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Noah Scott liebt seine Ruhe über alles. Darum versucht er auch schon seit Jahren das Nachbarhaus zu kaufen, um die Alleinherrschaft an diesem See inmitten des dichten Waldes an sich zu reißen. Doch der Besitzer bleibt stur, und als er plötzlich stirbt, vererbt er es an seinen Neffen. Nun muss sich Noah mit Justin auseinandersetzen. Justin ist laut, jung, leidenschaftlich, steckt voller Träume … Alles das, was Noah nicht ist. Justin weiß noch nicht so recht, was er mit dem Haus von Onkel Jack anfangen soll. Einerseits ist es ideal, um Klavierspielen zu üben und seine Träume zu verwirklichen, andererseits ist es recht einsam, und dort lebt Noah, der wirklich alles gibt, um ihm das Leben schwer zu machen. Obendrein scheint es ein Geheimnis zu geben, was Noahs Haus betrifft, und für solche Dinge hat Justin gerade einfach keine Zeit. Wenn es nur nicht so verdammt schwierig wäre, sich der Anziehungskraft zu entziehen, die sowohl das Haus, der See als auch Noah auf ihn ausüben … Gay Romance Ca. 54.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 266 Seiten.
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Noah Scott liebt seine Ruhe über alles. Darum versucht er auch schon seit Jahren das Nachbarhaus zu kaufen, um die Alleinherrschaft an diesem See inmitten des dichten Waldes an sich zu reißen. Doch der Besitzer bleibt stur, und als er plötzlich stirbt, vererbt er es an seinen Neffen. Nun muss sich Noah mit Justin auseinandersetzen. Justin ist laut, jung, leidenschaftlich, steckt voller Träume … Alles das, was Noah nicht ist.
Justin weiß noch nicht so recht, was er mit dem Haus von Onkel Jack anfangen soll. Einerseits ist es ideal, um Klavierspielen zu üben und seine Träume zu verwirklichen, andererseits ist es recht einsam, und dort lebt Noah, der wirklich alles gibt, um ihm das Leben schwer zu machen. Obendrein scheint es ein Geheimnis zu geben, was Noahs Haus betrifft, und für solche Dinge hat Justin gerade einfach keine Zeit. Wenn es nur nicht so verdammt schwierig wäre, sich der Anziehungskraft zu entziehen, die sowohl das Haus, der See als auch Noah auf ihn ausüben …
Ca. 54.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 266 Seiten.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog
Ein Jahr voller Fantasy …
von
Sandra Gernt
„Einen wunderschönen guten Morgen, mein Süßer.“
Justins Mutter strahlte, als er die Küche betrat. Es lag weniger daran, dass sie sich derartig unglaublich freute, ihn zu sehen, sondern mehr an ihrem grundsätzlich auf Strahlen, Optimismus und krampfhaftes Glücklichsein ausgerichtetes Wesen. Darum hatte er auch kein schlechtes Gewissen, verschlafen und übellaunig zu knurren, statt ihr ähnlich freudig zu antworten.
„Nicht so gut geschlafen, mein kleiner Knautschprinz?“ Sie erhob sich, um ihm eine Umarmung aufzudrängen.
Mit zweiundzwanzig Jahren wollte man nicht unbedingt von seiner Mutter umarmt und kleiner Knautschprinz genannt werden. Zumal sie einen lachsrosafarbenen Seidenbademantel trug, von dem sie behauptete, er würde ihrer Aura schmeicheln, während es seine Augen beleidigte, und von Kopf bis Fuß klimperte, da sie ihre zahlreichen Bernstein- und Edelsteinketten nicht einmal im Schlaf ablegte. Die waren alle perfekt auf sie, ihre Aura, Chakren oder was auch immer abgestimmt und sollten sie mental und körperlich im absoluten Gleichgewicht halten. Sie roch ziemlich intensiv nach ihrer selbst angerührten Tagescreme, die diverse kostbare Ingredienzien enthielt, um die Haut ab fünfzig zu verwöhnen, dazu einen recht hohen Lichtschutzfaktor und das selbst gegebene Versprechen, gegen sieben Zeichen der Hautalterung zu wirken. Außerdem roch sie nach Joghurt mit Heidelbeeren und Lindenblütenhonig. Auch das aß sie nicht, weil es ihr gut schmeckte, sondern um gesund, stark und fit zu bleiben, freie Radikale zu bekämpfen und ihre Verdauung anzuregen. Der halbe Teelöffel Lindenblütenhonig war selbstverständlich die einzige Süßigkeit, die sie sich am Tag gönnte, denn Zucker war ihr größter Feind, die Geißel der Menschheit und pures Gift. Womit sie vielleicht nicht vollkommen Unrecht hatte, trotzdem war ihre strikte Askese und Dauer-Selbstoptimierung keineswegs gesund zu nennen.
„Ich habe für dich die Karten gelegt, mein Bärchen“, sagte sie und sah ihm zu, wie er sein Frühstück richtete. „Lass doch endlich dieses widerliche, pappige Sandwichbrot, das ist Zucker pur. Bacon verstopft deine Arterien, Darling. Und drei Spiegeleier am Morgen, da weint der Cholesterolpegel. Du wirst als Diabetiker mit Herzinfarkt enden. Versuch es doch mal vegetarisch, es muss ja nicht gleich vegan sein. Fleisch macht fett und es ist wahnsinnig ungesund.“
Er war tendenziell untergewichtig, weil die Kalorien bei ihm einfach nicht haften blieben. Dafür trieb er wohl auch zu viel Sport. Sandwich und Bacon gab es heute bloß, weil er sie ärgern wollte, da sie ihn unbedingt umarmen musste. Normalerweise aß er Haferflocken mit Nüssen, Obst und ohne jeden Zuckerzusatz und das andere Zeug bloß, wenn er es mit dem Training übertrieben hatte und schleunigst etwas zwischen die Zähne schieben musste.
Ein Tag, der damit begann, dass seine Mama ihm die Karten legte, konnte nur ein anstrengender Tag werden. Vielleicht brauchte er also noch mehr Bacon?
Sie wartete geduldig, bis er mit seinem Teller am Tisch saß, bevor sie ihm Handyaufnahmen von ihren Tarotkarten präsentierte.
„Schau her, mein Kleiner: In der nahen Zukunft habe ich dir einmal die Sonne und das As der Kelche gelegt. Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr? Nicht wahr?“ Sie strahlte, und ihr wilder Busch gelockter brünetter Haare ließ sie wie einen etwas in die Jahre gekommenen, leicht nachgedunkelten Weihnachtsengel aussehen.
„Das ist … ein gutes Omen, nicht wahr?“, entgegnete Justin zögerlich und schob sich den eigenen Busch gelockter, allerdings hellblonder Haare aus der Stirn.
„Komm schon, Justin!“ Sie schnaufte beleidigt. Allein dass sie ihn beim Vornamen nannte, dem sie ihm damals nach neun Monaten Schwangerschaft und reiflicher Überlegung gegeben hatte, zeugte davon, wie sehr es sie traf, dass er für ihre große Leidenschaft nichts übrig hatte. Wie schon zu oft bedauerte er, das einzige Kind einer verwitweten Mutter zu sein. Gäbe es mehr Menschen in ihrem Haus, müsste er sich nicht ständig allein mit ihr auseinandersetzen und sie hätten sicherlich ein deutlich besseres Verhältnis. „Justin? Die Sonne ist die Glückskarte überhaupt des großen Arkana! Und das As der Kelche bedeutet auf der gelegten Position, dass du etwas ganz Großartiges finden wirst, und zwar schon in naher Zukunft. Also irgendwann zwischen sofort und den nächsten drei Tagen. Du wirst sehen, da wartet etwas auf dich, das absolut wundervoll ist! Die Erfüllung eines lang gehegten Wunschtraums, weniger kann es bei diesem Bild nicht werden. Als die Sonne kam, habe ich direkt ein großes Bestimmungsbild für dich gelegt. Du darfst jetzt aufgeregt und vorfreudig sein.“
„Ah.“ Er nickte und versuchte, seine Ungeduld zu verbergen. Meistens prophezeite seine Mutter ihm hochdramatische Unfälle, Sorgen und Katastrophen, und wenn er ihr mitteilte, dass nichts davon eingetreten war, erinnerte sie ihn eingeschnappt daran, wie er sich zwei Tage zuvor den Zeh gestoßen hatte oder die Kaffeetasse heruntergefallen war. Hatte sie ihm je zuvor Glück und Segen vorhergesagt? Er glaubte jedenfalls nicht daran, genauso wenig, wie er an ihre Totalkatastrophen glaubte. Es war wohl rein statistisch gesehen höchste Zeit dafür gewesen.
„Du wirst schon sehen!“, wiederholte sie eindringlich und legte routiniert raue Mystik in ihre Stimme. Sie verdiente immerhin ihr Geld mit dem Esoterikkram, und das nicht zu knapp. Für eine Sitzung mit ihr berappten ihre Klienten mehrere hundert Dollar. „Für die etwas ferne Zukunft sieht es allerdings weniger rosig aus, mein Schnurzelbärchen.“
„Lass mich raten. Die Neun der Schwerter?“ Keine Karte zog seine Mom häufiger aus dem Tarotdeck. Es war beinahe, als würde sie diese Karte magisch anziehen. Justin hatte sich schon mehrmals vergewissert, dass es keine geheime Markierung gab oder irgendetwas, das diese Karte von den anderen unterschied.
„Ja, ganz recht, die Neun der Schwerter. Sorgen, Nöte, Ängste und Leid warten auf dich. Da du zuvor etwas von absoluter, reiner Großartigkeit findest, sollte dich das genug stärken, um diese Leidensphase durchstehen zu können.“ Sie tätschelte ihm die Wange und ließ ihn endlich allein. Es war wohl Zeit für ihre morgendliche Gesichtsgymnastik. Eine Viertelstunde lang würde sie nun vor dem Spiegel stehen, grimassieren, die Wangen einziehen, die Mundwinkel ausstreichen, die Stirn mit der Nagelbürste bearbeiten. Eileen Carter-Smith würde niemals akzeptieren, dass die Elastizität ihrer Haut nachließ, die Wangen absackten, Augen und Stirn von Falten durchzogen wurden. Genauso energisch wie alles andere in ihrem Leben ging sie den Kampf gegen das Altern an und ignorierte, dass keinerlei Hoffnung bestand.
Justin seufzte innerlich. Er kämpfte ebenfalls energisch um alles das, was ihm wichtig war. Eine recht neue Erkenntnis für ihn, wie viel er mit seiner Mutter gemeinsam hatte, also mehr als bloß die widerspenstigen, durch nichts zu zähmenden Locken. Er mochte diese Erkenntnis nicht sonderlich und versuchte sich aktuell noch damit zu beruhigen, dass er sich vernünftigere Ziele setzte als sie.
Das fettige Frühstück lag ihm schwer im Magen. Morgen würde er brav zum Müsli zurückkehren. Justin ging seine Eintragungen im Kalender für die restliche Woche durch. Fitnessstudio, Jogging-Dates mit seinem besten Freund Blair, Basketball mit Craig, ein Clubbesuch am Freitag. Nichts Wichtiges. Lauter Spaß, Fun, Sport.
Außer am Sonntag. Da prangte ein großes, rotes X. Dieser Tag war viel schneller herangerückt, als er es sich gewünscht hatte. Der Tag, an dem Justin seine Bummelphase nach dem College beenden und endlich beginnen wollte, sein zukünftiges Leben zu planen.
Er hatte Architektur studiert. Vier volle Jahre lang, mit einem Teil-Stipendium. Den Rest hatte seine Mutter für ihn finanziert, wofür er ihr ewig dankbar sein würde – sie würde schon dafür sorgen, dass er dies auch niemals vergaß. Den Lebensunterhalt hatte er während des Studiums mit Nachhilfe und musikalischen Auftritten in einem gediegenen Restaurant bestritten. Vier Jahre Vollgas, Lernen, Arbeiten. Danach war er erst einmal in ein Loch geplumpst, weil er nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Was sollte er mit seinem Leben anfangen? Wie wollte er sich beruflich entwickeln? Es gab so viele Möglichkeiten, und keine gefiel ihm wirklich.
Die klassische Arbeit des Architekten reizte ihn nicht. Er könnte es als Makler versuchen, er besaß durchaus die extrovertierte, geschwätzige Natur, die für solch einen Job unentbehrlich war. Ob es ihm allerdings dauerhaft gefallen würde, Immobilien anzupreisen? Zudem war der Markt heiß umkämpft und sein jugendliches Aussehen wäre definitiv ein Nachteil. Möglicherweise müsste er sich die Haare scheren, um älter und seriöser zu wirken, und das war absolut undenkbar.
Als Gutachter oder Berater könnte er sich hocharbeiten. Vielleicht in die Industrie gehen, oder freiberuflich eine Existenz aufbauen. Der Bedarf an gerichtlichen Gutachtern war groß. Da bestand allerdings dasselbe Problem: Er müsste sich seriöser kleiden und frisieren, um Erfolg zu haben. Niemand wollte sich von einem halben Kind mit Pudelhaaren sagen lassen, wie man es besser machen sollte – egal, um welches Thema es ging.
Justin seufzte und schaltete das Handy aus. Er war wild entschlossen, sich eine Praktikantenstelle zu suchen, sollte er anderweitig keine grundsätzliche Lebensentscheidung finden. Außerdem hatte er mit Nigel Hudson gesprochen. Der Besitzer einer Nobelpizzeria war geneigt, ihm an ein, zwei Abenden am Piano als Abendunterhaltung für die Gäste spielen zu lassen. Ohne feste Gage, lediglich auf Trinkgeldbasis. Das wäre noch keine berufliche Perspektive, aber zumindest ein Signal, dass die Zeit des sinnlosen Faulenzens und Herumtreibens allmählich zu Ende ging. Ein Signal, auf das seine Mutter dringend wartete. Und er selbst benötigte es ebenfalls.
„Justin, mein Engel? Du hast Post!“
Seine Mutter klopfte energisch gegen die Tür und polterte dann in den Raum, ohne abzuwarten, ob er gewillt war, ihren Besuch in seinem Zimmer hinzunehmen. Was ihn daran erinnerte, warum er wirklich keine Lust gehabt hatte, nach der Freiheit im College zurück nach Hause zu ziehen. Ausziehen stand leider überhaupt nicht zur Debatte. Er hatte sein gesamtes Geld in die College-Ausbildung gesteckt und solange er kein Einkommen hatte, musste er hierbleiben. Inklusive Vorträge über seine Ernährung, regelmäßige Tarotlesung und völlige Missachtung seiner Privatsphäre.
„Darling, das sieht wichtig aus. Richtig offiziell“, sagte sie und reichte ihm zögerlich einen dicken Umschlag an. „Hast du dich von einem Anwalt beraten lassen? Willst du ein Haus kaufen oder so? Du verklagst aber keinen, nein?“
„Mom.“ Justin schüttelte entnervt den Kopf. Das verdiente keine bessere Antwort. Ein Hauskauf war ebenso vollkommen absurd wie eine Klage.
„Ich frag doch nur!“ Sie lächelte breit, präsentierte ihre übermäßig weißen Zähne. Lange Ohrringe klimperten, sie trug bereits ihr Arbeitsoutfit. Weit schwingender bunter Zipfelrock, eine schwarze Bluse mit Stulpenärmeln, ein weinrotes Samtmieder, viele Armreifen, Ketten, Ringe, selbstbräunende Creme. Ihr Klientel zahlte einfach besser, wenn sie den Zigeunerlook präsentierte und zugleich behauptete, dass ihre Ur-Urgroßmutter aus dem Volk der Roma stammte. Da sie absolut gar nichts über ihre Ur-Urgroßeltern wusste, war es theoretisch sogar möglich.
Justin ignorierte ihre offensichtliche Neugier und betrachtete den Umschlag. Der sah tatsächlich sehr offiziell aus. Von der Anwaltskanzlei hatte er noch nie etwas gehört. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. Warum schickte ihm ein Anwalt einen dicken Umschlag? Er konnte sich nicht erinnern, irgendwelchen Blödsinn gebaut zu haben. Jedenfalls keinen, der Anlass geben könnte, ihn zu verklagen. Hoffte er. Nein. Nein! Er war sich sicher, er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Darum zögerte er auch nicht länger, sondern riss den Umschlag auf und zog das Anschreiben heraus. Überflog die höfliche Anrede. Bla. Bla. Blaaaa. Irgendjemand hatte diese Kanzlei beauftragt, noch mehr blaaaa …
Und dann …
„Mom!“ Justin sprang vom Schreibtisch auf, wo er bis gerade gemütlich gesessen und sinnlos Videos auf Youtube angeschaut statt über seine Zukunft nachgegrübelt hatte. „Mom, Onkel Jack ist gestorben!“
„Mein Bruder? Das kann nicht sein, die Karten haben mir nichts davon erzählt“, entgegnete sie angespannt. „Die Karten würden mir das niemals verschweigen!“
„Mom, du konntest ihn noch nie leiden, er ist zwanzig Jahre älter als du, ein Stinkstiefel, ein Fleischfresser, ein Angler, hat einen Waffenschein, sieben Knarren, wählt die Reps …“
„Und du meinst, das wäre genügend Grund für die Karten, mir die freudige Botschaft verschweigen zu wollen?“ Sie nahm ihm den Brief ab und las selbst. Ihr Gesicht spannte sich immer stärker an. „Falls das kein grässlich geschmackloser Scherz ist …“ Sie blickte hoch und starrte Justin an, als wäre sie ihm nie zuvor begegnet. „Mein Bruder hat dich zum Haupterben gemacht. Der alte Stinkstiefel ist tatsächlich tot!“
Noah lehnte sich gegen den Rahmen des offenen Fensters. Nichts liebte er mehr als den jungen Morgen im Sommer. Die Luft war kühl und roch feucht nach Erde, Gras und See. Die Vögel zwitscherten, die Insekten verhielten sich noch eher ruhig, genau wie der Wind. Still lag der See vor ihm, glatt wie ein Spiegel. Merlin und Mim schwammen mit ihrer Schar halbwüchsiger Kinder zwischen den Schilfrohren. So hatte Noah ein weißes Schwanenpaar getauft, das seit Jahren hier lebte und ihn mit seiner Eleganz erfreute. Gelegentlich landeten auch Wildgänse oder schwarze Schwäne auf dem Wasser, aber die blieben nie lange zu Gast. Von den zahlreichen Enten war noch nichts zu sehen, die schliefen sicherlich noch am Ufer.
Noah nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seiner Teetasse und schloss für einen Moment die Augen. Er wollte diesen Frieden in sich aufsaugen, ihn fest in sich verankern. Im Winter zweifelte er oft an seinen Lebensentscheidungen. Ob es richtig gewesen war, alles hinter sich zu lassen und dauerhaft in der Einsamkeit zu leben. Wenn der Himmel über Monate bleigrau und schwer über ihm hing, es entweder regnete, schneite oder stürmte, er durch Schneemassen häufig genug von der Welt abgeschnitten wurde und es keine Möglichkeit gab, sich selbst und der Vergangenheit zu entfliehen – ja, dann zweifelte er.
Im Sommer jedoch war er zumeist glücklich, zufrieden und im Reinen mit sich selbst. Das hier hatte er gewollt. Er hatte es sich gewünscht.
Noah leerte seine Tasse und schloss das Fenster. Bevor er sich mit einem schönen, ausgedehnten Spaziergang belohnen durfte, musste er ein wenig Arbeit erledigen.
Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es bereits halb acht war. Jahrelang hatte er um diese Zeit schon ein riesiges Pensum erledigt gehabt, war um vier Uhr morgens aufgestanden, damit er um fünf Uhr im Büro seiner Firma stehen konnte. Eine Firma, die er unmittelbar nach der High School gegründet hatte, um das College finanzieren zu können. Sie hatten Speichermodule entwickelt, mit denen Kraftwerke mit Dampfturbinen nachgerüstet werden konnten. Die Effizienz der Module lag im Durchschnitt bei vierzig Prozent, was nicht allzu großartig war. Allerdings fiel nutzbare Wärme bei diesem Energieverlust an. Mit vulkanischem Gestein als Speichermedium dienten diese thermischen Module mittels Kraft-Wärme-Kopplung also auf zweifache Weise im Prozess. Noahs Firma war kein großer globaler Player geworden, die Technik keineswegs neu, die Konkurrenz auf dem heiß umkämpften Markt gnadenlos. Doch sie hatten sich im mittelständigen Bereich recht solide positioniert, bescheidene Gewinne erzielt und er hatte mehr als genug verdient, um sein Studium beenden zu können. Danach folgten Jahre, in denen er ausschließlich für die Arbeit gelebt hatte. Um 5.00 Uhr ins Büro, nie vor 22.00 Uhr nach Hause. Seine schöne Wohnung war ein fremder Ort, den er eigentlich nur in der Dunkelheit kannte. Räume, in denen er Kleidung aufbewahrte und schlief. Essen und Sport erledigte er in der Firma. All sein Denken, Streben, Handeln war auf Arbeit, Effizienz, Zahlen, die nächste, übernächste und überübernächste Aufgabe ausgerichtet gewesen. Tag und Nacht. Soziale Kontakte bestanden ausschließlich zu Kunden und Mitarbeitern.
Die waren es auch gewesen, die ihn bewusstlos am Boden gefunden hatten. In der Herrentoilette, in Kabine Eins. Im Krankenhaus wurden diverse Mangelzustände an lebenswichtigen Mineralien und Vitaminen festgestellt – seine Ernährung war ziemlich einseitig gewesen und hatte viel zu oft lediglich aus Unmengen an Kaffee und zwei, drei Thunfischsandwiches hier und ein Stück Pizza da bestanden. Der Arzt hatte sich allerdings auch die Zeit genommen, sich die restlichen Blut- und sonstigen Werte anzuschauen. Noahs Blutdruck war erhöht, die Stresshormone gingen fast durch die Decke, er war trotz Mangelernährung übergewichtig, der Blutzucker erhöht.
„Sie befinden sich in einem dauerhaften Panikzustand“, hatte Dr. Granden ihm erklärt. „Ihr Körper glaubt, er muss Tag und Nacht vor diesem imaginären Säbelzahnkater wegrennen und egal wie sehr er sich bemüht, das Monster wird ihn trotzdem jeden Moment erwischen. Sie sind jung, Mr. Scott. Mit neunundzwanzig hält Ihr Körper viel aus und er kann noch lange vor dem Monster fliehen. Aber irgendwann gibt er auf. Und nun frage ich Sie: Ist es das wert? Ist Ihre Firma, ist Ihr Job so wichtig, dass es sich lohnt, dafür das eigene Leben zu opfern? Sie werden mit etwa vierzig an einem massiven Herzinfarkt oder Schlaganfall sterben, wenn Sie weiterhin in dieser Dauerpanik bleiben. Also so grob in fünf bis zehn Jahren ist es vorbei, wenn Sie genau wie jetzt weitermachen. Oder Sie reduzieren Ihre Arbeitslast. Gönnen sich ein bis zwei Ruhetage pro Woche. Arbeiten nur noch höchstens zehn Stunden am Stück. Achten mehr auf Ihre Ernährung. Setzen sich gelegentlich mal in die Sonne. Vielleicht holen Sie sich eine Katze, die sind ausgezeichnet zum Entspannen. In diesem Fall haben Sie Chancen, auch noch den sechzigsten Geburtstag zu erleben.“
Noah hatte gelacht – bitter, nicht amüsiert. Er wusste, dass eine Reduzierung seines Pensums ein netter Vorsatz bleiben würde. Einer, den er vielleicht drei Wochen durchhielt, bevor die nächste Katastrophe kam, die Krise, die ihn zwang, in das altbekannte Muster zurückzufallen. Kurz hatte er erwogen, einen Personal Trainer einzustellen. Jemanden, der ihn dazu anhielt, sich gut und regelmäßig zu ernähren, mehr Wasser zu trinken, seine Mittagspause an der frischen Luft zu verbringen, pünktlich Feierabend zu machen. Aber ein solcher Angestellter würde keine Daumenschrauben ansetzen können, wenn er befürchten müsste, jederzeit gefeuert zu werden. Nein, auch ein solcher Trainer würde ihn nicht davon abhalten, zurück auf die Einbahnstraße einzuschwenken, die ihn in ein frühes Grab führte.
„Dr. Granden, wie groß sind die Schäden an Herz und Organen?“, hatte er darum ein paar Tage später bei einem Gesprächstermin gefragt.
„Bislang minimal. Sie sind, wie gesagt, jung. Das wird sich allerdings sehr schnell und drastisch ändern, wenn Sie Ihren Stresspegel nicht runterbringen. Wie schnell diese Änderung tatsächlich eintritt, kann niemand sagen. Es hängt von den Genen ab, und von der Gnadenlosigkeit, mit dem Sie den Missbrauch an Ihrem Körper betreiben.“
„Sagen wir, ich mache eine vollständige Kehrtwende. Jede Nacht sieben Stunden Schlaf, drei vollwertige Mahlzeiten, jeden Tag Sport, ohne mich zu überlasten. Meditation, Yoga, Spaziergänge. Null Stress. Null Koffein. Null Alkohol, außer vielleicht mal eine leichte Weinsauce zu Fisch. Keine Schmerzmedikamente mehr. Keine Aufputschmittel. Was wäre dann Ihre Prognose?“
Dr. Granden hatte sich zurückgelehnt, höchstgradig überrascht. So etwas bekam er sicherlich nicht oft zu hören. Er tippte die Fingerkuppen gegeneinander und ließ sich Zeit mit seiner Antwort.
„Sie sind noch nicht am Point of no return“, sagte er. „Alle Schäden an Organen und Arterien sind reversibel. Sollten Sie also beschließen, nach Tibet auszuwandern und das Leben eines Mönchs zu führen, könnten Sie, sofern keine Bergziege Sie in den Abgrund stößt oder eine Gerölllawine für ein vorzeitiges Ende sorgt, gerne auch hundert Jahre alt werden. Bedenken müssen Sie trotzdem, Mr. Scott: Es gibt nie Garantien, außer dieser einen: Das Ende ist gewiss, der Zeitpunkt ist es nicht. Es geht immer nur darum, die Jahre, die uns gegeben sind, sinnvoll zu nutzen. Etwas zu finden, was uns mit Freude erfüllt. Wenn das Ihre Firma ist, dann kann es sich durchaus lohnen, ihr das eigene Leben zu opfern und schon mit vierzig vor den Schöpfer zu treten. Wenn es der Zen-Buddhismus ist, dann auf nach Tibet. Machen Sie sich einfach klar, was Sie vom Leben wollen.“
Genau das hatte Noah auch getan. Die Firma hatte er für einen hervorragenden Preis verkauft und damit das Wochenendhaus am See hergerichtet, das seine Eltern ihm vererbt hatten. Beide waren eher jung gestorben, hintereinander weg an Krebs beziehungsweise Herzinfarkt; zudem war er ein Nachzügler gewesen, der spät in ihr Leben getreten war. Seit vier Jahren wohnte er jetzt hier in völliger Abgeschiedenheit und Ruhe.
Anfangs war es hart gewesen. Die Panik loslassen. Dieses ständige Drängen, etwas unglaublich Wichtiges erledigen zu müssen und sich nicht erinnern zu können, was das wohl gewesen war. Die nächste Aufgabe anzupacken. Er war nachts hochgeschreckt, im festen Glauben, verschlafen und damit eine globale Krise ausgelöst zu haben. Dann aber war es besser geworden. Er schlief durch, kam zur Ruhe. Lernte, wie schön es sein konnte, stundenlang durch die Wälder zu spazieren, ohne jedes Ziel. Wie friedlich es bei Sonnenauf- und untergang am Wasser war. Wie sehr er Eichhörnchen mochte, und Schwäne.
Er vermisste Kaffee, Pizza, Burger und Sushi durchaus ein bisschen. Da er nur noch sehr selten in die Stadt kam, außer um Einzukaufen, fehlte es ihm an Gelegenheiten, dieser leisen Sehnsucht nach Fastfood und Koffein nachzugeben und in den vergangenen vier Jahren war dies bloß ein einziges Mal geschehen. Die fetttriefende Pizza hatte sogar recht gut geschmeckt, ihm allerdings heftige Darmkoliken beschert. Ein weiteres Mal würde er also wohl nicht schwach werden. Was er sich manchmal gönnte, war ein Becher Eiscreme. Noah liebte Zitroneneis und es sprach ja auch nichts dagegen. Seine Blutwerte waren längst wieder großartig, das Gewicht ebenfalls, die Gefahr von Diabetes weit gebannt.
Was er darum überhaupt gar nicht vermisste, war die Dauerpanik. Die Flucht vor der Säbelzahnkatze. Er wusste nicht, wie es seiner Firma ging, ob sie noch existierte oder von einem größeren Fisch geschluckt worden war. Noah war das gleichgültig, er hatte dieses Kapitel in seinem Leben abgeschlossen. Das Geld, das er dafür erhalten hatte, trug ihn nach wie vor, denn er lebte sehr bescheiden. Außerdem verdiente er recht passabel mit den Büchern, die er schrieb.
Sein Aussteigerbuch jedenfalls, das brachte ihm nach wie vor ordentliche Tantiemen ein. Er hatte sich unter Pseudonym literarisch über seine Vollkehrtwende ausgelassen, so etwas lasen die Leute gerne. Ein Mann, der sich halb ins Grab gewirtschaftet hatte und noch rechtzeitig umkehren konnte. Inspirierende Lektüre, auch wenn er sicherlich keinen einzigen Menschen mit seinem Beispiel zu einem gesünderem Lebensstil verholfen hatte. Persönliche Details über sein Leben gab es darin nicht preis, Kindheit und Jugend waren fast vollständig ausgeklammert, der Schwerpunkt lag auf der Zeit mit seiner Firma. Seitdem schrieb er Thriller unter seinem eigenen Namen und ohne Verlag, mit ziemlich mäßigem Erfolg. Die Konkurrenz war groß, er bevorzugte die leiseren Töne, psychologische Spannung, statt auf Blut und Splatter und viel Action zu setzen. Dafür gab es ein zwar kleines, dafür dankbares Publikum, seine Rezensionen, die er erhielt, waren zumeist gut. Damit war Noah zufrieden, er wollte kein Superstar werden, im Rampenlicht stehen, Interviews geben müssen. Das Gefühl, etwas Schönes zu tun, etwas Sinnvolles, für das es sich morgens lohnte aufzustehen, das genügte ihm mittlerweile.
Noah schaltete das Laptop ein. Er würde jetzt ein, zwei Stunden schreiben und danach seinen Spaziergang beginnen. Es war wichtig. Nicht nur, weil Bewegung in der Natur sinnvoll war, nein. Er musste diesem Haus entkommen. Blieb er zu lange darin gefangen, wie es im Winter der Fall war, dann … Es nahm ihm den Atem. Dies war kein gutes Haus. Leider gehörte er hierher und es war dumm von ihm gewesen zu glauben, er könnte ihm jemals entkommen.
Noah pfiff leise vor sich hin. Es dauerte knapp zwei Stunden, den See im gemütlichen Spazierschritt zu umrunden und er hatte es fast geschafft. Auf der heutigen Tour hatte er ein Reh gesehen, einen Biber, ungefähr ein Dutzend Eichhörnchen und ansonsten nichts als Stille, Frieden, menschenleeres Paradies. So liebte er es. So …
Motorengeheul, das stetig lauter dröhnte. Johlendes Geschrei. Auf dem See stiegen die ersten Vögel auf, die sich panisch in Sicherheit bringen wollten. Danach dauerte es noch volle zwei Minuten, bis die beiden Quads in Sichtweite kamen.
Junge Männer hockten wie die Äffchen auf den schweren Fahrzeugen, brüllten vor Freude und Vergnügen. Immerhin trugen sie Schutzhelme, wenn es auch sonst keine Vorrichtungen gab, um sie aufzufangen, sollten die schwer zu kontrollierenden Quads umstürzen. Noah hatte als Jugendlicher auch damit geliebäugelt, sich einmal einen Ritt auf diesen Höllengeräten zu gönnen. Das war, bevor zwei Jungs aus seiner High School damit verunglückten. Einer tot, der andere querschnittsgelähmt. Seither waren sie für ihn indiskutabel, genau wie Motorräder.
Diese zwei jungen Leute hatten offenkundig keine Scheu. Sie fuhren kiesspritzend den Weg entlang, der zu Jacks Haus führte. Noah grollte innerlich, als er dies beobachtete. Ihm gehörte die Hälfte des Sees. Sein Land. Sein Hort des Friedens. Seine tagtägliche Hölle, der er nicht entkommen wollte.
Jack Carter gehörte die andere Hälfte. Er besaß dort ein ähnliches Haus wie Noah, nutzte es allerdings bloß sehr selten. Jack war ein grässlicher Mensch. Vielleicht war er in der Jugend anders gewesen, Noah hatte den ältlichen Herrn jedenfalls stets missgelaunt, grantig und arrogant erlebt. Seit er als kleiner Junge mit seiner Familie hergekommen war, bedeutete Jack nichts als Ärger. Wie oft hatte er Picknicks gesprengt, nicht weil sie zu laut gewesen waren, sondern einfach, weil er ihnen das Vergnügen nicht gönnte! Wie oft hatte er sich beschwert, egal ob sie schwammen und tatsächlich zu lachen wagten, spielten oder still in der Sonne lagen.
Seit Noah hier dauerhaft lebte, war er dem alten Griesgram glücklicherweise bloß selten begegnet. Es war jedes Mal sehr unangenehm gewesen. Noah hatte mehrfach versucht, Jack Land und Haus abzukaufen und war ausnahmslos gescheitert. Es war enttäuschend, denn er wollte den See vollständig besitzen. Nur auf diese Weise konnte er kontrollieren, wer herkam, und Unbefugte fortschicken. Wie diese beiden wilden Affen. Der eine könnte Jacks Neffe sein. Jermaine? Jonas? Jaylen? Noah konnte sich nicht erinnern und es war auch unwichtig. Jack hatte ihm einmal von dem Jungen erzählt, stolz, weil dieser ein Teilstipendium erhalten hatte. An dem Tag war er beinahe umgänglich gewesen, darum war Noah halbwegs geneigt, dem jungen Mann das eine oder andere zu verzeihen. Die Quads allerdings, und dass er einen Freund mitgeschleppt hatte … Jack hätte da Regeln aufstellen, dem Neffen klarmachen müssen, dass dies vielleicht kein Naturschutzgebiet war, es aber dennoch schutzbedürftige Tiere gab. Noah hätte da sehr viel mehr von dem alten Griesgram erwartet!
Nun denn. Wenn es sein müsste, würde er den Rowdies erklären, was sich schickte und was nicht – und dass es Anwohner gab, die sich auch nicht alles gefallen lassen mussten. Vielleicht wusste Jack gar nichts hiervon? Sicherlich hatte er irgendwo einen Ersatzschlüssel deponiert, das machten die meisten Leute. Gut möglich, dass die jungen Leute sich ohne sein Wissen hier amüsieren wollten.
Noah drückte den Rücken durch, richtete sich bewusst gerade auf. Es stand zwei zu eins, und er war nicht so viel älter, dass diese Jungs ihn automatisch als Autoritätsperson anerkennen würden. Eigentlich legte er keinen gesteigerten Wert auf Konfrontationen dieser Art. Für seinen persönlichen Frieden, für seinen See, seinen Wald, wollte er es auf sich nehmen. Er trug Verantwortung, und das war stets eine ernste Angelegenheit.
Noch war er etliche Yards von Jacks Haus entfernt, als hinter ihm plötzlich Motorengeräusche erklangen. Diesmal war es kein Quad, sondern etwas Größeres. Ungeduldig fuhr Noah herum, wütend über all diese Leute, die in seine Privatsphäre eindrangen, ohne sich zu schämen, ohne um Erlaubnis zu fragen oder ihn in irgendeiner Form vorab davon in Kenntnis zu setzen – und eilte hastig aus dem Weg, als er einen tonnenschweren Transporter auf sich zukommen sah. Zur Hölle, was ging denn hier bloß vor sich?
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, rief Blair zum gefühlt tausendsten Mal. Das störte nicht weiter, denn Justin konnte es ebenfalls nicht fassen. Sein Onkel Jack hatte ihm dieses Haus am See, das zugehörige Land, eine erkleckliche Geldsumme und noch einiges mehr vererbt. Da er nie geheiratet und keine eigenen Kinder hatte, war das eigentlich sogar zu erwarten gewesen. Er konnte seine Schwester, also Justins Mutter, wirklich gar nicht leiden. Zu ihm, Justin, hatte er hingegen stets einen recht guten Draht gehabt. Ob diese Abneigung gegen seine Mom wirklich nur an ihrer extrem spirituellen Ader lag oder daran, dass er einfach Frauen nicht mochte, war nie geklärt worden – und spielte auch keine echte Rolle. Justin war jedenfalls eingesprungen, wenn Onkel Jack Unterstützung brauchte und hatte auch die Beerdigung organisiert. Es waren erstaunlich viele Leute gekommen, darunter Verwandte, die Justin nie zuvor gesehen hatte. Dieser Tag war als einer der schrecklichsten in Justins Leben vorübergegangen. Anfeindungen und Beschimpfungen von wildfremden Leuten, die ihm Vorwürfe machten, weil er trotz seiner Jugend zum Haupterben bestimmt worden war.
„Das hat der alte Knausel nur getan, um mich zu bestrafen!“ Der Satz war dutzende Male in verschiedensten Varianten gefallen. „Jack war unzurechnungsfähig! Ich lasse das von meinem Anwalt prüfen!“ Auch dieser Satz war häufig genug gekommen. „Du hast es geschafft, dir ein Erbe zu erschleichen, junger Mann? Hut ab! Glaub aber nicht, dass du es genießen darfst, mein Anwalt ist dran!“ Dieser Satz in den schillerndsten Versionen, gerne unterlegt mit farbigen Drohungen, Flüchen, Beschimpfungen und Verwünschungen, war der mit Abstand häufigste gewesen.
Justin liebte seine Mom jetzt noch mehr, denn sie hatte unerschütterlich an seiner Seite gestanden. Konservativ im schwarzen Kleid, obwohl sie diese Farbe so sehr hasste und ihren Bruder noch mehr gehasst hatte.
„Ich gehe nicht für Jack dorthin. Der soll in der Hölle verrotten, wo er hingehört. Aber wir wissen beide, dass die Beerdigung eine schlimme, schlimme Katastrophe werden wird und ich lasse dich dort nicht allein.“
Das waren ihre Worte gewesen und sie hatte sich als effektiver Personenschutz erwiesen. Schon deshalb, weil sie viele der Anwesenden kannte, von denen Justin nicht einmal die Namen je begegnet waren, bevor er sie von einer Liste, die er dem Testament entnehmen konnte, auf Einladungskarten schreiben musste. Onkel Jack hatte seine eigene Beerdigung sehr sorgfältig geplant und auch die Liste der Teilnehmer angeheftet. Zusammen mit festen Vorgaben für das Musikprogramm während der Bestattung, dem Blumenschmuck, dem Ort der anschließenden Feierlichkeiten und dem Büffet. Ob er als bekannter Menschenfeind geglaubt hatte, das würde ihm zu Ehren friedlich abgehen, oder sich an der Vorstellung ergötzt hatte, wie sich alle gegenseitig an die Kehle gingen – Ruth Drillinger, seine vierundachtzigjährige Nachbarin, lieferte sich zumindest ein formidables Handtaschengefecht mit Barney Thompson, seinem ältesten Freund aus Armeezeiten – darüber wollte Justin keine Vermutungen anstellen.
Jedenfalls sorgte seine Mom dafür, dass er den Tag lebendig überstand und niemand ihn mitten auf dem Friedhof erwürgte, obwohl einige aussahen, als wäre genau das ihr Plan gewesen.
„Eleanore Brigsby! Ich weiß alles über dich. Komm meinem Sohn zu nah und ich lasse in jeder Zeitung dieses verdammten Landes drucken, wie du deinen Mann bei der Scheidung ausgenommen hast.