O Menschenherz, was ist dein Glück? - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

O Menschenherz, was ist dein Glück? E-Book

Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

Bei diesem Liebesroman handelt es sich um einen der bekanntesten Titel der Schriftstellerin Hedwig Courths-Mahler. Die Halbwaise Carla wächst nach dem Tod der Mutter nicht bei ihrem Vater auf. Erst als Fritz Rottmann sie mit Heinz Salfner verheiraten will, holt er seine Tochter zu sich nach Hause. Die junge Frau ahnt zunächst nicht, welche wahren Gründe sich hinter der geplanten Hochzeit verbergen...-

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Hedwig Courths-Mahler

O Menschenherz, was ist dein Glück?

Roman

Saga

O Menschenherz, was ist dein Glück?

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1923, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726950298

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Wenn Herr Salfner nach mir fragen sollte, lassen Sie ihn auf mein Zimmer führen, ich erwarte ihn dort.“

„Sehr wohl, mein Herr.“

„Das Zimmer, das ich für Herrn Salfner bestellte, ist doch bereit?“

„Gewiss.“

„Gut! Dann brauche ich noch zwei Zimmer für meine Tochter und ihre Begleiterin. Es sind doch hoffentlich noch Zimmer frei? Die Damen kommen morgen an.“

„Das trifft sich gut. Heute sind zwar alle Zimmer noch besetzt, aber morgen reisen die Herrschaften ab, welche die beiden Zimmer bewohnen, die direkt an das Ihre anstossen.“

„So belegen Sie diese beiden Zimmer für mich.“

„Für längere Zeit, Herr Rottmann?“

„Nein, nur für zwei Tage. Auch Herr Salfner wird dann mit uns zusammen abreisen.“

„Trifft der Herr mit dem Dampfer ein?“

„Ja, er kommt über Lindau.“

„Dann muss er in wenigen Minuten hier sein.“

„Ganz recht. Also ich erwarte ihn auf meinem Zimmer.“

Damit verliess der hochgewachsene Herr den Raum, in dem die im Insel-Hotel ankommenden und abreisenden Gäste abgefertigt wurden. Der Portier, mit dem er eben gesprochen hatte, sah ihm eine Weile nach.

„Sieht aus wie ein verkappter Fürst, das Befehlen scheint er wenigstens gewöhnt zu sein. Reich ist er auch. Dieser Herr Rottmann aus Hamburg nimmt es mit den valutastarken Ausländern auf — die besten Zimmer, erstklassige Reiseausrüstung — nicht zu neu, wie bei den Neureichen, aber tipp topp — na und überhaupt, das hat man so im Gefühl. Er hat eine weite Reise hinter sich, das sieht man aus den Hotelmarken an den Koffern. Sicherlich hat er schon die ganze Welt bereist. Also Klasse — der Herr wird gut bedient werden.“

So war der Gedankengang des Portiers, während er dem eleganten, stattlichen Herrn im Beginn der Fünfzig nachsah.

Dieser hatte inzwischen das Vestibül durchkreuzt und ging durch den hohen Kreuzgang in das Innere des Hotels.

Das Insel-Hotel war ehemals ein gewaltiges Kloster, in dem das Konzil zu Konstanz abgehalten wurde. Jetzt sind die früher als Klosterzellen dienenden Räume zu Gastzimmern für Reisende eingerichtet worden. Der Kreuzgang ist mit kunstvollen Fresken an den Wänden geschmückt, die fortlaufend die Geschichte des Klosters erzählen. Er umgibt den kleinen, inneren Klosterhof, der durch hübsche Anpflanzungen zum Garten geworden ist. Efeu und wilder Wein ranken an den Säulen empor und bedecken die Wände, kaum die Fenster der ehemaligen Klosterzellen freilassend. Der Kreuzgang dient jetzt als Wandelhalle für die Hotelgäste, und das mächtige Refektorium, in dem einst das Konzil abgehalten wurde, ist jetzt der Speisesaal für Reisende. In diesem Speisesaal sind neuerdings ganz alte Wandgemälde wieder freigelegt worden, die durch eine Stoffbespannung vor dem zerstörenden Licht geschützt sind.

Fritz Rottmann hatte den Kreuzgang verlassen und Schritt über eine breite Steintreppe hinauf in den ersten Stock. Breite, hohe Gänge umgaben hier die Zimmerfluchten. Der ehemals graue Steinfussboden war feuerrot mit Ölfarbe gestrichen und in der Mitte mit Teppichläufern belegt. Die Gänge, die von einer, unserer Zeit fremden Raumverschwendung zeugten, waren mit Holzschnitten und Kupferstichen geschmückt, die in schlichte schwarze Holzrahmen gefasst waren. Auch sie stellten die Geschichte des Klosters dar.

Fritz Rottmann sah lächelnd auf den roten Fussboden.

„Warum hat man gerade diese rote Farbe gewählt, die wohl originell, doch etwas seltsam anmutet in diesen feierlichen Gängen?“ fragte er sich.

Jedenfalls war der Fussboden in einer sehr fragwürdigen Verfassung gewesen, ehe man ihm dieses, heitere, rote Mäntelchen anzog.

Fritz Rottmann betrat nun sein Zimmer, das direkt nach dem Bodensee hinauslag. Er trat an das Fenster heran und blickte hinab in den grossen Klostergarten, der das mächtige Gebäude umgab und mit dicht bewachsenen Laubengängen bis an die niedrige Kaimauer heranreichte, die ihn vor den Wellen des Bodensees schützte.

Auf dem See herrschte ein reger Verkehr von Dampfern, Segel- und Ruderbooten. Versonnen liess Fritz Rottmann seine Augen darüber hinschweifen. Und er dachte an den Verkehr im heimatlichen Hafen, den er von seinen Kontorfenstern aus übersehen konnte. Dies Bild hier vor ihm war wie ein heiteres Spiel — das Bild von seinen Kontorfenstern aus bedeutete den tiefsten Ernst. Mit ganzer Seele hing Fritz Rottmann an dem alten, ehrwürdigen Handelshause, das die Firma Rottmann trug und das in seinen mächtigen Speichern aufnahm, was die Schiffe herbeischleppten.

Eine Weltfirma also mit erdumspannendem Rufe.

Düster zog er plötzlich die Stirn zusammen. Er dachte daran, dass die Firma Rottmann keinen männlichen Erben hatte, zum ersten Male seit ihrem jahrhundertelangen Bestehen.

Schwer liess er sich in einen Sessel fallen und zog seine Brieftasche hervor. Aus ihr entnahm er zwei Briefe. Der erste, den er entfaltete, zeigte die klare Schrift einer Dame. Er las ihn nochmals durch.

„Mein lieber Vater! Es freut mich sehr, dass Du mir erlaubst, nun endlich heimizukehren — für immer. Ich habe grosse Sehnsucht nach Dir, nach Deutschland, nach meinem Vaterhause, nach allem, was ich so lange entbehren musste.

Ehe ich Dich nach so langer Zeit wiedersehe, muss ich Dir einmal, ein einziges Mal nur, und auch nur brieflich, sagen, dass ich es als Härte empfunden habe, dass Du mich so lange aus der Heimat verbanntest. Aug’ in Auge mit Dir würde mir der Mut fehlen, das auszusprechen, aber aussprechen muss ich es einmal.

Ich habe verstehen können, dass Du mich, gleich nach meiner Mutter Tode, in eine Pension brachtest, denn damals war ich kaum fünfzehn Jahre alt und bedurfte noch weiblicher Aufsicht und Fürsorge. Du selbst hattest als vielbeschäftigter Chef der Firma Rottmann keine Zeit, Dich um ein dummes kleines Mädel zu kümmern. Ich konnte auch verstehen, dass Du mich dann, als ich das Pensionat verliess, nach Basel zu Tante Gertrud schicktest. Sie ist ja meiner Mutter einzige Schwester, und meine einzige Verwandte. Ich glaubte aber damals, es handle sich nur um einen kurzen Besuch bei ihr. Du holtest mich selbst in Lindau in der Pension ab und brachtest mich nach Basel. Ich sah Dich auf kurze drei Tage, nach einer Trennung von zwei Jahren, und danach liessest Du mich wieder allein — wieder auf Jahre. Du sagtest mir damals, dass es die Unruhen in der jungen deutschen Republik ratsam erscheinen liessen, mich in der Schweiz in sicheren Gewahrsam zu bringen, und dass sich Tante Gertrud sicher freuen würde, mich einige Zeit bei sich aufnehmen zu können. Sie hat sich auch gefreut, aber ich glaube, ich habe ihr doch einige Störung bereitet. Sie war gewöhnt, in ihrem Altjungfernheim allein zu sein, und stand mir ziemlich ratlos gegenüber. Auch sie hat wohl kaum geahnt, dass ich jahrelang bei ihr bleiben sollte. Nie, niemals in all der Zeit bin ich die Sehnsucht nach der Heimat losgeworden. Von Jahr zu Jahr wartete ich darauf, heimgerufen zu werden, und wagte es doch nicht, Dich darum zu bitten. Ich wartete vergebens. Die Verhältnisse in Deutschland waren doch, trotz allem Schweren, ruhiger geworden, nichts hätte mich gehindert, heimzukehren. Ich war auch so weit erwachsen, dass ich Dir feine Last mehr gewesen wäre. Warum riefst Du mich nicht eher heim, lieber Vater? Du liessest mich in der Fremde. Das war hart und grausam. Ich vegetierte nur in dem ängstlich abgeschlossenen Altjungfernheim der Tante. Ich bin stumpf und weltfremd geworden. Du hast durch diese lange Trennung, deren Notwendigkeit ich nicht einsehen konnte, eine Entfremdung zwischen Dir und mir, zwischen meiner Heimat und mir herbeigeführt, die mich namenlos bedrückt hat. Seit Du mich nach Basel brachtest, habe ich Dich nicht wiedergesehen. Kurze drei Tage, das war in fünf Jahren alles, was ich von meinem Vater hatte, seit meiner Mutter Tod. War das wirklich nötig, lieber Vater? Ich habe mir sagen müssen, dass du mich nur sehr wenig lieb haben kannst. Als ich das einmal gegen Tante Gertrud aussprach, meinte sie, Du hättest nie verwinden können, dass Dein einziges Kind nur ein Mädchen sei, weil Du Dir brennend einen Sohn als Erben gewünscht hättest — einen Nachfolger in der Firma Rottmann.

Ich fühle, dass Tante recht hat. Aber — war es recht von Dir, mich entgelten zu lassen, dass ich als Mädchen zur Welt kam? Hättest Du mich nicht trotzem lieben müssen als Dein Fleisch und Blut? Wäre es nicht richtiger gewesen, Du hättest mich von früh auf an Deine Seite gestellt, hättest mir eine Erziehung gegeben, die mich befähigt hätte, Dir einen männlichen Erben zu ersetzen? Wie gern hätte ich gearbeitet und gelernt wie ein Junge, und ich weiss, ich hätte Dich zufrieden gestellt. Statt dessen hast Du mich zu einem nusslosen Schattendasein verdammt — ich existiere nur — ich lebe nicht, wie ich es mir immer brennend gewünscht habe, als ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft. Ich hätte Dir vielleicht mehr sein können als ein Sohn, denn ich hätte es ernst genommen mit meinen Pflichten als Dein Nachfolger. Jedenfalls hätte ich versucht, Dich darüber zu trösten, dass Du keinen Sohn hattest.

Friss Rottmann hielt im Lesen inne, sann einen Augenblick, dann las er weiter:

Ich bin inzwischen einundzwanzig Jahre alt geworden und stehe doch dem Leben ganz fremd gegenüber. Du schreibst in Deinem letzten Briefe an mich, dass ich nun alt genug geworden sei, um Deinem Hause vorzustehen und die Firma Rottmann zu repräsentieren in der Gesellschaft meiner Vaterstadt. Nichts steht in Deinem Brief von Sehnsucht nach Deinem Kinde, nichts von väterlicher Zärtlichkeit. Nur weil ich alt genug bin, Repräsentationspflichten zu übernehmen, rufst Du mich heim. Weisst Du denn, ob ich diesen Pflichten gewachsen sein werde, ich, die seit Jahren in einem nur zu eng umgrenzten Kreise lebt und fast nur mit alten Damen von Tante Gertruds Art zusammenkommt? In Tante Gertruds Umgebung überwiegt die Stille der Beschaulichkeit. Meine geistige Anregung muss ich mir aus Büchern suchen. Das stark pulsierende Leben dieser Zeit flog wie ein Schemen an mir vorüber, alles spielte sich ah, wie ein wohlaufgezogenes, altes Uhrwerk. Ich durfte nichts eigenmächtig tun und denken, sogar meine Kleidung, meine Frisur bestimmte Tante Gertrud, immer in Sorge, ich könnte sonst auffallen in ihrem kleinen Kreise. Ein Tag verging wie der andere. Nichts von den brausenden Stürmen, die jetzt die Welt durchtoben, drang in die Stille unseres Heims. Zeitungen waren verpönt in Tante Gertruds Hause — sie störten ihren Frieden. Ich habe diesen sorgsam konservierten Frieden hassen gelernt und mir zuweilen heimlich deutsche Zeitungen verschafft, nur um wenigstens von ferne ein wenig teilzunehmen an der schweren und doch so belebenden Zeit. Es klang mir freilich alles wie ein weltfernes Märchen, aber mit brennendem Interesse lauschte ich hinaus und sehnte mich danach, mich von den Stürmen umbrausen zu lassen. Tante Gertrud hat es ja in ihrer Art gut mit mir gemeint. Sie wollte mich vor allen Kämpfen bewahren. Wie ich bei Regenwetter nie ausgehen durfte ohne Gummischuhe und Gummimantel, was mir stets lästig war, so durfte ich auch nicht mit aufregenden Dingen in Berührung kommen. ,Man muss sich hermetisch abschliessen vor dieser greulichen Zeit, damit man seinen Frieden behält,‘ sagte Tante Gertrud immer wieder, und so habe ich in diesem wohltemperierten, konservierten Frieden vegetieren müssen. Nun soll ich plötzlich hinaus, soll an die Spitze eines grossen Hauswesens gestellt werden, soll in der Gesellschaft die Rolle einer Repräsentantin spielen und mitten drin stehen in der neuen Zeit. Ich schwanke zwischen heisser Freude und zagender Angst. Werde ich diese Rolle zu Deiner Zufriedenheit spielen können? Werde ich nicht Deinen Unwillen erregen, wenn ich es nicht kann? Mir ist bange vor der Heimat, vor dem Wiedersehen mit Dir, das ich doch so lange herbeigesehnt habe, und ich muss mir diese Bangigkeit von Herzen schreiben: denn Dir das alles sagen Aug’ in Aug’, das kann ich nicht. Dazu bin ich zu linkisch und unbeholfen, zu scheu und ängstlich. Schreiben kann ich das alles so, wie ich es empfinde.

Und deshalb will ich Dich brieflich bitten, habe Nachsicht mit mir, wenn ich im Anfang unsicher und unbeholfen bin. Ich will mir Mühe geben, mich so rasch wie möglich in meine neuen Pflichten einzuleben, aber lernen muss ich erst. Du wirst Geduld haben müssen. Dies alles schreibe ich Dir, um Dich vorzubereiten — wir wollen nicht von diesem Briefe sprechen, wenn wir zusammen sind. Nimm meine Worte auf als das, was sie sind — der Ausdruck meines innersten Empfindens.

Trotz allem freue ich mich, heimzukommen. Es soll so sein, wie Du es haben willst. Ich werde am 8. Juni mit Dir im Insel-Hotel in Konstanz zusammentreffen, wenn Du von Deiner geschäftlichen Auslandsreise zurückkommst. Tante Gertrud rüstet schon wie zu einer Weltreise, denn sie will mich nach Konstanz begleiten, weil sie mich, das ihr anvertraute Gut, wohlbehalten an Dich abliefern will. Sie wird schon am nächsten Tage nach Basel zurückkehren, wahrscheinlich froh, ihrer schweren Pflicht entledigt zu sein. So lieb sie mich hat in ihrer Art, wird sie doch froh sein, wenn ich sie nicht mehr in ihrer Ruhe störe. So gefügig ich mich auch ihrem Haushalt angegliedert habe, manchmal habe ich doch in meiner stürmenden Ungeduld nach Leben und Betätigung ihren Frieden gestört, und es hat sie nervös gemacht, dass ich nicht so zufrieden war mit der Stille ihres Lebens wie sie selbst. Es scheint mein Schicksal zu sein, dass sich die Menschen viel leichter von mir trennen, als ich mich von ihnen.

Also, ich treffe pünktlich in Konstanz ein.

Auf baldiges Wiedersehen, mein lieber Vater.

Deine Tochter Carla.“

 

Fritz Rottmann faltete den Brief zusammen und sah nachdenklich vor sich hin. Seine Stirn bildete über der Nasenwurzel eine tiefe Falte. Er atmete tief auf.

Seine Tochter hatte recht. Er hatte nie die echte, rechte Vaterliebe für sie gefühlt, weil sie ein Mädchen war. Der heissersehnte Sohn war ihm versagt geblieben. Das hatte er ungerechterweise nicht nur seine Tochter, sondern auch seine frühverstorbene Frau fühlen lassen. Die Gattin hatte er geliebt, so weit ein Mann wie er, der die Frauen nur als untergeordnetes Wesen ansah, lieben konnte. Sein harter, selbstherrlicher Charakter verbitterte sich gegen die Frau, die ihm keinen Sohn Schenkte, genau so, wie gegen die Tochter. Fast zwanzig Jahre hatte seine Frau an seiner Seite gelebt, als sie starb. Das war für ihn kein so harter Schlag wie für leine Tochter. So fremd sie dem Vater gegenüber stand, so innig hatte sie sich an die Mutter geschmiegt. Sie fühlte sich grenzenlos vereinsamt nach deren Tode.

Fritz Rottmann hatte sich all die Zeit über im Rechte gefühlt, als er Frau und Tochter grollte und letztere sich ferngehalten hatte. Was sollte er mit einer Tochter anfangen? Was konnte sie ihm sein?

Aber dieser Brief Carlas, den er vor kurzem erhalten hatte, war doch nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Bisher hatte er seine Tochter, gleich allen Frauen, als ein sehr unwichtiges Wesen betrachtet. Ihre Schüchternheit ihm gegenüber war ihm unlieb gewesen, und er sagte sich nicht, dass er selbst die Schuld daran trug.

Und nun hatte sie sich plötzlich erkühnt, in einem so ganz anderen Tone mit ihm zu reden. Furchtlos hatte sie, wenn auch in gehaltener Art, sein Verhalten gegen sie kritisiert und beleuchtet. Ruhig und bestimmt sagte sie ihm, dass er ein Unrecht an ihr begangen habe. Ihn, der Herr war über viele Menschen, hatte noch niemand in solcher Weise ins Unrecht zu setzen gewagt. Alles, was er sonst tat und anordnete, war stets gut und richtig gewesen. Und nun erkühnte sich dieses kleine Mädchen, seine unbedeutende Tochter, ihn gleichsam zur Rede zu stellen, ihn anzuklagen.

Zuerst war eine zornige Aufwallung in ihm emporgestiegen. Was fiel diesem kleinen dummen Mädel ein? Aber dann, als er den Brief wieder und wieder las, erwachte doch wider Willen ein anderes, besseres Gefühl in ihm. Er wollte es sich in seiner selbstherrlichen Art nur nicht eingestehen, dass er ihm imponierte. Ein klarer Geist leuchtete daraus hervor, und im Grunde sprach sie doch nur die Wahrheit. Ein wenig, ein ganz klein wenig schämte er sich nun doch, seine Tochter vernachlässigt zu haben.

„Wenn sie ein Junge geworden wäre — das wäre ein ganzer Kerl geworden,“ sagte er jetzt, widerwillig anerkennend, vor sich hin.

Aber als er den Brief wieder in seine Brieftasche steckte, trotzte er doch gegen dies Gefühl auf.

„Eine unbotmässige Tochter — das könnte mir fehlen. Ich werde sie möglichst schnell verheiraten. Sie soll mir wenigstens dazu verhelfen, einen Schwiegersohn zu bekommen, der nach meinem Herzen ist. Ja — Heinz Salfner soll ihr Gatte werden — und mein Sohn. Ich will’s.“

Und schnell fasste er nach dem anderen Briefe und las: „Mein hochverehrter väterlicher Freund! Ich weiss Sie in diesen Tagen auf der Rückkehr nach Deutschland, weiss, dass Sie am 7. Juni in Konstanz zu treffen sind, ehe Sie vermutlich nach der Schweiz reisen, um Ihr Fräulein Tochter abzuholen. Es sind hier allerlei Geschäfte von grösster Wichtigkeit erledigt worden, und Sie haben mir mit der Vollmacht, die Sie mir gegeben, auch die Verantwortung auferlegt. So gut ich konnte, und hoffentlich in Ihrem Sinne, habe ich disponiert, und zwar, da ich Orders von Ihnen nicht einholen konnte, nach eigenem Gutdünken.

Nun drängt es mich aber, zu erfahren, ob Sie zufrieden sind. Ich kann damit nicht warten, bis Sie heimkehren, und mache mich übermorgen auf den Weg, um Sie in Konstanz zu treffen. Bitte erwarten Sie mich im Insel-Hotel. Ich komme über Lindau, da ich auf dem Wege noch einige Geschäfte abzuwickeln habe. Die üblichen Geschäftsberichte lege ich bei, damit Sie schon jetzt Einsicht nehmen können. Das Geschäft nimmt einen ungeahnten Aufschwung. Trotz allem, was zu Deutschlands Untergang beitragen will, ist unsere Arbeit gesegnet. Ich dürste nach Ihrer Zufriedenheit und Anerkennung alles dessen, was ich rasch, ohne Ihre Zustimmung entscheiden musste, und bin nicht eher zufrieden, als bis ich ihrer gewiss bin.

Mit ergebenen Grüssen Ihr allzeit dankbarer

Heinz Salfner.“

 

Ein Lächeln flog über das strenge Gesicht Fritz Rottmanns.

„Was mag der Teufelskerl angestellt haben? Nun — ich traue ihm das Beste zu. Solch einen Sohn zu haben — das wäre Erfüllung aller Wünsche. Er muss mein Sohn werden — um jeden Preis!“

Auch dieses Schreiben legte er in die Brieftasche zurück. Ungeduldig sah er nach der Uhr und schritt dann im Zimmer auf und ab. Zuweilen blieb er am Fenster stehen und sah auf den Bodensee hinab. Die Anlegestelle der Dampfer war von hier aus nicht zu erblicken, aber er sah über den Bäumen den Rauchschwaden des Dampfers aufsteigen, der Heinz Salfner gebracht haben musste. Und auf der breiten Promenade, die nach der Haltestelle hinüberführte, war der Verkehr stärker geworden, ein Zeichen, dass der Dampfer gelandet war.

Nun musste Heinz Salfner gleich hier sein. — Und schon nach wenigen Minuten klopfte es an die Doppeltür. Gleich darauf stand ein schlanker, hochgewachsener Mann mit einem gebräunten, energisch geschnittenen Gesicht auf der Schwelle. Er trug einen grauen Reiseanzug. Seine stahlblauen Augen, aus denen fester Wille und rasche Entschlossenheit blitzten, richteten sich auf Fritz Rottmann.

Dieser streckte ihm beide Hände entgegen.

„Endlich!“ rief er mit einem tiefen Aufatmen.

Heinz Salfners Brust hob sich ebenfalls in einem befreiten Atemzuge, als liege eine Anspannung aller Kräfte hinter ihm.

„Gottlob — ich fürchtete schon, dass Sie nach der Schweiz weitergereist sein könnten, ehe ich Sie erreiche.“

„Ich reise nicht nach Basel — es verlangt mich nicht, in das Puppenheim meiner altjüngferlichen Schwägerin einzudringen, und deshalb habe ich meine Tochter einfach hierher bestellt. Ich erwarte sie morgen hier in Konstanz.“

„Ich war in so grosser Sorge, dass ich Sie nicht mehr erreichen würde.“

„Nun also, ohne Umschweife, Salfner, was hat es gegeben? Nehmen Sie Platz, und wenn Sie nicht gar zu müde sind, kommen wir gleich zur Sache.“

Er liess sich nieder, aber Heinz Salfner reckte seinen kraftvollen, sehnigen Körper.

„Gestatten Sie mir, dass ich stehen bleibe, bis ich alles vom Herzen herunter habe. Ich habe zum Sitzen keine Ruhe.“

„Wie Sie wollen. — Also?“ —

Der junge Mann atmete nochmals tief auf.

„Sie haben die rasend schnelle Markentwertung unterwegs verfolgt, Herr Rottmann?“

„Mit schwerer Sorge, das können Sie sich denken. Ich wäre am liebsten heimgeflogen, weil es mit dem Reisen so langsam ging. Mein einziger Trost war, dass ich Sie daheim auf dem Posten wusste.“

Heinz Salfner strich sich über die Stirn.

„Es ging auch hart auf hart, Herr Rottmann. Ich wusste kaum, wie ich mit dem Kurssturz Schritt halten sollte. Der Dollar stieg und stieg, und unsere Speicher leerten sich rasend schnell, ohne dass ich genügend für Ersatz sorgen konnte. Da kam unerwartet ein meiner Ansicht nach sehr günstiges Angebot, aber es handelte sich um einen enormen Posten, und in einer Stunde musste ich mich entscheiden. Eine Riefensumme musste sofort flüssig gemacht werden, für eine zweite gleichgrosse wurden kurzfristige Wechsel verlangt. Ich habe es gewagt, habe alle Reserven flott gemacht und den Abschluss getätigt, denn es blieb mir nicht einmal Zeit, mich telegraphisch mit Ihnen zu verständigen. Hätte ich es nicht getan, ständen unsere Speicher Jetzt zur Hälfte leer. Nun ist alles gefüllt — und ich bringe Orders auf grosse Bestellungen. Wir können billiger liefern als die andern — und besser, weil ich die günstige Gelegenheit beim Schopfe fasste und wir der Konkurrenz zuvorkommen konnten. Das Ansehen der Firma Rottmann ist von neuem befestigt, und ein guter Gewinn ist sicher. Trotzdem habe ich verschiedene schlaflose Nächte gehabt, Herr Rottmann, denn mit solchen Summen habe ich noch nie jonglieren müssen. Hier bringe ich Ihnen alle Unterlagen. Bitte, sehen Sie alles durch, und dann sagen Sie mir, ob ich recht getan und in Ihrem Sinne gehandelt habe.“

So sagte Heinz Salfner tief erregt, aber sich zur Ruhe zwingend. Seine Augen blitzten, und die Muskeln seines Gesichts zuckten. Schnell legte er nun verschiedene Papiere vor seinen Chef hin. Dieser hatte aufmerksam zugehört und prüfte nun die Papiere. Auch er war erregt, aber das merkte man nur an den unruhigen Atemzügen. Er beherrschte sich ebensogut wie der junge Mann.

Fritz Rottmann blätterte in den Belegen, die einen genauen Überblick von Heinz Salfners Tätigkeit gaben, während er als Chef selbst abwesend gewesen war.

Der junge Mann hatte glänzend gearbeitet.

Das war tatsächlich mehr, als Fritz Rottmann jemals von seinem Stellvertreter erwartet hätte.

Während er die Papiere sorgsam prüfte, richtete er einige sachliche Fragen an Heinz Salfner, die dieser klipp und klar beantwortete. So verging eine Viertelstunde. Heinz Salfners Augen ruhten in brennender Erwartung auf dem Gesicht seines Chefs.

Endlich richtete dieser sich auf und reichte ihm mit einer raschen Bewegung beide Hände.

„Ich habe gewusst, dass die Firma unter Ihren Augen sicher geborgen war. Meine beiden alten Prokuristen sind ja tüchtige Männer, aber sie wurzeln zu sehr in der alten Zeit, um sich den Sprüngen der neuen anpassen zu können. Es geht mir zuweilen selbst der Atem aus. Sie sind der neuen Zeit gewachsen, Salfner, Sie haben die nötige kaltblütige Entschlossenheit und Nerven von Stahl. Und ausserdem haben Sie den nötigen Wagemut, der uns Alten fehlt. Ich bin also ziemlich ruhig auf die lange und sehr nötige Geschäftsreise gegangen, von der ich schöne Erfolge mit heimbringe. Aber das, was Sie jetzt für mich und die Firma getan haben, das ist — ich finde keine Worte dafür. Ich danke Ihnen, lieber Salfner. Ohne Ihr entschlossenes Eingreifen wäre uns ein riesiger Gewinn entgangen, und, was schlimmer gewesen wäre, unsere Leistungsfähigkeit wäre stark beeinträchtigt worden. Jetzt können wir der neuen Sturm- und Drangperiode einigermassen ruhig entgegengehen. Ihre und meine Erfolge zusammen setzen uns instand, allen Anforderungen, die jetzt an uns gestellt werden, gerecht zu werden. Sie sind ein prächtiger Mensch, Salfner, und ein Gewinn für die Firma Rottmann. Das habe ich schon längst gewusst, und Sie haben es mir von neuem bestätigt.“

Heinz Salfners blaue Augen leuchteten auf. Seine Stirn rötete sich.

„Ich freue mich, dass Sie mit mir zufrieden sind, Herr Rottmann. Und wenn ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, dann habe ich wenigstens einen Teil meiner Dankesschuld an Sie abgetvagen.“

Lächelnd sah Rottmann zu ihm auf. „Diese Dankesschuld hat Sie wohl arg gedrückt?“