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Die mannstolle Orsolina, das ›verrückte Huhn‹ im Lederoutfit, steht in diesem Adria-Krimi im Mittelpunkt. Sie ist vierundvierzig und kein bisschen weise, das Leben hat ihr übel mitgespielt. Wenn sie, nur im Lederkostüm steckend, ihr Motorrad ›reitet‹ und durch alle Radarfallen braust, fühlt sie sich wie neugeboren. Sie ist auf der Suche nach der Erinnerung an über vierzig Jahre zurückliegende Ereignisse. Damals kamen ihre Eltern um. Orsolina überlebte als Einzige schwerverletzt, verlor jedoch das Gedächtnis. Auf der Jagd nach einer Auflösung der Rätsel ihrer eigenen Vergangenheit wird sie selbst zur Gejagten des nächtlichen Phantoms, das sein schreckliches Unwesen im gesamten Veneto treibt. Nach »Orsolina, das Malermodell« legt Meinhard-Wilhelm Schulz einen weiteren Roman vor, in dessen Mittelpunkt Orsolina steht, ein Krimi, der durchaus ein erotischer Liebesroman ist, gepaart mit der Melancholie einer besessenen Motorradfahrerin.
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Meinhard-Wilhelm Schulz
Orsolina und das
Phantom der Nacht
Ein Adria-Krimi
mit
Privatdetektiv Volpe
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Steve Mayer, 2022
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Verzeichnis der Akteure
Vorwort des Dr. Sergiu Petrescu
Das Phantom der Nacht
1. Teil
2. Teil
3. Teil
4. Teil
5. Teil
6. Teil
7. Teil
8. Teil
9. Teil
10. Teil
11. Teil
13. Teil
14. Teil
15. Teil
16. Teil
17. Teil
18. Teil
19. Teil
20. Teil
21. Teil
22. Teil
23. Teil
24. Teil
25. Teil
26. Teil
27. Teil
28. Teil
29. Teil
30. Teil
31. Teil
32. Teil
33. Teil
34. Teil
35. Teil
36. Teil
37. Teil
38. Teil
39. Teil
40. Teil
41. Teil
42. Teil
43. Teil
44. Teil
45. Teil
46. Teil
47. Teil
48. Teil
49. Teil
50. Teil
51. Teil
52. Teil
53. Teil
54. Teil
55. Teil
56. Teil
57. Teil
58. Teil
59. Teil
60. Teil
61. Teil
Das Nachwort
1. Teil
2. Teil
3. Teil
Julie Dupont
1. Teil: Damenbesuch bei Volpe
2. Teil: Drama am Campanile auf dem Markusplatz
3. Teil: Volpe hat eine Idee
4. Teil: Das Ende der Babette Dupont
5. Teil: Volpe scheint den Fall für abgeschlossen zu halten
6. Teil: Frühstück bei Volpe
7. Teil: Schlussbemerkungen
Die mannstolle Orsolina, das ›verrückte Huhn‹ im Lederoutfit, steht in diesem Adria-Krimi im Mittelpunkt.
Sie ist vierundvierzig und kein bisschen weise, das Leben hat ihr übel mitgespielt. Wenn sie, nur im Lederkostüm steckend, ihr Motorrad ›reitet‹ und durch alle Radarfallen braust, fühlt sie sich wie neugeboren. Sie ist auf der Suche nach der Erinnerung an über vierzig Jahre zurückliegende Ereignisse. Damals kamen ihre Eltern um. Orsolina überlebte als Einzige schwerverletzt, verlor jedoch das Gedächtnis. Auf der Jagd nach einer Auflösung der Rätsel ihrer eigenen Vergangenheit wird sie selbst zur Gejagten des nächtlichen Phantoms, das sein schreckliches Unwesen im gesamten Veneto treibt.
Nach »Orsolina, das Malermodell« legt Meinhard-Wilhelm Schulz einen weiteren Roman vor, in dessen Mittelpunkt Orsolina steht, ein Krimi, der durchaus ein erotischer Liebesroman ist, gepaart mit der Melancholie einer besessenen Motorradfahrerin.
***
Hauptperson Nr. 1 und Familie
› Dr. Orsolina Farinelli: ›Lina‹; geb. Gazzeloni; *1978; Tochter von …
› Maria Gazzeloni-Farinelli (1956-1982): Pianistin … und von …
› Dr. Amando Gazzeloni (1954-1982): Politiker bei der Forza Italia
Orsolina wurde nach dem Tod der Eltern adoptiert von …
› Dr. med. Isabella Mugnaio-Farinelli, ihrer leiblichen Tante und …
› Dr. med. Antonio Mugnaio, deren Mann; beide sind Psychiater.
Weitere Orsolina zugeordnete Personen:
› Antonella: Taxifahrerin; ehemalige Straftäterin; ohne Zunamen
› Bellini, Sonia: Linas Knastkollegin; bekennende Lesbe
› Fusco, Ambrosio di: Commissario Tenente; Linas Freund
› Intendant des Privatsenders zu Padua (namenlos)
› Lupo, Gerardo: Lokalredakteur des Corriere della Sera in Diaz
› Nero, Benito: Altenpfleger; ehemaliger Rettungssanitäter
› Pacelli, Ilona: aufmerksame Nachbarin in Farra am See
Hauptperson Nr. 2 und Familie
› Giselle, Contessa di Trotta, geb. Ermanno; *1960
› Carlo, Conte di Trotta (1952-1980): ihr verstorbener Ehemann
› Anna Ermanno: ihre ledige Mutter (†); Putzfrau; Vater unbekannt
Personen aus dem Umfeld der Contessa
› Antonioni, Beata: Schulkameradin; gefeuerte Wahlkampfhelferin
› Cecchini, Rosa: Abgeordnete der Forza Italia; Rivalin der Contessa
› Gabba, Cesare: umgekommener Pilot des Conte Carlo di Trotta
› Gabba, Lisa: seine Ehefrau; wohnhaft in Rivoli bei Verona
› Labbro, Dr. Federico: Privatsekretär der Contessa di Trotta
› Massimo, Sebastiano (Basti): ihr Chauffeur und Faktotum
› Nero, Benito: Altenpfleger; ehemaliger Rettungssanitäter
› Sasso, Elsa: Grundschullehrerin der Contessa in Praz (Aosta)
› Scavalli, Enrico: Beamter beim staatlichen Luftfahrtamt
› Stefano, Conte Alano di: früherer Arbeitgeber ihrer Mutter Anna
› Stefano, Nicola di: sein Sohn; Ex-Verlobter der späteren Contessa
› Tessitore, Albertina: ihre fristlos gefeuerte Schreibkraft
Verehrtes Lesepublikum,
in meinem vorangehenden Buch »Orsolina, das Malermodell« konnte ich Dich mit der Gestalt dieser bezaubernden Frau von inzwischen Mitte Vierzig vertraut machen. Sie selbst berichtet darin, wie sie zur Mörderin wurde und für sechs Jahre hinter Gittern verschwand, ohne dass ihr Lebensmut gebrochen wurde.
Dreieinhalb Jahrzehnte hatte sie bereits auf dem Buckel, als ihr der Mann des Lebens begegnete, ihr erster und bis dahin einziger. Wer nimmt sich schon einen Krüppel zur Frau? Ein körperlich behindertes Mädchen, dessen rechte Flanke schwer geschädigt ist?
Wenige Tag vor dem vierten Geburtstag wurde sie Opfer des Beziehungsdramas ihrer Eltern. Jemand schmetterte sie zu Boden, um sie zu töten. Möglicherweise mordete der Vater zuerst seine Frau, versuchte dann, das Kind umzubringen und erschoss sich zuletzt selber. Aber Lina überlebte schwerverletzt. Doch sie hatte das Gedächtnis verloren. Ungefähr ein Jahr lang lebte sie im Koma weiter und wurde mehrfach operiert. Ihre leibliche Tante Isabella adoptierte sie anschließend und zog sie wie ein eigenes Kind auf.
Vom obigen Jahr des Grauens geprägt, kultiviert Orsolina einige bemerkenswerte Besonderheiten: Ausschließlich aus Baumwolle oder Seide muss ihre Kleidung sein. Rosa, Himmelblau und Grün liebt sie, weil es zu ihrem rotblond flimmernden Haar und der milchig sommersprossigen Haut ihres Gesichtes passt.
Seit sie mit dem begnadeten Maler Alfredo liiert war, bevorzugt sie kurze Höschen, unter denen sie Leggings trägt, wenn es das Wetter erfordert. Auch Minikleider mag sie seitdem. Drunter trägt sie grundsätzlich nichts. Trotzig gönnt sie uns den Anblick des zusammengeflickten rechten Beins und ihres übel zugerichteten rechten Arms. Sie schminkt sich nie und hinkt barfuß daher, wenn es das Wetter nur zulässt.
Ihr Bein verhindert die geläufigen Sportarten. Isabella (Adoptiv-Mutter) setzte sie darum auf ihr Pferd. Aber der Reitlehrer tadelte Lina dafür, dass sie die rechte Hand und den rechten Fuß nicht richtig halte. Weil sie keine Lust hatte, ihm lang und breit die Ursachen zu erklären, gab sie das Reiten auf; schweren Herzens.
Seit sie mit Volpe und mir befreundet ist, kannst Du sie hoch zu Ross in Cavallino (bei Jesolo) antreffen, wo wir unser Pferd stehen haben. Mein Freund ist ihr ein vorbildlicher Reitlehrer.
Stattdessen suchte sie eine Motorradschule auf und machte den Krad-Führerschein. In einer Garage zu Mestre mietete sie eine Box, in der ihr Feuerstuhl zu finden war.
Exzellente Biker-Kluft ist ihr Markenzeichen auf allen Straßen und Autobahnen im Veneto und drum herum; butterweicher Overall aus hauchfeinem hellgrünem Leder. Wie eine zweite Haut klebt er am bloßen Körper; dazu rote Handschuhe und rabenschwarze Stiefeletten. Sie liebt es, das hüftlange rotblonde Haar aus dem Helm heraushängen und im Fahrtwind flattern zu lassen. Ein daumenbreiter Dachsstreifen gibt ihm die persönliche Note.
Ihre Fahrweise ist rasant zu nennen, wenn sie mit unerlaubten 150 kmh. und mehr über die Autostrada gen Norden und dann in die geliebten gefürchteten Pässe der Dolomiti rast.
Gelegentlich fährt sie die Strecke über Verona und macht sie am Gardasee halt. Über einen verbotenen Forstweg fährt sie ans einsame Ufer, um sich hüllenlos in der Sonne zu rösten oder baden zu gehen. Im Wasser schwebend, vergisst sie alles, was sie bedrückt.
Feine Wäsche wie Spitzenunterhemden, Büstenhalter oder Mieder wirst Du in ihrer Garderobe nicht entdecken. Dergleichen Kostüme, so sie, erinnerten sie an den Sarg, in den sie in ihren Träumen gesperrt und lebendig beerdigt wird.
Wenn sie dann mit leicht gespreizten Beinen, Absatz tief, wie in der Reitstunde gelernt, daher rast, die vibrierende Maschine unter sich, kommt es ihr vor, als ritte sie einen fauchenden Tiger. Das ist Freiheit. Das heißt leben. Das ist wie ein Rausch. Wilde erotische Gefühle durchbrausen sie dann und steigern sich zur Raserei.
Nach der Entlassung aus dem Knast und mit Beginn ihrer neuen Karriere hat sie ihr venezianisches Haus verkauft und sich in den Alpago zurückgezogen. Sie wohnt jetzt in einem putzigen Verandahaus am wunderschönen Lago di Santa Croce, das dem früheren Haus in der Cannaregio gleicht. Einst diente es ihren Eltern als Ort der Sommerfrische. Ebenda erlebte Orsolina als Kind das grausame Desaster, an das sie sich nicht mehr erinnern kann.
Die Adoptiveltern vermieteten es, um die Kosten der medizinischen Behandlung zu stemmen. Für Orsolina sicherten sie sich ein Rückkehrrecht. Davon machte sie erst kürzlich Gebrauch. Jetzt hat sie das Elternhaus zurückerobert, nicht zuletzt in der Hoffnung, in den alten vier Wänden das Gedächtnis zurückzugewinnen.
Von dort aus brettert sie übrigens bei jeder Gelegenheit Richtung Cortina und über die schroffen Dolomitenpässe, falls sie nicht südwärts nach Padua rast. Dort leitet sie nämlich bei einem Privatsender ihre eigene Show, in der sie prominente Frauen vorstellt. Sie ist bekanntlich gelernte Regieassistentin.
Das lange in rotem Gold schimmernde Haar und der Stock mit dem silbernen Knauf, das sind dort ihre Markenzeichen geworden. Zur Sendung verkleidet sie sich in ein langärmeliges Maxikleid aus grünem Samt. Nur Anfangs ließ sie sich die Sommersprossen überschminken, die um die Vorherrschaft im Gesicht kämpfen.
Die Fernsehzuschauer könnten sie kaum wiedererkennen, wenn sie am Strand der Insel Lido einher hinkt; das Haar strömt unter dem breitrandigen Hut hervor. Sie klemmt einen Zigarillo zwischen die Zähne. Dem Untergestell schmeichelt ein Minislip, aus dem rötlich krause Härchen herausquellen. Als Flaum kriechen sie bis zum Nabel hinauf. Auf der Kehrseite kennt das Höschen nur einen Strick.
Provozierend wandelt sie mit Hohlkreuz daher; langbeinig; rechter Fuß auf den Ballen, die Ferse zwei Zentimeter über dem Sand; Brust nach vorne gewölbt; Hände im Genick gefaltet, um zu heben, was baumelt; schmale Taille; üppiges Gesäß; Körper wie aus Bronze gegossen; linke Flanke formvollendet; rechte furchtbar entstellt. Der Bauch könnte fester sein. Abertausend braune Tupfen sind auf ihrer Haut verteilt. Es ist Sommer. Vor allem im Gesicht haben sie die Übermacht gewonnen. Lina sieht zehn Jahre jünger aus als sie ist.
Viele Männer und manch eine Frau schauen ihr begehrlich oder verliebt hinterher, wenn sie sich so frivol zeigt. Aber niemand wagt es, sie anzuquatschen. Einige Paparazzi pfeifen. Doch wenn sie sich herausfordernd umdreht, blicken sie zu Boden.
Heimlich habe ich sie dort beim Flanieren beobachtet und war ihr verfallen. Lettore carissimo, sie ist die Frau meiner Träume. Sie ist Gegenstand meiner Sehnsucht. Für sie täte ich alles, und sei es, das ewige Seelenheil zu verspielen. Aber sie hat nur Augen für andere. Sie bevorzugt Jüngere. Damit muss ich mich abfinden.
Doch jetzt zur Sache! Beginnen möchte ich mit einer Begebenheit aus dem Sommer des Jahres 2022. Mein heiß geliebtes Mädchen ist mittlerweile vierundvierzig und kein bisschen weise.
Ende Juni 2022: Über Conegliano und Vittorio Veneto raste Orsolina Richtung Lago di Santa Croce, an dem ihr Häuschen lag; am Rande der Gemeinde Farra d’Alpago.
Tagelang hatte sie überlegt, was für ein Motorrad sie sich zulegen sollte, bis sie eine schnittige feuerrote Ducati erstand; ihrer Meinung nach das Richtige für eine alleinstehende Frau in den Vierzigern, die noch längst nicht mit dem Leben abgeschlossen hat.
Dazu trug sie den hautengen Lederoverall, von dem oben bereits die Rede war, ausnahmsweise mit Höschen und Unterhemd drunter, denn es war ein recht kühler Tag.
Nachdem sie Farra durchquert hatte, bog sie am Ortsende links ab, als wollte sie geradewegs in den See fahren. Über einen Seitenweg schlug sie die Richtung zu ihren Häuschen ein. Sie kannte es bislang nur von Isabellas Fotos und wusste, dass es eine Kopie des venezianischen Gebäudes war. Die Tante hatte es seit damals lukrativ vermietet. Jetzt war der letzte Mieter ausgezogen. Lina wusste vom Hörensagen, dass sie hier ihre ersten vier Lebensjahre verbracht hatte. Daran erinnern konnte sie sich aber nicht.
Dämmerung lag über dem blinkenden Spiegel des Sees und den Bergen des Alpago dahinter. Das gelbliche Licht der Laternen ließ die uralten Häuser links und rechts nur in Umrissen erkennen. Ein Hauch von Schnee bedeckte die höchsten Gipfel; rosig gefärbt von den letzten Sonnenstrahlen.
Sie fuhr bergab, immer nach ihrer Hausnummer Ausschau haltend, bis sie vor dem drittletzten Haus zu ihrer Linken halt machte. Das musste es sein. Aus schwarzen Fensterhöhlen starrte es feindselig und abweisend und freudlos auf sie: kein Leben; kein Licht; keine Fröhlichkeit; nur der Hauch des Bösen.
Im Garten schwankten die Zweige der Bäume und Sträucher im Wind. Ihr Wildwuchs hatte die der Gasse zugewandte Verandafront überwuchert. An die Giebelwand krallte sich der Efeu und überwucherte alles. Sogar einen Teil des Dachs hatte er schon in Besitz genommen. Seit Jahren kümmerte sich niemand mehr um Haus und Garten; grässliche Verwahrlosung überall; Fäulnis; Moder; Schimmel; Moos; Vorboten des Sterbens.
Zum 5. Juni hatten die Mieter das Gebäude geräumt. Ihr Kündigungsschreiben hatte Orsola betroffen gemacht. Sie sprachen nämlich von dem Geist des Üblen, der im Anwesen hause und eine unbehagliche Atmosphäre verbreite. Nicht einmal der Hund habe sich des Nachts unten auf die Matte vor die ewig knarrende und knackende Treppe gelegt; an den vorgesehenen Platz. Sie waren so anständig gewesen, die Miete für das ganze Quartal zu zahlen.
Bereits seit vierzig Jahren war das Haus vermietet. Jetzt war der neunzehnte Mieter gegangen; Begründung wie üblich. Keiner hatte es dort längere Zeit ausgehalten, obwohl die Umgebung lieblich war. Doch der Makler konnte über die Geisterfurcht der Bewohner nur lachen, als er Orsolina reinen Wein einschenkte.
Um den Feierabendverkehr zu vermeiden und Zeit zu gewinnen, war sie erst gegen achtzehn Uhr in Padua losgefahren. Von dort aus war eine Strecke von über einhundert Kilometer. zu durchreiten gewesen. Jetzt schmerzte das rechte Bein bestialisch; wie immer, wenn sich ein Wetterumschwung andeutete. Sie zögerte, das wildfremde Haus zu betreten, das ihr gehörte. Der anonyme Anruf beunruhigte sie.
Am Morgen, als sie ins Studio und auf Sendung gehen wollte, wurde er in ihr Zimmer durchgestellt: Es läutete; sie hob ab; eine hell singende heisere Männerstimme ertönte:
»Spreche ich mit Signora Dottore Orsolina Farinelli?«
»Ja; was gibt’s?«
»Ich warne Sie davor, eine Sendung über oder mit der Politikerin Giselle, Contessa di Trotta zu machen. Wagen Sie es nicht, sie in Ihr Haus am Lago di Santa Croce einzuladen! Es würde für Sie tödlich enden, Signora Farinelli.«
»Hallo! Wer ist da?«
»Jemand, der es gut mit Ihnen meint.«
Der Anrufer beendete das Gespräch. Das Display wies keine Nummer auf. Zuerst wollte sie den Anruf als Humbug abtun, doch dann machte sie sich ihre Gedanken und war beunruhigt.
Immerhin wusste man, dass sie Moderatorin der Sendung Prominente Frauen war und die Contessa eingeladen hatte. Dennoch rätselte sie, wie der fremde Mann an ihre Telefonnummer gekommen sein konnte. Vielleicht über die Presse? War nicht erst kürzlich in der La Stampa ein aktueller Bericht darüber erschienen? Dank ihres guten Gedächtnisses erinnerte sie sich an den Wortlaut:
»Mit ihrer ersten Sendung der Reihe Prominente Frauen hat sich die Moderatorin Orsolina Farinelli durch ihre samtene Stimme und ihre Art des Umgangs einen Namen gemacht. Auffällig durch ihr bezauberndes Gesicht und dem Stock mit silbernem Knauf (sie hinkt ein Wenig aufgrund eines Unfalls) hat sie die Herzen des Publikums im Sturm erobert und wurde von unserer Redaktion in die Liste der Journalisten des Jahres aufgenommen.
Gespannt sein darf man auf ihre nächste Sendung, die der Politikerin Giselle, Contessa di Trotta gewidmet ist. Wird es Signora Farinelli gelingen, den Panzer der als verschlossen geltenden Dame zu durchbrechen? Wir sind gespannt.«
Es folgten zustimmende Bemerkungen des Publikums. Der anonyme Anrufer konnte sich auf diese oder ähnliche Weise kundig gemacht haben. Doch was hatte er gegen den Auftritt der obigen Dame? Hatte Orsolina es mit einem Verrückten zu tun?
Sie gab mir alle Mühe, Gelassenheit zu bewahren, aber es wäre gelogen, wenn sie behauptete, der Anruf hätte sie kalt gelassen. Zweifellos wollte man sie vom Interview mit der Gräfin fernhalten.
Außerdem schien der Anrufer das Geheimnis des Hauses am See zu kennen. Die Mieter hatte er aber nicht gewarnt. Sie waren von sich aus gegangen, weil sie sich nicht wohlfühlten; weil ihnen das Gebäude unheimlich vorkam; weil es unheimlich war; schlimm genug.
Mit dem Gefühl, unter dem Lederpanzer zu kochen, stellte Orsolina den wummernden Motor ab und schwang sich herunter, um das Tor in der Zufahrt zu öffnen. Dann bugsierte sie den roten Feuerstuhl auf den Stellplatz und begab sie sich zur Haustür; einer Glastür inmitten der vielen kleinen Verandafenster. Den Schlüssel in der linken Hand, blieb sie zögerlich vor dem Eingang stehen.
Sollte sie oder sollte sie nicht? Ihr venezianisches Haus war schon verkauft; die enge Bude in Padua gekündigt. Es gab keinen Weg zurück. Tante Isabella hatte auf ihren Wunsch hin dafür gesorgt, dass alles hier so hergerichtet wurde, wie es damals gewesen war. Die wenigen Möbel der Eltern waren zwischenzeitlich auf ihrem Dachboden in Venedig eingelagert gewesen. Das Übrige hatte eine dafür engagierte Hausverwaltung gerichtet.
Also öffnete Orsolina die Tür. Warme stickige Luft waberte ihr entgegen. Man hatte vorgesorgt und die Heizung aufgedreht. Im Juni ist es im Bergland manchmal noch nachts empfindlich kühl. Die ausgetretene Treppe nach oben grinste ihr mit gebleckten Stufen entgegen. Sie schaltete die Korridorbeleuchtung ein. Der Blick fiel auf die Einrichtung der Siebziger Jahre. Sie trug die Reisetasche hinein und ließ sie samt Rucksack auf den Perserteppich fallen.
Der vor vierzig Jahren nicht ausgelagerte Teil der elterlichen Habseligkeiten war in zwei für die Mieter versperrten Kellerräumen untergebracht. Demnächst würde sie sich hineinbegeben, um nach Spuren der Vergangenheit zu fahnden.
Die ins finstere Obergeschoss hinaufführende Treppe ließ sie links liegen. Sie öffnete nacheinander nur die Türen, die in der Halle aufgereiht waren. Altmodisch ausgestattet, entdeckte sie Wohnzimmer, Esszimmer und Bibliothek.
Ihr war, als hätte sie sie noch nie gesehen. Äußerlich blieb sie gelassen und ruhig, obwohl ihr das Herz hämmerte und der Schweiß den Rücken hinunterlief. Hastig schälte sie sich aus dem Overall. Mit dem abgestreiften Unterhemd rubbelte sie sich trocken und warf es sich dann über die Schulter.
In ein fremdes Haus mit fremder Einrichtung war sie eingedrungen, einsam und verlassen; bedrückend. Kühler Hauch wehte zur offen stehenden Haustür herein und ließ sie bei aller inneren Hitze frösteln. Knorrig richteten sich die Brustwarzen auf. Pfeifend stieß sie den Atem aus. Sie fühlte sich beobachtet. Waren es die Geister der Toten, die ihre Augen hämisch auf sie richteten? Und unheimlich wollte ihr wieder die hölzerne Treppe zum Obergeschoss vorkommen. Sie dürfte zu Bad, Elternschlafzimmer und Kinderzimmer führen. War sie damals nicht zu Füßen dieser Stiege gelegen, neben den toten Eltern, selber so gut wie tot?
Zuerst ging sie ins Wohnzimmer. Es war ein Raum mit Flügeltüren zur Terrasse; daneben die Front kleiner Glasscheiben im weiß lackierten Holzrahmen; Sitzecke aus schwarzem Leder; schwerer Couchtisch aus Eiche davor; wertvolle Teppiche; ein Klavier, auf dem Mutter sie begleitet hatte, wenn sie erste Stücke auf der Geige spielte. Gegenüber, aus Quadern der Dolomiten gemauert, der offene Schlund des Kamins, inwendig rußig, kalt und abweisend. Nach kalter Kohle riechende Luft spie er aus.
Ja, der Kamin?! Was war mit ihm? Wie ein zahnloser Rachen gähnte er sie an. Wilde Panik bemächtigte sich ihrer. Abwechselnd war ihr kochend heiß und kalt. Der Boden schwankte. Das Unterhemd flatterte zu Boden. Irgendetwas schrie in ihr. Sie rannte in den Korridor zurück. Ein eiskalter Hauch strich über ihren Leib. Sie hatte das Gefühl, mitten durch eine unsichtbare Gestalt zu gehen.
In wilder Panik stürzte sie zur Terrassentür, riss sie auf und rannte hinaus ins beginnende Schneetreiben. Der Nordwind ließ ihr Haar flattern. Bleigrau lag der See zu ihren Füßen, wie erstarrt.
Matschige Schneeflocken gesellten sich zu ihren Sommersprossen. Sie schmolzen auf der bloßen Haut und bildeten Rinnsale, die im Höschen versickerten. Wimmernd klammerte sie sich ans Geländer der Terrasse, halb benommen und stöhnte.
War das ein Stück Erinnerung gewesen? Neue Panik kam auf. Kaum noch traute sie sich ins Haus zurück. Gewahrte sie dort drin nicht dunkle Schatten vor der weißen Wand? Auf leisen Sohlen schlich sie hinein. Sie zog die Tür hinter sich zu und ließ nun alle möglichen Lampen aufflammen. Vor Gespensterfurcht wie gelähmt, blickte sie sich in alle Richtungen um und starrte insbesondere auf den stummen Kamin. Ja, jetzt erinnerte sie sich wieder:
Hier war es, das Haus der ewigen Albträume. Es hatte ihr geträumt, sie wäre noch ein kleines Kind und müsste darin leben, in dieser kalten Hölle aus Holz und Stein. Ja! Hier war etwas Grausiges geschehen, an das sie sich nicht erinnern konnte.
Das Tor zur Vergangenheit war in den vor Glasscheiben schimmernden Wänden des schweigenden Hauses begraben. Sein knarrendes Gerippe aus wurmstichigen Balken stieß in unregelmäßigen Abständen jämmerliche Seufzer aus; das Stöhnen der Toten, das Klagen der Ermordeten. Jetzt kamen ihr die Zeitungsausschnitte aus dem Jahr 1982 wieder in den Sinn, die ihr Isabella einst vorgelegt hatte. Sie lauteten ungefähr so:
Der Parlaments-Abgeordnete Amando Gazzeloni (*1954) habe aus unbekanntem Grunde seine auffällig schöne Frau umgebracht, die Pianistin Maria Gazzeloni. Anschließend habe er seine vierjährige Tochter Orsola auf den Boden geschmettert, um sich dann selber zu richten. Das Kind sei kurz darauf in der Klinik verstorben.
Wohl hundert Mal hatte sie es bereits gelesen. Darum wusste sie es auswendig. Tante Isabella hatte alles daran gesetzt, ihr eine neue Identität zu verschaffen, um sie von der Bürde der Vergangenheit zu befreien. So gingen die Berichte weiter:
Der Ministerpräsident sei fassungslos. Die Eheleute Gazzeloni seien doch ein Traumpaar und Amando sein Freund gewesen; jetzt schon im Vorstand der Partei. Nie habe er bei ihm Anzeichen des Hanges zur Gewalt gewahrt. Das Töchterlein habe er abgöttisch geliebt. Daher sei es rätselhaft, warum er so grausig habe morden können.
Das gab Orsolina zu denken: Was in aller Welt hatte ihren Vater zu solcher Tat getrieben? Er hatte noch das ganze Leben vor sich. Gewiss, manche munkelten, ihre Mama, die hinreißend schöne Pianistin, habe ihn verlassen wollen. Hatte er das nicht verkraftet? War es Eifersucht gewesen? War er vielleicht selber fremd gegangen? Wohl kaum. Niemand nämlich wusste von tätlichen Auseinandersetzungen der beiden, die so schrecklich enden konnten.
Ferner hatte die Untersuchung der Fingerabdrücke ergeben, dass die vorgefundene Pistole von beiden benutzt worden war. Nur drei Schüsse waren abgegeben worden, einer davon in die Wand; zwei tödlich. Es waren noch genügend Projektile im Magazin. Der Vater hätte die Tochter vor seinem Selbstmord erschießen können, statt sie grausam auf dem Estrich zu zerschmettern.
Der Aufprall, so die Presse, müsse von größter Wucht gewesen sein. Er habe zu einem Schädelbasisbruch samt Hirntrauma geführt. Auf ihrer rechten Seite seien Arm, Rippen und Bein zertrümmert worden. Leblos am Boden liegend, zu Füßen der Treppe, habe man sie vorgefunden; daneben die Leichen der Eltern.
Den Rest, von dem man nichts erfuhr, berichtete Isabella, als Orsolina Sechzehn geworden war: Nach zehn Monaten sei sie wieder zu sich gekommen, bar jeder Erinnerung und geistig im Zustand eines Neugeborenen. Sie musste noch einmal ganz von vorne anfangen. Zum Schutz vor Neugierigen habe man eine Todesanzeige aufgegeben und sie adoptiert und den Zunamen der Mutter gegeben. So sei aus ihr, der geborenen Orsola Gazzeloni eine gewisse Orsolina Farinelli geworden.
Als sie, nachdem der letzte Mieter gekündigt hatte, den Wunsch äußerte, in dieses Haus ziehen zu wollen, erlitt Isabella einen Tobsuchtsanfall. Antonio hingegen sagte trocken:
»Kind! Was willst du mit dem wurmstichigen Kasten? Für deine Sendung ist es unpraktisch, immer die weite Strecke nach Padua zu fahren. Du hast dort doch eine nette Bude. Und was ist, wenn dich die Nachbarn erkennen und auf die Vergangenheit ansprechen? Weißt du nicht, dass du deinem Vater ähnlich siehst?«
Trotzig entgegnete sie:
»Erstens hab ich die Paduaner Bude gekündigt; zweitens will ich der Vergangenheit auf die Spur kommen. Das kann nur am Tatort gelingen. Nur dort kann ich die Erinnerung zurückgewinnen. Außerdem moderiere ich die Sendung Prominente Frauen. Warum nicht einmal eine über mich selbst und die alte Mordorgie? In meinem vorgerückten Alter sollte ich wissen, was zu tun ist.«
Daran erinnerte sie sich jetzt wieder im Elternhaus und ging in den Korridor zum an der Wand hängenden Telefon, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Adoptiveltern. Isabella meldete sich:
»DottoriMugnaio; buona sera.«
»Ich bin’s, Orsolina; endlich im Elternhaus zu Farra am See.«
»Wie findest du dich in deinem neuen alten Zuhause zurecht? Keine Angst? Keine Gespenster? Mir wäre es dort unheimlich.«
»Nein; alles ist prächtig; zum Wohlfühlen; bezaubernd; reinster Jugendstil; wie im Museum; nein, wie im Märchenbuch; und ihr? Fliegt ihr nicht morgen nach Bagdad, um die irakischen Altertümer zu studieren? Die Pyramiden der alten Sumerer?«
»Ja, ganz recht; darauf freuen wir uns. Aber mir ist mulmig zumute, wenn ich daran denke, dass du die dunkelsten Tage des Jahres mutterseelenalleine in diesem gespenstischen Ambiente verbringst, in diesem Haus des Bösen.«
»Die Vorbereitungen auf meine neue Sendung werden mich nicht auf dumme Gedanken kommen lassen.«
»Wer ist dein nächstes Opfer? Wer steht auf dem Speiseplan?«
»Die Parlamentsabgeordnete Giselle, Contessa di Trotta, Anwärterin auf den stellvertretenden Parteivorsitz der Forza Italia, Vertraute von Silvio Berlusconi; eine ziemlich kesse Biene, wenn auch mit Zweiundsechzig nicht mehr die Jüngste.«
Isabella sagte nichts; hörbar pfeifend sog sie den Atem ein.
»Kennst du sie?«, fragte Orsola.
»Und ob«, sagte sie, »eine eiskalte Type. Hüte dich vor ihr! Sie hat mächtige Freunde und gilt als rachsüchtig. Ihr Ehrgeiz kennt keine Grenzen. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen und besitzt den Titel nur aufgrund der Ehe mit dem vor langer Zeit verstorbenen Carlo, Conte di Trotta. Er war um 1978 herum stellvertretender Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses, als der Graf bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Danach erst hat sie ihre eigene Karriere gestartet. Ich kriege eine Gänsehaut auf dem Rücken, wenn ich an sie denke; ciao, mein Mädchen!«
Sie hängte den Hörer ein. Orsolina öffnete die Reisetasche und holte einen Bademantel hervor, denn ihr war kalt geworden. Darin gewickelt, schleppte sie sich trotz höllischer Schmerzen im Bein hinauf ins Schlafzimmer. Kaum war sie oben angekommen, begann das Telefon zu wüten. Wer konnte das sein? Und um diese Stunde!
Mühsam hangelte sie sich wieder hinunter. Der schrillende Lärm überwand inzwischen die Grenzen des Erträglichen. Sie hielt sich die Ohren zu und war am Rande der Panik. Mit zitternder Hand nahm sie den Hörer von der Gabel und flüsterte »Hallo«.
»Buona sera, Orsolina! Ambrosio am Apparat. Wie fühlst du dich zu Hause? Geht’s dir gut? Muss ich mir Sorgen machen?«
Vor Erleichterung brachte sie kein Wort heraus. Es war Commissario di Fusco, ihr Freund, der sie vor sieben Jahren in die Haftanstalt zu Padua geleitet und vor dem Eingang so sanft geküsst hatte:
»Es, es ist wunderschön hier, wenn auch einsam und still, sehr still, kein Leben; alles wie tot«, sagte sie stotternd, während sie eine Woge des Glückes überschwemmte.
Sie wünschte, er wäre hier und könnte sie von der lähmenden Furcht befreien. Hatte sie sich nicht Hoffnungen auf ihn gemacht? Doch seit der steilen Karriere im Fernsehen und ihrer oben beschriebenen Eskapaden am Strand hatte er sich von ihr zurückgezogen. Der gute alte Ambrosio war nämlich ein zugeknöpfter braver Staatsbeamter, den der hemmungslose Lebensdurst seiner Freundin erschreckte und überforderte.
Er liebte sie. Ihr hüftlanges, im flammenden Rotgold flimmerndes Haar, ihre wulstigen Lippen, ihre melodische Stimme und die Tausend Sommersprossen bezauberten ihn. Ihre mitgenommene rechte Flanke hatte seine Gefühle nur verstärkt. Doch er war noch lange nicht bereit, ihren bezaubernden Anblick, den sie so offenherzig Freund und Feind am Lido gewährte, mit anderen zu teilen. Außerdem war er etliche Jahre jünger als die Angebetete.
Es ärgerte ihn maßlos, dass seine Donna ihre Augen nur zu gerne auf andere junge Männer warf. Ambrosio war als Tenente des italienischen Geheimdienstes eben der geborene Macho.
Nachdem das Gespräch beendet war, fühlte sie den Boden unter den bloßen Füßen schwanken. So rasch wie möglich begab sie sich daher nach oben und unter die Dusche; abwechselnd kochend heiß und eiskalt. Das weckte die Lebensgeister.
Nur in ein grünes durchgeknöpftes Hemdkleid aus Baumwolle gehüllt, widmete sie sich danach ihrer Haarpracht. Sie kämmte und bürstete sie emsig. Dann ging sie ins Erdgeschoss hinunter, denn mit melodischem Dreiklang meldete sich die Türglocke. Ambrosio war erschienen, endlich! Den Göttern sei Dank!
Eben noch wollte sie sich eine Perlenkette um den Hals legen. Doch ihre Hände zitterten so heftig, dass sie den Verschluss nicht bändigte. Es läutete wieder. Sollte er doch ein Weilchen warten. In den elf Monaten, in denen sie die Sendung Prominente Frauen leitete, hatte er sich noch kein einziges Mal gemeldet.
Schließlich humpelte sie Richtung Haustüre. Doch auf halbem Wege blieb sie stehen und dachte nach: Sollte sie oder nicht? Eine alleinstehende Frau lässt mitten in der Nacht einen Mann ins Haus?! Eigentlich unmöglich! Dennoch öffnete sie die Tür, denn wildes Verlangen pulsierte jetzt in ihren Adern.
Ambrosio stand vor ihr, groß und breit. In den sechs Jahren ihrer Haft hatte er sich kaum verändert. Er lächelte, als er sie sah, ein Wenig verlegen, wie es schien. Wer von den beiden würde den ersten Schritt tun? Er zögerte immer noch.
Da beugte sie sich vor und küsste ihn auf den Mund. Er nahm sie in die Arme. Mund an Mund standen sie starr und stumm auf der Schwelle, bis er sich von ihr löste. Sie gingen hinein. Er schob die Tür hinter ihnen ins Schloss.
»Beneidenswert schön haust du hier am Lago di Santa Croce; für einen Polizisten unerschwinglich. Schön, dass du ins Elternhaus zurückgekehrt bist«, sagte er und blickte sich neugierig um.
Sie verriet nichts von ihren Ängsten, machte sich kleiner, als sie war und sah zu ihm auf. Da küssten sie einander so heftig, dass die Zähne aufeinander klapperten. Die Glut war auf den biederen Commissario übergeschwappt. Er hängte die Jacke an die Garderobe und entledigte sich des störenden Hemdes. Händchen haltend saßen sie nun auf der Couch und tranken die Flasche Sekt, die sich im Kühlschrank gefunden hatte; dazu Schmusen und Küssen. Als er ihr das Kleid aufgeknöpft hatte, fragte sie ihn frech:
»Woher wusstest du, dass ich heute einziehen würde? Habt ihr Kriminaler dieses Haus ins Visier genommen, um einen mysteriösen alten Fall zu klären?«
Ambrosio ließ seine linke Hand auf gewissen gewölbten Gegenden ruhen und sagte kichernd:
»Dein Intendant verriet es mir. Er macht sich Sorgen um dein Seelenleben und ist der Meinung, ich wäre ein idealer Tröster.«
»Soso, dieser alte Schuft! Ohne mich zu fragen! Na warte, das wirst du mir noch büßen.«
»Der Ärmste! Wo er doch besorgt wie dein Großvater ist!«
»Ich habe da ein Problem«, sagte sie ablenkend, »ich kriege diese gottverdammte Kette da nicht zu.«
»Fluche nicht! Das haben wir gleich«, sagte er und legte sie ihr um den Nacken, während sie aus dem Kleidchen schlüpfte. Mit einem Aufschrei fiel sie ihm um den Hals, bis er sich los machte und das Hemd ablegte. Seine Brust war breit und haarig. Er sagte:
»Wie wäre es, Orsolina, wenn du mir jetzt das Haus zeigtest. Es könnte eines Tages wichtig für uns sein.«
Sie erhob sich, knöpfte sich die Ärmel um die Taille und sagte:
»Denkst du, ich bin in Gefahr?«
»Vielleicht. Mir ist nicht wohl beim Gedanken, dich hier alleine zu wissen. Was ist, wenn jemand eindringt?«
»Das versuche, wer will! Wenn ich sonst nichts trage, dann wenigstens ein Bowie Knife am Gürtel, auch wenn es in Italien verboten ist«, sagte sie trotzig.
»Zurzeit hast du nichts als den Hausfummel an, nur um die Taille.«
Ambrosio kicherte. Sie spürte, wie ihr kalt wurde. Da löste sie den Knoten der Ärmel und zog sich das Kleid wieder über die Blöße, ohne sich Mühe zu geben, die Knöpfe durch die Ösen zu schieben.
»Darf ich das Messer mal sehen?«
»Geht nicht; es ist weg. Ich werd mir ein neues besorgen.«
»Wieso? Hat du’s verloren?«
»Nein, die Carabinieri haben’s mir geklaut.«
»Was du nicht sagst! Wie ist das passiert?«
»Bin zu schnell gefahren.«
»Wo? Wie viel?«
»Auf der Staatsstraße 13, etwa zehn Kilometer. südlich von Conegliano. Hundertzwanzig statt achtzig. Die verdammten Bullen haben mich erwischt und auf einen einsamen Parkplatz gewinkt.«
»Und was geschah dann?«
»Es waren zwei junge Kerle in Uniform, beide in der kugelsicheren Weste. Der eine richtete eine Maschinenpistole auf mich, als wäre ich ein Terrorist. Der andere knurrte herausfordernd:
›Da schau her! Eine rothaarige Räuberbraut! Sowas aber auch!‹
Der andere:
›Taste die Wildkatze nach Waffen ab! Sie ist gefährlich.‹
Der Bursche ließ sich das nicht zweimal sagen. Er hieß mich absteigen, die Hände über dem Kopf falten, um dann seine Hände mit entsprechendem Druck genüsslich über mir auf- und niedergleiten zu lassen. Dann löste ihn der andere ab und tat dasselbe.«
»Und das hast du dir, ohne zu murren, gefallen lassen? Soll ich die Streife zur Anzeige bringen?«, fragte Ambrosio.
»Es waren zwei junge Männer; im Grunde recht nett. Sie hatten ihr Vergnügen. Ich hatte mein doppeltes und fragte sie:
›Signori Commissari miei, darf ich rauchen? Die Zigarillos stecken in der Seitentasche des Rucksacks.‹
›Wenn du die Hände brav oben lässt, stecken wir dir einen in den Mund‹, meinte der eine. Er kramte im Rucksack, wurde fündig und schob mir den Glimmstängel zwischen die Zähne, während der andere Feuer gab; ein Gentleman der alten Schule.
›Ich habe da einen metallenen Gegenstand an deinem Körper ertastet. Es könnte sich um eine Waffe handeln. Lass die Hände im Genick gefaltet und halte still! Wir müssen nachsehen.‹
Mit einem Ratsch wurde mir der vordere Reißverschluss von oben bis unten geöffnet und klaffte nun weit auseinander.
›Sieh nach, Kumpel, ob sie das Ding im Schulterhalfter trägt!‹
Der Spitzbube rollte mir das Hemdchen bis zur Achselhöhle hoch und sagte dann gespielt bedauernd:
›Das Biest muss unten am Gürtel hängen.‹
Ohne das Hemd wieder hinab zu ziehen, schob er mir den Overall bis zur Kniekehle runter und wurde fündig. Im Nun hatte er den Gürtel geöffnet und schwenkte das daran hängende Bowie Knife triumphierend in der Luft. Sein Kumpel meinte grinsend:
›Liebes Mädchen! Du bist vierzig Kilometer pro Stunde zu schnell gefahren und im Besitz einer verbotenen Waffe. Aber weil du so eine Zuckerpuppe bist, sind wir bereit, dich gegen ein Bußgeld von zweihundert Euro davon brettern zu lassen. Hast du soviel in Bar dabei, Süße?‹
Ich nickte. Er sagte gnädig:
›Du kannst dich wieder anziehen; dann her mit den Moneten!‹
Ich zwängte mich wieder ins Leder und blechte, was man von mir verlangte. Jeder steckte seinen Hunderter ein. Eine Quittung gab’s nicht. Das Bowie Knife war futsch. Ich wusste, was das alles bedeutete und machte die Fliege, froh, keine Strafanzeige kassiert zu haben; wie gesagt: nette Kerle, einer prächtiger als der andere; handsome boys von Mitte Zwanzig. Wer kann da widerstehen?«
Ambrosio war sichtlich sauer und grummelte:
»Ich sehe das anders. Man sollte sie aus dem Staatsdienst entfernen, aber wie du willst. Dir zuliebe will ich’s übersehen haben. Ich habe das Gefühl, dein Herz schlägt für Ganoven.«
Orsolina nickte eifrig, steckte sich einen Zigarillo an, blies Ambrosio den Dunst ins Gesicht und grunzte:
»Könnte sein, Amigo. Doch nimm dich nicht so wichtig! Voriges Jahr erst hat man mir das Zimmer im Knast gekündigt und mich hinausgeworfen. Kurz drauf ergatterte ich einen Job als Fernsehmoderatorin. Seitdem hat sich Commissario di Fusco kein einziges Mal gemeldet. Mein lieber Schwan! Das will Freundschaft sein?!
In meiner Not flanierte ich am Strand der Insel Lido und zeigte alles, was ich habe. Doch kein einziger Fisch biss an. Nur eine Lesbe hatte es auf mich abgesehen, vergebens übrigens. Nicht dass ich was gegen Lesben hätte, im Gegenteil, aber sie war nicht mein Typ; schon Mitte Dreißig; zu alt für mich; außerdem mollig.«
»Was soll ich dazu sagen«, seufzte Ambrosio, »da wird die Frau, die ich seit Jahren verehre, kaum dass sie den Gefängnismauern entronnen ist, zu einer Starmoderatorin des Fernsehens, vom Intendanten kurz nach der Entlassung engagiert; und schon nimmt ihre Karriere einen steilen Verlauf. Das Volk verliebt sich ins Mädchen mit der Krücke. Millionen Mütter wünschen sich eine Frau Ihresgleichen als Schwiegertochter.
Ja! Neuerdings beleben Damen, die am Stock mit silbernem Knauf daher gelaufen kommen, die Fußgängerzonen. Seit kurzem zeigst du deine Sommersprossen ungeschminkt. Das hat seine Folgen. Nicht wenige Damen sprenkeln jetzt das Gesicht, um Sommersprossen vorzutäuschen. Und was habe ich dir zu bieten? Ich, der Carabiniere? Ich, der mager besoldete Beamte? Stell dir die Sensation vor: ›Starmoderatorin heiratete einen Polizisten!‹«
»So ein Unsinn!«, fauchte sie, obwohl sie ihm recht gab.
»Doch, doch! Es ist wirklich so«, sagte er, während er ins Hemd schlüpfte »ich hab sechs Jahre lang auf dich gewartet und hätte es noch länger getan, wenn man keine Gnade hätte walten lassen. Aber seit Kurzem bist du mir fremd geworden. Du bist ein Star. Du gehörst allen, nur nicht mir. Kann ich jetzt mal die Bude sehen?«
»Natürlich. Aber sie ist nur teilmöbliert, nichts als Erbstücke meiner Eltern, von denen ich noch nichts weiß. Meine Paduaner Siebensachen kommen erst morgen an.«
Er nickte. Sie durchquerten sämtliche Räume des Hexenhäuschens, wie es Ambrosio nannte; alles so, wie beschrieben. Er war zufrieden und sagte, er habe sich alles gemerkt, dank seinem vorzüglichen Gedächtnis. Wieder unten angekommen, sagte er:
»Mir knurrt der Magen. Könnten wir uns was zu essen machen?«
»Tut mir leid«, sagte sie, »es ist nichts Essbares im Haus. Gehen wir halt auswärts essen! Im Ristorante Gambero Rosso, gleich beim Rathaus, könnte noch offen sein. Ich bring dich nur mit dem Motorrad hin, oder gar nicht.«
Ambrosio ergab sich ins Schicksal. Sie schlüpfte aus dem Hauskleid heraus und zwängte sich in den ledernen Overall. Verblüfft und entzückt zugleich sah er dem Schauspiel zu. Auf seinen rechten Arm gestützt, humpelte sie dann die Freitreppe vor dem Haus hinunter.
»Tut’s sehr weh?«
»Wie üblich.«
»Warum fährst du überhaupt Motorrad? Meiner Meinung nach ist das nichts für Mädchen.«
»Weil es für mich Freiheit bedeutet, grenzenlose Freiheit. Ich bin doch kein Waschlappen. Wenn du denkst, ein Weib könne das nicht, dann denkst du nur, dass du denkst, mein Bester.«
Jetzt standen sie vor ihrer Maschine. Er flüsterte in die Stille hinein:
»Warum bist du in dieses Haus zurückgekehrt, in dem deine Eltern starben … und jemand versuchte, dich umzubringen?«
Sie erwiderte nichts und war in Gedanken versunken, denn sie hatte ihm in der Haftanstalt längst alles erzählt, was sie wusste. Er sagte, während er hinter ihr Platz nahm und die Arme um ihre Taille schlang, um Halt zu finden:
»Eine schöne Straße ist das hier; wie auf der Postkarte! Wären da nur nicht die Gespenster aus alten Zeiten. Kannst du sie nicht diesem Haus und damit sich selber überlassen? Das bescheidene Heim eines Carabiniere, der eine Mörderin heiraten möchte, die er einst überführt und festgenommen hat, steht dir offen.«
Sollte das etwa ein Heiratsantrag sein? Wohl kaum; jedenfalls nicht nach ihrem Geschmack. Dazu hätte er doch wohl deutlichere Worte finden müssen.
Wortlos warf sie die Maschine an und fuhr mit Getöse los. Das Motorrad machte einen Satz nach vorne. Halsbrecherisch legte sie sich in die Kurven. Ambrosio hörte die Englein singen. Naturgemäß war er als Carabiniere selber Motorradfahrer, doch ein eher gemäßigter, und dieses wilde Weib da ließ ihn nun sein letztes Stündlein ahnen. Schon waren sie auf dem Dorfplatz angekommen. Das Motorrad brüllte auf und verstummte. Aufatmend sprang Ambrosio auf die Füße, froh, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Sie kicherte:
»Riesig nett, dass du dir Sorgen um mich machst.«
»Ich weiß ganz genau, was du denkst«, stöhnte Ambrosio, »du willst nicht wahrhaben, dass der Vater deine Mutter umbrachte und dich danach auf den Estrich schmetterte. Ich habe die Akten eingesehen. Es besteht kein Zweifel an dieser Version. Und jetzt willst du alles neu aufrollen, um ihn reinzuwaschen. Hast du dran gedacht, dass du dich dabei selber zugrunde richten könntest?«
»Selbst wenn du recht hättest, solltest du wissen, dass ich gar nicht anders kann. In letzter Zeit suchen mich die Gespenster der Vergangenheit wieder heim. Es muss endlich was geschehen. Sie bringen mich sonst noch um den Verstand.«
»Worum geht’s da?«
»Ich erlebe die alte Szene im Traum. Es ist wie im Theater, wenn der Vorhang zugezogen ist und sich dahinter eine blutige Tragödie abspielt. Ich höre schreien, kreischen, weinen. Aber ich kann nicht sehen, was geschieht. Das macht mich wahnsinnig. Fast alle erinnern sich an die Kindheit, nur ich nicht. Mir fehlt ein Teil des Lebens. Ihn muss ich zurückerobern, koste es, was es wolle.
Der Gefängnispsychologe meinte, ich solle an den Ort meiner Kindheit zurückkehren. Dann könnte die Erinnerung wieder einsetzen. Er hatte recht. Vorhin, als ich Haus und Wohnzimmer betrat, waren die Gespenster wieder da; zwar nur schemenhaft, aber so unheimlich, dass ich auf die Terrasse fliehen musste. Jetzt erst verstehe ich, warum es die Mieter hier nicht lange aushielten. Das Gebäude birgt ein schauriges Geheimnis. Es atmet den Geist des Bösen; vielleicht schon seit Generationen, uralt, wie es ist.«
Sie schwieg erregt. Nach geraumer Pause sagte Ambrosio:
»Und trotzdem finde ich es nicht gut, dass du dort …«
Sie blickte auf den Gasthof. Alle Fenster waren dunkel. Sie deutete aufs Motorrad. Beide stiegen wieder auf. Sie starte den Motor, raste aus dem Dorf hinaus und hielt vor dem Ristorante Cavallo Bianco am Ufer des Sees. Sie hatte es auf der Herfahrt erspäht.
Auf seinen rechten Arm gestützt, humpelte sie die Treppe zum Eingang hinauf und durch die Garderobe hindurch in den Speiseraum. Der Cameriere musterte sie anerkennend von oben bis unten; ein junger Spund mit Oberlippenbärtchen. Er und Ambrosio schüttelten sich die Hände. Man kannte sich. Ambrosio sagte:
»Das da ist Mario; das ist Orsolina, l’amica mia.«
Mario schüttelte nun auch mir die Hand und rief:
»Herzlich willkommen, Orsolina!«
»Ihr kennt euch schon?«, fragte ich dummerweise.
»Natürlich! Er ist bei uns essen gewesen, der Signore Tenente, damals, als es hier im Dorf endlich mal einen Mordfall gab. Der Büroleiter des Bürgermeisters hatte es satt, dass es seine Frau mit dem Rathaus-Chef hatte. Eines Nachts setzte er sich in den Amtssessel und jagte sich eine Kugel durch den Kopf. Selten war Farra d’Alpago so berühmt wie damals, hihihi; nur einmal, aber dieser Fall liegt so weit zurück, dass sich kaum noch jemand dran erinnert. Eine Pianistin und ihr Kind wurden, glaube ich, umgebracht. Aber Ambrosio kommt ja auch sonst mal bei uns vorbei.«
Ich wollte jetzt Platz nehmen, aber der Cameriere schaute herausfordernd auf meinen Lederoverall. Wollte er mir etwa aus der Motorradkluft heraushelfen? Er musste doch sehen, dass ich nichts drunter trug. Trotzig ließ ich mich auf den Stuhl fallen und öffnete den Reißverschluss weiter, als es eine Dame tun sollte. Dann wählte ich Minestrone (Gemüsesuppe) und Risotto Verdure (Reis mit geschmolzenem Käse und buntem Gemüse); dazuSan Benedetto.
Mario nahm es zur Kenntnis und fragte Ambrosio:
»Wie immer?«
»Wie immer.«
»Grazie, Signore!«
Wie immer hieß Crespelle. Das sind feine Teigrollen, mit Spinat gefüllt und in Gorgonzola-Soße schwimmend.
Als der Cameriere, nachdem er uns einen Liter Mineralwasser vorgesetzt hatte, außer Hörweite geraten war, sagte Ambrosio:
»Orsolina, wie ist es dir in letzter Zeit ergangen? Hast du dich wieder ins wilde Leben gestürzt? Hast du noch Kontakt zum lieben Priester? Zu Luigi Corvo, dem Kaplan?«
»Für meine Arbeit im Fernsehen benötige ich eine Fünfzigstundenwoche. Wenn ich mein Pensum geleistet habe, bin ich am Ende mit den Kräften! Von wegen ›wildes Leben‹ am Strand! Dafür bleibt mir höchstens das Wochenende. Von Luigi habe ich nichts mehr gehört. Mit seiner neuen Pfarrei ist er ausgelastet, mein über fünfzehn Jahre jüngere Freund. Wie gut, lieber Ambrosio, dass du nur vier Jahre jünger bist als ich, hihihi.«
»Danke für die Blümchen, meine Süße!«
Nach den Getränken kam das Essen. Es mundete vorzüglich. Lina war begeistert. Dann waren die Teller abgeräumt. Sie tranken noch eine Flasche ›Valpolicella‹. Als sie die Gläser geleert hatten und in Gesprächslaune gerieten, fragte Ambrosio:
»Was hast du in nächster Zeit vor?«
»Ich stecke bis über die Ohren in den Vorbereitungen für die Sendung mit und über Giselle, Contessa di Trotta.«
»Was?! Warum ausgerechnet diese Giftmischerin?«
»Du kennst dich ja aus! Nun, der Chef meint, Draghi erwäge, sie demnächst zur Ministerin zu machen, als Frau unter so vielen gestandenen Mannsbildern. Signore Salvini samt der Lega und natürlich auch Berlusconi und die Forza Italia hat sie hinter sich.«
»Mir hat sie noch nie gefallen; arrogant; kein nettes Mädchen.«
»Sie sitzt seit zwanzig Jahren im Parlament. Sie ist Mitglied im Ausschuss für Finanzen. Mario Draghi sucht jemanden, der dazu beiträgt, die Frauenquote anzuheben. Die Contessa gilt als beinharte Politikerin, vor der die Männer Respekt haben.«
»Ja, davon habe ich reden hören. In Finanzfragen soll sie unschlagbar sein. Sag! Was hältst du von ihr?«
»Trotz Anfang Sechzig brillant aussehend; sportlich und gepflegt; kühne Reiterin; lässt keine Jagd aus; tüchtig; energisch; ein Energiebündel; aber zu aggressiv; zu rechthaberisch; von schroffer Art; zu ehrgeizig; hat Feinde in den eigenen Reihen. Von all den Frauen im Parlament ist sie die tüchtigste, was sogar die Sozialdemokraten unter Matteo Renzi anerkennen.«
»Was hast du sonst noch über sie herausgefunden?«
»Sie wurde 1960 im Aosta-Tal geboren und wuchs im Dorf Praz auf. Es liegt am Ende eines Seitentales; Abzweigung kurz vor Aosta. Sie ist 62 Jahre alt, auch wenn ihr das keiner ansieht; im besten Alter für eine führende Position in der Politik. Manche munkeln, Berlusconi beabsichtige, sie als seine Nachfolgerin aufzubauen, weil er sonst keinen geeigneten Kandidaten habe.«
»Was du nicht sagst, Orsolina. Woher weißt du das alles?«
»Mein Beruf und ein gutes Gedächtnis.«
»Bitte weiter! Je mehr ich jetzt schon weiß, desto besser.«
»Es gibt da eine pikante Besonderheit in ihrer Biographie: Sie siegte in Aosta mit 18 Jahren bei einer Miss-Wahl, trat dann aber nicht mehr zum Landesentscheid an, weil sie ein Studium aufgenommen habe und kein Semester verlieren wolle; so sie vielleicht verlogen.
Sie ist eine geborene Ermanno und stammt gar nicht aus dem Adel. 1979 heiratete sie den 1951 geborenen Carlo, Conte di Trotta, der gerade auf dem Sprung ins Präsidium der Forza Italia war.
Er galt als Vertrauter von Silvio Berlusconi. Manche sahen in ihm den geborenen Spitzenpolitiker. Doch bereits 1977 kam er auf dem Flug nach Cortina d’Ampezzo ums Leben. Seine Privatmaschine zerschellte am Hang des Col di Lana. Mit ihm starb auch der Pilot, ein Cesare Gabba, dessen Witwe Lisa noch in einem Dorf bei Verona lebt. Die Contessa hat nie wieder geheiratet, obwohl es Bewerber gegeben haben soll. So sehr hat sie den Mann geliebt, falls es nicht andere, unbekannte, Gründe dafür gibt.«
»Warum ist sie dann nicht ins Kloster gegangen?«, höhnte Ambrosio. Wutentbrannt fauchte Lina:
»Versetzte dich doch mal in diese ehrgeizige Frau! Nonne zu werden und mit einer kahlen Klosterzelle zufrieden zu sein, war wohl nicht ihr Ziel. Sie war drauf aus, in der Forza Italiaunter Berlusconi Karriere zu machen. Sie wollte die Stelle des tödlich verunglückten Gatten übernehmen. Von Männergeschichten weiß man nichts. Sie scheint mit der Politik verheiratet zu sein.«
»Sonst noch was?«
»Einiges! Vor zwei Wochen rief der Intendant an und gab mir den Auftrag, sie groß herauszubringen. Ich nahm an, aber die Politikerin lehnte es ab, bei mir aufzutreten.«
»Das hat seinen Grund«, sagte Ambrosio, »ich habe es im Corriere della Sera gelesen: Berlusconi ist ein alter Knochen. Das bietet der Forza die Gelegenheit, mit Giselle die erste Frau als Parteivorsitzende zu küren. Es ist mit der Hoffnung verbunden, dass vermehrt auch Frauen ihre Stimme für die Partei abgeben. Daher muss ihr Aufstieg eilends in die Wege geleitet werden. Sobald sie den Vorsitz innehat, wird sie in deiner Sendung erscheinen.«
»Gut, schön«, sagte Lina gedehnt, »aber sie hat eine Rivalin, eine aus Napoli, Rosa Cecchini. Sie kommt ebenfalls aus einfachsten Verhältnissen, ist zehn Jahre jünger als die Gräfin und von bezaubernder Art. Ihr Vater war noch Fischer bei Capri. Daher ist es durchaus nicht sicher, wen Berlusconi bevorzugt.«
»Das dürfte sich durch deine Sendung zu Gunsten der Gräfin ändern.«
»Darum hat sie mein Chef ersucht, mir das Interview nicht zu verweigern. Die beiden kennen sich. Er will ihr einen Gefallen tun.«
»Ach, deshalb hat er es so eilig. Wenn die Cecchini erst mal am Sessel klebt, ist die Chance vertan.«
»Gewiss, aber zurzeit ist noch alles offen. Doch jetzt Schluss mit meiner Sendung! Warum hast du mich nicht mehr angerufen?«
»Du weiß ja gar nicht, wie oft ich den Hörer in der Hand hatte, um gleich wieder aufzulegen. Alfredo, der Maler, war acht Jahre jünger als du; ein faszinierender Mann. Was dagegen bin ich, die graue Maus? Meine Frau und meine Tochter haben sich umgebracht. Das Haar ergraut. Was hab ich dir, der prominenten Frau zu bieten?«
»Dann liebst du mich nicht?«
»Doch, aber ich fürchte, ich werde dich enttäuschen.«
»Bist du hinter einer anderen her?«
»Nein, seit damals, du weißt schon, gefällt mir keine andere. Wenn aus uns beiden nichts wird, bleib ich ledig.«
»Also gut«, sagte sie, »nachdem wir jetzt sämtliche Klarheiten beseitigt haben, könntest du uns zum Nachtisch einen Tiramisù bestellen, für uns beide zusammen.«
Sie sah, wie er aufatmete. Die Süßspeise war köstlich. Sie fuhr dann in selten gemäßigter Geschwindigkeit mit ihm auf dem Beifahrersitz nach Hause. Er wirkte müde und bedrückt. War er vorzeitig alt und mürrisch geworden?
In der Wohnung angekommen, berichtete sie ihm vom anonymen Anruf, von der scheinbaren Bedrohung. Er sagte:
»Das geht vielen Prominenten so; ist meistens harmlos. Es gibt Spinner, die sich mächtig und wichtig vorkommen, wenn sie so was machen. Wenn’s wieder passiert, ruf mich an! Ich sorg dann dafür, dass man den Kerl ermittelt.«
Schon geleitete sie ihn zur Haustür. Die Stimmung war futsch. Ohne Abschiedskuss trennten sie sich. Leise summte sein Wagen davon und hinein ins samtene Dunkel der Nacht. Ein Schwall von bedrückender Stille schlug über ihr zusammen. Gelegentliches Knacken der Balken und das Kratzen der Holzwürmer waren der Beweis dafür, dass das feindliche Haus lebte und atmete.
Als sie die Tür geschlossen hatte, fiel ihr Blick auf einen Briefumschlag am Boden. Jemand hatte ihn während ihrer Abwesenheit durch den Schlitz geworfen. In ungelenken Großbuchstaben stand nichts anderes als AN ORSOLINA FARINELLI drauf.
Sie riss das Kuvert auf. Ein Blatt Papier, aus einem Block gerissen, flatterte zu Boden. Sie bückte sich, hob es auf und las mit wachsendem Unbehagen, was drauf stand:
»ICH HABE SIE GEWARNT, HIER EINZUZIEHEN. HÜTEN SIE SICH, DIE SENDUNG MIT DER CONTESSA ZU MACHEN! ODER DER TOD.«
Wie besessen stürzte sie zur Tür hinaus, um Ambrosio zu Hilfe zu rufen; zu spät. Die roten Rücklichter waren bereits im Nebel untergegangen. Sie ging wieder zurück und starrte auf die Treppe. Ihr weiß lackiertes Geländer wirkte wie ein Skelett. Die abgetretenen Stufen grinsten ihr tückisch entgegen. Saß nicht ein kleines rothaariges Mädchen mitten auf ihnen und starrte zu ihr hinunter?
Jetzt spätestens hätte sie Ambrosio auf dem Mobilfon anrufen sollen, unbedingt! Sie unterließ es aber. Auf gar keinen Fall wollte sie nämlich vor ihm als das ängstliche Geißlein erscheinen, das sich vor dem hungrigen Wolf in der Standuhr versteckt.
Auf dem Umweg über WC und Dusche warf sie sich auf die harte Liege im Gästezimmer und zog die Decke über den Kopf. Der Schlaf wurde durch wirre Alpträume unterbrochen. Wiederholt schlüpfte sie dabei in die Gestalt des Mädchens auf der Treppe, das mit weit, weit aufgerissenen Augen von dort oben aus auf eine Szene des namenlosen Grauens hinabsah. Dann erschien das Phantom; nichts als ein breiter grauer Schatten.
Es stieg die ächzenden Stufen hinauf, packte das Kind, trug es hinunter, hob es hoch über den Kopf und zerschmetterte es auf den Kacheln des Korridors. Wie tot lag das kleine Mädchen nun im Blute, grässlich verrenkt.
Darauf verließ der Satan das Haus und gesellte sich stumm zu einem zweiten Schatten. Lautlos fiel die Tür ins Schloss. Der Traum war vorüber, um aufs Neue zu beginnen.
Wie gerädert wachte sie um sechs Uhr auf und stellte das Wüten des Weckers ab. Für die Träume machte sie die unbequeme Liege, auf der sie die Nacht verbracht hatte, verantwortlich. Im Schlaf hatte sie geweint. Die Augen waren dick geschwollen. Im Traum war sie zuletzt vor dem Phantom ins Unendliche geflüchtet, stets seinen heißen Atem im Genick. Noch keuchte sie vor Atemnot. Das rechte Bein brannte wie Feuer. Der rechte Arm fühlte sich taub an. Offenbar hatte sie auf der falschen Seite gelegen.
Schwüle Wärme waberte durchs Badezimmerfenster herein. Sie rubbelte sich trocken, schlang das große grüne Badetuch um die Hüften und hangelte sich nach unten in die Küche, denn der Magen knurrte. Hektisch aß sie ein paar Kekse aus der Packung, denn gegen acht Uhr erwartete sie die Männer der Möbel-Spedition mit ihren Paduaner Sachen. Seit Erhalt des Drohbriefes wartete sie drauf, dass das Telefon wieder schrillte, aber es blieb stumm wie ein Fisch und gab keinen Ton von sich.
Ein Blick auf die Uhr: noch eine halbe Stunde. Wild entschlossen, Licht ins Dunkel zu bringen, und stapfte sie die bleigrauen steinernen Stufen zum Keller hinab.
(Bekanntlich beherbergt dort ein besonderer Raum das Archiv der Eltern. Zwei Zylinderschlösser sicherten die Kammer. Die Schlüssel waren seit Kurzem in ihrem Besitz.)
»Ich kann dich nur warnen, in den Unterlagen zu stöbern«, hatte Isabella gesagt, als sie ihr den Schlüsselbund überreichte, »denn es könnte gefährlich werden, solltest du die Papiere deines Vaters einsehen. Lass die Vergangenheit ruhen!«
Trotzig und neugierig zugleich schlug sie Isabellas Warnungen in den Wind und öffnete die Stahltür. Auf ihr prangte die Aufschrift:
ARCHIV DER FAMILIE GAZZELONI
Modergeruch schlug ihr entgegen. Spinnenweben wehten von der Decke herab oder überzogen die Wände; Staub über Staub auf Boden und Regalen. Er war wohl durch ein winziges Lüftungsgitter eingedrungen; an der Wand ein Büroschrank; daneben zugeschnürte Kisten aus Sperrholz, eine jede sorgsam beschriftet:
› Parlamentsabgeordneter Dr. A. Gazzeloni, persönliche Akten
› Parlamentsabgeordneter Dr. A. Gazzeloni, politische Akten
› Dr. A. Gazzeloni: Bücher und Zeitschriftenartikel
› Dr. A. Gazzeloni: gemeinsame Familienunterlagen; Fotos
› Maria Farinelli: Unterlagen zur eigenen Familie
› Maria und Orsola Farinelli als Musiker
› Maria Farinelli & Amando Gazzeloni: unsere besten Freunde
»Meinen Vater als Abgeordneten und stellvertretenden Vorsitzenden der Forza Italia«, sagte sie zu sich selber, »kann ich mir nicht vorstellen; erst recht nicht, dass er der geborene Minister war.«
Nun versuchte sie krampfhaft, sich ein Bild davon zu machen, wie er hier im Haus gelebt hatte. Aber vor dem inneren Auge erschien er nur auf dem Foto, das ihr Isabella gezeigt hatte. Es war das einzige, während sie von Mutter ein ganzes Dutzend besaß; sie meist am Piano; daneben sie, Orsola, mit der kleinen Geige. Im Gesicht sah sie ihr nicht ähnlich. Sie wies weder Sommersprossen auf, noch hatte sie rotgoldenes Flimmerhaar.