Punk 57 - Penelope Douglas - E-Book
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Penelope Douglas

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Beschreibung

Wir waren perfekt füreinander – bis wir uns trafen Das Warten hat ein Ende: Die TikTok-Sensation der New-York-Times-Bestsellerautorin Penelope Douglas endlich auf Deutsch! Misha und Ryen sind Brieffreunde. Sie haben sich über Jahre hinweg all ihre Geheimnisse, Sorgen und Wünsche anvertraut – und sie haben drei Regeln: kein Kontakt im echten Leben, keine sozialen Medien und keine Bilder. Denn das, was sie miteinander haben, ist perfekt. Warum es also ruinieren? Als Misha sich dennoch über die Abmachung hinwegsetzt und Ryen aufsucht, steht vor ihm nicht die nerdige Außenseiterin mit Brille und Gedichtbänden im Rucksack, für die er sie hielt, sondern eine blonde Cheerleaderin, die den anderen Schülern das Leben zur Hölle macht. Misha ist schockiert, enttäuscht, wütend, und er hasst Ryen sofort – leidenschaftlich!

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Aus dem Amerikanischen von Christina Kagerer

© Penelope Douglas, 2016

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Punk 57« bei Penelope Douglas LLC, Las Vegas, 2016

© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Monika Kempf

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Cover to Cover Designs

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

KAPITEL 1

MISHA

KAPITEL 2

RYEN

Drei Monate später…

KAPITEL 3

RYEN

KAPITEL 4

RYEN

KAPITEL 5

MISHA

KAPITEL 6

RYEN

KAPITEL 7

MISHA

KAPITEL 8

MISHA

KAPITEL 9

RYEN

KAPITEL 10

MISHA

KAPITEL 11

RYEN

KAPITEL 12

RYEN

KAPITEL 13

MISHA

KAPITEL 14

RYEN

KAPITEL 15

MISHA

KAPITEL 16

RYEN

KAPITEL 17

MISHA

KAPITEL 18

RYEN

KAPITEL 19

RYEN

KAPITEL 20

RYEN

KAPITEL 21

RYEN

KAPITEL 22

MISHA

EPILOG

RYEN

Fünf Jahre später…

Brief

Anmerkung der Autorin

PUNK 57 LYRICS

PEARLS LYRICS

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Claire und Bender und für das, was Montagmorgen passiert wäre …

KAPITEL 1

MISHA

Lieber Misha,

habe ich dir jemals mein peinlichstes Geheimnis verraten?

Und nein, es ist nicht, Teen Mom zu schauen wie bei dir. Versuch ruhig, es abzustreiten. Ich weiß, dass du nicht gezwungen wirst, neben deiner Schwester zu sitzen. Sie ist alt genug, um alleine fernzusehen.

Nein, es ist tatsächlich noch viel schlimmer, und ich schäme mich ein bisschen, es dir zu erzählen. Aber ich glaube, negative Gefühle sollten rausgelassen werden. Nur einmal, richtig?

Also, da ist dieses Mädchen in der Schule. Du kennst die Art: Cheerleader, beliebt, bekommt alles, was sie will … Ich gebe es nur ungerne zu, vor allem dir gegenüber, aber vor langer Zeit wollte ich einmal sein wie sie.

Ein Teil von mir will das noch immer.

Du würdest sie hassen. Sie verkörpert alles, was wir nicht ausstehen können: Sie ist gemein, hochnäsig, oberflächlich … Eines dieser Mädchen, die keinen Gedanken zu lange im Kopf behalten können, ohne einzuschlafen. Verstehst du? Ich war trotzdem immer fasziniert von ihr.

Und jetzt verdreh deine Augen bitte nicht. Ich kann es spüren.

Es ist nur … Gerade wegen all dieser verabscheuenswerten Eigenschaften ist sie nie allein. Weißt du, was ich meine?

Darum beneide ich sie ein bisschen. Okay, nicht nur ein bisschen.

Es fühlt sich scheiße an, alleine zu sein. An einem Ort voller Menschen zu sein und das Gefühl zu haben, keiner will dich dort. Sich so zu fühlen, als wäre man auf einer Party, zu der man nicht eingeladen worden ist. Sie kennen nicht einmal deinen Namen. Niemand will wissen, wie du heißt. Du bist allen egal.

Lachen sie dich aus? Reden sie über dich? Schauen sie auf dich herab, als wäre ihre perfekte Welt so viel besser, wenn du nicht dort wärst und ihnen die schöne Aussicht verderben würdest?

Wünschten sie sich, du würdest den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und endlich verschwinden?

So fühle ich mich.

Ich weiß, es ist erbärmlich, dazugehören zu wollen, und ich weiß, du wirst sagen, es ist besser, allein zu sein als in einer Gruppe, zu der man nicht gehört … aber … manchmal will ich es trotzdem. Du nicht?

Ich frage mich, ob die Cheerleaderin sich manchmal auch so fühlt. Wenn die Musik aus ist und alle nach Hause gehen? Wenn der Tag vorüber ist und sie niemanden mehr hat, mit dem sie sich amüsieren kann? Wenn sie ihr Make-up abwischt und ihre Maske für den Tag abnimmt – fangen dann die Dämonen, die sie so gut verborgen hat, an, mit ihr zu spielen? Wenn es sonst niemand mehr tut?

Wahrscheinlich nicht. Narzissten sind nicht unsicher, oder?

Das muss schön sein.

Mein Handy vibriert auf der Mittelkonsole meines Trucks. Ich wende den Blick von Ryens Brief ab und sehe, dass eine weitere Nachricht ankommt.

Verdammt, ich bin so was von zu spät.

Die Jungs fragen sich bestimmt schon, wo zum Teufel ich bin, und die Fahrt zur Lagerhalle dauert noch zwanzig Minuten. Warum kann ich nicht der unsichtbare Bassist sein, der allen egal ist?

Ich starre wieder auf ihre Worte und lese den Satz noch einmal. Wenn sie ihr Make-up abwischt und ihre Maske für den Tag abnimmt …

Dieser Satz hat mich schon vor ein paar Jahren, als ich ihren Brief zum ersten Mal gelesen habe, beeindruckt. Und danach noch weitere Hundert Male. Wie kann sie gleichzeitig so wenig und so viel sagen?

Ich komme zum letzten Teil des Briefes, von dem ich schon weiß, wie er endet. Aber ich liebe ihre Worte und wie sie mich zum Lächeln bringt.

Okay, sorry. Ich hatte gerade einen Facebook-Zusammenbruch. Aber jetzt fühle ich mich wieder besser. Ich bin mir nicht sicher, wann ich mich in so eine Idiotin verwandelt habe, aber ich bin froh, dass du es aushältst.

Weiter geht’s.

Ich habe noch etwas zu unserer letzten Diskussion zu sagen. Kylo Ren ist KEIN Baby. Verstehst du? Er ist jung, impulsiv, und er ist mit Anakin und Luke Skywalker verwandt. Natürlich jammert er! Das ist doch keine Überraschung! Und er wird sich selbst rehabilitieren. Da wette ich mit dir. Nenn mir den Einsatz.

Na gut, ich muss jetzt zum Ende kommen. Aber ja, um deine Frage zu beantworten: Der Text, den du mir das letzte Mal geschickt hast, klingt toll. Mach damit weiter, und ich kann es kaum erwarten, den ganzen Song zu lesen.

Gute Nacht. Gute Arbeit. Schlaf gut.

Vielleicht höre ich morgen früh auf, dir zu schreiben.

Ryen

Ich lache über ihren Bezug auf den Film Die Braut des Prinzen. Das sagt sie jetzt schon seit sieben Jahren. Im ersten Jahr, in der fünften Klasse, mussten wir uns Briefe schreiben, weil wir im Rahmen eines Projekts einander zugeteilt wurden, bei dem Schüler aus ihrer Klasse und Schüler aus meiner Klasse sich gegenseitig Briefe schreiben sollten.

Aber wir haben nicht aufgehört, uns zu schreiben, als das Schuljahr vorüber war. Obwohl wir weniger als dreißig Meilen voneinander entfernt leben und mittlerweile beide Facebook haben, kommunizieren wir immer noch auf diese Weise, weil es dadurch etwas Besonderes bleibt.

Und ich schaue nicht Teen Mom. Meine siebzehnjährige Schwester schaut es, und ich wurde hineingezogen. Einmal. Ich weiß nicht, warum ich es Ryen erzählt habe. Eigentlich weiß ich nur allzu gut, dass ich ihr keine Gelegenheit bieten darf, mich zu verarschen, verdammt.

Ich falte den Brief wieder zusammen, und die Kanten des schwarzen Papiers drohen zu reißen, wenn ich ihn nur noch ein einziges Mal auseinanderfalte und lese. Über die Jahre hat sich vieles in unseren Briefen verändert. Die Dinge, über die wir uns unterhalten, die Themen, über die wir diskutieren, ihre Handschrift … von der großen, ungeschliffenen Handschrift eines Mädchens, das gerade erst Schreibschrift gelernt hat, hin zu der selbstbewussten, sicheren Handschrift einer Frau, die weiß, wer sie ist.

Aber das Papier hat sich nie verändert. Nicht einmal die silberne Tinte, die sie benutzt. Ihre schwarzen Briefumschläge zusammen mit der anderen Post auf der Küchenplatte zu sehen, versetzt mir jedes Mal einen Adrenalinschub.

Ich stecke den Umschlag in mein Handschuhfach, wo noch ein paar andere meiner Lieblingsbriefe von Ryen liegen. Dann nehme ich meinen Stift und halte ihn über den Block, der auf meinem Schoß liegt.

»Breite dich auf deinem Mut aus, ziehe Augen und Lippen nach«, sage ich leise, während ich auf das Papier schreibe. »Kitte die Brüche und übermale die Risse.«

Ich halte inne und überlege, während ich meine Unterlippe zwischen die Zähne nehme und mit meinem Piercing spiele. »Hier noch ein bisschen«, murmle ich, und die Textzeilen drehen sich in meinem Kopf. »… um die Ringe unter deinen Augen zu verbergen, etwas Rouge auf deine Wangen, um die Lügen zu verstecken.«

Schnell schreibe ich die Worte auf und kann mein Gekritzel im dunklen Auto kaum erkennen.

Ich höre, wie mein Handy wieder piepst, und zögere. »Na gut«, brumme ich und zwinge die Worte, aufzuhören. Können meine Bandkollegen keine fünf Minuten ohne mich eine Party geben?

Ich setze den Stift wieder aufs Papier und versuche, meinen Gedanken zu beenden. Aber er ist mir entglitten. Wie zum Teufel war der Text? Hier noch ein bisschen, um die Ringe unter deinen Augen zu verbergen …

Ich schließe die Augen und wiederhole die Zeile immer und immer wieder in der Hoffnung, mich an den Rest zu erinnern.

Ich stoße die Luft aus. Scheiße, es ist weg.

Verdammt.

Ich stecke den Deckel auf den Stift und lege ihn zusammen mit dem Block auf den Beifahrersitz meines Ford Raptor.

Ich denke an ihren letzten Satz. Nenn mir den Einsatz.

Na ja, wie wäre es mit einem Telefonat, Ryen? Wie wäre es, wenn du mich zum ersten Mal deine Stimme hören ließest?

Aber nein. Ryen will unsere Freundschaft so belassen, wie sie ist. Schließlich funktioniert sie so. Warum das Risiko eingehen, das zu verlieren, indem man alles ändert?

Und sie hat recht, nehme ich an. Was, wenn ich ihre Stimme höre und ihre Briefe nicht mehr so besonders sind? Ich stelle mir ihre Persönlichkeit durch ihre Worte vor. Wenn ich ihre Stimme hören würde, wäre das anders.

Aber was, wenn ich ihre Stimme höre und sie mir gefällt? Was, wenn mich ihr Lachen in meinem Ohr so sehr in seinen Bann zieht, wie ihre Worte es tun, und ich mehr will?

Ich bin schon versessen genug auf ihre Zeilen. Deshalb sitze ich in meinem Truck auf einem leeren Parkplatz und lese immer wieder ihre alten Briefe. Weil sie meine Musik inspirieren.

Sie ist meine Muse, und das weiß sie mittlerweile bestimmt auch. Ich schicke ihr schon seit Jahren meine Texte zum Durchlesen.

Mein Handy klingelt, und ich sehe Danes Namen auf dem Display.

Ich seufze laut auf und hebe ab. »Was?«

»Wo bist du?«

»Ich bin auf dem Weg.« Ich lasse den Motor an und fahre los.

»Nein, du sitzt in deinem Truck auf irgendeinem Parkplatz und schreibst Texte, stimmt’s?«

Ich verdrehe die Augen, beende den Anruf und werfe mein Handy auf den Beifahrersitz.

Autofahren hilft mir beim Denken. Er muss mir nicht den Kopf abreißen, nur weil in mir plötzlich die Ideen sprudeln.

Ich fahre auf die Straße und gebe Gas in Richtung der alten Fabrikhalle außerhalb der Stadt. Unsere Band veranstaltet eine Art Schnitzeljagd, um Geld für unsere Sommertour in ein paar Monaten zusammenzubekommen. Und obwohl ich der Meinung war, dass wir nur ein paar Gigs spielen sollten – vielleicht mit ein paar anderen lokalen Bands –, hatte Dane etwas anderes im Sinn, etwas, das ein größeres Publikum anziehen würde.

Wir werden sehen, ob er recht hat.

Die kalte Februarluft zieht durch meinen Hoodie. Ich drehe die Heizung auf und schalte das Fernlicht ein, das ein helles Leuchten in die Dunkelheit vor mir wirft.

Das ist die Straße nach Falcon’s Well, wo Ryen lebt. Wenn ich weiterfahre, an der Fabrik vorbei, die Ausfahrt zum Cove – einem Vergnügungspark – nehme, dann komme ich irgendwann in ihrer Stadt an. Seit ich meinen Führerschein habe, war ich schon mehrmals versucht, dorthin zu fahren und meiner Neugier nachzugeben. Aber ich habe es nie getan. Wie ich schon sagte, es ist das Risiko nicht wert, das zu verlieren, was wir haben. Außer sie ist auch dafür.

Ich beuge mich zum Beifahrersitz rüber und schiebe den Block und andere Blätter zur Seite, um nach meiner Uhr zu suchen. Ich habe sie gestern hier liegen lassen, als ich den Truck gewaschen habe. Sie ist eine der wenigen Sachen, für die ich verantwortlich bin. Sie ist ein Familienerbstück.

So was in der Art.

Ich finde sie und halte das Lenkrad fest, während ich mir das schwarze Lederarmband mit dem Ziffernblatt in der Mitte ums Handgelenk binde. Sie hat meinem Großvater gehört, bevor er sie zur Hochzeit meiner Eltern meinem Vater gegeben hat, damit er sie an seinen erstgeborenen Sohn weiterreichen würde. Letztes Jahr hat er sie mir endlich gegeben, und ich musste feststellen, dass ihm das Original doch tatsächlich abhandengekommen war. Eine antike Jaeger-LeCoultre-Uhr, die schon seit achtzig Jahren im Besitz meiner Familie war.

Und ich werde sie wiederfinden. Bis dahin schmiegt sich eine billige Kopie um mein Handgelenk.

Ich schließe das Armband, blicke auf und sehe vor mir etwas auf der Straße.

Als ich näher komme, erkenne ich eine Gestalt, die sich am Straßenrand bewegt. Der blonde Pferdeschwanz, die schwarze Jacke und die neonblauen Laufschuhe sind unverkennbar.

Du willst mich doch verarschen. Verdammt.

Das Scheinwerferlicht fällt auf den Rücken meiner Schwester und lässt sie in der dunklen Nacht aufleuchten. Als sie endlich bemerkt, dass da jemand ist, und ihren Kopf herumdreht, stelle ich die Musik leiser.

Ihre Gesichtszüge entspannen sich, als sie sieht, dass ich es bin. Hervorragende Sicherheitsvorkehrungen, Annie.

Ich fahre langsamer, drehe das Beifahrerfenster runter und fahre neben ihr her. »Weißt du, wie du aussiehst?«, rufe ich und fasse verärgert das Lenkrad fester. »Wie Beute für einen Serienmörder!«

Leise lachend schüttelt sie ihren Kopf und läuft schneller, was mich auch zum Schnellerfahren zwingt. »Und weißt du, wo wir sind?«, kontert sie. »Auf der Straße zwischen Thunder Bay und Falcon’s Well. Niemand ist je auf dieser Straße unterwegs. Mir geht’s gut.« Sie zieht eine Augenbraue nach oben. »Und du klingst wie Dad.«

Ich werfe ihr einen bösen Blick zu. »A: Ich bin auf dieser Straße. Sie ist also nicht verlassen. Und B: Schüttle nicht deinen Kopf über mich, nur weil du die einzige Dumme bist, die nachts im Nirgendwo joggen geht, und ich nicht will, dass du vergewaltigt und ermordet wirst. Und C: Das war gemein. Ich klinge nicht wie Dad, also hör auf, mich damit zu nerven. Das ist nicht nett.« Und dann rufe ich: »Und jetzt steig in den verdammten Truck.«

Sie schüttelt wieder den Kopf. Genau wie Ryen liebt sie es, mich aufzuziehen.

Annie ist meine einzige Schwester, und trotz meiner nicht gerade guten Beziehung zu meinem Dad verstehen wir zwei uns wirklich gut.

Sie joggt weiter, atmet schwer, und mir fallen ihre Augenringe und die eingefallenen Wangen auf. Das Bedürfnis, sie zu schimpfen, überkommt mich, aber ich halte mich zurück. Sie arbeitet zu hart und schläft kaum.

»Komm schon«, sage ich ungeduldig. »Im Ernst, ich habe keine Zeit für so was.«

»Was machst du dann hier?«

Ich blicke auf die leere Straße und vergewissere mich, dass ich nicht ausschere. »Es ist diese Schnitzeljagd-Sache heute Abend. Ich habe einen Auftritt. Warum bist du nicht auf den gut beleuchteten Wegen im Park im Schutz von zwei Dutzend anderer Jogger unterwegs? Hm?«

»Spiel nicht meinen Babysitter.«

»Sei nicht dumm«, entgegne ich.

Ich meine, was denkt sie sich bloß? Es ist schon schlimm genug, hier am Tag alleine unterwegs zu sein. Aber in der Nacht?

Ich bin ein Jahr älter und mache diesen Mai meinen Abschluss, aber normalerweise ist sie die Verantwortungsvolle von uns beiden.

Das erinnert mich an etwas. »Hey«, brumme ich. »Hast du heute Morgen sechzig Dollar aus meinem Geldbeutel genommen?«

Ich habe bemerkt, dass es fehlt, weil ich gestern erst Geld abgehoben und es nicht ausgegeben habe. Es ist das dritte Mal, dass mir Bargeld fehlt.

Sie setzt das Gesicht einer traurigen Zehnjährigen auf, weil sie weiß, dass das bei mir zieht. »Ich musste ein paar Sachen für ein Physikprojekt einkaufen, und du gibst dein Geld nie aus. Es sollte nicht so verschwendet werden.«

Ich verdrehe die Augen.

Sie weiß, dass sie unseren Dad um mehr Geld bitten kann. Annie ist sein Engel, er würde ihr alles geben, was sie will.

Aber wie könnte ich ihr böse sein? Sie wird es zu etwas bringen und ist ein glückliches Mädchen. Ich nehme an, ich würde alles tun, um sie noch glücklicher zu machen.

Sie grinst, weil sie vermutlich sieht, wie ich weich werde. Dann kommt sie ans Auto, hält sich am Fensterrahmen fest und springt auf die Trittstufe unter der Tür. »Hey, kannst du mir ein Root Beer mitbringen?«, fragt sie. »Ein eiskaltes Root Beer auf deinem Heimweg von der Fabrik? Denn wir beide wissen, dass du dort nur fünf Minuten bleiben wirst. Außer du findest ein heißes Mädchen, das dich dazu bringt, gesellig zu werden, stimmt’s?«

Ich muss lachen. Blöde Kuh.

»Na gut.« Ich nicke. »Steig ein, und du kannst mit mir zur Tankstelle kommen. Wie wäre es damit?«

»Und ein paar Karamellbonbons«, fügt sie hinzu und ignoriert meinen Vorschlag. »Oder irgendetwas anderes zum Kauen.« Dann springt sie wieder von der Stufe herunter und joggt noch schneller von mir weg.

»Annie!« Ich gebe Gas und hole sie ein. »Jetzt.«

Sie schaut mich an und kichert. »Misha, mein Auto ist genau dort drüben!« Sie deutet nach vorn. »Schau.«

Ich werfe einen Blick die Straße runter und sehe, dass sie recht hat. Ihr blauer MINI Cooper steht auf der rechten Seite und wartet auf sie.

»Wir sehen uns zu Hause«, sagt sie.

»Dann bist du jetzt genug gejoggt?«

»Jaaaa.« Sie verbeugt sich dramatisch vor mir. »Bis später, okay? Und vergiss mein Root Beer und meine Süßigkeiten nicht.«

Ich grinse sie verschmitzt an. »Das würde ich ja gerne, aber ich habe kein Geld.«

»Du hast Geld in deiner Mittelkonsole«, entgegnet sie. »Tu nicht so, als würdest du nicht überall Kleingeld hineinstecken, anstatt die Dinge an ihren richtigen Ort zu legen. Ich wette, du hast hundert Dollar im ganzen Truck verteilt.«

Ich schnaube auf. Ja, das bin ich. Der böse, ältere Bruder, der hinter sich nicht aufräumt und Mozzarella-Sticks zum Frühstück isst.

Ich trete aufs Gas und fahre die Straße hinunter. Aber ich höre noch ein Rufen hinter mir.

»Und ein paar Dill-Kartoffelchips!«

Ich sehe im Rückspiegel, wie sie ihre Hände beim Rufen um den Mund legt. Ich hupe zweimal, um sie wissen zu lassen, dass ich sie gehört habe, fahre schnell los und halte dann vor ihrem Auto.

Jetzt sehe ich im Rückspiegel, wie sie ihren Kopf schüttelt, weil ich so übervorsichtig bin, und warte, bis sie im Auto ist.

Sorry, aber was soll ich sagen? Ich werde meine hübsche siebzehnjährige Schwester um zehn Uhr abends nicht alleine auf der Straße lassen.

Sie holt die Schlüssel aus ihrer Jackentasche, sperrt die Tür auf und winkt mir zu, bevor sie einsteigt. Als ich sehe, wie ihre Scheinwerfer angehen, fahre ich schließlich los.

Ich trete aufs Gaspedal, lehne mich in meinem Sitz zurück und fahre die Straße entlang zu der alten Fabrikhalle. Ihre Scheinwerferlichter verschwinden in meinem Rückspiegel, als ich über einen kleinen Hügel fahre, und sofort überkommen mich Sorgen. Sie sieht nicht gut aus. Ich glaube nicht, dass sie krank ist, aber sie sieht blass und müde aus.

Fahr heim und geh ins Bett, Annie. Hör auf, immer um 4:30 Uhr morgens aufzustehen, und schlaf dich mal so richtig aus.

Sie ist die Perfekte von uns beiden. Einser-Durchschnitt, Star unserer Schul-Volleyballmannschaft, Trainerin eines Mädchen-Softballteams, und nicht zu vergessen die ganzen AGs und Extraprojekte, an denen sie teilnimmt …

Meine Zimmerwände sind mit Postern und schwarzem Edding verziert, weil ich meine Textzeilen überall hinschreibe. Ihre Wände sind mit Regalen voller Trophäen, Medaillen und Preisen geschmückt.

Wenn nur jeder ihre Energie hätte!

Ich biege auf eine Schotterstraße ab, fahre ein paar Kurven und sehe dann eine Lichtung vor mir, die von dunklen Bäumen umgeben ist. Das große Gebäude taucht imposant vor mir auf. Die meisten Fenster sind zerbrochen, und ich kann drinnen schon Lichter und die Schatten von sich bewegenden Menschen sehen.

Ich glaube, hier wurden einmal Schuhe oder so hergestellt, aber als Thunder Bay eine florierende, wohlhabende Gemeinde wurde, wurde die Produktion in die Stadt verlegt, um den Lärm und die Verschmutzung von den empfindlichen Ohren und Nasen der Einwohner fernzuhalten.

Aber die Fabrik erfüllt weiterhin ihre Zwecke, obwohl sie zur Ruine verfällt. Lagerfeuer, Partys, Halloweenfeiern… Sie ist mittlerweile ein Ort der Verwüstung, und heute gehört sie uns.

Nachdem ich geparkt habe, steige ich aus dem Truck und schließe ihn ab. Dabei geht es mir eher darum, Ryens Briefe und meinen Block zu beschützen als den Geldbeutel in der Mittelkonsole.

Ich gehe durch den Eingang und bleibe nicht mehr stehen, um mich umzublicken. Square Hammer von Ghost ertönt aus den Lautsprechern, als ich mir meinen Weg durch die Menge bahne in Richtung der Ecke, wo ich den Rest der Jungs finden werde. Sie schnappen sich immer die Sitze dort, wenn wir hier feiern.

»Misha!«, ruft jemand.

Ich blicke auf und nicke einem Typen zu, der mit seinen Kumpels neben einem Pfosten steht. Aber ich gehe weiter. Hände klopfen mir auf den Rücken, und ein paar Leute grüßen mich. Alle bewegen sich, und ihr Gelächter wetteifert mit der Musik, während überall um mich herum Handydisplays aufleuchten und Fotos gemacht werden.

Dane hatte wohl recht. Alle scheinen dieses Event zu lieben.

Die Jungs sind genau da, wo ich sie vermutet habe. Sie sitzen auf den Couchen in der Ecke. Dane macht etwas am iPad und koordiniert das Event wahrscheinlich online. Er trägt eine Cargohose und ein T-Shirt – sein übliches Outfit, egal, was für ein Wetter draußen ist. Lotus bindet sein schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz, während er mit ein paar Mädchen redet und Malcolm sich eine Bong an den Mund hält und sie anzündet. Sein braunes, lockiges Haar verdeckt seine zweifellos blutunterlaufenen Augen.

Na toll.

»Also, hier bin ich.« Ich beuge mich über den Tisch, hebe die Gitarrenkabel auf, die einer von ihnen in einem verschütteten Drink liegen gelassen hat, und werfe sie auf die Couch. »Wo wollt ihr mich?«

»Was denkst du denn?«, fragt unser Drummer Malcolm. Qualm kommt aus seinem Mund, als er seinen Kopf zu der Menge hinter mir dreht. »Sie wollen dich, Hübscher. Geh und dreh deine Runden.«

Ich werfe einen Blick über die Schulter und verziehe das Gesicht. »Ja … nein.« Auf die Bühne zu gehen, zu singen und Gitarre zu spielen ist eine Sache. Ich habe einen Job und weiß, was ich zu tun habe.

Aber das? Menschen zu unterhalten, die ich nicht kenne, um Geld zu erbetteln? Wir brauchen die Kohle, und ich habe meine Talente, aber Konversation gehört nicht dazu. Da lasse ich nicht mit mir verhandeln.

»Ich mache die Security«, sage ich zu ihnen.

»Wir brauchen keine Security.« Dane steht auf und hat sein allgegenwärtiges Grinsen im Gesicht. »Sieh dir diesen Ort hier an. Jeder hier ist großartig.« Er geht auf mich zu, und wir drehen uns beide zu der Menge um. »Entspann dich und rede mit jemandem. Hier gibt es jede Menge gut aussehende Mädels.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. Mag sein. Aber ich werde heute Abend nicht lange bleiben. Ich habe immer noch diesen Song in meinem Kopf, und ich will ihn zu Ende bringen.

Dane und ich beobachten die Menge, und ich sehe, dass die Leute Karten mit sich herumtragen, die sie am Eingang mitgenommen haben. Auf jeder Karte steht eine spezielle Aufgabe für die Schnitzeljagd.

 

Mach ein Foto von einer Pyramide aus sechs Personen.

Mach ein Foto von einem Mann mit Lippenstift.

Mach ein Foto von dir, wie du einen Fremden küsst.

Manche der Aufgaben werden auch noch ein bisschen schmutziger.

Sie müssen die Fotos auf Facebook hochladen und die Homepage unserer Band markieren. Dann suchen wir uns einen Gewinner aus, der … ich weiß nicht mehr was gewinnt. Da habe ich nicht aufgepasst.

Jeder muss ein Ticket kaufen, um eingelassen zu werden, aber da es eine gut bestückte Bar gibt, war es offensichtlich nicht schwer, die Leute davon zu überzeugen, den Eintrittspreis zu zahlen. Die Barkeeper sollten sich eigentlich von jedem den Ausweis zeigen lassen, aber das ist Blödsinn. In dieser Stadt trinkt und bekommt jeder, was er will, und niemanden interessiert es.

»Wie geht es dir denn?«, fragt Dane. »Sitzt dir dein Dad wieder im Nacken?«

»Mir geht es gut.«

Er schaut mich fragend an, und ich weiß, dass er mehr hören will. Aber dann gibt er auf. »Du hättest Annie mitbringen sollen. Es hätte ihr hier gefallen.«

»Keine Chance.« Ich muss lachen, und der Geruch von Haschisch dringt mir in die Nase. »Meine Schwester ist tabu. Hast du das verstanden?«

»Hey, ich habe ja gar nichts gesagt.« Er tut ganz unschuldig, hat aber ein verschmitztes Grinsen im Gesicht. »Ich bin nur der Meinung, dass sie viel arbeitet und ein bisschen Spaß verdient hätte.«

»Spaß, ja. Ärger, nein«, korrigiere ich ihn. »Annie ist auf einem guten Weg und braucht keine Ablenkung. Sie hat eine Zukunft vor sich.«

»Und du etwa nicht?«

Ich spüre seinen Blick auf mir und die Aufforderung, die in der Luft hängt. Das habe ich nicht gesagt, oder?

Dane ist einen Augenblick lang leise und fragt sich wahrscheinlich, ob ich noch antworte. Aber dann wechselt er wieder einfach das Thema.

»Na schön, sieh dir das an«, sagt er, beugt sich zu mir und hält mir das iPad vor die Nase, während er darauf scrollt. »Vierhundertfünfzig Menschen haben bereits eingecheckt. Videos und Fotos werden gepostet, es gibt Hunderte von Tags, und die Leute gehen auf ihren eigenen Profilen sogar live … Das hat besser geklappt, als ich es mir vorgestellt hätte. Der Aufwand zahlt sich bereits aus. Die Treffer für unsere eigenen YouTube-Videos haben sich heute Abend vervierfacht.«

Ich werfe einen Blick auf das Display und sehe den Namen unserer Band mit einer Menge Fotos in den Kommentaren. Getränke werden nach oben gehalten, Mädchen grinsen in die Kamera, und ein paar Videos, die die Fabrikhalle zeigen, laufen ab, während er scrollt.

»Das hast du gut gemacht.« Ich werfe einen Blick zurück in die Halle. »Sieht so aus, als wäre die Tour finanziert.«

Ich muss gestehen, jeder hat Spaß, und wir verdienen Geld.

»Komm morgen mal vorbei«, sage ich zu ihm. »Ich habe ein paar Texte, die ich ausprobieren möchte.«

»Gut«, antwortet er. »Und jetzt tu mir einen Gefallen und entspann dich, bitte. Du siehst aus, als wärst du auf einem Schachturnier.«

Ich schaue ihn finster an, nehme ihm das iPad aus der Hand und lasse ihn lachend zurück zu den anderen Jungs gehen.

Während ich herumlaufe, scrolle ich durch die Kommentare und erkenne viele Namen von Freunden und Klassenkameraden, die gekommen sind, um uns zu unterstützen. Der Geruch der kleinen Feuer von den Feuerstellen zieht mir in die Nase, und ich betrachte ein Foto von einem Kerl, der mit Edding das Wort PFERD über seinen Hosenstall geschrieben hat. Ein Mädchen deutet darauf und posiert mit überraschtem Gesichtsausdruck und Hand vor dem Mund für die Kamera. Unter dem Foto steht: Ich habe ein Pferd gefunden!

Ich muss lachen. Natürlich können ein paar der Aufgaben nur gelöst werden, wenn man wirklich kreativ wird. Mach ein Bild von dir mit einem Pferd, zum Beispiel. Das hat sie geschafft.

Da sind unendlich viele Fotos und Videos, und ich weiß nicht, wie Dane sich das morgen alles anschauen will. Aber so, wie ich ihn kenne, wird er den Gewinner nicht zufällig und fair auswählen. Er wird einfach das am besten aussehende Mädchen von den Fotos aussuchen.

Ich scrolle weiter nach unten und komme zu einem Video, das beginnt, sich abzuspielen. Zu sehen ist ein Mädchen an einer Bar mit einem Getränkeschlauch in der Hand, den sie von sich weggerichtet hält. Wasser schießt nach oben und fällt dann wie in einem Brunnen wieder herunter.

Sie vollführt einen kleinen, sexy Tanz und lacht in die Kamera. »Ich stehe in einem Brunnen!«, verkündet sie, und das Tanktop, das sie trägt, verdeckt kaum ihre Brüste.

Im kalten Februarwetter von Neuengland trägt sie ein Tanktop.

Aber dann nimmt ihr einer der Barkeeper den Schlauch aus der Hand und legt ihn wieder an seinen Platz hinter der Bar, bevor er ihr einen verärgerten Blick zuwirft.

Ich höre leises Lachen von der anderen Seite der Kamera.

Das Mädchen im Tanktop greift nach dem Handy. »Okay, das war peinlich. Gib es mir. Ich muss es bearbeiten, bevor ich es poste.«

»Mh, mh«, sagt die weibliche Stimme hinter der Kamera, während sie sich wegbewegt.

Aber das Mädchen im Tanktop läuft ihr kreischend nach. »Ryen!« Dann höre ich Lachen, und das Video ist zu Ende.

Ich stehe da, starre auf das iPad, und plötzlich beginnt mein Herz in der Brust zu rasen.

Ryen?

Das Mädchen hinter der Kamera heißt Ryen?

Nein, das ist nicht sie. Das kann nicht sein. Es gibt bestimmt viele Mädchen mit diesem Namen. Sie kann nicht hier sein.

Aber als ich wieder auf das Video schaue, fällt mein Blick auf die Namen über dem Post. Sie hat die Band und ein paar andere Leute erwähnt. Und dann fällt mein Blick auf den Namen der Person, die das Video gepostet hat.

Ryen Trevarrow.

Ich straffe die Schultern, und meine Brust hebt und senkt sich mit meinen flachen Atemzügen.

O mein Gott.

Scheiße! Sofort hebe ich den Kopf und kann nicht anders, als mich in der Menge umzuschauen und jedes einzelne Gesicht genau unter die Lupe zu nehmen.

Jedes dieser Mädchen könnte sie sein. Sie ist hier? Was zum Teufel?

Ich blicke wieder auf das iPad und fahre zögernd mit dem Finger über ihren Namen.

Ich kenne sie seit sieben Jahren, habe aber noch nie ihr Gesicht gesehen. Wenn ich sie jetzt ausfindig mache, gibt es kein Zurück mehr.

Aber sie ist hier. Ich kann nicht nicht nach ihr suchen. Nicht, wenn ich weiß, dass sie direkt in meiner Nähe sein könnte.

Das kann man von keinem verlangen.

Und wir haben uns nie versprochen, dass wir uns nicht auf Facebook suchen würden. Wir haben einfach nur gesagt, dass wir nicht über die sozialen Medien kommunizieren würden. Vielleicht hat sie mich ja auch schon gesucht. Sie könnte jetzt in diesem Moment nach mir suchen, weil sie weiß, in welcher Band ich bin und dass das unsere Veranstaltung ist. Vielleicht ist sie ja deswegen hier.

Scheiß drauf. Ich tippe ihren Namen ein und warte wie versteinert, bis ihr Profil auftaucht.

Und dann sehe ich sie.

Ihr Foto taucht auf, das Herz rutscht mir in die Hose, und mir bleibt die Luft weg.

Heilige Scheiße.

Schmale Schultern unter langem, hellbraunem Haar. Herzförmiges Gesicht mit vollen, rosa Lippen und ein herausfordernder Blick in ihren hellblauen Augen. Glänzende Haut und ein wunderschöner Körper.

Soweit ich es sehen kann, zumindest.

Ich lasse meinen Kopf in den Nacken fallen und hole tief Luft. Verdammt, Ryen Trevarrow.

Sie hat mich angelogen.

Na ja, nicht direkt angelogen. Aber aus ihren Briefen hatte ich den Eindruck bekommen, dass sie nicht direkt so aussieht.

Ich habe mir ein graues Mäuschen mit Brille und lila Spangen im Haar vorgestellt, das ein Star Wars-T-Shirt trägt.

Ich schaue wieder auf ihr Bild, und mein Blick fällt auf ihren Rücken, wo ihre Haut stellenweise durch das sexy Oberteil scheint, als sie über die Schulter hinweg in die Kamera blickt. Mir wird ganz warm, und ich betrachte schnell ihr Profil, um nach irgendeinem Hinweis zu suchen, dass es nicht sie ist.

Bitte lass es nicht sie sein. Bitte sei einfach süß, sozial unbedarft, schüchtern und alles, für das ich dich in den letzten sieben Jahren geliebt habe. Verkomplizier es nicht, indem du scharf bist.

Aber alles passt. Jeder Hinweis bestätigt, dass es Ryen ist. Meine Ryen.

Sie teilt Gallo’s, ihr Lieblings-Pizzarestaurant. Sie hat die Songs markiert, die sie gerne hört, die Filme, die sie gerne schaut. Und all das wurde von der neuesten iPhone-Version gepostet. Ihr wertvollster Besitz auf der Welt.

Scheiße.

Ich schalte Danes iPad aus und bewege mich durch die Menge. Die Heizlüfter erwärmen die kalte Luft, ich komme an noch mehr Feuerstellen vorbei und rieche gegrillte Marshmallows. Musik dröhnt aus den Boxen ringsherum, und ich spanne den Kiefer an, um mein Herz zu beruhigen.

Ich gehe zur Bar, lege das iPad ab und verschränke die Arme vor der Brust. Reiß dich zusammen. Wenn sie hier ist, um mich zu sehen, dann wird sie mich finden. Wenn nicht, dann … Was? Dann lasse ich es einfach sein?

»Hi.«

Ich hebe den Blick, und das Herz rutscht mir in die Hose. Das Brunnenmädchen aus dem Video steht nur ein paar Schritte von mir entfernt.

Und neben ihr …

Mein Blick landet auf Ryen, und ich weiß, dass ihre Freundin gerade gesprochen hat, aber das ist mir egal. Ryen steht ruhig neben ihr und schaut mich zögernd aus zusammengekniffenen Augen an.

Ihr Haar ist lang und glatt – nicht gelockt wie auf dem Facebook-Foto –, und sie trägt ein schwarzes schulterfreies Oberteil und enge, zerrissene Jeans. Ich kann zum Teil ihre Hüften sehen.

Ryen. Meine Ryen. Ich balle die Hände unter meinen Armen zu Fäusten, und all meine Muskeln sind angespannt.

Sie sagt kein Wort. Weiß sie, wer ich bin?

Ich höre, wie ihre Freundin sich räuspert, und ich blinzle. Ich zwinge mich, sie anzusehen, und antworte schließlich: »Hi.«

Das Brunnenmädchen legt den Kopf schief. »Also, ich brauche einen Kuss«, sagt sie nüchtern.

Mein Atem geht flach, und ich bin mir Ryens Gegenwart so bewusst, dass es wehtut.

»Ach ja? Jetzt?«, sage ich, und mir fällt ihr langes, dunkles Haar auf, das über einem Schal liegt, den sie zusammen mit einem grauen Tanktop trägt. Es ist arschkalt hier drin.

Sie deutet auf ihre Karte. »Ja, das ist meine Aufgabe.«

Dann lässt sie ihren Blick über meinen Körper wandern, und ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Ich nehme an, das bedeutet, sie will einen Kuss von mir?

Sie macht einen Schritt nach vorne, aber bevor sie zu nahe kommen kann, nehme ich ihr die Karte aus der Hand und studiere sie.

»Lustig. Das steht hier gar nicht«, sage ich und gebe ihr die Karte zurück.

»Ich tue es für sie«, erklärt sie mir und schaut zu ihrer Freundin. »Sie ist schüchtern.«

»Ich bin wählerisch«, entgegnet Ryen. Schnell blicke ich wieder zu ihr, und ihre schnippische Antwort spornt mich an.

Sie legt trotzig ihren Kopf schief und schaut mir direkt in die Augen.

Heißt das, ich bin nicht gut genug? Soso … Ich verkneife mir ein Grinsen.

»Lyla!«, ruft jemand von nah. »O mein Gott, komm her!«

Ryens Freundin dreht ihren Kopf zu einer Gruppe von Leuten zu ihrer Linken und lacht über das, was auch immer sie tun. Dann muss sie Lyla sein.

Sie wendet sich wieder mir zu. »Ich bin gleich zurück.« Als ob mich das interessieren würde. »Aber bitte küss sie einfach. Sie braucht es.« Dann bemerkt sie, wie Ryen ihr einen finsteren Blick zuwirft, dreht sich noch mal zu mir um und verbessert sich: »Für ihre Schnitzeljagd, meine ich natürlich.«

Sie geht lachend davon. Ich erwarte fast, dass Ryen ihr folgt, aber das tut sie nicht.

Jetzt sind es nur noch wir beide.

Mir bricht kalter Schweiß im Nacken aus, und ich schaue Ryen an. Wir sind beide in einer unangenehmen Stille gefangen.

Warum sagt sie nichts? Sie muss doch wissen, wer ich bin. Natürlich weiß sie nicht, dass ich vor Kurzem eine Band gegründet habe, weil ich sie damit überraschen wollte. Ich wollte ihr zu ihrem Abschluss in ein paar Monaten ein altes Demotape aus der Schule schicken, aber heutzutage ist es verdammt schwer, unsichtbar zu bleiben. Unsere Namen und Fotos sind auf unserer Facebook-Seite und auf den Karten am Eingang. Will sie mit mir spielen?

Ich sehe, wie sich ihre Brust hebt und senkt und sie ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagert, als würde sie darauf warten, dass ich etwas sage. Als ich das nicht tue, seufzt sie und schaut auf ihre Karte. »Ich brauche auch noch ein Foto, auf dem ich mit jemand etwas esse wie Susi und Strolch.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und verenge meine Augen zu Schlitzen. Will sie dieses Spielchen fortführen?

»Oder …«, sagt sie weiter und klingt genervt, wahrscheinlich, weil ich nicht antworte. »Ich brauche ein Foto von einem Foto auf einem Foto. Was auch immer das bedeutet.«

Ich bleibe still, und es ärgert mich ein bisschen, dass sie so ahnungslos tut. Sieben Jahre, und so treffen wir das erste Mal aufeinander, mein Engel?

Sie schüttelt den Kopf, als wäre ich der Unhöfliche hier. »Okay, vergiss es einfach.« Dann dreht sie sich um und geht los.

»Warte!«, ruft jemand.

Dane läuft hinter Ryen her, hält sie auf und kommt dann mit ihr wieder zu mir zurück. »Mann, warum siehst du sie an, als hätte sie deine Oma geschlagen? Verdammt.«

Er wendet sich Ryen zu und grinst. »Hey, wie geht’s?«

Ich senke für einen Moment meinen Blick. Weiß sie wirklich nicht, wer ich bin?

Ich nehme an, hier sind jede Menge Leute, die noch nicht von uns gehört haben. Wir sind nicht sehr bekannt, und dieses Event ist heute Abend wahrscheinlich das einzige in einem Umkreis von fünfzig Meilen. Sie könnte also auch einfach nur hier sein, weil es nichts anderes zu tun gibt.

Vielleicht hat sie keine Ahnung, dass sie gerade vor Misha Lare steht. Vor dem Jungen, dem sie Briefe schreibt, seit sie elf Jahre alt war.

»Wie heißt du?«, fragt Dane sie.

Sie dreht sich zu uns um und funkelt mich an. Dank mir ist sie jetzt wohl auf der Hut.

»Ryen«, antwortet sie. »Und du?«

»Dane.« Dann wendet er sich mir zu. »Und das ist…« Aber ich strecke meine Hand aus und boxe ihm leicht in den Bauch.

Nein. Nicht so.

Ryen sieht unseren Zwist, runzelt die Stirn und fragt sich wahrscheinlich, was ich für ein Problem habe.

»Du wohnst also in Falcon’s Well?«, fährt Dane fort und wechselt für mich das Thema.

»Ja.«

Er nickt, sie starren sich an und schweigen.

»Okay, dann …« Dane klatscht in die Hände. »Ich habe gehört, wie du gesagt hast, dass du jemanden brauchst, der etwas mit dir isst wie Susi und Strolch?«

Ohne auf ihre Antwort zu warten, greift er über die Bar und holt etwas aus den Beilagenkörbchen. Er hält eine Zitrone hoch, und Ryen verzieht das Gesicht. »Eine Zitrone?«

»Traust du dich etwa nicht?«, fordert er sie heraus.

Sie schüttelt nur den Kopf.

»Okay, warte«, sagt er. Ich kann meinen Blick nicht von ihr wenden, während ich weiter versuche zu verarbeiten, dass das Ryen ist, verdammt.

Ihre schlanken Finger, die mir fünfhundertzweiundachtzig Briefe geschrieben haben. Das Kinn, wo sie – wie ich weiß – Make-up benutzt, um eine kleine Narbe zu verdecken, die sie sich mit acht Jahren beim Eislaufen zugezogen hat. Das Haar, das sie – wie sie mir erzählt hat – jeden Abend zurückbindet, weil sie sagt, es gibt nichts Schlimmeres, als am Morgen mit Haaren im Mund aufzuwachen.

Ich hatte ein halbes Dutzend Freundinnen, und alle von ihnen kannte ich zehnmal schlechter als dieses Mädchen.

Und sie hat wirklich keine Ahnung …

Dane kommt mit einem Holzspieß zurück, auf dem ein gegrilltes Marshmallow von einem der Lagerfeuer steckt.

Er reicht ihn mir. »Spiel bitte mit.«

Dann dreht er sich zu ihr um und nimmt ihr Handy. »Auf geht’s. Ich mache das Foto.«

Ryens amüsierter Blick wendet sich mir zu und verfinstert sich augenblicklich, weil sie anscheinend nicht gerade scharf darauf ist, mit mir etwas wie Susi und Strolch zu essen.

Aber sie macht keinen Rückzieher oder täuscht Schüchternheit vor. Sie schnappt sich einen Barhocker und stellt sich auf die unterste Stange, um größer zu sein. Sie ist nicht klein, aber sie ist definitiv keine eins zweiundachtzig wie ich. Mit halb geöffneten Lippen beugt sie sich zu mir, blickt mir in die Augen, und mein Herz beginnt, wie verrückt zu schlagen. Ich muss mich zusammenreißen, dass ich meine Arme nicht ausstrecke und sie berühre.

Aber sie hält inne. »Ich komme jetzt mit meinem geöffneten Mund auf dich zu«, sagt sie. »Du musst mir zeigen, dass du das willst.«

Ich kann mir ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.

Verdammt, ist sie sexy.

Das hätte ich nicht erwartet.

Ich knicke ein. Ich halte das Marshmallow hoch und öffne den Mund. Ich wende meinen Blick nicht von ihr ab, als wir uns beide nach vorne beugen und davon abbeißen. Wir halten einen Moment inne, damit Dane das Foto machen kann. Ihre Augen fangen meine ein, und ich kann ihren Atem auf meinen Lippen spüren, während sich ihre Brust hebt und senkt.

Mein Körper steht in Flammen, und als sie sich noch weiter vorbeugt, um noch einen Bissen zu nehmen, berühren ihre Lippen meine, und ich stöhne leise auf.

Ich ziehe mich zurück und schlucke das restliche Marshmallow im Ganzen. Verdammt.

Sie kaut ihr Stück Marshmallow, leckt sich über die Lippen und steigt vom Barhocker runter. »Danke.«

Ich nicke. Ich kann Danes Blick auf mir fühlen, und ich bin mir sicher, er weiß, dass etwas nicht stimmt. Ich lege den Holzspieß auf die Bar und schaue ihn an. Er grinst verschmitzt.

Mistkerl.

Ja, okay. Ich mochte das Marshmallow, Dane. Ich würde am liebsten ein Dutzend Marshmallows mit ihr essen. Vielleicht fahre ich doch noch nicht so bald nach Hause, okay?

Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche, und ich nehme es heraus und sehe Annies Namen. Ich ignoriere den Anruf. Sie fragt sich wahrscheinlich, wo ich mit ihren Snacks bleibe. Ich werde sie gleich zurückrufen.

»Also …«, sagte Dane. »Wenn du all diese Fotos auf deiner Seite postest … Du hast keinen eifersüchtigen Freund, der uns deswegen auflauern wird, oder?«

Ich spanne meine Muskeln an. Ryen hat keinen Freund. Das hätte sie mir erzählt.

»Nein«, antwortet sie. »Er weiß, dass er mich nicht einsperren kann.«

Dane lacht, und ich stehe da und höre ihr zu.

»Nein, ich habe keinen Freund«, antwortet sie dann ernst.

»Das kann ich nur schwer glauben …«

»Und ich bin auch nicht auf der Suche nach einem«, fällt sie Dane ins Wort. »Ich hatte mal einen. Man muss sie immer baden und füttern und mit ihnen spazieren gehen …«

»Was ist passiert?«, will Dane wissen.

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hatte meine Ansprüche anscheinend zu sehr zurückgeschraubt. Danach wurde ich wählerisch.«

»Gibt es irgendeinen Mann, der deinen Ansprüchen gerecht wird?«

»Einen.« Sie schaut erst mich und dann wieder Dane an. »Aber ich habe ihn noch nie getroffen.«

Einen. Einen Mann, der ihren Ansprüchen gerecht wird. Meint sie mich?

Mein Handy vibriert wieder, und ich fasse in die Tasche, um es leise zu schalten.

Ich blicke auf und sehe überall Kameras blitzen, weil Leute vor der Graffiti-Wand rechts von uns Fotos machen.

Ich gehe auf sie zu und nehme ihr Handy. Sie schaut mich überrascht an, aber ich gehe hinter sie und mache die Kamera an. Dann stelle ich den Selfie-Modus ein und beuge mich runter, damit wir beide im Bild sind. Aber ich richte das Handy so aus, dass auch der Kerl hinter uns zu sehen ist, der ein Foto von zwei Mädchen vor der Graffiti-Wand macht. »Ein Foto …«, flüstere ich ihr ins Ohr und deute auf unser Selfie, »… von einem Foto«, ich deute auf den Kerl hinter uns, der ein Foto macht, »… von einem Foto.« Und dann deute ich auf die Graffiti-Wand, vor der die Mädchen stehen.

Ein Lächeln legt sich auf ihr Gesicht. »Das ist clever. Danke.«

Ich mache das Foto und halte den Moment für immer fest.

Bevor ich mich zurückziehe und mich verabschiede, atme ich noch ihren Duft ein und verharre einen Augenblick in mich hinein grinsend.

Du wirst mich wirklich hassen, mein Engel, wenn wir uns eines Tages endlich treffen und du eins und eins zusammenzählst.

Ryen nimmt ihr Handy und geht langsam weg. Bevor sie in der Menschenmenge verschwindet, wirft sie mir noch einen Blick über ihre Schulter zu.

Sofort will ich sie wieder zurückhaben.

Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und rufe meine Schwester an. Wie sauer wird sie auf mich sein, wenn ich ihr sage, dass sie sich ihre Snacks selbst besorgen muss? Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich schon fahren will.

Aber als ich sie zurückrufe, geht sie nicht ans Telefon.

KAPITEL 2

RYEN

Drei Monate später…

Lieber Misha,

was zum Teufel?

Ja, du hast mich schon verstanden. Vielleicht sage ich auch, dass dies mein letzter Brief sein wird, aber ich weiß, dass das nicht wahr ist. Ich werde dich nicht aufgeben. Ich musste dir versprechen, dass ich es nicht tue, also – hier bin ich. Nach drei Monaten ohne ein Wort von dir bin ich immer noch hier. Ich hoffe, du hast Spaß, wo immer du dich rumtreibst, du Idiot.

(Aber im Ernst: Sei nicht tot, okay?)

Du hast die Notizen zu deinen Texten, die ich dir mit meinen letzten Briefen geschickt habe. Ich wünschte fast, ich hätte eine Kopie gemacht, weil ich das Gefühl habe, dass du für immer weg bist. Aber was soll’s? Diese Worte sind nur für dich gedacht, und selbst wenn du die Briefe nicht mehr liest oder überhaupt bekommst, muss ich sie dir schicken. Mir gefällt der Gedanke, dass sie auf der Suche nach dir sind.

Was gibt es hier Neues? Ich bin am College angenommen worden. Irgendwie witzig, ich wollte so lange, dass sich alles in meinem Leben ändert, und jetzt, da es endlich so weit ist, wird mein Verlangen, auszubrechen, immer schwächer. Ich nehme an, deshalb bleiben Menschen so lange unglücklich. Verstehst du, was ich meine? Ob es einem schlecht geht oder nicht, es ist immer einfacher, bei dem zu bleiben, was vertraut ist.

Siehst du das auch so? Dass wir alle so schnell und einfach wie möglich durch unser Leben kommen wollen? Und obwohl wir alle wissen, dass es ohne Risiko keinen Preis geben wird, haben wir alle Angst davor, es zu versuchen?

Ehrlich gesagt habe ich auch Angst. Ich habe das Gefühl, auf dem College wird sich nichts ändern. Ich weiß immer noch nicht, was ich tun will. Ich werde mir immer noch nicht sicher sein, welche Entscheidungen die richtigen sind. Ich werde mir immer noch die falschen Freunde aussuchen und mich mit den falschen Jungs treffen.

Also ja, ich fände es schön, von dir zu hören. Sag mir, dass du zu beschäftigt bist, um das hier aufrechtzuerhalten, oder dass wir zu alt sind, um Brieffreunde zu sein. Aber sag mir nur noch ein letztes Mal, dass du an mich glaubst und dass alles gut werden wird. Bullshit hört sich immer besser an, wenn er von dir kommt.

Ich vermisse dich nicht. Nicht im Geringsten.

Ryen

PS: Wenn ich herausfinde, dass du mich für ein Auto, ein Mädchen oder die neuste Ausgabe von Grand Theft Auto links liegen lässt, werde ich mich mit deinem Namen im Walking Dead-Forum anmelden.

Ich schließe meinen silbernen Stift, nehme die zwei Blätter schwarzes Papier, falte sie auf meinem Schoß und stecke sie in den dazu passenden schwarzen Umschlag. Ich nehme das schwarze Siegelwachs, halte es über eine Kerze, die auf meinem Nachttisch steht, und erhitze das Wachs.

Drei Monate.

Ich runzle die Stirn. So lange habe ich noch nie nichts von ihm gehört. Misha braucht oft seinen Freiraum, also bin ich daran gewöhnt, mal eine Weile nicht von ihm zu hören. Aber diesmal stimmt etwas nicht.

Das Wachs beginnt zu schmelzen, ich halte es über den Briefumschlag und lasse es tropfen. Nachdem ich die Flamme ausgeblasen habe, nehme ich das Siegel und presse es auf das Wachs. Ich versiegle den Brief und schaue den schicken schwarzen Totenkopfabdruck an, der mich anstarrt.

Ein Geschenk von Misha. Es ging ihm auf die Nerven, dass ich immer das Harry Potter-Gryffindor-Siegel benutzt habe, das ich bekommen hatte, als ich elf war. Seine Schwester Annie hat ihn immer damit aufgezogen und durchs ganze Haus geschrien, dass ein Brief aus Hogwarts angekommen sei.

Also hat er mir ein »männlicheres« Siegel geschickt und mir gesagt, ich solle das benutzen oder gar keins.

Ich habe gelacht und mich ergeben.

Als wir uns vor Jahren zum ersten Mal geschrieben haben, war es ein komplettes Missverständnis. Unsere Lehrer in der fünften Klasse wollten Brieffreundschaften zwischen unseren Klassen nach Geschlecht zusammenbringen, weil damit allen wohler war. Aber sein Name ist Misha, und ich heiße Ryen, also dachte sein Lehrer, dass ich ein Junge sei, und mein Lehrer dachte, dass er ein Mädchen sei, und so weiter.

Wir konnten zuerst nicht viel miteinander anfangen, aber schon bald fanden wir heraus, dass wir eins gemeinsam hatten: Unsere Eltern hatten sich sehr früh getrennt. Seine Mom hat die Familie verlassen, als er zwei war, und ich habe von meinem Vater nichts mehr gesehen oder gehört, seit ich vier war. Keiner von uns konnte sich wirklich an sie erinnern.

Und jetzt, sieben Jahre später, haben wir die Highschool fast hinter uns, und er ist mein bester Freund.

Ich klettere aus dem Bett, klebe eine Briefmarke auf den Umschlag und lege ihn auf meinen Schreibtisch, um ihn morgen abzuschicken. Ich gehe zurück und räume meine Schreibsachen wieder in meinen Nachttisch.

Ich strecke mich, lege meine Hände an die Hüften und hole tief Luft.

Misha, wo zum Teufel steckst du? Ich gehe hier unter.

Wahrscheinlich könnte ich ihn googeln, wenn ich mir solche Sorgen mache. Oder ihn auf Facebook suchen oder zu ihm nach Hause fahren. Er wohnt nur dreißig Meilen von mir entfernt, und schließlich habe ich seine Adresse.

Aber wir haben uns gegenseitig ein Versprechen gegeben. Besser gesagt, ich habe ihm das Versprechen abgenommen. Uns zu sehen, zu sehen, wo wir leben, die Leute zu treffen, über die wir in unseren Briefen schreiben … Das würde die Welt, die wir uns erschaffen haben, ruinieren.

Momentan ist Misha Lare mit all seinen Fehlern in meiner Vorstellung perfekt. Er hört zu, baut mich auf, nimmt Druck von mir und hat keine Erwartungen an mich. Er sagt mir die Wahrheit, und er ist der Einzige, bei dem ich mich nicht verstellen muss.

Wie viele Leute haben schon so einen Menschen?

Und sosehr ich auch Antworten will, das kann ich noch nicht aufgeben. Wir schreiben uns jetzt seit sieben Jahren. Das ist ein Teil von mir, und ich bin mir nicht sicher, was ich ohne ihn tun würde. Wenn ich ihn ausfindig mache, wird sich alles ändern.

Nein. Ich werde noch eine Weile warten.

Ich schaue auf die Uhr und sehe, dass es fast so weit ist. Meine Freunde werden in ein paar Minuten hier sein.

Ich nehme ein Stück Kreide von meinem Schreibtisch und gehe zu der Wand neben meiner Zimmertür. Dann male ich weiter kleine Rahmen um die Bilder, die ich dort aufgehängt habe. Es sind vier.

Ich, letzten Herbst beim Cheerleading, umgeben von Mädchen, die genauso aussehen wie ich. Ich, letzten Sommer in meinem Jeep mit meinen Freunden hinter mir. Ich, in der achten Klasse auf der Feier zum Eighties-Tag, grinsend und posierend mit meiner ganzen Klasse.

Auf jedem Foto bin ich ganz vorne. Die Anführerin. Ich sehe glücklich aus.

Und dann hängt da noch das Foto aus der vierten Klasse. Jahre früher. Ich sitze alleine auf einer Bank auf dem Pausenhof und zwinge mich für meine Mom zu einem Lächeln, weil sie mich zum Kinoabend in der Schule gefahren hat. Alle anderen Kinder liefen herum, und jedes Mal, wenn ich ihnen nachgerannt bin und versucht habe, mitzumachen, haben sie so getan, als wäre ich nicht da. Sie sind immer wieder ohne mich davongelaufen und haben nie gewartet. Sie wollten mich nicht an ihren Unterhaltungen teilhaben lassen.

Tränen treten mir in die Augen, und ich berühre das Gesicht auf dem Foto. Ich kann mich an dieses Gefühl erinnern, als wäre es gestern gewesen. Als wäre ich auf einer Party, zu der ich nicht eingeladen worden bin.

Gott, wie sehr ich mich verändert habe.

»Ryen!«, höre ich jemanden im Gang rufen.

Ich schniefe und wische mir schnell eine Träne aus dem Gesicht, als meine Schwester die Tür aufmacht und ohne anzuklopfen in mein Zimmer kommt. Ich räuspere mich und tue so, als würde ich an der Wand weiterarbeiten, während sie um die Tür herum schaut.

»Schlafenszeit«, sagt sie.

»Ich bin achtzehn«, sage ich, als würde das alles erklären.

Ich sehe sie nicht an, während ich denselben Bereich ausmale, den ich gestern beendet habe. Ich meine, im Ernst? Es ist zehn Uhr, und sie ist nur ein Jahr älter. Ich bin verantwortungsbewusster, als sie es ist.

Ich kann ihr Parfüm riechen, und im Augenwinkel sehe ich, dass ihr blondes Haar offen ist. Großartig. Das bedeutet wahrscheinlich, dass sie Besuch von einem Typen kriegt und abgelenkt sein wird, wenn ich mich gleich aus dem Haus schleiche.

»Mom hat geschrieben«, sagt sie. »Bist du mit Mathe fertig?«

»Ja.«

»Staatskunde?«

»Ich habe meine Gliederung fertig«, sage ich. »Am Wochenende mache ich mich an die Arbeit.«

»Englisch?«

»Ich habe meine Bewertung zu Brave New World auf Goodreads gepostet und Mom den Link geschickt.«

»Welches Buch liest du als nächstes?«, fragt sie.

Finster starre ich die Wand an, als weiße Späne auf den Boden rieseln. »Fahrenheit 451.«

Sie schnaubt auf. »Der Dschungel, Brave New World, Fahrenheit 451 …«, zählt sie die letzten Bücher auf, die ich gelesen habe. Mom gibt mir dafür Extrataschengeld. »Mein Gott, du hast wirklich einen langweiligen Buchgeschmack.«

»Mom hat gesagt, ich soll mir moderne Klassiker aussuchen«, entgegne ich. »Sinclair, Huxley, Orwell …«

»Ich glaube, sie hat so etwas wie Der Große Gatsby gemeint.«

Ich schließe die Augen, lasse meinen Kopf in den Nacken fallen und tue so, als würde ich schnarchen, um sie aufzuziehen.

Sie verdreht die Augen. »Du bist so eine Göre.«

»Wer im Glashaus sitzt …«

Meine Schwester hat letztes Jahr ihren Abschluss gemacht und geht jetzt hier aufs College, während sie zu Hause wohnt. Das ist ein toller Deal für unsere Mom, die Eventmanagerin ist und regelmäßig für Festivals, Konzerte oder Ausstellungen die Stadt verlässt. Sie will mich nicht alleine lassen.

Aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, warum sie Carson die Aufsicht über mich gegeben hat. Ich habe bessere Noten und halte mich viel mehr von Ärger fern als sie – jedenfalls soweit sie das wissen.

Außerdem will meine Schwester nur, dass ich ins Bett und ihr aus dem Weg gehe, damit sie es mit welchem Kerl auch immer treiben kann, der gerade auf dem Weg hierher ist.

Als würde ich das unserer Mom erzählen.

Als würde mich das interessieren.

»Ich will ja nur sagen«, fährt sie fort und legt eine Hand an die Hüfte, »diese Bücher sind schon schwere Kost.«

»Das musst du mir nicht sagen.« Ich spiele mit. »All diese großartigen Konzepte in meinem kleinen Gehirn. Das reicht, um mich so dumm fühlen zu lassen wie einen Klumpen nasser Haare.« Dann versichere ich ihr: »Aber keine Sorge, ich werde dich wissen lassen, wenn ich Hilfe brauche. Könnte ich jetzt meine neun Stunden Schlaf bekommen? Der Coach will morgen früh mit uns Zirkeltraining machen.«

Sie wirft mir einen abfälligen Blick zu und schaut dann auf meine Wand. »Ich kann nicht fassen, dass Mom zulässt, dass du das mit deinem Zimmer machst.«

Dann dreht sie sich auf dem Absatz um und schließt die Tür hinter sich.

Ich schaue meine Wand an. Ich habe sie vor einem Jahr mit schwarzer Kreidefarbe gestrichen und male und schreibe sie nun von oben bis unten voll. Mishas Textzeilen sind über die ganze Wand verstreut, genauso wie meine eigenen Gedanken, Ideen und Kritzeleien.

Da sind Fotos und Poster und viele Wörter, die mir alle etwas bedeuten. Mein ganzes Zimmer sieht so aus, und ich liebe es. Es ist ein Ort, an den ich niemanden einlade. Vor allem meine Freunde nicht. Sie würden sich nur über meine wirklich schlechten Kunstwerke lustig machen, die ich so liebe. Und über Mishas und meine Worte.

Ich habe vor langer Zeit gelernt, dass man den Menschen um sich herum nicht alles von sich preisgeben muss. Sie haben Vorurteile, und ich bin glücklicher, wenn sie mich nicht verurteilen. Einige Dinge bleiben verborgen.

Mein Handy vibriert auf dem Bett, und ich gehe hinüber, um es aufzuheben.

Draußen, lautet die Nachricht.

Mit dem Mittelfinger tippe ich zurück: Bin in einer Minute da.

Endlich. Ich muss hier raus.

Ich lege das Handy hin, ziehe mein Tanktop aus und schiebe meine Pyjamahose über die Beine nach unten. Ich lasse alles auf dem Boden liegen. Dann nehme ich mir eine kurze Jeans vom Sessel.

Ich ziehe sie an und streife mir ein weißes T-Shirt, gefolgt von einem grauen Hoodie über den Kopf.

Das Handy vibriert wieder, aber ich ignoriere es.

Ich komme, ich komme.

Ich stopfe etwas Bargeld und das Handy in meine Tasche, nehme meine Flip-Flops, schiebe das Fenster nach oben und werfe sie über das Dach der Veranda hinaus, wo sie auf dem Boden landen.

Ich binde mir das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und klettere aus dem Fenster. Vorsichtig schiebe ich es wieder nach unten und lasse mein Zimmer still und dunkel zurück, als würde ich schlafen. Ich mache vorsichtige Schritte über das Dach zu der Leiter hinüber, die an der Hauswand lehnt, klettere nach unten und hebe meine Flip-Flops auf. Dann schleiche ich mich über den Rasen, wo meine Mitfahrgelegenheit auf mich wartet.

Ich öffne die Autotür.

»Hey«, begrüßt Lyla mich vom Fahrersitz aus, als ich einsteige. Ich werfe einen Blick nach hinten und sehe Ten auf dem Rücksitz. Ich nicke ihm zu.

Nachdem ich die Tür geschlossen habe, bücke ich mich und ziehe mir zitternd meine Schuhe an. »Scheiße. Ich kann nicht glauben, wie kalt es immer noch ist. Das Zirkeltraining morgen wird ätzend.«

Es ist April, also tagsüber warm, aber am frühen Morgen und abends sinken die Temperaturen immer noch unter zehn Grad. Ich hätte mir eine lange Hose anziehen sollen.

»Flip-Flops?«, fragt Lyla und klingt verwirrt.

»Ja, wir fahren doch an den Strand.«

»Nein«, mischt Ten sich vom Rücksitz ein. »Wir fahren zum Cove. Hat Trey dir nicht geschrieben?«

Ich blicke ihn über die Schulter hinweg an. Zum Cove? »Ich dachte, sie hätten einen Wachmann aufgestellt, damit keine Leute mehr auf das Gelände einsteigen?«

Er zuckt mit den Schultern und hat ein durchtriebenes Funkeln in den Augen.

Oookay. »Na gut, wenn wir erwischt werden, werde ich euch zwei zuerst verpfeifen.«

»Nicht, wenn wir dich zuerst verpfeifen«, sagt Lyla in einem Singsang und mit Blick auf die Straße gerichtet.

Ten lacht hinter mir. Ich schüttle den Kopf und bin nicht wirklich amüsiert. Wenn man die Anführerin ist, will immer jemand deinen Job übernehmen. Meine Bemerkung war ein Scherz. Ich denke nicht, dass ihre auch einer war.

Lyla und Ten – auch bekannt als Theodore Edward Neilson – sind im Großen und Ganzen meine Freunde. Wir kennen uns seit der Mittelschule und haben die ganze Highschool miteinander verbracht. Lyla und ich sind zusammen bei den Cheerleadern, und sie sind wie meine Ritterrüstung.

Ja, sie können ungemütlich sein, sie machen zu viel Lärm, und manchmal fühlt es sich mit ihnen nicht gut an. Aber ich brauche sie. Auf der Highschool will man nicht alleine sein. Und wenn man Freunde hat – egal ob gute oder schlechte –, hat man auch ein bisschen Macht.

Die Highschool ist in dieser Hinsicht wie das Gefängnis. Ohne Freunde kommt man da nicht weit.

»Ich habe Chucks hinten unter dem Sitz liegen«, sagt Lyla zu Ten. »Gib sie ihr, okay?«

Er bückt sich und kramt durch einen Berg von Müll auf dem Boden des 90er-BMWs, den Lylas Mom ihr gegeben hat.

Ten reicht mir erst einen Schuh über die Sitzlehne und dann den zweiten, als er ihn gefunden hat.

»Danke.« Ich nehme die Schuhe, ziehe meine Flip-Flops aus und die Chucks an.

Ich bin dankbar für die Schuhe. Im Cove wird es dreckig und nass sein.

»Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst«, sage ich und spreche meine Gedanken laut aus. »Dann hätte ich meine Kamera mitgenommen.«

»Wer will denn schon Fotos machen?«, entgegnet Lyla mir. »Such dir ein kleines, dunkles Autoscooter-Auto, wenn wir dort sind, und lass Trey spüren, was es bedeutet, ein Mann zu sein.«

Ich lehne mich in meinem Sitz zurück und grinse wissend. »Ich denke, das haben schon jede Menge Mädchen getan.«

Trey Burrowes ist nicht mein Freund, aber er will auf jeden Fall etwas von mir. Ich halte ihn schon seit Monaten hin.

Genau wie wir wird Trey seinen Abschluss machen, und er hat alles, was man sich wünschen kann. Freunde, Beliebtheit, die Welt zu seinen wertvollen Füßen … aber anders als ich liebt er es. Es macht ihn aus.