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'Wer kein Zuhause mehr hat, kann überallhin', erklärt Maximiliane von Quindt aus Poeninchen in Hinterpommern und macht sich mit ihren viereinhalb Kindern auf den Weg in den Westen, eine unter Millionen Vertriebenen. Aus einer Kriegswaise des Ersten Weltkriegs ist eine Kriegerwitwe des Zweiten Weltkriegs geworden. Doch im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen wird Maximiliane nicht wieder sesshaft. Allen Prophezeiungen zum Trotz vergeht ihr das Lachen nicht und nicht das Singen. Sie sucht und findet, vorübergehend, Wärme in Männerarmen. Als ihre Kinder erwachsen sind, sagt sie: 'Lauft!' Um sie zu besuchen, muss sie den Globus zur Orientierung nehmen. Denn die Quindts, jahrhundertelang auf jenem fernen Poeninchen zu Hause, sind nun in alle Winde verstreut. Fast sechzigjährig fährt Maximiliane ins polnische Pommern, sitzt im verwilderten Park des einstigen Herrenhauses auf einem Säulenstumpf und 'vollzieht nachträglich und ihrerseits die Unterzeichnung der Polenverträge'. Die Speisekammer Poeninchen, aus der sie sich nährte, ist leer. Wenn sie zurückkehrt, wird auch sie sesshaft werden können. Mehr über Christine Brückner erfahren Sie über die Stiftung Brückner-Kühner unter http://www.brueckner-kuehner.de/.
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Das Buch
»Wer kein Zuhause hat, kann überall hin«, erklärt Maximiliane von Quindt aus Poenichen in Hinterpommern, den Lesern aus dem ersten der Poenichen-Romane, Jauche und Levkojen, bekannt, und macht sich mit viereinhalb Kindern auf den langen Weg in den Westen, eine unter Millionen Vertriebenen. Aus einer Kriegswaise des Ersten Weltkriegs ist eine Kriegerwitwe des Zweiten Weltkriegs geworden. Doch im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen wird Maximiliane nicht wieder seßhaft. Allen Prophezeiungen zum Trotz vergeht ihr das Lachen nicht und auch nicht das Singen. Sie sucht und findet, vorübergehend, Wärme in Männerarmen. Als ihre Kinder erwachsen sind, sagt sie »Lauft!«. Um sie zu besuchen, muß sie den Globus zur Orientierung nehmen. Denn die Quindts, jahrhundertelang auf jenem Poenichen zu Hause, sind nun in alle Winde verstreut. Fast sechzigjährig fährt Maximiliane ins polnische Pommern, sitzt im verwilderten Park des einstigen Herrenhauses auf einem Säulenstumpf und ›vollzieht nachträglich und ihrerseits die Unterzeichnung der Polenverträge‹. Die Speisekammer Poenichen, aus der sie sich heimlich nährte, ist leer. Wenn sie zurückkehrt, wird auch sie seßhaft werden können.
Die Autorin
Christine Brückner, am 10.12.1921 in einem waldeckischen Pfarrhaus geboren, am 21.12.
Meinem Mann, dem SchriftstellerOtto Heinrich Kühner,der das Leben der Quindtsfünf Jahre lang ratend und helfendmit mir geteilt hat.
›»Ja, der Friede! Was wird aus dem Loch, wenn der Käs gefressen ist?«‹
Bert Brecht
Maximiliane Quint schläft, an jeder Seite zwei ihrer Kinder. Sie ist am Ziel. Sie hat ihre Ziele nie weit gesteckt. Dieses hieß Westen. Damit die Kinder Platz neben ihr haben, hat sie die angewinkelten Arme neben den Kopf gelegt; sie ist im siebenten Monat schwanger.
Nie wieder Kranichzüge. Nie wieder Wildgänse.
Eine unter 13 Millionen, die die deutschen Ostgebiete vor den anrückenden sowjetischen Truppen verlassen haben und jetzt, im Herbst 1945, in Schüben zu drei- und viertausend von den russischen Posten jeden Abend über die Grenze in die englisch besetzte Zone durchgelassen werden. Bei Dunkelheit waren sie mit ihren Bündeln durch die Wälder gezogen, hatten sich vor allen uniformierten Männern versteckt und die ›grüne Grenze‹ überschritten, auf die sich schon bald der ›Eiserne Vorhang‹ niederlassen wird.
Maximiliane liegt auf einem Notbett im ungeheizten Maststall des Gutshofs Besenhausen. Es fehlte nicht viel, dann hätte sie ihr fünftes Kind in einem Stall zur Welt gebracht und in einen Schweinetrog gelegt.
Der alte Baron Quindt, ihr Großvater, hatte im November 1918 der Dorfkirche, deren Patronatsherr er war, aus Anlaß ihrer Geburt eine Heizung gestiftet, und schon damals wurde behauptet, daß das Neugeborene die Welt ein wenig wärmer gemacht habe. Später wird einmal der Vater ihres Schwiegersohns sagen, daß es um einige Grade wärmer in einem Raum werde, wenn sie ihn betrete. Der erste Toast, der ihr, dem Täufling, galt, hatte gelautet: ›Vor Gott und dem Gesetz sind alle Kinder gleich.‹ Der Großvater hatte ihn ausgebracht, und er hatte, weiter vorausblickend, als er ahnte – und er ahnte viel –, gesagt, daß man ihn sich werde merken müssen.
Von ihrem Vater, Achim von Quindt, ist kaum mehr überliefert als jenes telegrafierte dreifache ›Hurra, Hurra, Hurra‹, mit dem er auf die Geburt seines ersten und einzigen Kindes reagierte, bevor er in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs fiel. Dieses Telegramm befindet sich in dem Kästchen, das ihr ältestes Kind, Joachim, im Schlaf an sich preßt. Was man liebt, legt man neben sich, das Kind die Puppe, der Mann die Frau; Maximiliane hat ihre Kinder neben sich gelegt. Von ihrer Mutter weiß man kaum mehr als von ihrem Vater, nur, daß sie sich 1935 in Sicherheit gebracht hat, zusammen mit ihrem zweiten Mann, dem jüdischen Arzt Dr. Grün.
Fünfjährig hatte Maximiliane in breitem pommerschen Platt zu ihrem Großvater gesagt: ›Ich will vel Kinner, Grautvoader!‹ Und er hatte mit ›später‹ geantwortet. Viel später ist es darüber nicht geworden. Siebenundzwanzig Jahre alt ist sie zu diesem Zeitpunkt und Mutter von viereinhalb Kindern, drei davon mit demselben Vater, Viktor Quint, der im April als treuer Anhänger seines Führers Adolf Hitler gefallen ist, was sie aber noch nicht weiß. Joachim, der Erstgeborene, siebenjährig, von ihr ›Mosche‹ genannt, der seine Ängstlichkeit tapfer bekämpft, ein zartes und zärtliches Kind; dann Golo, furchtlos und ungebärdig, vorerst noch das hübscheste ihrer Kinder, braunlockig und mit den runden, lebhaften Augen seiner Mutter, ›Kulleraugen‹, die ein polnischer Leutnant nun schon in vierter Generation auf geheimnisvolle Weise vererbt hat. Golo hat in Ermanglung eines Gewehrs einen Stock neben sich liegen. Als nächste Edda, ein Sonntagskind, das ihren großdeutschen Namen der Tochter des ehemaligen Reichsmarschalls verdankt. Edda hat Viktor Quint zum Vater, aber nicht Maximiliane zur Mutter, ist aber von ihr akzeptiert und adoptiert worden, ein Kind der Liebe, richtiger ein Kind der Liebe zum Führer; neben ihr liegt die Puppe, die auf der Flucht einen Teil der Haare und einen Arm eingebüßt hat. Schließlich Viktoria, drei Jahre alt, trotz ihres siegreichen Namens ein schwieriges Kind, von Krankheiten und Unheil bedroht, an einer handgesäumten Batistwindel lutschend, die zum vorgesehenen Zweck endlich nicht mehr benötigt wird. Und das ›halbe‹ Kind: die Folge einer Vergewaltigung durch einen Kirgisen vom Balchasch-See.
Bis zur Flucht aus Pommern hatte Maximiliane vom Krieg kaum mehr wahrgenommen als die Abwesenheit ihres Mannes, unter der sie jedoch nicht litt. Bis sie dann im letzten Kriegswinter mit den Gutsleuten Poenichen verlassen mußte; mit Pferd und Wagen, aber auch mit Ochsen, Treckern, Kindern und Frauen, ein paar Hunden und Katzen. Die Katzen kehrten am Dorfausgang wieder um.
Ihre Großeltern, die alten Quindts, waren mit wenigen anderen zurückgeblieben. Eines Morgens hatte sie den Aufbruch des Trecks verschlafen, war allein, mit einem Handwagen und den Kindern, weiter nach Westen gezogen, bis sie von der anrückenden Front überrollt wurde.
Sie ist keine Quindt auf Poenichen mehr; sie hat mit allem anderen auch ihren Namen verloren. Man redet sie mit ›liebe Frau‹ an.
»Sie müssen doch die Geburtsurkunden Ihrer Kinder gerettet haben, liebe Frau!«
»Ich habe die Kinder gerettet«, antwortet sie.
Der Lagerpfarrer spricht ihr Trost zu. »Der Mensch lebt nicht von Brot allein, liebe Frau!«
Und sie sagt: »Aber ohne Brot überhaupt nicht, Herr Pastor!«
»Sie werden Ihre Einstellung ändern müssen, liebe Frau!«
»Später, Herr Pastor!«
Dort, wo sie herstammt, sagt man ›Pastor‹ und betont die letzte Silbe.
Hinterpommern! Früher gab dieses Wort Anlaß zur Heiterkeit, eine Gegend hinterm Mond. Jetzt erfährt sie, daß sie ›jenseits von Oder und Neiße‹ gelebt hat, und niemand lacht mehr darüber. Ein Anlaß zum Mitleid. Wo fließt die Neiße? Noch ist Maximiliane Quint wie die anderen Flüchtlinge davon überzeugt, daß sie zurückkehren wird. ›Das ist allens nur’n Övergang‹, wie Bräsig zu sagen pflegte. Man hat sie zur Erbin von Poenichen erzogen. Eine Neunzehnjährige, die Mutter wurde, bevor sie eine Geliebte und eine Frau hätte werden können, von ihrem Mann wie ein Nährboden für seine Kinder behandelt, mit denen er den deutschen Ostraum zu bevölkern gedachte. Über Jahre werden sie und ihre Kinder als ›Kriegshinterbliebene‹ und ›Heimatvertriebene‹ in den Sammelbecken der Statistiken auftauchen.
Laute Befehle. Sie werden geweckt. Sie müssen jenen Flüchtlingen Platz machen, die in der vergangenen Nacht über die Grenze gekommen sind. Ein Durchgangslager, dessen Namen jahrzehntelang für viele zur ersten Zuflucht wird: Friedland.
Die anderen Flüchtlinge ziehen ihre Schuhe an und suchen hastig ihre Gepäckstücke zusammen; schon hängen sie sich die Rucksäcke und Bündel um. Die Kinder rütteln an ihrer Mutter, aber wie immer fällt es schwer, sie zu wecken. Joachims Stimme dringt dann doch an ihr Ohr und an ihr Herz.
»Mama! Wir müssen weiter!«
Maximiliane knotet das Kopftuch unterm Kinn zusammen wie alle Frauen aus dem Osten; nichts unterscheidet sie mehr.
In einer Baracke werden sie entlaust, in einer anderen Baracke erhalten sie Lebensmittelmarken: 75 Gramm Fleisch und 100 Gramm Fett für die laufende Woche; für werdende und stillende Mütter ein Liter Vollmilch und 500 Gramm Nährmittel – auf dem Papier. Statt Bescheinigungen gibt es erstmals Reisemarken.
»Wir gehn auf Reise!« ruft Golo begeistert. Die Flucht scheint beendet, ebenfalls auf dem Papier. Die Heilsarmee schenkt Kakao aus. Wie immer stellt sich Maximiliane mit den Kindern als letzte an. ›Sie hat de Rauhe weg‹, hatte schon die Hebamme Schmaltz, die sie auf die Welt holte, gesagt. Trotzdem gehört sie nicht zu den letzten, die abgefertigt werden.
Bei den Amerikanern gibt es am meisten zu essen, heißt es, aber sie halten jeden Jungvolkführer für einen Nazi! Die Engländer sind genauso arm dran wie die Deutschen, aber sie behandeln die Besiegten anständig! Gerüchte. Die Flüchtlinge tun sich nach ihren Herkunftsländern zusammen: Ostpreußen, Schlesier, Sudetendeutsche, Pommern, zusammengehalten durch ihre Sprache. Die pommerschen Trecks sollen von Mecklenburg aus nach Holstein weitergezogen sein, heißt es. Also nach Holstein! Das bedeutet: englische Besatzungszone, Hunger. ›Wat sin mut, mut sin.‹ Ein Pommer tut, was man ihm sagt.
Joachim liest am Ausgang des Lagers die Aufschrift eines Schildes vor, das die Engländer zur Warnung aufgestellt haben. Er liest jetzt schon ohne zu stocken, obwohl er bisher auf keiner Schulbank gesessen, wohl aber auf den Fußböden von Schulen geschlafen hat. »›Wer nicht im Besitz einer Zuzugsgenehmigung ist, erhält keine Wohnung, keine Lebensmittelmarken, keine Fürsorgeunterstützung in Niedersachsen!‹« Er zittert. »Mama!«
Seine Mutter tröstet ihn. »Wir suchen unseren Treck! Martha Riepe hat alles gerettet, unsere Pferde und die Betten und Mäntel und Schuhe und …«
»Versprichst du uns das?«
»Nein, Mosche! Versprechen kann ich das nicht!«
Joachim schließt die Augen, sammelt sich, strafft sich, geht an seinen Platz und nimmt die kleine Viktoria an die Hand.
Als der Zug der Flüchtlinge das Lager verläßt, können die fünf Quints nicht Schritt halten, sie geraten in den Zustrom neuer Flüchtlinge, werden zurückgedrängt und bekommen ein weiteres Mal Kakao. Eine Welle aus Kakao ergießt sich über das hungernde Westdeutschland. Maximiliane leckt Viktoria die Kakaoreste vom Mund, die einfachste Form der Säuberung, ein Taschentuch müßte gewaschen werden. Die übrigen Kinder benutzen den Handrücken.
Die Viehwaggons, von der englischen Besatzungsmacht auf dem Bahnhof Friedland zum Weitertransport der Flüchtlinge bereitgestellt, werden gestürmt. Menschentrauben hängen an den Wagen, selbst die Dächer werden besetzt.
Wieder müssen die fünf Quints zurückbleiben. Viele Jahre später wird Maximiliane manchmal, wenn sie auf Bahnsteigen steht, nachdenklich die neuen Eisenbahnwagen betrachten, die durch Faltenbälge miteinander verbunden sind, keine Trittbretter haben, keine Außenplattform, dazu die elektrisch geladenen Oberleitungen, und wird denken: nirgendwo Platz für flüchtende Menschenmengen …
Sie machen sich zu Fuß auf den Weg. Zum erstenmal Richtung Norden, nachdem sie bisher immer nur nach Westen gezogen sind. Noch ist das Wetter freundlich, die Herbstregen haben noch nicht eingesetzt. Mittags wärmt sie noch die Sonne. Weit kommen sie nicht, aber sie erreichen einen Bach. Dort machen sie halt, um sich zu waschen. Seit Monaten werden die Kinder nur noch nach Bedarf und Gelegenheit gewaschen, wobei die Gelegenheiten seltener sind als der Bedarf, Äpfel und Rüben dienen als Zahnbürste.
Maximiliane steckt die Nase in Golos Haar. »Du stinkst!« sagt sie. »Wir stinken alle nach Schweiß und Läusepulver. Gib die Seife heraus, Golo!« Aber Golo hat das Stück Seife eben erst im Lager eingehandelt. Er sträubt sich, er braucht es zum weiteren Tauschen.
»Jetzt brauchen wir Seife!« bestimmt die Mutter.
›Brauchen‹ heißt das Wort, das alles regelt. ›Das brauchen wir.‹ ›Das brauchen wir nicht‹, ein Satz, der auch von Golo anerkannt wird.
Maximiliane kniet am Bachufer nieder und wäscht nacheinander die Kinder. Viktorias Gewicht ist so gering, daß die Mutter das Kind durch das Wasser ziehen kann wie ein Wäschestück, wobei Viktoria, was selten vorkommt, auflacht. Die handgesäumten, mit Krone und Quindtschem Wappen bestickten Windeln, die 1919 bereits in Gefahr waren, zu Batistblusen verarbeitet zu werden, dienen als Handtücher. »Lauft«, befiehlt die Mutter den Kindern, »damit ihr warm werdet!« Dann wäscht sie den eigenen, nun schon schwerfälligen Leib.
An der Uferböschung, vom Gebüsch halb verborgen, sitzt ein Mann im Gras, keine dreißig Meter von ihr entfernt, und sieht ihr zu. »Da sitzt jemand!« ruft Edda. Aber Maximiliane wendet nicht einmal den Kopf; sie kann sich nicht auch noch um andere kümmern und um das, was die Leute sagen oder denken könnten. Dieser Mann sagt zunächst gar nichts und denkt viel. Maximiliane geht und breitet die feuchten Windeln zum Trocknen über einen Strauch, wie es die Frauen seit Jahrtausenden tun.
Als sie damit fertig ist, erhebt sich der Mann, geht auf sie zu und streckt die Hand hin. Doch sie reicht ihm die Seife und nicht die Hand. Sie ist eine praktische Frau, keine vernünftige, wie man annehmen könnte.
Der Mann sieht sie an, nimmt dazu die Brille ab, eine Gasmaskenbrille mit Stoffband, wie sie Wolfgang Borcherts Heimkehrer Beckmann zwei oder drei Jahre später auf der Bühne tragen wird. Er sieht ihr in die Augen, bedeckt sogleich die eigenen mit der Hand, nimmt die Hand dann wieder weg, sieht noch einmal in ihre Augen, mit denen sie schon so viel erreicht hat und noch erreichen muß, und sagt: »Oh!« Dann läßt er sich ins Gras fallen, zieht die Stiefel aus, wickelt die Lappen ab und steckt die Füße in den Bach, taucht die Arme tief ins Wasser, wirft sich Hände voll Wasser ins Gesicht, wischt es nicht ab, läßt es unter die wattierte Tarnjacke rinnen.
»Blut und Boden«, sagt er, »aber mehr Blut. Den Krieg kann man nicht mit Seife abwaschen, so viel Seife gibt es gar nicht.«
Golo steht an der anderen Seite des Baches und sieht ihm zu. »Sie müssen den Hut beim Waschen absetzen, Mann!« ruft er.
»Das ist ein Wunschhut, Junge! Den setz ich nicht ab, den hab ich mir gewünscht. Einen Hut trägt man im Frieden. Und jetzt ist Frieden. Kein Stahlhelm mehr und keine Feldmütze mehr!«
Er zieht die Füße aus dem Bach, erhebt sich, steht, barfuß, vor Maximiliane stramm und kommandiert sich selbst: »Rechts um! Links um! Rührt euch! Abteilung Halt! Im Gleichschritt marsch!« Er führt alle seine Befehle aus, bleibt dann stehen und wendet sich Maximiliane zu. »Man hat mich vor sechs Jahren in Marsch gesetzt, und jetzt muß ich irgendwo zum Halten kommen. Man hat mich entlassen. Der Krieg ist unbrauchbar geworden. Aber ich bin noch brauchbar, ich weiß nur nicht, wozu.« Er hält den leeren Brotbeutel hoch, kehrt die Hosentaschen nach außen, klopft an die hohlklingende Feldflasche. »Das habe ich in sechs Jahren eingebracht. Ein Kriegsverlierer! Aber ich habe einen Stempel. Ich bin entlassen. Ich kann einen Nachweis erbringen. Ich habe gelernt, wie man sich eingräbt. Ich habe gelernt, wie man auf Menschen schießt. Ich habe immerhin denselben Rang erreicht wie unser Führer. Gefreiter!«
Die Kinder stehen schweigend in einiger Entfernung. Golo springt, von Stein zu Stein, über den Bach, stellt sich vor den Fremden und fragt: »Wer bist du denn?«
Der Mann sieht den Jungen an und blickt in die Augen der Mutter. Dann läßt er sich auf die angehockten Beine nieder. »Ich habe nichts, ich bin nichts, ich bin der Herr Niemand!« Er streckt ein Bein vor, macht auf dem anderen ein paar Sprünge und singt dazu: »›Ach, wie gut, daß niemand weiß, daß ich …‹ Na, wie heiß ich –?«
Die Kinder weichen einen Schritt zurück. Viktoria fängt an zu weinen, und Joachim sagt vorsichtig: »Rumpelstilzchen.«
Der Mann springt auf, lacht, wirft seinen Hut hoch und fängt ihn auf.
»Lauft!« sagt Maximiliane. »Sucht Brombeeren!«
Sie legt sich ins Gras, schiebt eines der Bündel unter den Kopf. Der Mann läßt sich neben ihr ins Gras fallen. Die Stimmen der Kinder entfernen sich. Wasserplanschen, Vogelruf. Maximiliane schließt die Augen und begibt sich an den Blaupfuhl in Poenichen. Nach einer Weile legt der Mann seine Hand auf ihren Leib, spürt den doppelten Herzschlag.
»Ich träume«, sagt er. »Ich tue so, als ob ich träume.«
Eine Idylle, wie sie nur am Rande der Katastrophen entstehen kann. Die Stunde Null. Rückkehr ins Paradies. Maria aber war schwanger. War is over, over war. Sie sind davongekommen, und noch verlangt keiner, daß sie Trauerarbeit leisten, daß sie Vergangenheit bewältigen, eine Existenz aufbauen und neue Werte schaffen.
Sie wenden sich einander zu und blicken sich an.
Maximiliane versteht alle Worte, die er sagt, auch die, die er nicht sagt. Die Frage nach dem Woher wird mit einer Handbewegung nach Osten beantwortet, die Antwort auf die Frage nach dem Wohin umfaßt die westliche Hälfte der Erdkugel.
Es wird kühler, schon fällt Tau. Die Kinder kommen frierend herbeigelaufen, Golo und Edda mit Mohrrüben und Äpfeln. Sie haben sie in einem Garten gestohlen und werden dafür von der Mutter gelobt. Die Beute wird verteilt, die größeren Äpfel für die größeren Kinder, die kleineren für die kleineren Kinder. »Und was sollen wir morgen essen?« fragt Edda, einen Apfel in der Hand, eine Mohrrübe zwischen den Zähnen.
»Darum müssen wir uns morgen kümmern«, antwortet die Mutter, zieht aus den Bündeln die Schafwolljacken, die von der Baronin Quindt in den Notjahren nach dem Ersten Weltkrieg gewebt worden waren, und zieht sie den Kindern als Mäntel über. Die größte Jacke nimmt sie für sich, aber sie umschließt ihren dick gewordenen Bauch nicht mehr. Der Mann führt ihr vor, wie die Tarnjacke um seinen abgemagerten Körper schlottert, zieht sie aus und reicht sie ihr. Sie reicht ihm die ihrige. Beide Jacken sind noch warm vom Körper des anderen.
Maximiliane rückt die Schultern zurecht und richtet sich für lange Zeit in der Jacke ein und tarnt darunter ihr ungeborenes Kind.
»Nun gehöre ich zu euch!« sagt der Mann zu den Kindern, und zu Maximiliane gewandt: »Gibt es einen Vater für die kleinen Schafe?«
»Ja.«
»Wo?«
»Vermißt.«
»Von dir?«
»Nein«, sagt Maximiliane, ohne zu zögern. Mit sechzehn Jahren hatte sie ihre Mutter verraten.
Dieses ›nein‹ genügt ihm. Damit ist beschlossen, daß er mitkommt. Er sagt zu den Kindern: »Ihr braucht ein Haus! Ich werde euch ein Haus bauen, für jeden eines!« und zaubert Papier und Bleistift aus seinen Taschen. Er wendet sich an Joachim. »Was für ein Haus willst du haben?«
»Eines mit fünf Säulen davor!« antwortet Joachim, ohne überlegen zu müssen.
»Gut. Das bekommst du!«
Zehn Minuten benötigt er, dann besitzt jedes der vier Kinder ein Haus je nach Wunsch, Golo eine Burg mit beflaggten Zinnen und Türmen, Edda ein Mietshaus mit acht Etagen, wo alle Leute Miete zahlen müssen.
»Und ein Haus aus Glas für dieses kleine Mädchen aus Glas«, sagt der Erbauer und verteilt die Bilder. Joachim legt sein Blatt sorgsam in das Kästchen, der einzige, der sein Haus aufbewahren wird.
Währenddessen hat Maximiliane sich mühsam ihre Stiefel wieder angezogen, Knobelbecher, die Golo vor einem halben Jahr einem toten deutschen Soldaten ausgezogen hatte. Der Mann hilft ihr beim Aufstehen.
»›Wir müssen weitermarschieren‹«, sagt er, »›bis alles in Scherben fällt‹, alte Lieder, traute Weisen, wir werden die Scherben kitten!«
»Wir brauchen vor allem einen Platz zum Brüten«, sagt Maximiliane, geht zu den Hagebuttensträuchern und sammelt die noch feuchten Windeln ein.
»Du kannst dich auf mich verlassen!« ruft er hinter ihr her. Der ewige Ruf der Männer.
Wieder schließt sich den Quints ein Heimkehrer an und begibt sich in den Schutz von Frauen und Kindern, will überleben, will kein Held mehr sein. Er hebt Viktoria hoch und setzt sie sich auf die Schultern. Das Kind schließt schaudernd und selig zugleich die Augen, wie früher, als es auf den Schultern des Vaters zum Blaupfuhl ritt.
Sie brechen in neuer Marschordnung auf. Aber diese Kinder wissen bereits aus Erfahrung: Männer kommen und gehen, Verlaß ist nur auf die Mutter.
Eine Weile ziehen sie auf der Landstraße dahin. Bei jedem Fahrzeug, das in ihrer Richtung fährt, winkt der Mann mit seinem Hut, bis ein Lastkraftwagen mit Holzvergaser anhält.
»Was habe ich gesagt! Ein Wunschhut!« ruft der Mann und setzt seinen Hut wieder auf.
Sie dürfen im Laderaum des offenen Wagens mitfahren. Der Boden ist mit Schweinemist bedeckt. Es riecht vertraut wie auf Poenichen. Maximiliane sieht für Augenblicke den Gutshof vor sich, die Stallungen, das Herrenhaus, die Vorhalle mit den fünf weißen Säulen und die Großeltern, die dem Flüchtlingstreck nachblicken, hört wieder die drei Schüsse und schwankt. Der Mann meint, daß sie Halt brauche in dem schwankenden Fahrzeug, und legt den Arm um ihre Schultern. Sie sieht ihn an und lehnt sich gegen ihn.
Der Wagen gewinnt an Fahrt, Funken stieben aus dem Rohr des Holzvergasers. In einer Kurve weht ein Windstoß den Wunschhut vom Kopf des Mannes. Er läßt Maximilianes Schulter los, hämmert mit der Faust gegen das Fenster des Fahrerhauses, gestikuliert und ruft dem Fahrer zu, er wolle absteigen. Dann springt er, als das Fahrzeug anhält, ab und läuft hinter seinem Hut her. Aber der Fahrer wartet nicht, bis der Mann zurückgekehrt ist, sondern gibt Gas und fährt weiter. Maximiliane klopft ans Fenster, der Fahrer bedeutet ihr mit Handbewegungen, er könne nicht warten, es werde bald dunkel werden, und die Scheinwerfer seien nicht in Ordnung.
Die Kinder singen: »›Weh, weh, Windchen, nimm Kürdchen sein Hütchen und laß’n sich mit jagen …‹«
Sie werden den Mann rasch vergessen. Nur wenn die Mutter ihnen später von Rumpelstilzchen vorliest, wird Rumpelstilzchen aussehen wie dieser Heimkehrer, wird eine Gasmaskenbrille tragen und auf einem Bein am Bach entlanghüpfen, in der Nähe von Friedland, und wird seinen Hut hoch in die Luft werfen. Die Kinder siedeln die Märchen dort wieder an, wo die Brüder Grimm sie vor 150 Jahren gesammelt haben.
Maximiliane lehnt an der Rückwand des Fahrerhauses, hält sich mit einer Hand am Gitter fest, drückt mit der anderen die kleine Viktoria an sich und beobachtet, wie der Mann winkt, kleiner wird und verschwindet.
›Ein Geduldiger ist besser denn ein Starker.‹
Sprüche Salomos
Der Lastkraftwagen hält vor dem Bahnhofsgebäude in Göttingen. Der Fahrer hebt die kleine Viktoria aus dem Schweinekäfig, hilft der Mutter beim Aussteigen, die anderen Kinder springen allein herunter. Er tippt an den Mützenschirm, sagt: »Na dann!« und fährt davon. Er hat von seiner schicksalhaften Rolle im Leben der Maximiliane Quint nichts wahrgenommen.
Maximiliane faßt in die Innen- und Außentaschen der Jacke, sucht nach einem Hinweis auf den früheren Besitzer und findet nichts weiter als eine Tüte. Sie schüttet einen Teil des Inhalts in ihre Hand: Feuerzeugsteine, Hunderte von Feuerzeugsteinen. Golo stößt einen Freudenschrei aus. Er ist der einzige, der den Wert sofort erkennt, ein Sechsjähriger im Außendienst. Man wird von der Hinterlassenschaft des Unbekannten mehrere Wochen lang leben können.
Die Eisenbahnzüge kamen in Göttingen bereits überfüllt an und durchfuhren mit verminderter Geschwindigkeit den Bahnhof. Einige der am Bahnsteig wartenden Flüchtlinge versuchten, wenigstens ein Trittbrett zu erreichen. Für die Quints gab es kein Weiterkommen.
Im Schutz der Dunkelheit ging Maximiliane mit den Kindern über die Schienen zu einem Personenzug, der auf einem Abstellgleis stand. Eine der Waggontüren war unverschlossen. Sie stiegen ein, fanden ein Abteil mit unversehrten Fensterscheiben und mit einer Tür, die sich schließen ließ. Die Kinder kletterten in die Gepäcknetze und rollten sich zu zweien nebeneinander zusammen.
Kurz darauf unternahm ein Mann der Bahnpolizei einen Kontrollgang durch den Zug und leuchtete mit der Stablampe in jedes Abteil, riß Türen auf, schlug Türen zu.
Der Lichtstrahl seiner Lampe trifft einen Soldaten, der die Kapuze seiner Tarnjacke über den Kopf gezogen hat und die Knobelbecher gegen die Holzbank stemmt. Er rüttelt ihn an der Schulter. »Mann, raus hier, der Krieg ist aus!« Die letzten Worte gehen bereits im Kindergeschrei unter, erst einstimmig, dann vierstimmig, ohrenbetäubend. Seit sie unterwegs sind, haben diese Kinder ihre Mutter durch Geschrei geweckt und beschützt. Der Lichtstrahl richtet sich auf die Gepäcknetze, aus denen verstörte Kindergesichter auftauchen.
Der Soldat streift Kapuze und Kopftuch zurück. Ein Frauengesicht kommt zum Vorschein, von Anstrengungen gezeichnet. Als Maximiliane die müden Lider hebt, glänzen die Augäpfel von Tränen.
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