November - Georges Simenon - E-Book

November E-Book

Georges Simenon

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Vater, Sohn und eine gefährliche Leidenschaft An einem stürmischen Novemberabend sitzt Familie Le Cloanec in ihrer Villa am Rand von Paris zusammen. Aber gemütlich wird es nicht, denn die Mutter ist unberechenbare Alkoholikerin, der biedere Vater versteckt sich hinter seiner Arbeit und eine angespannte Stille beherrscht die Tage in der Villa. Tochter Laure und Sohn Olivier nutzen jede sich bietende Gelegenheit, der häuslichen Enge zu entfliehen. Mitten in dieser Familie wirkt das neue spanische Dienstmädchen wie eine Urgewalt. Hals über Kopf verliebt sich Olivier in Manuela, doch schon bald ist ihr auch der Vater verfallen. Misstrauisch behalten die zwei Frauen das Geschehen genau im Blick. Dann ist Manuela eines Tages plötzlich verschwunden und Laure hegt einen schrecklichen Verdacht.   Ein spannender Roman und das Psychogramm einer französischen Familie.

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Seitenzahl: 201

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Georges Simenon

November

Roman

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

Atlantik

1

Ich glaube nicht, dass ich so etwas schon einmal erlebt habe. Es war der zweite Freitag im November, der 9. November, um genau zu sein. Wir saßen wie jeden Abend zu viert beim Abendessen um den runden Tisch. Manuela hatte gerade die Suppenteller abgetragen und ein Kräuteromelett serviert, das meine Mutter zwischenzeitlich in der Küche gebacken hatte.

Seit dem Morgen fegte einer der heftigsten Stürme des Jahres über Frankreich hinweg, im Radio war die Rede von abgehobenen Dächern, Autos, die mehr als zehn Meter davongeschwemmt worden waren, Schiffen in Seenot im Ärmelkanal und im Atlantik.

Der Wind tobte, das Haus bebte unter den heftigen Böen, als rüttelte man an seinen Grundfesten, Fensterläden, Fensterscheiben und Außentüren schienen jeden Augenblick nachzugeben.

Es goss in Strömen, ohne Unterlass, furchtbar, der Regen schlug gegen die Hauswände, es klang, als rollten Wellen über einen Kiesstrand.

Wir unterhielten uns nicht. Bei uns redet man selten bei Tisch, man beschränkt sich auf das Notwendige.

»Reichst du mir bitte den Teller?«

Jeder isst von den anderen getrennt durch eine unsichtbare Wand, und an diesem Abend lauschte jeder für sich auf das Sturmgetöse.

Und plötzlich war es von einer Sekunde auf die andere still, nichts rührte sich mehr in der Natur, eine fast beängstigende Leere.

Mein Vater runzelte seine breiten, buschigen Augenbrauen. Mein Bruder schaute uns einen nach dem anderen verwundert an.

Der lange, dürre Hals meiner Mutter spannte sich unmerklich, während sie argwöhnisch um sich blickte. Sie misstraut allem. Sie lebt im Mittelpunkt eines feindlichen Universums, ist immer auf der Hut, immer wachsam, mit starrem Blick und gerecktem Hals wie bestimmte Raubvögel.

Alle schwiegen. Als hätte die Welt den Atem angehalten, als wäre diese abrupte Stille das Vorzeichen weiß Gott welcher Katastrophe.

Nur der Gesichtsausdruck meines Vaters blieb, nachdem er kurz mit den Brauen gezuckt hatte, unverändert. Er hat stets ein fahles, ausdrucksloses Gesicht, allenfalls liegt ein fast feierlicher Ernst darauf.

Olivier wandte sich zur Tür, als Manuela sie hinter sich schloss, und ich bin sicher, dass er eine stumme Nachricht an sie richtete. Ich bin auch überzeugt, dass meine Mutter sie, ohne den Kopf zu wenden, bei ihrer Zwiesprache ertappte. Sie sieht alles, hört alles. Sie sagt nie etwas, aber sie nimmt alles auf.

Mein Bruder ließ sich von diesem unerwarteten Stocken des Universums nicht lange beunruhigen. Er saß wie immer meinem Vater gegenüber und ich gegenüber meiner Mutter, deren Wangenknochen wieder die beiden kreisrunden roten Flecken aufwiesen.

Das ist ein Zeichen. Sie hat getrunken. Sie beginnt eine Novene, so nennen wir es unter uns, aber sie ist nicht betrunken, sie ist nie richtig betrunken.

»Bist du müde?«

Warum hatte mein Vater das Bedürfnis, das zu sagen? Sie ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist weitaus feinsinniger als er und weiß, was die Worte bedeuten sollen. Da es schon viele Jahre so geht, hätte er es sich ersparen können, sie darauf hinzuweisen.

»Ich habe Migräne«, sagt sie beiläufig mit spröder Stimme.

Ich weiß nicht, wen ich mehr bedauere. Man hat oft den Eindruck, meine Mutter tut, was sie kann, um zu missfallen, und selbst wenn sie schweigt, wirkt sie aggressiv. Aber könnte mein Vater nicht etwas rücksichtsvoller sein, ein Minimum an Nachsicht zeigen?

Er hat sie immerhin geheiratet, und wahrscheinlich war sie nicht viel schöner als heute. Ich habe Fotos von ihrer Hochzeit 1938 gesehen. Sie hatte schon immer ein unvorteilhaftes Gesicht. Ihre Nase ist zu lang und endet in einer Nasenspitze, die wie aufgepfropft wirkt, und auch ihr Kinn ist zu spitz.

War mein Vater verliebt in sie? Oder war er damals als junger Leutnant stolz darauf, eine der Töchter seines Obersts zu heiraten, der auf dem besten Weg war, General zu werden?

Darüber weiß ich nichts. Es geht mich nichts an. Es steht mir nicht zu, über sie zu urteilen, auch wenn ich es unabsichtlich tue. Wir leben in einem Haus, in dem jeder den anderen beobachtet und sein Leben getrennt von den anderen lebt. Nur unser spanisches Hausmädchen, Manuela, die seit zwei Monaten bei uns arbeitet, singt bei der Hausarbeit und lebt, als ob um sie herum alles normal wäre.

Sie hat die Birnen aufgetragen, und mein Vater schält seine sorgfältiger als der beste Oberkellner. Er macht alles sehr gründlich, mit einer bisweilen nervigen Sorgfalt.

Muss er sich beherrschen? Sind seine Würde und Gelassenheit aufgesetzt?

Wie immer hat er sich als Erster erhoben, wie er sich unabänderlich als Erster an den Tisch setzt und langsam seine Serviette auffaltet. Hierarchie ist ihm wichtig. Bestimmt weil er beim Militär ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass er den kleinen Dingen dieselbe Bedeutung beimisst wie den großen.

Er murmelt:

»Ich gehe arbeiten …«

Dieser Satz fällt fast jeden Abend um dieselbe Zeit. Er hat ein Zimmer am anderen Ende des Flurs zum Büro gemacht. In der Mitte thront ein riesiger Zylinderschreibtisch aus dem neunzehnten Jahrhundert, und die Regale mit ihren verglasten Türen sind vollgepackt mit Büchern und Zeitschriften.

Arbeitet er wirklich? Er bringt immer eine dicke Aktentasche mit Papieren von der Arbeit mit nach Hause. Manchmal hört man ihn ungeschickt auf seiner Reiseschreibmaschine tippen. Meistens ist es jedoch ruhig. Wir dürfen ihn nicht stören. Jeder achtet darauf, anzuklopfen, sollte man ihm zufällig etwas mitzuteilen haben.

In seinem Arbeitszimmer steht ein alter, durchgesessener Ledersessel, in dem ich ihn zigmal angetroffen habe, die Füße zum Kamin gestreckt, in dem ein kleines Feuer brennt, das er selbst angezündet hat. Er schaut von seiner Lektüre auf, sieht einen geduldig an, ohne einen zu entmutigen.

»Ich wollte dich fragen, ob ich morgen …«

Hört er zu? Interessiert es ihn? Fühlt er, dass er Familienvater ist und wir drei von ihm abhängen?

Olivier kümmert sich kaum um seinen Vater und organisiert in aller Ruhe sein Leben. Er geht häufig abends aus, weniger oft seit Manuela im Haus ist. Nach dem Abendessen verschwindet er nach oben in sein Zimmer oder in eine Art Labor, das er sich unter dem Dach eingerichtet hat, direkt neben dem Zimmer der Spanierin.

Meine Mutter geht ins Wohnzimmer. Ich folge ihr. Dann macht sie mechanisch den Fernseher an … Jeden Abend … Unabänderlich, egal was kommt, aber es hindert sie nicht, das kleinste Geräusch im Haus zu hören …

Sie näht. Es gibt immer Knöpfe, die angenäht, Wäschestücke, die ausgebessert werden müssen. Ich setze mich ebenfalls vor den Fernsehapparat, doch das Programm interessiert mich nicht immer, und dann vertiefe ich mich in ein Buch.

»Komisch, dass der Sturm so abrupt aufgehört hat …«

Sie hebt einen Augenblick den Kopf, als wollte sie sich versichern, dass kein Hintergedanke hinter den Worten steckt, dann murmelt sie nur:

»Ja …«

Aus der Küche, wo Manuela das Geschirr spült, klingt Tellergeklapper. Sobald das Hausmädchen hinauf in ihr Zimmer gegangen ist, wird meine Mutter aufstehen und dabei murmeln:

»Ich sehe mal nach, ob das Mädchen das Licht …«

Sie bemüht sich nicht wegen des Lichts, auch nicht wegen des Gaskochers. Sie geht, um den übrig gebliebenen Rotwein zu trinken, und sie trinkt ihn aus der Flasche, mit ängstlichem Blick auf die Tür, denn sie befürchtet immer, überrascht zu werden. Wenn sie so drauf ist, trinkt sie ausnahmslos alles, was ihr in die Hände fällt, und je mehr sie trinkt, umso mehr Farbe bekommen ihre hohen Wangen, umso glänzender werden ihre Augen.

Sie tut mir leid, aber gleichzeitig nehme ich es ihr übel, denn ich würde meine Mutter gerne nicht bedauern müssen. Bisweilen tut mir auch mein Vater leid. Wer von den beiden hat angefangen?

Das ging schon so, als mein Bruder und ich noch Babys waren. Ich kam zuerst, denn ich bin einundzwanzig und die Ältere. Dann kam Olivier, der jetzt neunzehn Jahre alt ist.

Haben sich unsere Eltern wie die meisten Eltern verhalten? Haben sie sich an unserer Wiege umarmt, geküsst, zärtliche Worte ausgetauscht?

Das scheint mir undenkbar. So weit meine Erinnerung zurückreicht, war das Haus immer dasselbe, geordnet und still, waren die Tage von schaurigen Mahlzeiten unterbrochen.

Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich hassen. Mein Vater ist geduldig, und ich merke, dass das nicht immer einfach ist. Ich verstehe ihn, wenn er an den meisten Abenden in dieses Arbeitszimmer flüchtet. Aber konnte Mama nicht mehr von ihm erwarten als Geduld?

Ein richtiger Familienkrach wäre mir manchmal lieber, schön heftig, mit Geschrei, Tränen, und anschließend eine vorübergehende Versöhnung.

Auf mein Urteil kann man nicht viel geben. Auch ich bin nicht hübsch. Ich habe wie meine Mutter ein unvorteilhaftes Gesicht mit einer runden, zu klobigen Nase anstatt einer Stupsnase mit Doppelspitze. Nur mein Körper stellt mich zufrieden.

Wozu über all das nachdenken? Ich lese. Ich versuche zu lesen, und von Zeit und Zeit betrachte ich das Gesicht meiner Mutter. Draußen hört man den Regen, es tröpfelt sich aus.

Das Programm wechselt. Es läuft ein lärmender Western, und ich stehe auf, um den Apparat leiser zu stellen. Gibt es viele Familien wie unsere in Paris und Umgebung?

Um zehn setzt meine Mutter ihre Brille ab und sammelt die Wäschestücke, die Garnrollen, die Scheren ein. Sie ist nicht in die Küche gegangen, wie ich dachte.

»Gute Nacht, Laure …«

Sie bleibt stehen, hält einen Augenblick inne, während ich ihr einen Kuss auf beide Wangen hauche. Jetzt macht sie einen Abstecher in die Küche, dann steigt sie die Treppe hinauf. Ich kann endlich den Fernseher ausschalten und in Ruhe lesen.

Wartet mein Vater, bis sie im Bett liegt, bevor er selbst hinaufgeht? Ich sehe sie nie gemeinsam ins Bett gehen. Normalerweise liegt eine Viertelstunde dazwischen, als wollten sie jede Intimität vermeiden, dabei schlafen sie im selben Bett.

Ich lese. Dann geht die Tür zum Arbeitszimmer auf. Mein Vater durchquert den Flur, bleibt an der Tür stehen, sieht sich um. Sein Gesicht ist ausdruckslos.

»Ist deine Mutter nach oben gegangen?«

Ich schaue zur Pendeluhr auf dem Kamin.

»Vor gut zehn Minuten.«

»Und sie hat nichts gesagt?«

Ich werfe ihm einen überraschten Blick zu.

»Nein.«

Was hätte sie sagen sollen? In welcher Angelegenheit?

»Ist Olivier schon heruntergekommen?«

»Nein.«

»Ist er in seinem Zimmer?«

»In seinem Zimmer oder auf dem Dachboden, keine Ahnung …«

»Gute Nacht, Laure …«

Er kommt zu mir, und ich gebe ihm auch einen Kuss auf jede Wange.

»Gute Nacht, Papa …«

Es kommt mir komisch vor, ihn Papa zu nennen. Es passt nicht zu seiner Statur, seinem gediegenen Ernst. Er lächelt nie, und wenn er sich um ein Lächeln bemüht, dann zieht er seine Lippen ohne jede Fröhlichkeit mechanisch auseinander.

»Gehst du nicht ins Bett?«

»Bald …«

»Vergiss nicht, das Licht auszumachen …«

Als ob ich mit einundzwanzig Jahren nicht in der Lage wäre, das Licht hinter mir auszumachen.

»Gute Nacht …«

»Gute Nacht …«

Diese Nacht, die Nacht vom 9. zum 10. November, sollte jedoch eine schlechte Nacht werden.

Ich las noch ungefähr eine Stunde, bevor ich in mein Zimmer hinaufging und mich auszog. Ich dachte an den Professor und an Gilles, der wahrscheinlich sauer auf mich war und nichts verstand.

Professor Shimek ist kein schöner Mann. Er ist zweiundfünfzig, hat eine vierzehnjährige Tochter, eine pummelige und lustige kleine Frau, die er vor dem Krieg geheiratet hat, nachdem er aus der Tschechoslowakei fortgegangen war. Er gehört zu den klügsten lebenden Männern. Doch in den Augen von Gilles Ropart …

In manchen Augenblicken würde ich lieber nichts denken und einfach in den Tag hineinleben. »Kann man mich nicht in Frieden lassen?«, soll ich als Kind oft geseufzt haben, wenn mein Vater oder meine Mutter etwas von mir wollten.

Dasselbe könnte ich heute noch sagen. Ich putze mir die Zähne, wische mir das bisschen Make-up aus dem Gesicht, das ich mir gestatte, und wiege mit einer gewissen Freude meine schweren Brüste in den Händen, bevor ich meinen Pyjama überstreife und mich ins Bett lege.

Es fällt mir immer schwer, einzuschlafen. Gedanken, Bilder fliegen mir von überallher zu, aus allen Abschnitten meines Lebens. Ich habe es schon mit Schlafmitteln probiert. Ich schlief schneller ein, doch eine oder zwei Stunden später wachte ich wieder auf und fand noch schwerer in den Schlaf, sodass ich am Morgen ganz benommen im Kopf war.

Vermutlich habe ich mein feines Gehör von meiner Mutter geerbt. Aber natürlich hallt das Haus wie eine Trommel, obwohl es aus dem neunzehnten Jahrhundert ist.

Ich höre den Regen, der vom Dach tropft, und aus der Ferne ab und zu ein Auto, das auf der Straße vorbeifährt.

Warum habe ich immer das Gefühl, dass die anderen ein richtiges Leben führen, und ich nicht? Diese Autos fahren irgendwohin, kommen irgendwoher. Andere Leute sind um diese Zeit im Theater, im Cabaret. Es gibt welche, die lachen. Wie Manuela. Sie ist die Einzige im Haus, die lacht, sie schert sich nicht um die Atmosphäre. Sie ist so alt wie ich, dazu schön, in voller Blüte, kerngesund. Ihre Fröhlichkeit wirkt fast wie eine Kampfansage.

Ich weiß, worauf ich warte, und es ist sicher nur eine Frage der Zeit. Mein Bruder im Nebenzimmer steht auf. Ich höre seine Bettfedern. Er ist also im Pyjama.

Hat er lange genug gewartet? Sind mein Vater und meine Mutter eingeschlafen?

Er öffnet vorsichtig die Tür und geht die Treppe hinauf. Er kann sich noch so bemühen, leise zu sein, ich höre ihn, und Manuela hat ihn auch gehört, denn er muss nicht klopfen, sie öffnet ihm die Tür.

Es ist das zehnte Mal. Angefangen hat es vor einem Monat, und ich spüre, dass sie sich jetzt über mir stehend umarmen. Dann höre ich Manuelas lautes Lachen.

Lauscht meine Mutter ebenfalls? Und wenn, was geht ihr dabei durch den Kopf? Mein Bruder ist neunzehn, in seinem Alter ist es normal, verliebt zu sein.

Trotzdem habe ich den Verdacht, dass es meine Mutter kränkt, weil es in ihrem Haus passiert, in ihrem Hoheitsgebiet und obendrein mit dem Dienstmädchen.

Wir hatten noch keine Hausangestellte länger als sechs Monate, und meine Mutter behandelt Manuela noch barscher als ihr Vorgängerinnen. Die Spanierin scheint es nicht zu bemerken. Sie wuselt herum, singt und lacht dabei ohne Angst. Und seit einem Monat öffnet sie dem Sohn des Hauses ohne Umstände ihre Zimmertür.

Die beiden liegen jetzt gemeinsam im Bett, und es scheint ihnen nicht einzufallen, dass sie sich direkt über mir befinden. Ich höre alles. Doch zugleich lausche ich sozusagen auf die Stille im Zimmer meiner Eltern.

Wenn sie wach sind, müssen sie die beiden oben hören.

Und was sage ich? Schon geht eine Tür auf, die ihres Schlafzimmers, um genau zu sein. Dann geht die Tür wieder zu, und jemand steigt barfuß die Treppe hinauf. Ich könnte sogar behaupten, ich höre meinen Vater laut schnaufen. Ich bin sicher, er ist es. Er braucht endlos lange, bis er im zweiten Stock angelangt, wo er auf dem Treppenabsatz stehen bleibt.

Hat er gerade erst gemerkt, dass Olivier immer wieder ins Zimmer des Dienstmädchens schlüpft? Hat er Verdacht geschöpft und sucht den Beweis?

Das Paar in der Mansarde hegt keinerlei Argwohn und tollt munter weiter.

Mein Vater, ein Mann von zweiundfünfzig Jahren, Hauptmann Le Cloanec, den seine verantwortungsvolle Position stets zu erdrücken scheint, steht barfuß im Dunkeln auf dem Treppenabsatz und lauscht, wie sein Sohn und das Hausmädchen sich lieben.

Ich hatte es vermutet, weigerte mich jedoch, es zu glauben: Mein Vater ist verliebt, verliebt in Manuela, was unvorstellbar für mich war. Er ist so verliebt, dass er, um sich auf die Lauer zu legen, das Bett verlässt, in dem meine Mutter vielleicht auch nicht schläft oder jeden Moment aufwachen könnte.

Worauf wartet er? Jetzt, wo er es doch weiß, oder? Er braucht keine zusätzlichen Beweise.

Wird er sich lächerlich machen, indem er die Tür öffnet, um das Liebespaar zu überraschen?

Er steht da, reglos, quält sich. Ich weiß nicht, ob ihn wirklich das Herz schmerzt. Wenn er gereizt ist, legt er manchmal die Hand auf die Brust. Hat er jetzt die Hand auf der Brust?

Ich habe ihn mir weder in einer solchen Situation noch in so einer geistigen Verfassung jemals vorgestellt. Ich bin verwirrt darüber. Und ängstlich wegen meiner Mutter. Er bleibt lange stehen, kommt nicht herunter, und als er endlich die Treppe hinabsteigt, macht er einen Abstecher ins Badezimmer, als wollte er sich ein Alibi verschaffen.

Ich warte darauf, sie sprechen zu hören, meine Mutter und ihn, aber in ihrem Zimmer bleibt es still. Er hat sich wieder hingelegt, sich durch die Dunkelheit ins Bett getastet, nehme ich an, und selbst wenn Mama wach ist, tut sie offenbar so, als schliefe sie.

Ich weiß nicht, wie spät es ist. Meine Gedanken gehen durcheinander und ich befinde mich in einem unerfreulichen Geisteszustand. Ich erwäge trotzdem, aufzustehen und ein Schlafmittel zu nehmen, dann schlafe ich ein, ohne es zu merken.

Als ich die Augen wieder öffne, dringt der Tag durch die Lamellen der Jalousie, und während ich sie hochziehe, scheint mir zu meiner Überraschung die Sonne ins Gesicht. Die Straße ist noch nass, überall liegen Zweige, größere Äste. An den Telefonleitungen hängen Regentropfen und lösen sich langsam, einer nach dem anderen. Im Vorgarten unseres Hauses ist ein Ast heruntergebrochen und liegt am Zaun.

Unten singt Manuela. Meine Mutter ist wahrscheinlich noch nicht hinuntergegangen. Sie frühstückt nichts, begnügt sich mit einer Tasse Kaffee, die sie sich ins Zimmer bringen lässt, und meistens sind wir drei bereits alle gegangen, wenn sie ihr Schlafzimmer verlässt.

Ich mache mich auf den Weg ins Badezimmer. Die Tür ist abgeschlossen.

»Bist du es, Laure?«

Es ist die Stimme meines Bruders.

»In zwei Minuten kannst du rein …«

Ich bin ein wenig spät dran. Es ist kurz nach acht Uhr. Ich fange allerdings erst um neun Uhr im Broussais-Krankenhaus an zu arbeiten, und für die Fahrt brauche ich kaum mehr als zwanzig Minuten mit dem Moped.

Bestimmt sitzt mein Vater schon im Esszimmer, trinkt seinen Tee und isst seine Marmelade-Toasts. Wir frühstücken so gut wie nie zusammen. Jeder so, dass er pünktlich bei der Arbeit ist.

»Hast du gesehen, wie heute die Sonne scheint? Wenn man uns das gestern gesagt hätte …«

»Ja …«

Ich höre, wie Olivier aus der Badewanne steigt und seinen Bademantel vom Haken nimmt.

»Einen Moment … Ich schließe gleich auf …«

Tatsächlich, die Tür geht auf. Sein Haar ist strubbelig, das Gesicht noch nass.

Als er mich ansieht, runzelt er die Brauen.

»Was ist denn mit dir los?«

»Ich habe schlecht geschlafen …«

»Du willst mir aber jetzt nicht sagen, dass du ebenfalls Migräne hast?«

Er neigt dazu, mit Mama scharf ins Gericht zu gehen.

»Ich muss mit dir sprechen, Olivier …«

»Wann?«

»Jetzt … Sobald Papa weg ist …«

Auch er fährt mit dem Moped nach Paris, damit Mama das Auto zur Verfügung hat. Er steigt nur aufs Auto um, wenn schlechtes Wetter ist wie gestern.

»Worüber möchtest du mit mir sprechen?«

»Warte … Ich komme gleich runter und frühstücke mit dir …«

Ich trage einen gelben Morgenmantel. Ich kämme mich ein wenig und putze mir die Zähne, während mein Bruder in sein Zimmer verschwindet, um sich anzuziehen. Er achtet überhaupt nicht auf seine Kleidung, er sieht immer aus, als hätte er in ihnen geschlafen.

Man hört ein Moped, dann das Quietschen des Eingangstors. Es ist fast immer mein Vater, der es morgens öffnet und abends wieder schließt.

»Kommst du?«

»Gleich … Geh schon mal runter und bitte Manuela, mir zwei Spiegeleier zu braten … Mit Würstchen, wenn sie welche hat …«

 

Manuela, heiter, lächelnd, in Frieden mit sich und der Welt, begrüßt mich vergnügt:

»Guten Morgen, Mademoiselle.«

Bei ihr hört sich das an wie ’n Morgn, Madmosell …

Sie ist erst ein Jahr in Paris. Bisher hatte sie zwei Stellen. Sie hat eine Freundin, die ich einmal abends gesehen habe, als sie auf der Straße wartete, eine kleine Schwarzhaarige, die aussieht wie eine Miniatur von Frau und Pilar heißt.

»Guten Morgen, Manuela … Für mich eine große Tasse Kaffee mit zwei Buttertoasts und … Für meinen Bruder, er kommt gleich, Eier und Würstchen, wenn Sie welche haben …«