, an den die Reichen und Mächtigen ihre verhaltensauffälligen Söhne schicken, um sich vor neugierigen Blicken abzuschotten. Sie sind unter sich – bis plötzlich Emory dort auftaucht. Die einzige Person, die Will jemals geliebt hat. Und genau die, die damals für den Anfang vom Ende verantwortlich war … Band 4 der »Devil's Night«-Reihe
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Franzi Berg und Dorothee Witzemann
© Penelope Douglas 2020
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Nightfall«, Penelope Douglas LLC, Las Vegas, 2020
© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Svenja Kopfmann
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Covergestaltung: zero-media.net, München nach einem Entwurf von Colleen Reinhart
Covermotiv: Michael Duva / Getty Images
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Contentwarnung
PLAYLIST
KAPITEL 1
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 2
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 3
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 4
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 5
WILL
Gegenwart
KAPITEL 6
WILL
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 7
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 8
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 9
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 10
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 11
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 12
WILL
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 13
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 14
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 15
WILL
Gegenwart
KAPITEL 16
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 17
WILL
Gegenwart
KAPITEL 18
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 19
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 20
WILL
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 21
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 22
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 23
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 24
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 25
WILL
Gegenwart
KAPITEL 26
WILL
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 27
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 28
EMORY
Neun Jahre zuvor
KAPITEL 29
WILL
Gegenwart
KAPITEL 30
WILL
Sieben Jahre zuvor
KAPITEL 31
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 32
EMORY
Sieben Jahre zuvorWenige Monate nach dem Angriff auf Martin Scott
KAPITEL 33
WILL
Gegenwart
KAPITEL 34
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 35
WILL
Gegenwart
KAPITEL 36
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 37
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 38
WILL
Gegenwart
KAPITEL 39
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 40
WILL
Gegenwart
KAPITEL 41
EMORY
Gegenwart
KAPITEL 42
EMORY
Gegenwart
NIGHTFALL-BONUSSZENE
KAI
WILL
DAMON
MICHAEL
DANKSAGUNG
Contentwarnung
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Z. King.
Ihr braucht sie nicht zu bedauern. Sie gehörte zu denen, die gern erwachsen werden. Schließlich wurde sie aus freiem Willen einen Tag schneller erwachsen als andere Mädchen.
– J. M. Barrie, Peter Pan
LIEBE LESERINNEN UND LESER,
Obwohl der Roman Nightfall ein alleinstehendes Buch ist, baut die Handlung auf Ereignissen auf, die in Corrupt, Hideaway und Killswitch stattgefunden haben. Wir empfehlen, erst die drei anderen Bände der Reihe zu lesen, bevor ihr mit diesem Roman beginnt.
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Um euch das bestmögliche Leseerlebnis zu ermöglichen, findet ihr deshalb am Buchende[1] eine Contentwarnung.
Euer everlove-Team
»99 Problems« von Jay-Z
»#1 Crush« von Garbage
»A Little Wicked« von Valerie Broussard
»Apologize« von Timbaland und One Republic
»Army of Me« von Björk
»Believer« von Imagine Dragons
»Blue Monday« von Flunk
»Devil Inside« von INXS
»Down with the Sickness« von Disturbed
»Everybody Wants to Rule the World« von Lorde
»Fire Up the Night« von New Medicine
»Hash Pipe« von Weezer
»Highly Suspicious« von My Morning Jacket
»History of Violence« von Theory of a Deadman
»If You Wanna Be Happy« von Jimmy Soul
»Intergalactic« von Beastie Boys
»In Your Room« von Depeche Mode
»Light Up the Sky« von Thousand Foot Krutch
»Man or a Monster (feat. Zayde Wølf)« von Sam Tinnesz
»Mr. Doctor Man« von Palaye Royale
»Mr. Sandman« von SYML
»Old Ticket Booth« von Derek Fiechter and Brandon Fiechter
»Party Up« von DMX
»Pumped Up Kicks« von 3TEETH
»Rx (Medicate)« von Theory of a Deadman
»Satisfied« von Aranda
»Sh-Boom« von The Crew Cuts
»Teenage Witch« von Suzi Wu
»Touch Myself« von Genitorturers
»White Flag« von Bishop Briggs
»Yellow Flicker Beat« von Lorde
»You’re All I’ve Got Tonight« von The Cars
Ganz leise hörte ich es.
Wasser. Als befände ich mich hinter einem Wasserfall, tief in einer Höhle.
Was zur Hölle ist das?
Ich blinzelte. Ich glaube, so tief hatte ich noch nie geschlafen. Gott, war ich müde.
Mein Kopf ruhte auf dem weichsten Kissen, das man sich vorstellen konnte, und als ich den Arm bewegte, streifte ich mit der Hand eine kühle, herrlich luxuriöse weiße Bettdecke.
Ich betastete mein Gesicht, meine Brille fehlte. Verwirrung breitete sich in mir aus, als ich sah, dass ich gemütlich in einem riesigen Bett eingekuschelt lag, in dem ich ungefähr so viel Platz einnahm wie ein einzelnes M&M in seiner Packung.
Das war nicht mein Bett.
Ich schaute mich in dem nobel eingerichteten Schlafzimmer um – Weiß, Gold, Kristall und überall Spiegel, prunkvoll in seiner Opulenz, wie ich es noch nie gesehen hatte –, und mein Atem wurde hektischer, ich bekam Angst.
Das hier war nicht mein Zimmer. Träumte ich?
Ich stemmte mich hoch, der Kopf tat mir weh, und ich war verspannt, als hätte ich eine ganze verdammte Woche lang geschlafen.
Als ich den Blick senkte, entdeckte ich meine Brille, die ordentlich zusammengeklappt auf dem Nachttisch lag. Ich setzte sie auf und machte zunächst einmal eine Inventur meines Körpers: Ich lag auf dem Bett, immer noch vollständig so bekleidet, wie ich mich morgens angezogen hatte – hautenge schwarze Hose und ein weißes Oberteil.
Vorausgesetzt natürlich, jetzt war noch heute.
Meine Schuhe fehlten, und ich spähte instinktiv über die Bettkante und sah meine Sneakers ordentlich nebeneinander auf einem schicken weißen Läufer mit goldener Borte stehen.
Mir brach der kalte Schweiß aus, als ich mich in dem fremden Schlafzimmer umschaute.
Was zur Hölle war hier los? Wo war ich?
Ich ließ mich vom Bett gleiten und stand auf wackligen Beinen auf.
Ich war in der Firma gewesen. Hatte an den Bauplänen fürs DeWitt-Museum gearbeitet. Byron und Elise hatten sich etwas zum Mittagessen bestellt, ich war lieber rausgegangen und – ich kniff mir in die Nasenwurzel, mein Herz pochte – und dann …
Uff, keine Ahnung. Was war passiert?
Vor mir entdeckte ich eine Tür und machte mir nicht mal die Mühe, mich im restlichen Raum umzuschauen oder nachzusehen, wohin die beiden anderen Türen führten. Ich schnappte mir meine Schuhe, wankte auf das zu, was ich für den Ausgang hielt, und kam in einen Flur, dessen Marmorboden sich unter meinen nackten Füßen schön kühl anfühlte.
Doch ich ging im Kopf immer noch die Liste durch.
Ich hatte nicht getrunken.
Ich hatte niemand Außergewöhnlichen gesehen.
Ich hatte keine seltsamen Anrufe oder Päckchen bekommen. Ich hatte nicht …
Ich versuchte, ein paarmal zu schlucken, und produzierte irgendwann endlich genug Speichel. Gott, hatte ich Durst. Und – ein stechender Schmerz fuhr mir in den Magen – Hunger auch. Wie lange war ich weg gewesen?
»Hallo?«, rief ich leise, bereute es aber sofort.
Falls ich kein Aneurysma oder selektive Amnesie hatte, war ich nicht freiwillig hier.
Aber falls ich entführt oder eingesperrt worden war, wäre dann nicht meine Tür verschlossen gewesen?
Galle brannte mir im Hals, in meinem Kopf spielten sich in verschiedenen Szenarien sämtliche Horrorfilme ab, die ich je gesehen hatte.
Bitte keine Kannibalen. Bitte keine Kannibalen.
»Hi«, sagte eine leise, zögernde Stimme.
Ich folgte dem Laut, spähte den Flur entlang, über das Geländer zur anderen Seite des Obergeschosses, wo sich ein weiterer Flur mit Zimmern befand. In einem dunklen Korridor versteckte sich eine Gestalt, die jetzt langsam herauskam.
»Wer ist da?« Ich bewegte mich ein winziges Stück nach vorn, blinzelte gegen die Schläfrigkeit an, die noch immer schwer auf meinen Lidern lastete.
Es war ein Mann, glaubte ich. Anzughemd, kurze Haare.
»Taylor«, sagte er schließlich. »Taylor Dinescu.«
Dinescu? Wie die Dinescu Petroleum Corporation? Das war sicher nicht dieselbe Familie.
Ich leckte mir über die Lippen, schluckte noch mal. Ich brauchte wirklich dringend Wasser.
»Warum bin ich nicht in meinem Zimmer eingesperrt?«, fragte er mich und trat aus der Dunkelheit in das schwache Mondlicht, das durch die Fenster fiel.
Er neigte den Kopf zur Seite, seine Haare waren wirr, und ein Zipfel seines Hemds hing heraus. »Wir dürfen nicht in die Nähe der Frauen«, sagte er und klang dabei genauso verwirrt wie ich. »Gehörst du zum Doktor? Ist er hier?«
Wovon zur Hölle sprach er da? Wir dürfen nicht in die Nähe der Frauen. Hatte ich das richtig gehört? Er klang benebelt, als wäre er auf Drogen oder als wäre er die letzten fünfzehn Jahre in einer Zelle eingesperrt gewesen.
»Wo bin ich?«, wollte ich wissen.
Er machte einen Schritt auf mich zu und ich einen rückwärts, versuchte auf einem Bein hüpfend, mir die Schuhe anzuziehen.
Er schloss die Augen und atmete tief ein, während er sich stückweise näher heranschob. »O Gott«, keuchte er. »Das habe ich schon lange nicht mehr gerochen.«
Was gerochen?
Er öffnete die Augen. Sie waren strahlend blau, was unter seinen rötlich braunen Haaren noch besser zur Geltung kam.
»Wer bist du? Wo bin ich?«, fauchte ich ihn an.
Ich kannte diesen Kerl nicht.
Er schlängelte sich näher, beinahe animalisch in seinen Bewegungen, mit einem Raubtierblick, von dem mir die Härchen auf den Unterarmen zu Berge standen.
Und plötzlich sah er sehr wachsam aus. Fuck.
Ich schaute mich nach irgendeiner Waffe um.
»Die Orte wechseln«, sagte er, und ich machte für jeden Schritt, den er nach vorn trat, einen zurück. »Aber der Name bleibt gleich: Blackchurch.«
»Was ist das?«, fragte ich. »Wo sind wir? Bin ich noch in San Francisco?«
Er zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht beantworten. Wir könnten in Sibirien sein oder zehn Meilen von Disneyland entfernt«, antwortete er. »Wir sind die Letzten, die das erfahren würden. Wir wissen nur, dass es abgelegen ist.«
»Wir?«
Wer war noch hier? Wo steckten sie?
Und wo zur Hölle war ich überhaupt? Was war Blackchurch? Irgendwie kam mir der Name bekannt vor, aber ich konnte gerade nicht klar denken.
Wie konnte es sein, dass er nicht wusste, wo er war? In welcher Stadt, in welchem Bundesstaat? Und in welchem Land überhaupt?
Mein Gott. Das Land. Ich war doch in Amerika, oder? Es konnte nicht anders sein.
Mir wurde schlecht.
Aber Wasser. Als ich aufgewacht war, hatte ich Wasser gehört. Ich spitzte die Ohren und hörte das dumpfe, gleichmäßige Dröhnen um uns herum. Befanden wir uns in der Nähe eines Wasserfalls?
»Und es ist niemand mit dir hier?«, fragte er, als könne er nicht glauben, dass ich wirklich hier stand. »Du dürftest nicht so dicht bei uns sein. Sie lassen die Frauen nie in unsere Nähe.«
»Was für Frauen?«
»Krankenschwestern, Putzfrauen, Belegschaft …«, sagte er. »Sie kommen einmal im Monat, um die Vorräte aufzufüllen, aber wir müssen in unseren Zimmern bleiben, bis sie wieder weg sind. Haben sie dich hier vergessen?«
Ich fletschte die Zähne, mein Geduldsfaden war kurz davor zu reißen. Von der Fragerei hatte ich definitiv genug.
Ich hatte keine Ahnung, wovon zum Teufel er da redete, und mein Herz hämmerte so sehr, dass es wehtat.
Sie lassen die Frauen nie in unsere Nähe.
Mein Gott, warum nicht? Ich bewegte mich rückwärts auf die Treppe zu, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und begann hinunterzugehen, während er näher kam.
»Ich will das Telefon benutzen«, sagte ich. »Wo ist es?«
Er schüttelte nur den Kopf, und in mir breitete sich ein ganz ungutes Gefühl aus.
»Auch keine Computer«, teilte er mir mit.
Ich verfehlte eine Stufe und musste mich an der Wand festhalten. Als ich wieder hochschaute, war er da, sah grinsend auf mich herab.
»Nein, nein …« Ich rutschte noch ein paar Stufen tiefer.
»Keine Sorge«, beruhigte er mich. »Ich wollte nur mal kurz schnüffeln. Den ersten Bissen wird er haben wollen.«
Er?
Am Fuß der Treppe sah ich einen Schirmständer. Schirme waren hübsch spitz. Das dürfte reichen.
»Wir bekommen hier keine Frauen rein.« Er kam näher und näher. »Zumindest keine, die wir anfassen dürfen.«
Ich wich noch weiter zurück. Wenn ich versuchte, schnell an eine Waffe ranzukommen, würde er mich dann packen können? Würde er mich packen?
»Keine Frauen, keine Kommunikation mit der Außenwelt«, sprach er weiter. »Auch keine Drogen, Alkohol und Zigaretten.«
»Was ist Blackchurch?«, fragte ich.
»Ein Gefängnis.«
Ich sah mich um, sah den teuren Marmorboden, das Mobiliar und die Teppiche, die kunstvollen Goldornamente und Statuen.
»Nettes Gefängnis«, murmelte ich.
Was auch immer es jetzt war, es war eindeutig einmal jemandes Privathaus gewesen. Eine Villa oder … ein Schloss oder so.
»Es ist autark.« Er seufzte. »Was glaubst du, wohin CEOs und Senatoren ihre Problemkinder wohl schicken, wenn sie sie loswerden müssen?«
»Senatoren …« Ich verstummte, als irgendwo eine vage Erinnerung erwachte.
»Es gibt wichtige Leute, die nicht zulassen können, dass ihre Söhne – ihre Erben – in die Schlagzeilen geraten, weil sie ins Gefängnis müssen oder auf Entzug oder weil sie bei ihren schmutzigen Taten erwischt werden«, erklärte er. »Wenn wir zu einer Belastung werden, werden wir hierhergeschickt, um wieder runterzukommen. Manchmal monatelang.« Er seufzte wieder. »Und manche von uns jahrelang.«
Söhne. Erben.
Dann traf es mich wie ein Blitz.
Blackchurch.
Nein.
Nein, er log ganz bestimmt. Ich hatte schon mal von diesem Ort gehört. Aber es war nur eine urbane Legende, mit der reiche Männer ihren Kids drohten, um sie auf Spur zu halten. Eine abgelegene Villa irgendwo, wohin man Söhne zur Strafe schickte, wo sie aber freie Hand hatten und einander völlig ausgeliefert waren. Es war wie bei Herr der Fliegen, nur mit Smokings.
Aber das gab es nicht wirklich. Nicht im echten Leben. Oder?
»Es gibt noch mehr?«, fragte ich. »Hier sind noch mehr von euch?«
Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und mir drehte sich der Magen um.
»Oh, einige«, gurrte er. »Grayson und die Jagdgesellschaft kommen heute Abend wieder.«
Ich erstarrte, mir wurde schwindlig.
Nein, nein, nein …
Senatoren, hatte er gesagt.
Grayson.
Shit.
»Grayson?«, murmelte ich eher für mich selbst. »Will Grayson?«
Er war hier?
Doch Taylor Dinescu, Sohn des Besitzers der Dinescu Petroleum Corporation, wie ich jetzt wusste, ignorierte meine Frage. »Wir haben alles, was wir zum Überleben brauchen, aber wenn wir Fleisch wollen, müssen wir es jagen«, erklärte er.
Das taten Will – und die anderen – da gerade draußen. Fleisch besorgen.
Und ich wusste nicht, ob es mein Gesichtsausdruck war oder etwas anderes, aber Taylor fing zu lachen an. Ein gemeines Gackern, bei dem ich unwillkürlich die Fäuste ballte.
»Warum lachst du?«, knurrte ich.
»Weil niemand weiß, dass du hier bist, oder?«, höhnte er und klang dabei hocherfreut. »Und falls es jemand weiß, haben sie dich absichtlich hier zurückgelassen. Die nächste Lieferung kommt erst wieder in einem Monat.«
Ganz kurz schloss ich die Augen, es war klar, was er damit sagen wollte.
»Ein ganzer Monat«, sinnierte er.
Sein Blick wanderte an meinem Körper hinunter, und mir ging die volle Bedeutung meiner Lage auf.
Ich war hier mitten im Nirgendwo mit wer weiß wie vielen Männern, die schon wer weiß wie lange ohne irgendwas, was Spaß machte, und ohne Kontakt mit der Außenwelt hier lebten; und einer von ihnen hatte große Lust, mich zu quälen, falls er mich je wieder in die Finger bekam.
Und wenn man Taylor glauben konnte, bestand für mich die nächsten vier Wochen wenig Hoffnung auf Hilfe.
Jemand hatte sich große Mühe gegeben, mich hierherzubringen und dafür zu sorgen, dass meine Ankunft unentdeckt blieb. Gab es auf dem Anwesen wirklich keine Gefängniswärter? Security? Überwachung? Irgendwen, der die Gefangenen beaufsichtigte?
Ich knirschte mit den Zähnen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, aber ich musste es schnell tun.
Doch dann war von draußen plötzlich ein Bellen und Heulen zu hören, und ich hob den Blick abrupt wieder zu Taylor.
»Was ist das?«, fragte ich.
Wölfe? Die Laute kamen näher.
Er warf einen raschen Blick auf die Haustür hinter mir und sah dann wieder mich an. »Die Jagdgesellschaft«, antwortete er. »Anscheinend sind sie früher zurück.«
Die Jagdgesellschaft.
Will.
Und wer weiß wie viele andere Gefangene, die vielleicht genauso gruslig und bedrohlich waren wie dieser Typ …
Das Heulen war jetzt direkt vor dem Haus zu hören, und ich sah zu Taylor auf, konnte meine Atmung nicht beruhigen. Was würde passieren, wenn sie hereinkamen und mich sahen?
Aber er lächelte nur auf mich herab. »Bitte versuch, wegzulaufen«, sagte er. »Wir brauchen unbedingt mal wieder ein bisschen Spaß.«
Ich verlor jede Hoffnung. Das konnte nicht sein. Das konnte nicht sein.
Rückwärts bewegte ich mich die Treppe hinunter, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und er folgte mir lauernd. Durch meine Adern rauschte flüssige Lava.
»Ich möchte mit Will reden«, verlangte ich.
Er wollte mir vielleicht wehtun, aber er würde es nicht tun. Oder?
Wenn ich einfach mit ihm reden könnte …
Doch Taylor lachte, seine blauen Augen funkelten vor Vergnügen. »Er kann dich nicht beschützen, Schätzchen.« Und dann knarrte oben der Boden, und Taylor legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke hoch. »Aydin ist wach.«
Aydin. Wer?
Doch ich hatte keine Lust, weiter hier herumzuhängen und es herauszufinden. Ich wusste nicht, ob ich bei diesen Typen wirklich in Gefahr war, aber ich wusste, wenn ich weglief, war ich auf jeden Fall in Sicherheit.
Mit einem Satz sprang ich die restlichen Stufen hinunter und rannte in den hinteren Teil des Hauses. Gerade als ich in einem dunklen Flur verschwand, brüllte Taylor auf, und schon jetzt stand mir der kalte Schweiß auf der Stirn.
Das konnte nicht sein. Es musste eine Aufsicht geben. Ich weigerte mich zu glauben, dass Mommy und Daddy ihre Erben und ihr Vermögen ohne die Sicherheit hierherschickten, dass ihnen nichts passieren würde. Was, wenn jemand verletzt wurde? Oder schwer krank?
Das war ein … ein Witz. Ein sehr unpassender und teurer Streich. Es war fast Devil’s Night, und er ließ mich am Ende doch noch mitmachen.
Blackchurch war nicht echt. In der Highschool hatte Will nicht mal geglaubt, dass es diesen Ort gab.
Ich kam an Zimmern vorbei, manche mit einer Tür, andere mit zweien und wieder andere ganz ohne, bis sich der Flur in weitere Flure aufteilte, und ich wusste ums Verrecken nicht, wohin ich rannte. Ich rannte einfach.
Die Gummisohlen meiner Sneakers quietschten auf dem Marmorboden, und der muffige Geruch des alten Gebäudes kitzelte mich in der Nase.
Hier war alles kühl gehalten. Die Wände wechselten von cremefarben zu dunkelbraun oder schwarz, in manchen Bereichen faulten verblasste Tapeten an den Wänden, und die Decken waren kilometerhoch, schwere Vorhänge hingen vor Fenstern, die bestimmt fast zehnmal so hoch waren wie ich.
Doch die Lampen brannten und warfen einen düsteren Schein in jedes Büro, jedes Wohn- und Spielzimmer, an dem ich vorbeikam.
Ich bremste abrupt, bog den zweiten Gang rechts ab und rannte den Flur entlang, dankbar für die Stille, die mich aber auch gleichzeitig beunruhigte. Eben waren sie noch draußen gewesen. Jetzt mussten sie im Haus sein. Warum hörte ich nichts?
Scheiße.
Mit brennenden Muskeln und nach Atem ringend, stolperte ich in den letzten Raum am Ende des Flurs, rannte zum Fenster und schob es hoch. Kalte, klare Luft strömte herein und bauschte die Vorhänge. Ich bekam am ganzen Körper Gänsehaut, als ich den ausgedehnten grünen, in der Nacht beinahe schwarz aussehenden Wald draußen erkannte.
Hemlocktannen. Ich schaute hinaus, suchte das Terrain ab. Es gab auch Rotfichten und Weymouthskiefern. Der feuchte Geruch nach Moos stieg mir in die Nase, und ich zögerte. Ich war nicht mehr in Kalifornien. Diese Bäume wuchsen viel weiter im Norden.
Und wir waren nicht in Thunder Bay. Wir waren nicht mal in der Nähe von Thunder Bay.
Ich ließ das Fenster offen, als ich zurückwich und zweimal blinzelte. Die kalte Luft blies durch meine kurzärmlige weiße Bluse, und ich hatte keine Ahnung, wo ich war, wie weit abseits der Zivilisation oder in was für ein Wetter ich schutzlos hinausrennen würde.
Im Eiltempo verließ ich den Raum wieder, schlich leise und wachsam dicht an der Wand entlang.
Denk nach, denk nach, denk nach.
Wir mussten uns in der Nähe einer Stadt befinden. An diesen Wänden hingen Gemälde, es gab unbezahlbare Antiquitäten, gewaltige Kronleuchter. Es hatte sicher Unsummen gekostet, dieses Haus einzurichten und zu dekorieren.
Es war nicht immer ein Gefängnis gewesen.
Niemand würde so viel Geld ausgeben, um es dann von einem Haufen dummer Jungen demolieren zu lassen. Hier hatte jemand gewohnt, und dieser jemand hätte es bestimmt nicht meilenweit außerhalb der Stadt gebaut. So ein Haus besaß man zum Spaß. Es gab sogar einen verdammten Ballsaal, wie ich genau wusste, da ich vorhin daran vorbeigerannt war.
Ich rang die Hände. Wer mich hier abgeladen hatte, war mir völlig egal. Im Moment musste ich es nur irgendwie in Sicherheit schaffen.
Und dann hörte ich es.
Ein Rufen – ein Heulen – über mir.
Ich erstarrte, das Blut gefror mir in den Adern. Mit erhobenem Kopf folgte ich dem Geräusch, das sich von links nach rechts bewegte, und mein Herz setzte einen Schlag aus, als über mir die Bodendielen knarrten.
An mehreren Stellen gleichzeitig.
Sie waren da oben, und es waren mehrere. Taylor hatte mich in diese Richtung laufen sehen. Was taten sie dann da oben?
Da fiel mir wieder ein, was noch oben war. Aydin.
Taylor hatte von ihm gesprochen, als wäre er eine Bedrohung. Gingen sie zuerst zu ihm?
Das Echo einer Stimme hallte durch den Flur, ich spitzte die Ohren, hinter mir lockte das Fenster.
Ein zweiter Schrei erklang weiter unten, vielleicht aus dem Foyer, und dann noch ein Heulen irgendwo um mich herum.
Benommen drehte ich mich im Kreis. Was zur Hölle war hier los? Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und ich zwang mich, zu schlucken, als sich mir der Magen umdrehte.
Sie verteilten sich.
Wölfe. Zögerlich blieb ich stehen, erinnerte mich an das Heulen draußen. Es klang nach Wölfen. Ein Rudel teilt sich auf, um seine Beute einzukreisen und nach Schwachstellen zu suchen. Sie flankieren es von beiden Seiten und von hinten.
In meinen Augenwinkeln sammelten sich Tränen, und ich hob das Kinn und blinzelte sie weg. Will.
Wie lange war er schon hier? Wo waren seine Freunde? Hatte er mich aus Rache herbringen lassen? Scheiße, was sollte das alles?
Ich hatte ihm vor all den Jahren gesagt, er solle mich nicht bedrängen. Ich hatte ihn gewarnt. Es war nicht meine Schuld, dass er hier war. Das hatte er sich selbst zuzuschreiben.
Ich hechtete in ein angrenzendes Zimmer, in dem ein Billardtisch stand, und schnappte mir einen Cricketschläger von der Wand. Dann schlich ich wieder in den Flur und hielt mit dem Rücken dicht an der Wand Ausschau nach irgendeinem Zeichen von ihnen. Auf meinen Armen breitete sich Gänsehaut aus, und trotz der Kälte hatte ich einen dünnen Schweißfilm im Nacken. Angestrengt horchend machte ich einen leisen Schritt nach dem anderen.
Über mir prallte etwas dumpf auf den Boden, und ich atmete tief ein und warf noch einen raschen Blick zur Decke, während ich mich hinter die Treppe schob.
Was verdammt noch mal war da los?
Ein bläulicher Schimmer, wie Mondlicht, das durch ein Fenster strömt, erhellte den Marmorboden des Flurs, und ich folgte ihm in den hinteren Teil des Hauses.
Als ich tief durchatmete, stieg mir ein stechender Geruch in die Nase. Steril, wie Bleiche. Taylor hatte gesagt, die Reinigungskräfte und Bediensteten seien gerade gegangen.
Meine Knie zitterten, und das Herz hämmerte mir in der Brust. Ich fühlte mich, als wäre ich schon eingemauert und wüsste es nur nicht.
»Hier!«, rief jemand.
Ich schnappte nach Luft, drückte mich eng an die Wand und schob mich um eine Ecke.
Als ich wieder hervorspähte, sah ich Schatten über die Wände huschen. Sie fanden gerade mein offenes Fenster.
»Sie rennt weg!«, rief einer von ihnen.
Ich atmete aus, ballte die Fäuste. Yes! Sie dachten, ich sei aus dem Fenster geklettert.
Lautes Getrappel war zu hören, und ich hoffte inständig, dass sie zurück ins Foyer liefen. Instinktiv hielt ich mir den Mund zu, als die Schritte in der Ferne verklangen.
Gott sei Dank.
Ich wartete keinen Moment länger, rannte und rannte, fand die Küche in der Südwestecke des Hauses. Ohne das Licht einzuschalten, stürzte ich zum Kühlschrank und riss ihn auf. Regale mit Obst und Gemüse wackelten von der heftigen Bewegung.
Einen Moment lang sah ich mich angesichts der Größe staunend um. Es war ein begehbarer Kühlschrank. Ich dachte, Taylor hätte gesagt, sie müssten sich ihr Fleisch erjagen. Aber hier drin war ein Arsch voll Essen.
Ich betrat den Raum, schauderte in der Kälte, während ich die Regale voller Essen ansah, die alle frisch aufgefüllt aussahen. Verschiedene Käsesorten, Brot, Aufschnitt, Butter, Milch, Karotten, Kürbisse, Gurken, Tomaten, Trauben, Bananen, Mangos, grüner Salat, Blaubeeren, Joghurt, Hummus, Steaks, Schinken, ganze Hühnchen, Burger …
Und das schloss noch nicht mal die Vorratskammer ein, die sie vermutlich auch noch hatten.
Warum sollten sie jagen müssen?
Ohne Zeit zu verlieren schnappte ich mir den Netzbeutel, der innen hing, kippte die Lebensmittel darin aus und verstaute eilig zwei Flaschen Wasser, einen Apfel und ein bisschen Käse darin. Vielleicht hätte ich mehr mitnehmen sollen, aber das Ganze durfte auch nicht zu schwer werden.
Dann tauchte ich wieder aus dem Kühlraum auf, zog den Beutel zu und rannte zum Fenster, näherte mich auf Zehenspitzen und sah Taschenlampenlicht über die ausgedehnte Rasenfläche tanzen.
Fast hätte ich gelächelt. Bis sie zurückkommen würden, hatte ich noch Zeit, einen Mantel oder Pulli zu finden, und dann würde ich schauen, dass ich von hier verschwand. Ich drehte mich auf dem Absatz um, machte einen Schritt und … hielt inne.
Dort stand sie, eine dunkle Gestalt, die am Türrahmen zur Küche lehnte und mich ansah.
Ich erstarrte, das Herz klopfte mir bis zum Hals.
Wenigstens dachte ich, dass er mich ansah. Sein Gesicht lag im Schatten.
Mir stockte der Atem, meine Lunge tat weh.
Und dann fiel es mir wieder ein … Wölfe. Sie umkreisten dich.
Alle, bis auf einen. Der kam von vorn.
»Komm her«, sagte er mit leiser Stimme.
Meine Hände zitterten, ich kannte diese Stimme. Und genau diese Worte hatte er in dieser einen Nacht zu mir gesagt.
»Will …«
Er betrat die Küche, das Mondlicht tauchte sein Gesicht in schummriges Licht, und in mir zog sich etwas zusammen. Er war schon in der Highschool groß gewesen, aber jetzt …
Ich schluckte, versuchte, meinen trockenen Mund zu befeuchten.
Regentropfen benetzten schimmernd seine verwuschelten, aber gut geschnittenen schokobraunen Haare. Ich hatte ihn noch nie mit Dreitagebart gesehen, aber es machte ihn optisch auf eine Art härter – und gefährlicher –, die ihm verblüffend gut stand. Seine Brust war breiter, seine Arme in seinem schwarzen Hoodie muskulöser, und er hob die Hände und wischte sich mit einem Lappen Blut von den Fingern. Tattoos schmückten seine Handrücken und verschwanden im Ärmel seines Sweatshirts.
Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er noch nicht tätowiert gewesen.
In der Nacht, in der er verhaftet worden war.
Woher kam das Blut? Von der Jagd?
Ich wich zurück, als er langsam auf mich zukam, aber er sah mich dabei nicht an, nur seine Hände, während er sie säuberte.
Der Cricketschläger. Wo war er?
Ich blinzelte lange und angestrengt. Shit. Ich hatte ihn im Kühlraum auf den Boden gelegt, als ich das Essen eingepackt hatte.
Mit einem schnellen Blick dorthin schätzte ich die Entfernung ab. Ich suchte die Arbeitsflächen ab, entdeckte ein Trio Apothekerflaschen, streckte mich danach aus und wischte eine davon zwischen uns auf den Boden. Sie zersprang, Scherben verteilten sich überall, und er blieb kurz stehen, ein Lächeln im Blick, während ich weiter zurückwich, immer in Richtung Kühlraum.
»Diesmal endet es nicht mit dir in meinem Schlafsack«, warnte er.
Ich schnappte mir noch eine Flasche und warf sie auf den Boden, wich noch weiter zurück. Falls er auf mich losging, würde er auf den Scherben ausrutschen.
»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, erwiderte ich höhnisch. »Du bist immer noch nicht der Alpha.«
Er zog eine dunkle Augenbraue hoch, blieb aber nicht stehen, sondern kam weiter auf mich zu.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und mir war flau im Magen, aber … als die Glasscherben unter seinen Schuhen knirschten und er meinen Blick festhielt, pulsierte es zwischen meinen Beinen, und ich musste fast weinen.
»Weißt du, warum ich hier bin?«, fragte ich.
»Warst du böse?«
Ich biss die Zähne zusammen, schwieg aber.
Auf seinem Gesicht breitete sich ein boshaftes Lächeln aus, und ich wusste, es war so weit. Ich hätte nicht gedacht, dass es so passieren würde, aber dass es irgendwann kommen musste, war mir klar gewesen.
»Das weißt du«, sagte ich. »Oder nicht?«
Er nickte. »Möchtest du es vielleicht erklären?«
»Würde das etwas ändern?«
Er schüttelte den Kopf.
Ich schluckte trocken. Ja, das dachte ich mir.
Er hatte meinetwegen zweieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen. Und nicht nur er. Seine besten Freunde Damon Torrance und Kai Mori auch.
Ich senkte einen Moment den Blick, wusste, dass er es nicht verdient hatte, aber ich wusste auch, dass ich auch dann nichts anders gemacht hätte, wenn ich es gekonnt hätte. Ich hatte ihm gesagt, er solle sich von mir fernhalten. Ich hatte ihn gewarnt.
»Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet«, sagte ich fast flüsternd.
Er blieb stehen, die Scherben knirschten unter seinen Sohlen. »Scheiße, das beruht auf Gegenseitigkeit, glaub mir.«
Ich wich zurück, aber meine Hand streifte mein Bein, und ich spürte etwas in meiner Tasche. Ich näherte mich rückwärts dem Kühlraum, griff dabei aber in meine Hosentasche und zog ein Stück Metall heraus, sah ein Klappmesser mit einem schwarzen Griff.
Wo kam das her?
Ich hatte nie Messer bei mir.
Ich ließ das Netz fallen und die Klinge aufschnappen, hielt sie vor mich, doch mit einer schnellen Bewegung packte er mein Handgelenk und bog meine Finger auf. Ich wehrte mich, versuchte, die Waffe festzuhalten, aber er war zu stark. Als ich sie nicht mehr halten konnte und sie klappernd auf den Boden fiel, schrie ich auf.
Er drehte mich mit einem Ruck, packte mich am Kragen und zog mich näher heran, klemmte mich zwischen seinem Körper und der Arbeitsplatte ein.
Er schaute mir von oben herab in die Augen, und ich atmete schwer, eine meiner lockigen Strähnen streifte meinen Mund.
»Du magst also Alphas?«, fragte er herausfordernd.
Ich sah ihn mit spitzem Blick an. »Wir wollen, was wir wollen.«
Sein Blick wurde finster, diese Worte waren ihm vertrauter, als ihm lieb war, und hätte ich nicht so eine Scheißangst gehabt, hätte ich gelacht.
Knurrend hob er mich hoch und warf mich über seine Schulter. »Dann wird’s Zeit, dass du einen kennenlernst«, sagte er.
»Warum willst du aufhören?«
Ich stand da, umklammerte den Gurt meiner Schultasche, die ich quer über die Brust gehängt trug, und wich dem Blick meiner Trainerin aus. »Ich hab keine Zeit«, antwortete ich ihr. »Es tut mir leid.«
Ich wagte einen Blick, sah ihren strengen Blick unter den kurzen blonden Haaren, die ihr bis knapp über die Augen hingen. »Du hast dich verpflichtet«, hielt sie dagegen. »Wir brauchen dich.«
Ich trat von einem Bein aufs andere, ich bestand praktisch aus Selbsthass. Es war scheiße von mir. Das wusste ich. Ich war gut im Schwimmen. Ich konnte dem Team helfen, und sie hatte im Laufe des letzten Jahres viel Arbeit in mein Training gesteckt. Ich wollte nicht aufhören. Aber sie würde einfach damit leben müssen. Ich konnte es nicht erklären, selbst wenn es nicht zu erklären bedeutete, dass sie mein Schweigen als Verantwortungslosigkeit und Egoismus missdeutete.
Draußen vor dem Büro in der Umkleidekabine waren die Stimmen aller anderen zu hören, die sich fürs Training fertig machten, und ich spürte ihren Blick, sie wartete auf eine Reaktion.
Aber es nützte nichts. Ich würde meine Meinung nicht ändern.
»Ist noch irgendwas anderes?«, fragte sie.
Ich quetschte den Gurt vor meiner Brust, der Stoff schnitt in meine Hand ein. Doch ich holte tief Luft, schob die Brille hoch und reckte den Rücken. »Mir gibt keiner ein Schwimmstipendium«, stieß ich hervor. »Ich brauche meine Zeit für Dinge, die mich ins College bringen. Das hier war Zeitverschwendung.«
Bevor sie weiter argumentieren konnte oder ihr Blick das alles noch schmerzhafter machte, wirbelte ich herum, öffnete die Tür und verließ ihr Büro.
Tränen bildeten einen Kloß in meinem Hals, aber ich schluckte sie herunter. Das war alles so eine Scheiße. Ich würde noch dafür bezahlen. Es war nicht vorbei. Das wusste ich. Aber ich hatte keine Wahl.
Die Schmerzen in meinem Rücken flammten wieder auf, als ich durch die Umkleidekabine marschierte, und ich knallte mit der Hand gegen die Tür, spürte, wie der Schmerz von meinem Handgelenk aus meinen Arm hinaufschoss, bevor ich in den Flur hinausging.
Doch ich zog es durch, ignorierte die Schmerzen und ging den fast leeren Korridor entlang.
Ich war froh, dass ich rausgekommen war, bevor sie mich fragte, warum ich nicht auch mit der Band aufhörte. Die Band brachte mich schließlich auch nicht ans College. So gut war ich nicht.
Es war nur das Einzige, was es mir ermöglichte, aus dem Haus zu kommen, und ich musste dazu keinen Badeanzug tragen.
Auf meinen Schultern lag eine Last wie ein Zehntonner, ich kaute auf der Unterlippe und starrte auf den Boden. Zu meinem Spind fand ich, auch ohne hinzuschauen, den Weg war ich schon tausendmal gegangen.
Reiß dich einfach nur zusammen.
Das Leben ging weiter. Ich war in die richtige Richtung unterwegs.
Geh einfach weiter.
Ein paar Schülerinnen und Schüler waren wegen Clubs oder Sport schon früh in den Fluren unterwegs, als ich an meinem Spind ankam und den Zahlencode eingab. Es dauerte immer noch ein bisschen bis zur ersten Stunde, aber ich konnte mich in der Bibliothek verstecken, um die Zeit totzuschlagen. Das war besser, als zu Hause zu sein.
Ich zog die Mathe- und Physiksachen, die ich gestern Nacht fertig gemacht hatte, aus der Schultasche, holte meinen Ordner, die Bücher für Spanisch und Literatur und meine Ausgabe von Lolita aus dem Spind und klemmte mir alles unter den Arm, während ich im oberen Fach nach meinem Mäppchen kramte.
Er wird rausfinden, dass ich aufgehört habe.
Vielleicht hatte ich bis dahin ein paar Tage Ruhe, aber mein Magen krampfte sich zusammen. Die Platzwunde von vor zwei Tagen in meinem Mund schmeckte immer noch metallisch.
Er würde es mitbekommen. Er würde nicht wollen, dass ich mit dem Schwimmen aufhörte, und wenn ich ihm erklärte, warum es sein musste, würde er nur noch wütender werden.
Ich blinzelte ein paarmal, inzwischen suchte ich nicht mehr ernsthaft nach meinen Stiften, denn der sengende Schmerz auf meiner Kopfhaut von neulich Nacht hatte wieder eingesetzt.
Ich hatte nicht geweint, als er daran gezogen hatte.
Doch ich war zurückgezuckt. Ich zuckte immer zurück.
Irgendwo im Flur wurde gelacht, ich warf einen Blick hinüber und sah ein paar von den anderen an den Spinden lehnen. Mädchen in Schuluniformen, die Röcke viel weiter nach oben gerollt als die erlaubten zehn Zentimeter überm Knie, und die Blusen zu eng unter ihren marineblauen Jacken.
Ich verengte die Augen.
Sie steckten die Köpfe zusammen, scherzten lächelnd mit den Jungs herum, die ganze Gruppe sah so oberflächlich aus, flach wie eine Pfütze. Nie tief genug, als dass sie mehr sein könnte, als sie war.
Oberflächlich, langweilig, öde, ignorant und geistlos. Die ganzen Rich Kids hier waren so.
Ich sah zu, wie sich Kenzie Lorraine an Nolan Thomas lehnte, ihr Mund so dicht an seinem, als würde sie in ihn hineinschmelzen. Sie flüsterte an seinen Lippen, und man konnte kurz seine weißen Zähne aufblitzen sehen, als er kurz grinste, bevor er ihr die Hände um die Taille legte und sich mit dem Rücken an die Spinde lehnte. Mein Herz setzte kurz aus, und ich ertastete mein Mäppchen, steckte es abwesend in meine Umhängetasche, ohne die beiden aus den Augen zu lassen.
Oberflächlich, langweilig, öde, ignorant und geistlos.
Ich blinzelte, spürte, wie sich meine Gesichtszüge entspannten, als ich ihnen zuschaute.
Glücklich, aufgeregt, mutig, wild und auf Wolke sieben.
Sie sahen aus wie siebzehn.
Und plötzlich wünschte ich mir einen Moment lang, ich wäre sie. Alles, nur nicht ich selbst. Kein Wunder, dass mich in dieser Schule kaum jemand mochte. Ich hatte mich ja sogar selbst satt.
Wäre es nicht unglaublich, nur fünf Minuten wirklich glücklich zu sein?
Ihre Freundinnen waren ebenfalls in der Nähe, redeten mit seinen Kumpels, aber ich sah nur ihn und sie, überlegte, wie es sich wohl anfühlte. Selbst wenn es keine wahre Liebe war, fühlte es sich bestimmt gut an, gewollt zu werden.
Doch genau in dem Moment öffnete Nolan die Augen. Er schaute zu mir herüber, begegnete meinem Blick ganz offen, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass ich da war. Die Ader an meinem Hals pulsierte, und ich war wie erstarrt.
Shit.
Er hörte nicht auf, sie zu küssen, während er mich ansah und sich dabei mit ihr bewegte. Dann … zwinkerte er mir zu, und ich konnte sein Lächeln hinter dem Kuss sehen.
Ich verdrehte die Augen und schaute weg. Na toll. Emory Scott war eine Perverse. Das würde er sagen. Das hatte mir gerade noch gefehlt.
Verlegen drehte ich mich wieder zu meinem Spind um und knallte die Tür zu.
Alles tat weh, und ich streckte den Rücken durch, versuchte, die Muskeln zu dehnen, aber gerade als ich mich zum Gehen wandte, krachte aus dem Nichts eine Faust herab und schlug mir die Bücher aus den Armen.
Erschrocken schnappte ich nach Luft und machte instinktiv einen Schritt rückwärts.
Miles Anderson warf mir einen finsteren Blick zu, als er vorbeiging, grinste dabei aber auch. »Na, siehst du was, was dir gefällt, Dummerchen?«, spottete er.
Ich biss die Zähne zusammen, versuchte, das Hämmern in meiner Brust unter Kontrolle zu bringen, aber von dem plötzlichen Schreck war mir flau im Magen, während seine Freunde ihm lachend folgten.
Seine blonden Haare hingen ihm wie zufällig in die Stirn, sein Blick aus blauen Augen wanderte über meinen Körper, und ich wusste genau, was er da abschätzig musterte.
Das altmodische Karomuster meines Secondhand-Rocks.
Den fehlenden Knopf an der Manschette meiner Bluse, die zwei Größen zu groß war.
Meinen ausgebleichten blauen Blazer, aus dem an den Stellen, wo ich ihn hatte flicken müssen, nachdem ich ihn von der Vorbesitzerin übernommen hatte, kleine Fäden abstanden.
Meine vom vielen Laufen abgetragenen Schuhe, weil ich kein Auto hatte, und dass ich nie Make-up trug oder irgendwas mit meinen dunklen Haaren machte, die einfach an meinen Armen herunterhingen und mir ins Gesicht fielen.
So ganz anders, als er aussah. Als sie alle aussahen.
Die kleinen Scheißer. Ich ließ Anderson seinen lächerlichen kleinen Spaß, weil es die einzigen Momente waren, in denen er irgendeine Art von Macht hatte. Dafür konnte ich den Apokalyptischen Reitern dankbar sein.
Es ging mir furchtbar gegen den Strich, dass die Schule ihr privater Spielplatz war, aber wenn sie in der Nähe waren, zog Miles Anderson keinen derartigen Scheiß ab. Ich hätte wetten können, dass er wahrscheinlich die Tage zählte, bis sie ihren Abschluss hatten, damit er das Basketballteam übernehmen konnte.
Und die ganze Thunder Bay Prep School.
Mit zusammengebissenen Zähnen kauerte ich mich hin und sammelte meine Bücher ein, stopfte alles in meine Tasche.
Schweiß brach mir aus, mein Gesicht fühlte sich feucht an, und mir war schlecht. Ich stemmte mich hoch, atmete aus und beeilte mich, zur nächsten Toilette zu kommen, die Treppe rauf und den Flur entlang.
Mein Magen füllte sich mit etwas. Das Brennen, als mir die Galle hochkam, wurde stärker. Mit meinem ganzen Gewicht warf ich mich gegen die Tür, stürzte in eine Kabine und beugte mich würgend über die Toilettenschüssel.
Ich verkrampfte mich, mein Mageninhalt kam gerade so weit hoch, dass ich die Säure spüren konnte, aber nicht weiter. Ich hustete, mir tränten die Augen, während ich nach Luft schnappte.
Ich schob meine Brille nach oben in die Haare und hielt mich links und rechts an den Kabinenwänden fest, atmete tief ein und aus, um mich zu beruhigen.
Ich rieb mir die Augen.
Shit.
Manchmal wehrte ich mich. Wenn es um nichts ging und ich nicht ernsthaft bedroht wurde.
Ich wischte mir die Stirn trocken, drückte aus Gewohnheit die Spülung, ging nach draußen zum Waschbecken und drehte das Wasser auf. So blieb ich stehen, die Hände unterm Wasserhahn, ich hatte nicht mal mehr die Energie, mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Also drehte ich es einfach ab und wischte mir beim Rausgehen die Hände am Rock trocken.
Ich war zu müde, und der Tag hatte kaum angefangen.
Doch direkt vor der Tür stand jemand, und ich blieb abrupt stehen. Trevor Crist. Er lächelte mich an, als ich ihn anstarrte und dabei den Gurt meiner Tasche fest umklammert hielt.
Er war noch ein Freshman, zwei Jahre jünger als ich, aber er war schon ungefähr so groß wie ich und sah seinem Bruder überhaupt nicht ähnlich. Ausdruckslose Augen, ein unaufrichtiger Blick, der nicht zu seinem Lächeln passte, und dunkelblonde Haare, die genauso perfekt gestylt waren, wie seine Krawatte saß. Kurz: Er sah aus, als müsste er eigentlich Chad heißen.
Was zur Hölle wollte er?
Er hielt mir ein blaues Notizbuch hin, und ich erkannte die ungeordneten Notizen und losen Blätter darin, schief unterstrichen mit gelbem Marker. Mein Blick schoss zurück zu meinem Spind.
Anscheinend hatte ich es liegen lassen, als mir dieser Blödmann alles aus den Händen geschlagen hatte.
Ich nahm ihm das Notizbuch ab und stopfte es in meine Tasche. »Danke«, murmelte ich.
»Ich hab alles eingesammelt, aber ich bin mir nicht sicher, ob es in der richtigen Reihenfolge ist«, sagte er. »Ein paar von den Blättern sind rausgefallen.«
Ich hörte ihn kaum, bemerkte, wie sich die Flure mit weiteren Schülern und Schülerinnen füllten und Mr Townsend auf dem Weg zu meiner ersten Unterrichtsstunde war.
»Trevor Crist.« Der Junge hielt mir die Hand hin.
»Ich weiß«, antwortete ich und ging an ihm vorbei, ohne seine Hand zu beachten.
Ein paar Meter den Flur entlang hielt ich die Tür auf, folgte einem anderen Schüler ins Klassenzimmer und sah mich nach dem sichersten Platz um. In der Ecke, ganz hinten in der Nähe des Fensters, stand ein leeres Pult, das von allen Seiten von anderen umzingelt war – Roxie Harris neben mir, Jack Leister vor mir, und Drew Hannigan schräg gegenüber.
Ich rannte hin.
Der Tisch rutschte ein Stück über den Boden, als ich auf den Stuhl glitt und meine Tasche auf den Boden fallen ließ.
»Na toll«, ächzte Roxie neben mir, aber ich ignorierte sie und zog meine Unterlagen aus der Tasche.
Und sie fing an, ihre Sachen einzupacken.
Der Klassenraum füllte sich, es wurde geschwatzt und gelacht, während Mr Townsend über seinen Tisch gebeugt stand und seine Notizen durchging.
Doch Roxie blieb keine Zeit mehr, ihren Tisch zu räumen, da waren sie schon da. Schwebten durch die Tür, groß, unwiderstehlich und immer im Viererpack.
Ich drehte den Kopf zum Fenster, schloss die Augen und hielt den Atem an, während ich eilig meine Kopfhörer aus der Jackentasche zog und sie mir in die Ohren steckte.
Alles, damit ich möglichst unnahbar aussah.
Bitte, bitte, bitte …
Doch das Gebet kam zu spät. Ich konnte spüren, wie Roxie, Jack und Drew die Augen verdrehten, seufzend ihre Sachen packten und ungefragt ihre Plätze räumten, als wäre es meine Schuld, dass diese Typen mir immer unbedingt auf die Pelle rücken mussten, egal, wo ich in diesem beschissenen Raum saß.
Kai Mori glitt auf Jacks Platz vor mir, während Damon Torrance den schräg gegenüber nahm.
Ich musste nicht hochschauen, um ihre dunklen Haare zu sehen, und ich wusste immer, ohne nachzusehen, wer wer war, denn Kai roch nach Amber, Moschus und dem Meer, und Damon roch wie ein Aschenbecher.
Michael Crist hatte sich vermutlich irgendwo in die Nähe gepflanzt, aber es war der Letzte, der an mir vorbeikam und sich auf den Platz neben mir pflanzte, wo eigentlich Roxie gesessen hatte, der mein Herz schneller schlagen ließ.
Ich konnte seinen Blick spüren, während ich aus dem Fenster starrte.
Hätte ich gewusst, dass wir gemeinsame Kurse haben würden, als die Verwaltung ein paar Wochen zuvor beschlossen hatte, mich in Englisch ein Jahr weiter in den Senior-Kurs zu versetzen, hätte ich Nein gesagt. Egal, was mein Bruder wollte.
Ich war mir ziemlich sicher, dass sie mich nur versetzt hatten, weil ich letztes Jahr »schwierig« gewesen war. Vermutlich dachten sie, wenn sie mich herausforderten, würde mir das den Mund stopfen.
Jetzt merkten sie alle, dass das nicht stimmte.
»Du hast keine Uniform an«, hörte ich ein Mädchen flüstern.
Dann hörte ich Will Graysons Stimme, die meinen Nacken heiß werden ließ. »Ich bin inkognito hier«, erklärte er ihr.
»Ich glaube, das Stück Scheiße steht echt auf dich«, fügte Damon hinzu. »Jedes Mal, wenn er dich sieht, will er am liebsten mit dir allein sein.«
Ich umklammerte mein Heft und den Stift.
»Zu seiner Verteidigung muss man aber sagen«, schaltete sich Kai ein, »dass du derjenige warst, der den Leuten die ›Sorry, ich habe Ihr Auto angefahren‹-Zettel mit seiner Handynummer darauf in der ganzen Stadt hinter die Scheibenwischer geklemmt hat.«
Damon prustete und brach dann in Gelächter aus, während Will selbstzufrieden in sich hineinlachte.
Arschlöcher. Wegen dieses Streichs hatte das Telefon meines Bruders die ganze beschissene Nacht geklingelt. Und wenn er sich ärgert, dann zeigt er es auch.
»Und was sagst du dazu, Em?«, wandte sich Will schließlich an mich, denn das konnte er sich nie verkneifen. »Steht dein Bruder auf mich? Er klebt mir jedenfalls ganz schön am Arsch.«
Ich sagte nichts und schlug abwesend mein Heft auf, während sich die anderen um uns herum auf ihre Plätze setzten und redeten.
Alle an dieser Schule hassten meinen Bruder. Ihr Geld und ihre Connections hatten keine Auswirkungen auf seine Bereitschaft als Polizist, Strafzettel für zu schnelles Fahren oder Falschparken auszustellen, Lärmbeschwerden nachzugehen oder Partys und Saufereien aufzulösen, sobald er Wind davon bekam.
Mein Bruder war ein Idiot, weil er seinen Job machte, und weil sie gegen ihn nichts ausrichten konnten, gingen sie auf mich los.
Will zog etwas aus der Tasche, und ich sah zu, wie er ein Bonbon halb auswickelte und zum Mund hob, um es mit den Zähnen aus dem Papier zu ziehen.
Dabei ließ er mich nicht aus den Augen.
»Nimm die Kopfhörer raus«, befahl er mir kauend.
Ich kniff die Augen zusammen.
»Und hör auf, so zu tun, als würdest du Musik hören und dich deshalb nicht um die Leute um dich herum scheren«, schnauzte er.
Alle Muskeln in meinem Körper spannten sich an, und als ich nicht auf ihn hörte, warf er sein Bonbonpapier auf den Boden, beugte sich herüber und riss mir die Kopfhörer am Kabel mit einem Ruck aus den Ohren.
Erschrocken richtete ich mich auf. Aber ich wich nicht zurück. Nicht vor ihm.
Jetzt hatte er meine verdammte Aufmerksamkeit.
Ich nahm das Kabel in die Hand, das auf den Boden hing, stand auf, sammelte Buch und Tasche ein und wandte mich zum Gehen.
Im nächsten Moment packte er mich und zog mich auf seinen Schoß.
Alles, was ich in den Armen hatte, purzelte auf den Boden, und flüssige Lava jagte durch meine Venen.
Nein.
Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte ich mich gegen ihn, während Kai seufzte und Damon spöttisch lachte, doch keiner von beiden hielt ihn auf.
Ich wehrte mich, aber er hielt mich einfach fester und drehte das Gesicht von meinem Angriff weg.
Will, Kai, Damon und Michael. Die vier Apokalyptischen Reiter.
Ich liebte den Spitznamen einfach, die sich die kleinen Möchtegerngangster in der Highschool selbst gegeben hatten, aber vielleicht sollte ihnen mal jemand sagen, dass es niemandem Angst machte, wenn man extra betonen musste, wie furchteinflößend man war.
Und diese Kerle gab es ja an jeder Schule. Ein bisschen Geld, Eltern mit Beziehungen und hübsche Gesichter ohne die passenden Herzen dazu. Das konnte man ihnen eigentlich nicht unbedingt vorwerfen.
Dass sie das voll ausnutzten, konnte man ihnen allerdings schon vorwerfen.
Wäre es nicht lustig, wenn ihnen mal jemand etwas abschlagen würde? Wenn einer von ihnen je für einen Fehler bezahlen müsste? Oder jemals Nein sagte zu einem Drink, einer Droge oder einem Mädchen?
Aber nein. Immer dieselbe Geschichte. Oberflächlich, langweilig, öde, ignorant und geistlos.
Und während andere vielleicht nachgaben oder halbherzig protestierten, bevor sie dann doch nachgaben, hatte ich kein Interesse.
Und das passte ihm überhaupt nicht.
Ich hätte schreien können. Die Aufmerksamkeit des Lehrers auf mich ziehen. Eine Szene machen. Doch dann hätte er nur die Lacher bekommen, die er so unbedingt haben wollte, und ich die Aufmerksamkeit, die ich nicht wollte.
»Schau nicht so böse«, warnte er.
Ich biss die Zähne zusammen, einen Scheiß würde ich tun.
»Ich weiß«, flüsterte er mir jetzt zu, »ich wirke vielleicht wie der Netteste, und du glaubst wahrscheinlich, ich bereue es, dass ich dich manchmal verarsche, dass ich eines Tages aufwache und ganz anders über mein Leben und seinen Sinn denke, aber das werde ich nicht. Ich schlafe nachts wie ein Baby.«
»Du wachst also alle zwei Stunden auf und schreist?«, fragte ich.
Hinter mir war ein Prusten zu hören, aber ich schaute ihn weiter unverwandt an, als Wills Blick schärfer wurde. Die Schule war immer der eine Ort gewesen, wo ich mal eine Atempause hatte.
Bis ich in die Highschool gekommen war.
Ich drehte meine Handgelenke in seinen Fäusten und versuchte, mich zu befreien. »Lass mich los!«
»Warum sind deine Ärmel nass?«
Er zwang meinen Arm nach oben, damit er genauer hinschauen konnte.
Ich antwortete nicht.
Er sah wieder zu mir auf. »Und deine Augen sind rot.«
Ich hatte einen Kloß im Hals, biss aber die Zähne zusammen und riss meine Handgelenke los.
Doch bevor ich von seinem Schoß entkommen konnte, packte er mit einer Hand mein Kinn und zog mich mit dem anderen Arm um meine Taille an seinen Körper. Ganz eng. Und er flüsterte so leise, dass es außer mir niemand hören konnte. »Weißt du nicht, dass du alles haben kannst, was du willst?« Sein Blick suchte meinen. »Für dich würde ich jedem wehtun.«
Das Gewicht, das auf meiner Brust lastete, war zu schwer, das Atmen tat fast weh.
»Wer ist es?«, fragte er. »Wem muss ich wehtun?«
Meine Augen brannten. Warum machte er das immer? Warum wurde er ganz sanft und lockte mich mit der Fantasie, nicht allein zu sein und dass es vielleicht – womöglich – Hoffnung gab.
Sein Duft stieg mir in die Nase, Bergamotte und Zedernholz, und mein Blick fiel auf seine braunen Haare, perfekt gestylt und dicht über seiner makellosen Haut und den dunklen Brauen. Schwarze Wimpern umrahmten seine blauen Augen, es sah aus wie das Laub an den Bäumen am Ufer einer Lagune irgendwo auf irgendeiner Scheißinsel, und einen Moment lang war ich verloren.
Nur einen Moment.
»Ach, ich bitte dich«, erwiderte ich schließlich. »Such dir ein Hobby, Will Grayson. Du bist erbärmlich.«
Und sofort wurden seine schönen Augen hart. Er hob das Kinn, schubste mich von seinem Schoß und schob mich wieder zu meinem Tisch. »Setz dich hin.«
Er klang fast verletzt, und beinahe hätte ich gelacht.
Wahrscheinlich ist er enttäuscht, dass ich nicht auf seinen Scheiß reinfalle.
Was hatte er vor? Mein Vertrauen gewinnen, mich zum Homecoming locken und zuschauen, wie sie Schweineblut über mir auskippten?
Nein, nicht originell genug. Will Grayson hatte mehr Fantasie. Das musste ich ihm lassen.
»Also gut, fangen wir an«, sagte Mr Townsend und räusperte sich.
Ich hob meine Tasche und das Heft vom Boden auf, setzte mich auf meinen Stuhl und steckte die Kopfhörer in die Tasche.
»Holt eure Bücher raus«, wies uns Mr Townsend an, nahm einen schnellen Schluck von seinem Kaffee und drehte ein Blatt Papier auf seinem Schreibtisch um.
Will saß einfach da und starrte stumm geradeaus, und ich wurde kurz unsicher, als ich sah, wie der Muskel an seinem Kiefer arbeitete.
Egal. Ich verdrehte die Augen und kramte nach meiner Ausgabe von Lolita, genau wie der Rest der Klasse. Bis auf Will, denn er hatte sich heute nicht die Mühe gemacht, eine Tasche oder Bücher mitzubringen.
»Wir haben darüber gesprochen, dass Humbert im Buch ein unzuverlässiger Erzähler ist.« Townsend trank noch einen Schluck Kaffee. »Und dass wir alle die Guten in unserer eigenen Geschichte sind, wenn wir sie selbst erzählen.«
Ich hörte, wie Will einmal tief durchatmete, und hielt den Blick auf Kai Moris Nacken gerichtet. Normalerweise war ich fasziniert davon, wie sauber und präzise seine Frisur getrimmt war. Doch heute hatte ich Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.
»Und wie oft Richtig und Falsch ganz einfach eine Frage der Perspektive sind«, fuhr Townsend fort. »Für einen Fuchs ist der Jagdhund der Bösewicht. Für einen Jagdhund der Wolf. Für einen Wolf der Mensch, und so weiter.«
Oh, bitte. Humbert Humbert war eine gescheiterte Existenz.
Und ein Krimineller. Fuchs, Jagdhund, Wolf, völlig egal.
»Er glaubt, er sei in Lo verliebt.« Der Lehrer umrundete seinen Schreibtisch und lehnte sich vorn an die Kante, seine Taschenbuchausgabe zusammengerollt in der Faust. »Aber er ist sich durchaus bewusst, wie falsch es ist, was er da tut. Er sagt« – er blätterte sein Buch auf und las daraus vor – »›Ich wusste, dass ich für immer in Lolita verliebt sein würde, aber ich wusste auch, dass sie nicht für immer Lolita bleiben würde.‹« Er blickte zur Klasse auf. »Was meint er damit?«
»Dass sie irgendwann erwachsen wird«, antwortete Kai. »Und dann nicht mehr sexuell attraktiv für ihn sein wird, weil er ein Pädophiler ist.«
Ich grinste in mich hinein. Kai war mir irgendwie der Liebste von den Apokalyptischen Reitern, wenn ich mir einen hätte aussuchen müssen.
Townsend dachte über Kais Gedanken nach, fragte dann aber eine andere Schülerin. »Stimmst du dem zu?«
Das Mädchen zuckte die Schultern. »Ich glaube, er meint damit, dass wir uns verändern und dass sie sich auch verändern wird. Es geht nicht darum, dass sie erwachsen wird. Es geht darum, dass sie irgendwann kein Interesse mehr an ihm haben wird und dass er Angst hat.«
Was vermutlich das war, was Humbert wirklich meinte, aber ich mochte Kais Einschätzung lieber.
Der Lehrer nickte und deutete dann mit einer ruckartigen Kinnbewegung auf einen weiteren Schüler. »Michael?«
Michael Crist sah hoch, klang verloren. »Was?«
Damon lachte über seinen Freund, und ich schüttelte den Kopf.
Townsend schloss kurz entnervt die Augen, bevor er seine Frage wiederholte. »Was glaubst du, was er meint, wenn er sagt, sie wird nicht für immer Lolita bleiben?«
Michael schwieg eine Weile. Fast überlegte ich schon, ob er überhaupt etwas sagen würde.
»Er liebt seine Vorstellung von ihr«, antwortete er schließlich entschieden. »Wenn sie sich irgendwann von ihm entfernt, wird der Traum von ihr noch da sein und ihn quälen. Das meint er damit.«
Hm. Kein ganz schlechter Ansatz. Und ich dachte, Kai wäre der Einzige von ihnen, der das Buch wirklich gelesen hatte.
Townsend blätterte eine andere Seite auf und las vor: »Sie sagt: ›Er hat mein Herz gebrochen. Du hast nur mein Leben zerbrochen.‹ Was sagt sie ihm damit?«
Niemand sagte etwas.
Der Lehrer schaute sich um, ob irgendwer von uns eine Regung zeigte. »›Du hast nur mein Leben zerbrochen‹«, wiederholte er.
Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals und senkte den Blick.
Du hast mein Leben zerbrochen.
An einem Pult in der Nähe der Tür seufzte ein Schüler. »Sie hat sich ihm freiwillig hingegeben«, argumentierte er. »Ja, es war falsch. Aber das ist heutzutage ein Problem. Frauen können nicht einfach hinterher entscheiden, dass sie missbraucht wurden. Sie hatte freiwillig Sex mit ihm.«
»Minderjährige können nicht zustimmen«, warf Kai ein.
»Dann wird man also auf magische Art emotional und geistig reif, wenn man achtzehn wird, oder was?«, schaltete sich plötzlich Will in das Gespräch ein. »Einfach über Nacht, ja?«
»Sie war ein Kind, Will.« Kai drehte sich auf seinem Stuhl, um seinem Freund zu widersprechen. »Humbert verlangt in seinem Kopf Mitgefühl von uns, und die meisten, die das Buch lesen, geben es ihm auch, weil er es ihnen sagt. Weil wir bereit sind, allen alles zu verzeihen, wenn wir sie anziehend finden.«
Ich starrte, ohne zu blinzeln, auf meinen Tisch.
»Er steht nicht auf Lo«, fuhr Kai fort. »Er steht auf junge Mädchen. Das ist kein Einzelfall. Sie wurde missbraucht.«
»Und sie verlässt ihn und zieht mit einem Kinderpornografen zusammen«, fauchte Will. »Wenn sie missbraucht wurde, warum ist sie dann so dumm und bringt sich gleich wieder in dieselbe Lage?«
Ich rieb mit dem Daumen über das Taschenbuchcover, horchte auf das Geräusch auf der glänzenden Fläche. Mein Kinn zitterte, meine Augen brannten ein bisschen.
»Ich meine, warum sollte sie so was tun?«, fragte Will.
»Genau das meine ich«, stimmte ihm ein anderer zu.
Mir lag auf der Zunge, dass sie es sich zu einfach machten. Dass es leichter war, ein Mädchen zu verurteilen, über das man nichts wusste, als jemandem in Würde den Verarbeitungsprozess zuzugestehen. Dass es bequemer war, nicht darüber nachzudenken, dass es Dinge gab, die wir nicht wussten, und Dinge, die wir nie verstehen würden, weil wir oberflächlich waren und anmaßend und ignorant.
Dass man blieb, weil …
Weil …
»Missbrauch kann sich manchmal auch wie Liebe anfühlen.«
Ich blinzelte, die Stimme war so nah, dass mir die Ohren klingelten. Langsam hob ich den Blick und sah Damon Torrances Profil, sein zerknittertes Hemd und seine Krawatte um den Hals.
Schweigen legte sich über die ganze Klasse, und ich warf einen Blick auf Will neben mir, sah, wie er mit zusammengezogenen Augenbrauen den Hinterkopf seines Freundes anstarrte.
Mr Townsend kam näher. »›Missbrauch kann sich manchmal auch wie Liebe anfühlen …‹«, wiederholte er. »Warum?«
Damon blieb so still, dass es aussah, als atme er nicht mal. Dann sah er Townsend unverwandt an. »Verhungernde würden alles essen.«
Ich erstarrte, als seine Worte in der Luft hingen, und einen Augenblick lang wurde mir warm. Vielleicht war er ja doch nicht völlig hohl im Kopf.
Als ich einen Blick auf mir spürte, drehte ich den Kopf und sah Will, der mein Bein ansah.
Ich merkte, dass ich die Finger um meinen Rocksaum gekrallt hatte, wusste, dass an meinem Oberschenkel die Kratzer und ein Teil eines Blutergusses zu sehen waren. Mein Puls beschleunigte sich, und eilig zog ich den Rock wieder nach unten.
»Schlagt bitte das letzte Kapitel auf«, rief Townsend. »Und holt die Aufgaben raus.«
Der Bluterguss pochte schmerzhaft, und plötzlich bekam ich keine Luft mehr.
Weißt du nicht, dass du alles haben kannst, was du willst? Für dich würde ich jedem wehtun.
Mein Kinn zitterte. Ich musste hier raus.
Missbrauch kann sich wie Liebe anfühlen …
Ich schüttelte den Kopf, stopfte meine Schulsachen in meine Tasche zurück, stand auf, hängte sie mir um und rannte den Mittelgang entlang zur Tür.
»Wo willst du hin?«
Ich drehte dem Lehrer den Kopf zu. »In die Bibliothek, das Buch zu Ende lesen und die Aufgaben dort machen.«
Ich ging weiter, blinzelte die Tränen in meinen Augen weg.
»Emory Scott«, rief der Lehrer.
»Sonst können Sie auch meinem Bruder erklären, warum meine Prüfungsergebnisse scheiße sind«, fuhr ich fort, ging dabei jetzt rückwärts und starrte ihn finster an, »denn darum geht’s in achtundneunzig Prozent aller Diskussionen in dieser Klasse.« Ich machte eine Handbewegung zu den Apokalyptischen Reitern hin. »Schreibt mir, falls wir zusätzliche Aufgaben bekommen.«
Als ich die Tür öffnete, hörte ich, wie in der Klasse das Geflüster losging.
»Emory Scott«, bellte der Lehrer.
Ich schaute mich über die Schulter nach Townsend um, sah, dass er mir einen rosa Zettel entgegenstreckte.
»Du weißt, was das heißt«, keifte er.