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Das Zeitalter des Kometen von Jo Zybell Der Umfang dieses Buchs entspricht 374 Taschenbuchseiten. Dieser Dreiteiler enthält folgende Romane: Lennox und das Reiseziel Mars Lennox auf dem roten Planeten Lennox und das Erbe der Alten Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen. In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf … Sie führt ihn zum Planeten Mars!
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Seitenzahl: 375
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Planet Mars sehen und sterben: Science Fiction Fantasy Großband 5/2021 - 3 Romane
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Lennox und das Reiseziel Mars
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Lennox auf dem roten Planeten
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Epilog
Lennox und das Erbe der Alten
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Das Zeitalter des Kometen
von Jo Zybell
Der Umfang dieses Buchs entspricht 374 Taschenbuchseiten.
Dieser Dreiteiler enthält folgende Romane:
Lennox und das Reiseziel Mars
Lennox auf dem roten Planeten
Lennox und das Erbe der Alten
Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Sie führt ihn zum Planeten Mars!
Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author / COVER STEVE MAYER
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Das Zeitalter des Kometen #32
Teil 1 von 3
von Jo Zybell
Als die PHOBOS-Besatzung Tim Lennox aufweckt und auf dem Mars zur Befragung bringt, stellt sich schnell heraus, dass man ihm nicht glaubt. Außerdem besteht eine unerklärliche Abneigung gegen alles, was von der Erde stammt. Zwischen den Marsleuten kommt es zu einer Auseinandersetzung, was mit ihm geschehen soll. Die meisten plädieren für seinen Tod!
Der Sturm peitschte ihr Staub und verharschten Schnee ins Gesicht. Wieder endeten die in Fels gehauenen Stufen, wieder führten Leitersprossen aus Weißbaumholz in die Steilwand hinein. Und einmal mehr bereute sie, zu dieser Wanderung aufgebrochen zu sein. Sie war einfach zu alt für derartige Gewaltmärsche. Späte Einsicht – der Sturm ließ keine Umkehr mehr zu.
Sie packte die erste Sprosse und zog sich hoch. Von hinten fasste Windtänzer nach ihren Hüften und schob sie. »Das letzte Steilstück!« Er schrie gegen das Brausen des Sturms an. »Bald ist es geschafft!« Sie nickte, nahm die nächste Sprosse, blickte nach oben – wo waren die anderen beiden?
Sie sah nach unten, und Übelkeit würgte sie. Tief unter ihr tobte eine gewaltige Sandwolke im rötlichen Abendlicht.
Schon den halben Krater füllte sie aus.
Weder den See noch seine Zuläufe konnte sie noch erkennen, weder die ausgedehnten Schilfflächen noch den Uferwald. Sie schloss die Augen, schluckte den Brechreiz herunter und tastete nach der nächsten Sprosse.
Die Augen auf, und hinauf mit den alten Knochen! Bald ist es geschafft, sagt Windtänzer!
Der drückte von hinten, ermutigte sie, hielt sie am Knöchel, wenn sie sich nach einer weiteren Sprosse ausstreckte. Guter Mann, der Baumsprecher, fantastischer Mann! Sie blinzelte in den fahlen Abendhimmel, wo die Sonne hinter Dunstschleiern gelb, orange und rot verschwamm, wie erlöschende Lagerfeuerglut im Nebel. Sie schluckte schmutzigen Schnee und Sand hinunter. Die Kälte kroch ihr bereits bis in die Herzkammern.
Weiter! Reiß dich zusammen, denk an deine Enkelin! Die nächste Sprosse, weiter, immer weiter!
»Du musst mitgehen«, hatte Windtänzer gesagt. »Du musst ihm dein Anliegen persönlich vortragen. Nur das wird ihn von der Dringlichkeit deiner Sorge überzeugen.« Und dann hatte er mit den Schultern gezuckt. »So ist der Alte nun mal.«
Also hatte sie das Kind der Obhut der Waldfrauen anvertraut, sich in einen alten Kunstfaser-Overall und in ihren gefütterten Mantel gehüllt und war Windtänzer und seinen beiden Schülern zu den Kratertälern am Südwestrand der Wälder gefolgt; und durch den Krater dort unten bis hierher in diese Wand.
Hier oben irgendwo lebte er, der Oberste der Baumsprecher.
Zehn, elf Meter über ihr beugte sich eine Gestalt über den Abgrund und streckte den Arm aus. Einer der Jungen? Morsche Rinde löste sich unter ihrer Hand vom Holz. Sie wischte sie weg, hielt die Sprosse fest, zog das rechte Bein hinterher.
Windtänzers Hände an ihren Knöcheln und Hüften flößten ihr das Gefühl von Sicherheit ein. Er rief irgendetwas, doch der Sturm riss seine Worte unverstanden in die Tiefe.
Weiter, die nächste Sprosse, mach schon, alte Frau …
Fast neunhundert Kilometer hatten sie in einem Luftschiff Baujahr 188 zurückgelegt. Das wartete jetzt sechs Tagesreisen entfernt auf einer Lichtung zwischen hundertneunzig Marsjahre alten Ginkgos. (zwei Erdjahre entsprechen ziemlich genau einem Marsjahr) Das letzte Wegstück hatten sie zu Fuß und zu Wasser zurücklegen müssen. Der Uralte wünschte technisches Gerät weder zu sehen noch zu hören. Im Umkreis seiner Grotte – genauer: im Umkreis von zweihundert Kilometern – durfte niemand ein Fahrzeug benutzen. Jedenfalls niemand, der Wert darauf legte, ihn zu sprechen.
Der Gedanke machte sie wütend. Sie war maßlos erschöpft, ihre Knochen schmerzten, ihre Füße brannten. Ein Bannkreis von zweihundert Kilometern! Unglaublich! Sie nahm sich vor, den Uralten ihre Ansicht über so viel Verbohrtheit wissen zu lassen.
Statt alter Weißholzrinde berührte sie jetzt eine warme, kräftige Hand. Sie seufzte vor Erleichterung. Die Hand schloss sich um ihre und zog sie nach oben. Geschafft! Endlich wieder festen Boden unter den Sohlen! Sie blickte in Schwarzsteins perlmuttfarbenes Jungengesicht. Trotz des Sturms und der Aufstiegsmühen lachten seine schwarzen Augen. Der Wind hatte ihm einige seiner tausend weißen Zöpfchen aus der Kapuze seiner groben Leinenjacke gezerrt und spielte mit ihnen.
Hinter ihr nahm Windtänzer die letzten Sprossen der Leiter.
»Wir sind da!« Er richtete sich auf, lächelte sein gütiges Lächeln und ordnete Schals und Tücher auf seinem Mantel und um seinen Kopf. »Hier irgendwo werden wir ihn finden!« Sein ansonsten rund um die Pigmentierungen fast weißes Gesicht war leicht gerötet, und in seinen dunkelgrünen Augen leuchtete die Vorfreude auf das Wiedersehen mit seinem Lehrer.
Sie standen auf einem winzigen Hochplateau. Schon sechzig Schritte vom Kaminausstieg entfernt ragte die Steilwand weitere dreitausend Meter nach oben. Kaum ein Busch oder ein Farn wuchs aus ihr. Nur ein wenig Moos bedeckte das rötliche Gestein hier und da.
Der Seekrater gehörte bereits zum Grenzgebiet zwischen Waldgürtel und Wüste. Jenseits dieser Wand gab es noch höchstens hundert Kilometer weit Spuren pflanzlichen Lebens.
In dieser Einöde an der Grenze des durch Terraforming begrünten Siedlungsgebietes hauste der Oberste der Baumsprecher, der Uralte, während der Frühjahrs- und Sommerzeit. Seit Jahren, wie es hieß.
Sie sah sich um. Links lief das Plateau nach siebzig oder achtzig Schritten in einen schmalen Pfad aus, der steil anstieg, bevor er zwischen zwei Felsvorsprüngen in der Wand verschwand. Rechts verengte sich das Plateau schon nach fünfzehn oder zwanzig Metern zu einem Weg, der nahe am Abgrund um eine Felsnadel herumführte und dahinter ihrem Blickfeld entschwand.
Dort stand der zweite Junge. Etwas schien seine Aufmerksamkeit zu fesseln, denn er hielt den Kopf schräg und regte sich nicht. Nur sein langes blaues Haar flatterte im Sturm.
Lauschte er? Konnte er denn dort, wo er stand, etwas anderes hören als das Tosen des Sandsturms in der Kratersohle?
Plötzlich drehte er sich um und winkte. An Windtänzers Seite und hinter Schwarzstein her hinkte sie zu ihm. Ihre rechte Hüfte stach, und in ihren Kniegelenken raspelte die Arthrose mit grober Feile.
Über die Schulter sah Schwarzstein zu ihr zurück. Er gestikulierte erregt und rief ihr etwas zu, das sie nicht verstehen konnte. Er hatte es plötzlich sehr eilig. Die Sinne der Jungen schienen mehr wahrzunehmen als ihre. Eine Beobachtung, die ihre Stimmung noch weiter verdüsterte.
Nach der Felsnadel war das Plateau nicht viel mehr als ein achtzig bis neunzig Zentimeter breiter Sims zwischen Steilwand und Abgrund. In Hüfthöhe hatte jemand beringte Eisenkeile in den Fels getrieben und ein Seil durch die Ringe gezogen. Das diente als Geländer. Sie gab sich alle Mühe, das Seil – und nur das Seil – im Auge zu behalten, doch von Zeit zu Zeit wanderte ihr Blick dennoch nach rechts. Mehr als zweitausend Meter unter ihr wirbelte der Sturm Sand und Staub über den Kratergrund.
Grenztal nannten die Waldleute den Krater, und das Gewässer in seiner Mitte Grenzsee. Sie, die Städterin, hatte nie von einem Krater oder einem See dieses Namens gehört.
»Hörst du es?«, rief Windtänzer hinter ihr. Sie hörte den Sturm, der in der Tiefe toste und hinter und über ihnen durch Felskamine heulte. Doch den meinte der Baumsprecher wohl kaum. »Musik!« Er beugte sich nahe an ihr Ohr. »Er ist ganz nahe!«
Musik? Ganz nahe? Sie wusste zunächst nicht, wovon der Mann sprach. Erst als sie sich am Seil um den nächsten Felsvorsprung hangelte, hinter dem die beiden Jungen längst verschwunden waren, hörte auch sie die Klänge: ein summendes Raunen, ein heiseres Seufzen, langgezogen und vielstimmig, als würden geisterhafte Lippen auf Panflöten blasen.
Kalte Schauer rieselten ihr über Nacken und Rücken; sie zog die Schultern hoch und zuckte zusammen, als Windtänzer sie von hinten berührte. »Dort entlang!« Er wies auf eine schmale, aber an die hundert Meter hohe Felsspalte, in die der Weg mündete, der an dieser Stelle vom Felssims abzweigte.
Windtänzer legte den Arm um sie. Seite an Seite gingen sie zur der Spalte und zwängten sich hindurch, zuerst sie, dann der Baumsprecher. Von den beiden Jungen war nichts mehr zu sehen.
Dämmerlicht umfing das Paar für kurze Zeit. Sie sah nach oben – in einer Höhe von dreißig oder vierzig Metern berührten die Felswände sich beinahe; nur durch einen schmalen Spalt sickerte das letzte Tageslicht in die steinige Düsternis herab.
Die fremdartigen Klänge hallten durch die hohe, schmale Höhle.
»Weiter.« Windtänzer schob sie. Dutzende von Schritten entfernt schimmerte Feuerschein. Es roch nach Rauch. Die langgezogenen Töne schwollen an, die Spalte hoch über ihnen wurde breiter, und bald sah sie wieder ihren und des Baumsprechers Schatten.
Endlich traten sie ins Freie und fanden sich auf einem knapp dreißig Meter durchmessenden Plateau wieder. An allen Seiten stiegen Felshänge mehr oder weniger steil an. Neben der Felsspalte saßen die Jungen auf ihren Fersen und lauschten den seltsamen Klängen.
Vor einem Höhleneingang brannte ein Feuer. Nicht weit davon hockte ein knochiger Mann in einem schwarzen Mantel.
Bart und Haare waren weiß, seine Augen von einem leuchtenden Grün, das Gesicht rötlich, zerfurcht und erschreckend hohlwangig.
Der Uralte.
Er zog an irgendwelchen Schnüren, und jeder seiner Bewegungen folgten unweigerlich Veränderungen in der Klangfarbe der fremdartigen Musik. Die Schnüre waren mit hölzernen Röhren unterschiedlicher Länge und Dicke verbunden. Die Röhren hingen in Bündeln zu acht vor acht Felsspalten, aus denen der Sturm in die steinerne Lichtung hinein blies.
Windflöten? Eine Sturmorgel? Sie legte den Kopf in den Nacken und erkannte eines der Röhrenbündel zwanzig Meter über sich am Eingang der Spalte. Das vielstimmige Seufzen, Raunen und Summen drang aus den Röhren. Wie macht er das?
»Der Nachtwind flüsterte es in meinen Traum hinein, dass du kommen würdest, Windtänzer.« Der Uralte hörte nicht auf, an seinen Schnüren zu ziehen. »Wer aber sind diese da?«
»Sei gegrüßt, verehrter Sternsang.« Windtänzer verneigte sich, blieb jedoch stehen. »Das sind meine Schüler Aquarius und Schwarzstein. Und das ist die Dame Vera Akinora Tsuyoshi …«
»Was fällt dir ein, eine Frau aus den Städten zu mir zu führen?« Scharf fuhr der Uralte dem Baumsprecher ins Wort.
Wilder riss er jetzt an den Schnüren. Das Röhren, Orgeln, Summen und Tönen schwoll an und ab. »Noch dazu die ehemalige Präsidentin!«
»Verzeih, verehrter Sternsang, mein Meister, doch es ist eine Schwester …« Windtänzer suchte nach Worten. »Sie lebt schon seit Langem bei uns in den Wäldern, ich hab dir von ihr berichtet.«
»Friede, Licht und die Kraft des Waldes mit dir, verehrter Sternsang!« Vera Akinora Tsuyoshi verneigte sich ebenfalls.
»Ich habe Windtänzer darum gebeten«, kam sie dem Baumsprecher zur Hilfe. »Ich habe ihn sogar genötigt, mir den Weg zu dir zu zeigen, denn ein Unglück steht bevor.«
»Ein Unglück?« Der Uralte ließ die Schnüre seines Instrumentes los. Die gespenstische Musik verstummte.
»Sprich, Vera Akinora.«
»Eines unserer Raumschiffe bringt einen Erdenmann auf den Mars, verehrter Herr Sternsang.« Wieder deutete sie eine Verneigung an. »Wir müssen handeln, Oberster der Baumsprecher, wir müssen schnell handeln!«
Manchmal, wenn er nach oben blickte, rissen die Rauchschwaden auf, dann sah er den Vollmond in einem schmutzig roten Himmel hängen. Obwohl er auf einer Eisscholle stand, war es heiß; unerträglich heiß. Überall Qualm, überall Flammen, überall aufplatzender Erdboden und Eruptionen von Magma und Dampf. Wenige Atemzüge zuvor hätte es noch mindestens zehn großer Schritte bedurft, um den Rand der Eisscholle zu erreichen. Jetzt trennte ihn nur noch ein einziger Schritt von Rauch, Flammen und glühendem Gestein.
Und die Scholle schmolz weiter. Wie festgefroren stand er in ihrer Mitte. Wohin hätte er sich auch wenden sollen?
Zwischen Rauchschwaden und Brandherden entdeckte er weitere Eisschollen, die auf dem Glutsee schwammen, einige viele hundert Meter entfernt, andere sehr nahe. Auf einer stand breitbeinig ein Mann mit langem weißen Haar. Fanlur.
Langsam und reglos versank der Albino im Magma. Erst als die Glut ihm über die Hüfte stieg und seine Kleider und sein Haar bereits brannten, hob er die Rechte und winkte zum Abschied.
Einen Steinwurf weit entfernt trieb eine Eisscholle mit einer kahlköpfigen Frau vorbei. Sie schrie und gestikulierte wild, bevor sie im Feuer versank. Auf einer anderen Scholle hockte ein großer Kerl mit kantigem Kinn, lässig und entspannt. Er lachte laut, und lachte noch, als Rauchschwaden ihn längst eingehüllt hatten. Mister Darker, der alte Rebell, der Zaritsch von Moska, der Klon des letzten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Auf einer fernen Scholle sah er eine Frau und ein Kind rasch vorbeitreiben. Jenny und Ann. Traurig winkten sie ihm zu.
Eine Magmafontäne spülte sie samt ihrer Scholle hinweg. Er schrie laut und raufte sich das Haar.
Eine Leiche trieb zum Greifen nahe an ihm vorbei, eine Frau. Sie hatte die Arme ausgebreitet, ihr Haar wogte wie ein blauschwarzer Schleier im Magmastrom. Ein Langschwert, dessen Klingenspitze abgebrochen war, lag auf ihrem nackten, samtbraunen und mit aufgemalten Linien geschmückten Körper. Für einen Moment glaubte er, sie lebte noch, doch ihre Augenhöhlen waren leer. Er wollte ihren Namen rufen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Er wollte sich über den Rand seiner Eisscholle beugen, um die Tote aus dem Glutmeer zu reißen, doch er vermochte nicht, auch nur den kleinen Finger zu regen.
Ohne zu versinken und ohne zu verbrennen trieb die Frauenleiche davon, bis Flammen und Rauch sie schließlich seinem Blick entzogen.
Er weinte. Seine Tränen verdampften, während sie hinab auf seine Eisscholle schwebten. Er blickte ihnen nach und musste erkennen, dass auch das letzte Eis unter seinen Stiefeln verdampfte.
Dennoch versank er nicht. Im Gegenteil – eine unsichtbare Kraft hob ihn senkrecht nach oben und über alle Flammen, Rauchschwaden und Feuerfontänen hinaus in den schmutzig roten Himmel. Er legte den Kopf in den Nacken. Das Licht des Vollmondes blendete ihn …
Sein erster Traum nach fast neunzig Tagen.
Er begriff nicht sofort. Dass es ein Traum war, nicht, und dass er knapp drei Monate geschlafen hatte, sowieso nicht.
Noch drei oder vier Atemzüge, nachdem er die Augen zum ersten Mal wieder geöffnet hatte, hielt er das matte warme Licht über sich in der Decke für den Erdmond. Erst als ein Schatten den Lichtschein verdunkelte und eine Stimme fragte: »Wie geht es Ihnen?«, erst dann kehrte die Erinnerung zurück.
Nach und nach und in kleinen Fragmenten. Zuerst war sein Name wieder präsent: Timothy Lennox. Dann ein paar Zufälligkeiten seiner Existenz: das Gesicht seiner Mutter, Kaios Stimme, der Ort seiner Kindheit, Riverside, Marrela, die Air Force, die Community von London, die Yandamaaren, Queen Victoria, die Luftwaffenbasis in Köpenick, der Kratersee, Projekt Yandamaar, der Kometeneinschlag, Naoki Tsuyoshi, das Shuttle, ein kleines Mädchen namens Ann …
Mit all diesen Namen, Gesichtern, Daten und Orten hatte er zu tun, das war ihm rasch klar, nur was? Stammte er nicht aus der Vergangenheit? Korrekt. Der verdammte Zeitsprung! Die ganze Staffel hatte es fünfhundertvier Jahre in die Zukunft gerissen!
Und liebte er nicht eine Frau, eine Barbarin? »Marrela …« Er spürte die Bewegung seiner Lippen, hörte seine eigene heisere Stimme. »Marrela, wo bist du?« Er musste husten.
»Wir haben Sie aus dem Kälteschlaf geholt, Commander Lennox«, sagte die Gestalt, die das Licht über ihm verdunkelte.
»Es ist alles gut gegangen, Ihre Vitalwerte könnten nicht besser sein.« Sie sprach mit einer Frauenstimme. »Wir befinden uns bereits im Landeanflug. Noch siebzig Stunden bis zur Ankunft auf dem Mars.«
Kälteschlaf? Landeanflug? Mars?
Schlagartig fügten sich die Erinnerungstrümmer zu einem Bild zusammen: der Kampf gegen die Yandamaaren, die Nuklearbomben im Einschlagkrater, der Shuttlestart … die Katastrophe. Verfluchte Yandamaaren! »Der Teufel soll euch holen!«
Timothy Lennox fuhr hoch. Der Schatten über ihm zuckte zurück und gab das Deckenlicht frei. Irgendetwas fiel zu Boden. Er verstummte und blickte in ein zauberhaftes Frauengesicht: schmal, stark pigmentiert, dunkle Augen, ungewöhnlich lange Ohren, großer Mund, blau schimmerndes, schwarzes Haar. »Maya?«
»Ich bin es, Commander.« Sie lächelte. »Maya Joy Tsuyoshi. Kommt die Erinnerung allmählich zurück?«
Er nickte. Sein Kopf schmerzte vor heraufdrängenden Erinnerungen. Naoki und er waren zum Mond geflohen, im Shuttle. Dort dann die Leute vom Mars …
Marsmenschen! War es denn wirklich wahr?
Jemand hatte einen Anschlag auf Naoki verübt … richtig, diese so genannte Ratsdame, Meta Paxton. Tim streckte sich.
Sein Nacken schmerzte, seine Fußsohlen brannten, jeder Atemzug fiel ihm schwer. Also gut, Marsianer. Und jetzt?
»Haben wir es denn wirklich verdient, von Ihnen verwünscht zu werden?« Die Männerstimme von rechts klang vorwurfsvoll. »Wo wären Sie denn jetzt, wenn Sie uns nicht getroffen hätten?«
Timothy Lennox wandte den Kopf. Ein Mann stand da an seiner Liege – ja, er ruhte auf einer breiten Liege, von der etliche Kabel zu irgendwelchen Geräten führten. Über zwei Meter groß war er, dazu ziemlich dürr, wie die meisten dieser Typen.
»Verwünscht? … Ach so, nein. Ich meinte die Yandamaaren, nicht Sie!« Ein Mediziner; der Name fiel ihm wieder ein: Palun Sandoval, der Bordarzt der …
PHOBOS! Plötzlich war auch der Name des Raumschiffes wieder da. Sie hatten die Daten aus Naokis Kristall auf den Bordrechner geladen – das Bewusstsein ihres Sohnes, wie sie zu spät erkannt hatten. Da war Kaio bereits in den Computer eingedrungen und hatte den Anschlag auf seine Mutter miterleben müssen. In Folge dessen war der virtuelle Kaio durchgedreht und hatte nicht einmal mehr auf seinen alten Freund Timothy Lennox gehört. [1] »Wie geht es Ihrem Bordrechner?«
»Wir haben ihn nicht mehr aktiviert, seitdem Lorres und Sie ihn abschalten konnten«, sagte eine dritte Stimme. »Er schläft quasi, genau wie Sie geschlafen haben. Der Sekundärrechner hat uns nach Hause geflogen. Aber danke der Nachfrage. Und wie fühlen Sie sich?«
Der Mann von der Erde hob den Blick. Am Fußende der Liege stand der dritte Mann. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er auch ihn einordnen konnte: der Pilot und Kommandant der Mondstation, Leto Jolar Damarr.
»Ich würde sagen: beschissen«, antwortete Tim ohne Umschweife. Die drei hochgewachsenen, zerbrechlich gebauten Menschen – Nachfahren der ersten und gleichzeitig letzten Mars-Expedition aus dem Jahr 2009 – blickten sich an.
Der Mediziner runzelte die Stirn, Maya feixte, und Damarr schnitt eine angewiderte Miene. Die Wortwahl des erwachten Tiefschläfers schien sie zu befremden. »Wie lange war ich abwesend?« Tim Lennox hatte andere Sorgen.
»Sie haben siebenundachtzig Tage im Kälteschlaf zugebracht«, sagte Sandoval. »Wie vereinbart.«
»Sie neigen zur Schönfärberei, Palun.« Tim schwang die Beine über die Bettkante. Seine Kniegelenke knackten.
»Vereinbart …« Er schnaubte verächtlich. »Sie haben mir das aufgedrückt, würde ich sagen.« Er bemerkte einen dünnen transparenten Schlauch, der seinen entblößten Unterarm mit einem halb gefüllten Plastikbeutel verband. »Ich möchte ihn sehen.«
»Wen möchten Sie sehen?« Mit dem Fuß schob Maya ein Paar Stiefel an die Liege heran.
»Den Mars.« Tim stieg in die Stiefel und bemerkte dabei, dass sie ihm neue Kleider verpasst hatten. Seine alte Kombination war bereits auf dem Mond verbrannt worden, und mit ihr alle Habseligkeiten und Erinnerungen an sein früheres Leben.
Der Bordarzt zog die Nadel mit dem Infusionsschlauch aus seinem Unterarm, sprühte einen Verband auf die Einstichstelle, und streifte den Jackenärmel darüber.
Stoff und Farbe kamen Tim merkwürdig fremd vor.
»Einverstanden. Folgen Sie uns … Commander Lennox.«
Maya ging zur Glastür.
Tim war das kurze Zögern nicht entgangen. Vermutlich war es ihr unangenehm, ihn mit seinem militärischen Rang anzusprechen, zumal die Marsianer in den Erdbewohnern kriegerische Wesen sahen.
»Nennen Sie mich ruhig Tinnox«, sagte er und dachte wehmütig an Jawie Tsuyoshi, die ihn bereits so genannt hatte.
Sie lebte nicht mehr; Kaios »Geist in der Maschine« hatte sie auf dem Gewissen. »Ich bin daran gewöhnt.«
Maya Joy war stehen geblieben. Sie nickte dankbar.
»Gern … Tinnox.« Es klang ungewohnt aus ihrem Mund.
Tim stieß sich von der Kante der Liege ab – und sackte sofort wieder zurück. Schwarze Nebel tanzten vor seinen Augen, seine Knie waren weich.
»Langsam!« Palun Sandoval packte seinen linken Arm und hielt ihn fest. »Wenn man so lange in der Horizontalen zugebracht hat, muss man sich erst wieder an den aufrechten Gang gewöhnen.«
»Tief durchatmen.« Von rechts stützte ihn nun Maya. »Noch einmal und mit offenem Mund.« Sie warteten drei Atemzüge ab. Dann zogen sie ihn behutsam hoch und führten ihn zur Glastür.
Kein Glas, transparenter Kunststoff, korrigierte sich Tim.
Mit jedem Schritt verflog der Schwindel ein Stück mehr, und bald spürte er wieder Kraft in seinen Knochen.
Sie ließen die Druckausgleichskammer hinter sich. Durch den etwa vierzig Meter langen Hauptgang der Mittelebene gingen sie zum Bug, wo die Kommandozentrale lag. Leto Jolar Damarr schritt jetzt voran. Er hinkte ein wenig. Rechts trug er eine Unterschenkelprothese, auch daran erinnerte sich Timothy jetzt wieder. Seine eigenen Schritte wurden indes kräftiger – und länger, federnder.
Das mochte an der im Vergleich zur Erde geringeren Anziehungskraft des masseärmeren Mars liegen, dessen Verhältnisse auch hier an Bord herrschten. Deswegen waren die Marsianer ja so groß und dünn. Die Kraft, die sein in ihren Augen muskulöser und untersetzter Körper für einen Vier-Meter-Sprung benötigte, mussten sie für einen durchschnittlichen Schritt aufwenden.
»Was geschieht jetzt?«, wollte der Mann von der Erde wissen.
»Wir gehen zur Zentrale, Tinnox. Wohin sonst?« Die kühle und hochnäsige Art, mit der Leto Jolar Damarr ihm noch immer begegnete, ärgerte Tim. Mit jedem Wort, mit jeder Geste gab ihm der Pilot zu verstehen, dass er ihn nicht leiden konnte. Dass der fast dreißig Zentimeter kleinere Mann von der Erde bei solchen Gelegenheiten zu ihm aufblicken musste, kam Damarr dabei sehr entgegen. »Sie wollen doch den Mars sehen, oder haben Sie es sich anders überlegt?«
»Natürlich will ich den Mars sehen.« Nach Tims Geschmack hätte der Pilot ruhig ein wenig höflicher sein können. Vor allem nachdem er, der Barbar von der Erde, wesentlich geholfen hatte, den Primärrechner und mit ihm Kaios durchgeknalltes Bewusstsein abzuschalten. »Ich meinte selbstverständlich, was danach geschieht.«
»Wir werden drei Tage im Orbit kreisen.« Maya antwortete an Stelle des Piloten. »Zeit für Sie, sich der niedrigeren Schwerkraft, dem geringeren Luftdruck und dem sauerstoffärmeren Atemgasgemisch auf unserem Planeten anzupassen.« Maya lächelte. »Und Zeit für mich, Ihnen noch ein wenig Sozialkunde zu vermitteln.«
»Schöne Aussichten.« Obwohl er darauf brannte, die Marskolonie endlich kennenzulernen, meinte Timothy Lennox es ernst. Die Kommandantin war die einzige an Bord, die ihm so etwas wie menschliche Nähe vermittelte. Er mochte Maya Joy Tsuyoshi. »Was passiert mit der Queen Victoria?« Sein Blick erfasste die Silberkette um Mayas schlanken langen Hals.
Sie also trug jetzt den Datenkristall mit Kaios Bewusstsein.
Was für ein gefährliches Schmuckstück …
»Ich werde das Shuttle zunächst einmal zu unserer Werft auf Deimos fliegen«, sagte Leto.
Der Mann aus der Vergangenheit brauchte einen Augenblick, bis er sich erinnerte: Deimos und Phobos – die beiden kleinen Monde des Mars. »Dort werden wir uns die Maschine noch einmal genau anschauen und vor allem dekontaminieren. Danach komme ich mit ihr zum Mars.«
»Gehen Sie mir pfleglich mit der Queen um, Damarr, sie ist mir ans Herz gewachsen.« Lennox fixierte wieder den Kristall auf Mayas gewölbter Brust. »Was haben Sie mit den Daten vor, Mrs. Tsuyoshi?«
»Dame Tsuyoshi«, korrigierte sie ihn. »Die alten angelsächsischen Anredeformen benutzt bei uns so gut wie niemand mehr. Ich werde den Datenkristall selbstverständlich dem Rat aushändigen. Genau wie Sie, Tinnox, und wie die sterblichen Überreste meiner Urahnin.«
Tim deutete auf den Kristallanhänger. »Sie sollten Kaios Gedächtniskopie besser unter Verschluss halten.«
»Es sind nur Daten, Tinnox«, mischte Damarr sich wieder ein. »Wir werden den gleichen Fehler wie bei der ersten Reaktivierung gewiss kein zweites Mal begehen.«
»Trotzdem.«
»Warum?« Er spürte Mayas verwunderten Blick von der Seite.
»Nur so ein Gefühl.«
Sie erreichten das Ende des Hauptgangs. Leto Damarr legte die flache Hand auf einen Sensor, und das Schott zur Kommandozentrale öffnete sich. Durch das bogenförmige Portal gelangten sie in den Passagierraum.
Dessen zweiundzwanzig Sitze waren leer, und eine geschlossene Luke verdeckte den Blick in das eigentliche, dreisitzige Steuerzentrum. Die restlichen Überlebenden der Mannschaft hielten sich hinter der Luke in der Bugspitze und in den anderen Abteilungen der PHOBOS auf.
Tims Blick fiel sofort auf eines der großen Rundfenster.
Dort schimmerte ein rötlicher Lichtrand im All. Marslicht! Er war wie elektrisiert.
Damarr öffnete eine Luke in der rechten Wand. Sie traten hindurch und stiegen die kleine Treppe zur Außenkuppel hinauf. Maya wischte sich verstohlen die Augen aus, in denen es feucht schimmerte.
Tim Lennox konnte diese Gefühlsaufwallung zunächst nicht einordnen, doch dann machte er sich klar, dass diese Menschen monatelang im All und auf dem Mond gewesen waren. Für sie war es eine Heimkehr.
Die blasenförmige Erhebung auf dem Bug war transparent und ihr durchsichtiges Material so hochgradig rein, dass man es nicht wahrnahm. Der Eindruck, durch keinerlei Schutzwand von der schwarzen Unendlichkeit getrennt zu sein, erschreckte Timothy Lennox für einen Augenblick. Doch schon im nächsten gab er sich der Faszination des Nachbarplaneten hin.
Wie eine auf der Nordhälfte von grünen und blauen Schlieren überzogene Kupferkugel hing die fremde Welt im Kosmos. Weite rötliche Flächen dehnten sich über die gesamte sichtbare Kugel aus. An einer Stelle war das Terraforming besonders weit fortgeschritten; hier erkannte Tim eine weitläufige grüne Fläche und in direkter Nachbarschaft ein blau glitzerndes, großes Gewässer – entstanden vermutlich aus dem Aqua Norte, dem gefrorenen Eismeer, und dem Schmelzwasser der Nordpolkappe. Hier musste der Landeplatz der BRADBURY liegen, des Raumschiffs der ersten Siedler, und die Städte, die sich im Verlauf von fünfhundert Jahren entwickelt hatten. Die Kommandantin hatte ihm davon erzählt.
»Und, Tinnox?« Damarrs Stimme klang heiser, Stolz schwang in ihr mit. »Was sagen Sie?«
Der Erdenmann aus der Vergangenheit sagte gar nichts. Der Anblick des roten Planeten, der gar nicht mehr so rot war, hatte ihm die Sprache verschlagen.
Eine Zeitlang saß der Uralte wie erstarrt. Seltsam leer blickte er vor sich hin. Vera Akinora begann sich Sorgen um seine Gesundheit zu machen, denn seine schmalen Schultern waren nach unten gesunken und seine langen knochigen Hände lagen wie leblos auf seinen spitzen Knien. Er sah aus wie ein Mann, aus dem von einem Atemzug auf den anderen sämtliches Leben gewichen war.
Windtänzer trat näher an das Feuer heran. »Hörst du, was die Dame Tsuyoshi sagt, Weltenwanderer? Mit dem Erdmann wird wahrscheinlich neues Wissen, vielleicht sogar neue Waffentechnik, in jedem Fall aber der ewige Zwist und unausrottbare Hader des verfluchten Erdgeschlechts in unsere Heimat eingeschleppt. Wir müssen …«
Der Uralte winkte ab. Er fixierte die Frau streng. »Wie kommt ihr zu diesen Neuigkeiten?« Zum ersten Mal schaute er ihr in die Augen – und sie ihm. Erstaunliche Augen – das Feuer der Jugend brannte in ihnen, und ein Lebenswille, den Vera Akinora bei sich selbst schon lange nicht finden konnte. Hatte Windtänzer nicht gesagt, der Erste Baumsprecher sei neunundsechzig Marsjahre alt, also noch acht Marsjahre älter als sie selbst?
»Meine Tochter kommandiert die PHOBOS«, sagte sie.
»Das Raumschiff startete Ende vergangenen Jahres zur Mondstation. Dort fanden sie den Erdenmann. Bei ihm war eine Frau aus dem Hause Tsuyoshi, eine Blutsverwandte der Erzmutter Akina. (eine der ersten Siedlerinnen auf dem Mars) Sie lag im Koma und soll inzwischen tot sein.«
Vera Akinora machte eine Pause, um dem Alten Zeit zu geben, das Gehörte aufzunehmen. Doch der gestikulierte ungeduldig, weil er mehr hören wollte.
Sie erzählte ihm, was sie wusste, und schloss: »Der Rat hat meiner Tochter befohlen, den Mann zum Mars zu bringen. All das trug mir über verschiedene Boten ein guter Freund zu, der Verbindung zum Rat hat.«
»Ihre Tochter Maya ist meine Vertraute«, fügte Windtänzer hinzu. »Deren Tochter Nomi wiederum wächst bei uns und ihrer Großmutter auf. Maya Tsuyoshi steht auf unserer Seite, auch sie lebte eine Zeitlang bei uns. Zusammen mit ihrer Tochter und der Dame Vera Akinora.«
Die Gestalt des Uralten straffte sich wieder; er bedeutete der Frau und den drei Männern, näher zu treten, und wies auf einige flache Sitzgelegenheiten nahe des Feuers. Sie waren mit einem Geflecht aus Pflanzenfasern überzogen, sodass Vera Akinora das Material darunter nicht erkennen konnte.
Die vier Besucher nahmen Platz. Die beiden Jünglinge murmelten schüchtern ihre Grüße. Vor allem den jüngeren, den blauhaarigen Aquarius, verstand man schlecht. Er verneigte sich ständig, während er sich niederließ, und wagte kaum den Blick zu heben. Der Greis, den Windtänzer Meister und Sternsang genannt hatte, quittierte es zunächst mit flüchtigem Nicken und bedeutete ihm endlich, damit aufzuhören. Aquarius gehorchte und saß still. Eine längere Phase des Schweigens folgte.
Über Aquarius wusste Vera Akinora wenig. Vor zwei Jahren war er aus den kargen Wäldern um die Elysium-Seen in die Waldgebiete östlich von Phoenix gezogen. Mit nichts als seinen Kleidern auf dem Leib und einem Brief seines Sippenbaumsprechers an Windtänzer. Seitdem folgte er dem Meister, wohin dieser ging.
Er hatte lange Glieder, sehr große und blaue Augen und etwas dunklere Haut als Schwarzstein, und weit weniger Pigmentflecken als der. Es hieß, Aquarius könne die Aura anderer Menschen sehen und ihre Gedanken und Gefühle erspüren.
Der Uralte blickte grübelnd in das schwelende Feuer. Seine Augen kamen Vera Akinora plötzlich größer vor, und ein feuchter Glanz lag in ihrem hellen Grün. Windtänzer und seine Schüler hockten auf den Fersen und betrachteten ihre gefalteten oder auf den Oberschenkeln liegenden Hände. Der Himmel über dem Felskesselgrund verdüsterte sich zusehends, im Feuer knisterte verglühendes Holz, und aus den Holzröhren vor den Felsspalten summte und flüsterte ein monotoner Klangstrom.
Der Feuerschein spiegelte sich in einem Schmuckstück am schwarzen Pelzmantel des Uralten. Groß wie eine Kinderhand war es und fesselte Vera Akinora Aufmerksamkeit. Es bestand zum größten Teil aus einem gelben, mit roten Edelsteinen besetzten Metall, hatte die Form eines Kreuzes und hing an der rechten Brustseite des Pelzmantels, also direkt über dem Herzen des alten Mannes.
Sicher kannte Vera Akinora das Symbol des Kreuzes, und als historisch gebildete Frau wusste sie auch um seine Bedeutung für jene große Religion, die ihre Vorfahren einst zusammen mit der Erde hinter sich gelassen hatten. Vom Vorkommen eines derart intensiv leuchtenden roten Edelsteins auf dem Mars wusste sie jedoch nichts. Diese Wissenslücke wäre noch zu erklären gewesen, denn das Waldvolk kannte viele Dinge, von denen man in den Städten keine Ahnung hatte. Ein gelbes Metall allerdings, das auf diesem Planeten geschürft wurde, müsste sie kennen. Immerhin hatte sie vor Jahren als Präsidentin der Regierung vorgestanden, und jede Tonne Metall, die aus dem Marsboden gewonnen wurde, gleich welcher Art, war sorgfältig dokumentiert über ihr Arbeitspult gegangen. Tatsache aber war: Sie hatte ein solches Metall noch nie zuvor gesehen.
Irgendwann fasste der Uralte wieder nach den Griffen an den Schnüren seiner Holzröhren und begann daran zu ziehen.
Sofort schwoll der Klangstrom von oben an und füllte die Luft über dem Plateau mit Summen, Heulen und Flüstern. Es war, als würde ein Chor toter Seelen aus dem Jenseits raunen. Vera Akinora zog die Schultern hoch. Sie fror, und sie hatte Hunger.
»Narren, Hohlköpfe, Dummbärte!«, zischte der Greis.
»Keine Speise des Kosmos, kein noch so geheimes Wissen wird sie jemals wirklich satt machen! Keine noch so kühne Kunst wird sie jemals befriedigen! Immer darauf bedacht, ihre Macht zu vergrößern und den Raum für ihre gefährlichen Spiele zu erweitern, wollen sie immer mehr und mehr und greifen nach allem, das Fortschritt und Wachstum verheißt. Ha! Wachstum der Bosheit! Fortschritt über den Rand des Abgrunds hinaus! Wie sie ihr eigenes Verderben lieben!«
Mit düsteren Worten geißelte er die Städter und ihr Vertrauen in Wissenschaft und Technik.
Vera Akinora hörte nichts wirklich Neues; fast langweilte der Uralte sie. Sie wusste doch selbst, welche Gefahr ein Erdenmann für das sorgsam austarierte politische Gleichgewicht auf dem Mars darstellte. Zumal einer, der leidlich zivilisiert erschien, wie Maya andeutete, ja, sogar über grundlegende Theorien und Fertigkeiten irdischer Wissenschaft und Technik verfügte. Nicht umsonst hatte sie die Waldleute aufgefordert zu handeln; nicht aus Vergnügen hatte sie sich auf den beschwerlichen Weg zum Obersten ihrer Baumsprecher gemacht. Doch war sie noch immer Diplomatin genug, um den geheimnisvollen Mann nicht zu unterbrechen. Höflich mimte sie die Aufmerksame, während ihre Blicke Einzelheiten in der Nähe des Feuers und vor der Einsiedlergrotte zu erfassen suchten.
Über das exotische Kreuz und die verrückten Sturmflöten hinaus gab es da noch jene Waffen über dem Höhleneingang.
Gekreuzte Klingen, lang und gekrümmt und mit fantastisch geschmückten Griffen. Oder das hölzerne Instrument rechts des Höhleneingangs. Sein Klangkörper verengte sich in der Mitte, wie die Taille einer jungen Frau, und von seinem Steg liefen vier Saiten zur Spannmechanik in kunstvoll spiraliger Schneckenform. Sie suchte in ihrer Erinnerung, aber sie konnte sich nicht entsinnen, ein derartiges Instrument je gesehen zu haben, abgesehen natürlich von Abbildungen in den Datenbanken der Zentralverwaltung. Sie wusste nicht einmal, wie man so ein Ding bezeichnete.
Oder der Tierschädel links des Höhleneingangs. Seine Augen reflektierten den Feuerschein, und aus seinem pelzigen Schädel ragte ein vielfach verzweigtes Gehörn. Sicher – aus Lyvia Paxtons Genkugeln waren mehr und mehr Tierarten des so genannten Alten Lebens entsprungen; man konnte sie gar nicht alle kennen. Zusammen mit der expandierenden Flora breiteten sich viele Gattungen über den Planeten aus, deren Existenz und Bestand noch nicht erfasst war, doch das Tier, dessen Schädel da neben der Höhle des Schamanenführers hing, kannte Vera Akinora nicht einmal vom Hörensagen.
Wanderer, so nannte Windtänzer seinen Lehrer manchmal; oder auch Weltenwanderer. Angesichts der fremdartigen Gegenstände fragte sie sich, was dieser Titel zu bedeuten hatte; und was genau es war, das Windtänzer noch zu lernen hatte, wenn er zweimal im Jahr aufbrach, um seinen alten Meister aufzusuchen.
Sternsang war endlich verstummt. Die Altpräsidentin nutzte die Gelegenheit und ergriff das Wort. »Du sprichst die Wahrheit, verehrter Herr Sternsang, deine Worte sind klar, und ich kann ihnen nur zustimmen. Doch was nun? Wenn der Erdmann bei den Städtern bleibt, wird er unter den Einfluss jener Fraktion gelangen, die schon lange darauf drängt, auf der Erde nach wissenschaftlichen und technischen Innovationen zu forschen. Sie wollen das alte, verderbte Wissen für den Mars nutzbar machen, daran kann kein Zweifel bestehen, und der Erdmann wird ihnen dabei helfen, denn ihn zieht es natürlich nach Hause.«
Der Uralte schwieg. Finster brütend starrte er ins Feuer.
»Nur ein Wort von dir, verehrter Herr Sternsang«, fuhr Vera Akinora fort, »und dein Volk wird sich aufmachen und den Fremden aus den Händen der Blinden und Narren befreien.«
»So ist es«, pflichtete Windtänzer bei. »Wir müssen ihn entführen. Am besten so schnell wie möglich, oder er wird sie infizieren mit seinem Gedankengut!«
»Entführen?« Schwarzstein ergriff das Wort. »Wohin denn entführen? Zu einer Sippe des Waldvolkes? Damit er dort Anhänger und Komplizen gewinnt?« Er ballte die Fäuste; eine Zornesfalte stand zwischen seinen weißen Brauen. »Wir müssen ihn töten!«
Sein Lehrer und der Uralte blickten ihn schweigend an, Windtänzer mit mildem Tadel, Meister Sternsang streng und zornig. Er hob gebieterisch die Hand. »Töten? Du bist ein Schüler des Baumsprechers und redest vom Töten? Die solche Reden führen, werden den Versuchungen des Erdmannes als erste erliegen.«
Schwarzstein senkte beschämt den Blick.
»Rechne es seiner Jugend zu, Meister«, sagte Windtänzer beschwichtigend. »Ich werde ihn angemessen bestrafen.«
Wieder verstummte der Uralte. Mit der Rechten seine Windorgel bedienend, warf er mit der Linken Holz und Reisig ins Feuer. Danach stierte er brütend vor sich hin. Bis er irgendwann tief durchatmete. »Nach dem Ende der Bruderkriegs vor hundertdreißig Marsjahren sah einer unserer ersten Lehrer in die Zeiten, die noch kommen würden«, sagte er leise. »Er sah hundertdreißig Jahre des Friedens – und danach einen falschen Propheten, der denkt, wie man auf der Erde zu denken pflegte, der Kampf predigt und Zwist sät. Einen, der die Wälder verderben und das Waldvolk ins Unglück stürzen wird.« Er hob den Schädel. Ernst und Würde gingen von ihm aus. Erst sah er die beiden Jungen, dann Vera Akinora und zuletzt Windtänzer an. »Es sei denn, einige Tapfere finden sich, dies noch im Keim zu verhindern.«
»Wir werden ihn also entführen?«, fragte Vera Akinora.
Wie ein warmer Strom wogte die Erleichterung durch ihren erschöpften Körper.
Der Uralte nickte langsam. »Geht listig vor, kein Verdacht soll auf uns fallen. Holt ihn und versucht ihn zu den Lehren des Waldvolkes zu bekehren.«
»Und wenn er sich nicht belehren lässt?«, fragte Windtänzer.
»Dann wird er den Rest seines Lebens in Ketten verbringen, allein und hier in der Einöde dieser Grenzregion, wo die Seelen unserer Mütter und Väter ihn bewachen werden.«
»Wann?« Kerzengerade saß Kassadra auf der Kante ihres Sessels. Man wurde nicht jeden Tag zur Ratspräsidentin gerufen.
»Sofort.« Der Mann im Display schien seine gelangweilte Miene gründlich einstudiert zu haben. Irgendein Sekretär im Vorzimmer des Vorzimmers des Sekretärs der Chefsekretärin der Präsidentin. Kassadra hätte ihm gern etwas über Stil und sprachliche Gepflogenheiten Ratsmitarbeitern gegenüber erzählt, und es wäre nicht besonders herzlich ausgefallen, doch sofort klang irgendwie dringend, und sie hatte keine Zeit zu verschwenden. Also unterbrach sie einfach die Verbindung.
Das junge Männergesicht im Display ihres Armbandrechners verblasste. »Schraubenwurm!« Sie lehnte sich zurück, verdrehte die Augen und seufzte. Termin bei der Ratspräsidentin! Was um alles auf dem Mars hatte das jetzt wieder zu bedeuten?
Wehmütig blickte sie erst nach rechts, wo auf einem Lesepult zwei aufgeschlagene Bücher lagen – Originalquellen –, und dann auf das Hauptdisplay ihres Arbeitsterminals. Die Übersetzungen der alten Texte hätten in drei bis vier Stunden fertig sein sollen. Es ging nur um Vorstudien zur eigentlichen Forschungsarbeit, die man ihr anvertraut hatte – eine Untersuchung des Einflusses antiker monotheistischer Religionen auf die Außenpolitik irdischer Großmächte. Seit gestern Abend sollte die Übersetzung erledigt sein.
Aber gut, jetzt war ein Gespräch bei der verehrten Dame Präsidentin angesagt. Worüber auch immer.
Kassadra seufzte, bückte sich nach der untersten Schublade ihres Arbeitspultes und zog sie bis zum Anschlag auf. Ganz hinten, sorgfältig gebettet unter dem Seidensäckchen mit ihrem abgeschnittenen Haar und zwischen noch verpackten Stapeln von Visitenkärtchen lag ein dunkelrot schillerndes Chitin-Etui.
Ein Erbstück ihrer Großmutter. Kassadra holte es heraus, die Lade schob sie mit dem Fuß zu.
Einen Augenblick saß sie reglos mit dem Etui in den Händen und lauschte ihrem Herzschlag: deutlich beschleunigt und schon im Hals spürbar. Wie ärgerlich! Immer dieses Gefühl, auf dem Prüfstand zu stehen! Wann würde sie jemals lernen, Gesprächen mit ranghöheren Persönlichkeiten gelassen entgegenzusehen? Andererseits kannte Kassadra niemanden, der gelassen zu einem Termin bei der Ratspräsidentin ging; geschweige denn gern. Cansu Alison Tsuyoshi galt als unberechenbar, unter anderem.
Sie schob Tastatur und Exzerptzettel zur Seite, öffnete das Etui und entnahm ihm einen Stoß Karten. So viel Zeit musste sein. Während sie mischte, schloss sie die Augen und murmelte vor sich hin. »Wird sie mich in die Baumschulen der Grenzgebiete versetzen, oder wird sie mich zur Beraterin befördern? Habe ich gute Nachrichten zu erwarten oder schlechte?« Mit einer einzigen routinierten Bewegung warf sie die Karten so auf das Pult, dass sie zu einem Halbkreis auseinander fächerten.
Die Karten waren abgegriffen, manche geklebt. Frauen aus fünf Tsuyoshi-Generationen hatten sie benutzt. Auf den ehemals schwarzen und inzwischen dunkelgrauen Rücken trugen alle dasselbe Motiv: eine stilisierte Darstellung des Sonnensystems. Die Planeten konnte man nur noch undeutlich erkennen, die Sonne und die wenigen Sterne waren mit echtem Gold aufgeprägt und glänzten auch nach zwei Jahrhunderten noch.
Kassadra öffnete die Augen und ließ ihre Rechte dicht über dem Halbkreis aus Karten schweben, dabei wiederholte sie in Gedanken ihre Fragen. Sie deckte die erste Karte auf: eine Pyramide mit dreieckiger Grundfläche aus der Vogelperspektive, an jeder Ecke ein Sonnenrad. Die Arbeitskarte. »Viel Arbeit, großes inneres Engagement gefordert …« Sie schüttelte den Kopf und spähte zu den aufgeschlagenen Quellentexten. »Sehr witzig.«
Die zweite Karte zeigte die zu einer Acht gerollte Riesenschlange; in jedem der beiden so entstandenen Kreise leuchtete das uralte Symbol der ewigen kosmischen Dialektik, das Zeichen für Yin und Yang. Die Karte des Wechsels. »Wie bitte?« Kassadra runzelte die Stirn. »Also doch Baumschule?«
Seufzend deckte sie die dritte Karte auf. »Bitte nicht …«
Kassadra biss sich auf die Unterlippe. Vor einer blasenartigen Kulisse mit allerhand Getier – mit eigenen Augen hatte Kassadra auf dem Mars bisher nur die Schlange und eine Abart des Skorpions gesehen – tanzte ein Skelett mit einer Sense. Die Todeskarte. »Mist!«
Hektisch räumte sie die Karten zusammen, verstaute das Etui wieder in der untersten Schublade und sprang auf.
»Arbeit, Veränderung, Tod und ein Termin bei der Ratspräsidentin …«
Sie lief zu ihrem Garderobenschrank, brachte ihr kurzes weißes Haar mit drei, vier gezielten Handgriffen in die gewünschte Unordnung. »Herzlichen Glückwunsch, Kassadra Tsuyoshi!« Sie zog sich ein schwarzes Kunstseidenjäckchen über den roten Ganzkörperanzug und stieg in schwarze, extrem hochhackige Stiefeletten, die ihre für marsianische Verhältnisse mit einem Meter achtundachtzig geringe Körpergröße kompensieren sollten. Dann raus aus dem Arbeitsraum und durch den Gang zu den Liften. Das Knallen ihrer Absätze hallte von den Wänden wider.
Während sie in der eiförmigen Kabine nach oben glitt, ging ihr einer der Lieblingssätze ihrer Großmutter durch den Kopf: Jede Veränderung ist ein kleiner Tod.
Die Lifttüren glitten auseinander. Vor der hohen, gewölbten Fensterfront war es längst Abend geworden. An den Ausgängen zur Terrasse, am Ratssaal und an den Portalen zu den Bürotrakten der Ratsmitglieder vorbei lief Kassadra zur Bürosuite der Präsidialverwaltung.
Außenterrasse, Fensterfront und Gang umgaben das mehrstöckige Herzstück der Marsregierung wie eine ovale Fassung einen Edelstein. Die Terrasse war von jedem Bürotrakt der Ratsresidenz aus zugänglich. Unterhalb dieser monumentalen Gebäudespitze glitzerte das Kunstlichtmeer der abendlichen Skyline von Elysium, über der gläsernen Deckenwölbung glitzerten die Sterne. Sie betrat das Foyer der Präsidialsuite.
Mach dich nicht verrückt, die Todeskarte muss ja nicht gleich auf den physischen Tod hinweisen!
An der Sicherheitskontrolle gab sie ihre persönliche Kennzahl ein und verharrte ein paar Sekunden im Detektorbereich.
Bei den Monden – wie viele Tode muss man nicht sterben, bevor man für immer die Augen schließt. Das Ende einer Beziehung, das Ende eines Arbeitsverhältnisses – das sind doch alles kleine Tode, das hat Großmutter doch gemeint …
Ein Schott schob sich auf, Kassadra betrat einen großen Büroraum.
Todeskarte und Wechselkarte korrespondieren also miteinander, klar, wie aber passt die verdammte Arbeitskarte da rein?
An zehn Terminals vorbei – die meisten waren mit jungen Männern besetzt – schritt sie zum nächsten Schott. Das öffnete sich automatisch. Wie immer, es sei denn, der Zentralrechner hatte beim Abgleichen der persönlichen Kontrollzahl mit dem Zentralregister irgendwelche Auffälligkeiten entdeckt.
Kontakte mit Wurzelfressern zum Beispiel, illegale Waffenkäufe, oder so was in der Art. Kassadra betrat einen Raum, in dem drei Männer und eine Frau an Rechen- und Kommunikationsterminals arbeiteten.
Arbeit, Wechsel, gravierende Veränderungen – also doch ein neuer Auftrag? Ein Aufstieg in den Beraterstab des Rates womöglich? Alt genug bin ich ja. Höchste Zeit für einen Karrieresprung. Hab ich nicht verdammt gute Arbeit abgeliefert? Hab ich nicht eine Menge Erfahrung gesammelt?
Ein Sessel im Beraterstab … Wann denn, wenn nicht jetzt?
Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Hinter einem der Terminals erkannte sie den Kerl, der ihr die Vorladung zur Präsidentin an den Kopf geworfen hatte. Sie blieb stehen, ging zu ihm und stützte sich auf seinem Pult auf. »Ich werde Sie der Präsidentin für einen Grundkurs in Kommunikationstechniken vorschlagen.« Flüchtig registrierte sie sein Namensschild: Ein gewisser Curd Renatus aus dem Hause Paxton. »Thema: Wie gebe ich Informationen angemessen an wissenschaftliche Assistenten des Rates weiter? Möglicherweise haben Sie dann doch noch eine Chance, das zu lernen.« Ihre Stimme klirrte vor Kälte, die wächserne Haut des Mannes färbte sich rosa.
Zum nächsten Raum führten vier Stufen hinauf. Dort arbeiteten zwei Frauen aus dem Hause Tsuyoshi; im nächsten, nach wiederum vier Stufen, die Chefsekretärin der Präsidentin, ebenfalls eine Tsuyoshi. Die begleitete sie persönlich weitere vier Stufen hinauf in das Büro der Präsidentin.
Cansu Alison Tsuyoshi stand auf der Terrasse, als das holzverkleidete Schott sich öffnete. Sie trat durch die offene Terrassentür und blieb stehen.
Kassadra ging zu ihr. »Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Abend, Dame Cansu Alison«, sagte sie. Unter vier Augen duzte Kassadra ihre Cousine und sprach sie mit Vornamen an. Die Begrüßung seitens der Präsidentin fiel denkbar knapp aus, Kassadra hatte nichts anders erwartet.
»Ich muss dich versetzen, Kassadra.« Wie immer hielt die Ratspräsidentin sich nicht mit verschnörkelten Einleitungen auf. »Ich brauche dich vorübergehend an anderer Stelle.«
Na also! Haben die Karten nun Recht oder nicht? Der Aufstieg in den Beraterstab, endlich! Wird auch Zeit!
Die Ratspräsidentin taxierte sie kühl, ihre Miene blieb undurchdringlich. Ein einziger Gedanke machte Kassadras Vorfreude zunichte – und wenn es nun doch zu den Baumschulen ging?
Das Herz rutschte ihr in die Leistengegend.
»Du bist Historikerin.« Die Präsidentin schritt zu ihrem Pult, nahm dahinter Platz und wies mit flüchtiger Handbewegung auf einen freien Sessel davor. Kassadra setzte sich.
»Spezialgebiet Erdgeschichte.« Cansu Alison Tsuyoshi sah auf einen Monitor, dessen Frontseite Kassadras Blicke nicht erreichten. »Und du bist Sprachwissenschaftlerin. Das Projekt, an dem du gerade arbeitest, ist wichtig …« Aufmerksam las sie die Informationen auf ihrem Bildschirm. Ihr Personendossier, wie Kassadra annahm.
Cansu Alison Tsuyoshi war von schmaler, fast zerbrechlicher Gestalt. Selbst von unterdurchschnittlicher Körpergröße – zweihundertzwei Zentimeter – überragte sie Kassadra doch noch um vierzehn Zentimeter. Cansu Alison galt als kühl, pragmatisch, machtorientiert und konservativ. Sie hatte es nicht aus Versehen zur Ratspräsidentin gebracht: Von Jugend an setzte sie alles auf die Karrierekarte – Hobbys, Freizeit, Liebe, Partnerschaft, Kinder. Sie lebte nur für ihre Arbeit.
»… eine wichtige Untersuchung, ja, muss aber warten. Ich habe eine noch wichtigere Aufgabe für dich. Sie wird nur wenige Tage Zeit in Anspruch nehmen.« Cansu Alison hob den Kopf und richtete den Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen auf die Ältere und dennoch Attraktivere. »Du weißt, dass die PHOBOS den dritten Tag im Orbit kreist?«
Kassadra nickte.
»Morgen früh, kurz nach Sonnenaufgang, wird sie landen.«
Die Ratspräsidentin drehte den Monitor zu Kassadra um. »Sieh ihn dir an.«
Kassadra empfand wenig Sympathie für ihre Cousine. Vor allem deren herrische Art verabscheute sie. Und es ärgerte sie insgeheim, dass Cansu, obwohl fünf Marsjahre jünger als sie, so weit über ihr auf der Karriereleiter stand. Sie schüttelte den Ärger ab und konzentrierte sich auf den Monitor. Er zeigte das Bild eines ungewöhnlich kräftig gebauten Mannes mit kurzem blonden Haar. Er hatte keine Pigmentstreifen im Gesicht!
»Ein Erdenmann«, sagte die Präsidentin. »Ein hässlicher Bursche, ich weiß, und vermutlich genauso ungehobelt in seinen Umgangsformen, wie er aussieht. Trotzdem wirst du ein paar Tage in seiner Nähe bleiben müssen.« Sie fixierte Kassadra. »In seiner unmittelbaren Nähe, meine ich.«
»Ich verstehe nicht ganz.« Kassadra war enttäuscht. Kannte Cansu Alison denn ihre Qualitäten nicht? »Wer ist dieser Mann?«
»Die PHOBOS hat ihn auf dem Erdmond aufgelesen.«
Cansu lehnte sich zurück und legte die Arme auf die Sessellehne. Die Nägel ihrer langen Finger waren metallic-grün gefärbt. »Wenn es nach mir gegangen wäre, würde er auch jetzt noch dort sein Leben fristen – oder auch nicht. Aber der Rat wollte ihn unbedingt persönlich verhören, also hat Maya Joy ihn hergebracht. Es ist noch nicht ganz klar, was danach mit ihm geschehen wird.« Ein freudloses Lächeln flog über das Gesicht der Präsidentin. »Das heißt, mir ist es schon klar, doch im Rat herrschen naturgemäß unterschiedliche Ansichten, besonders wenn es um solch lebenswichtige Angelegenheiten geht.« Sie schwieg und musterte ihr Gegenüber.
Wenn Kassadra das ausdruckslose Gesicht und die Wortwahl der Präsidentin richtig deutete, hatte der Erdmann keine schöne Zukunft zu erwarten, vielleicht überhaupt keine, falls Cansu Alison sich im Rat durchsetzen sollte. Doch was ging sie das an?
»Und ich soll den Erdmann bis zum Verhör durch den Rat bewachen, Dame Ratspräsidentin?«, fragte sie zweifelnd.
»Betreuen und begleiten. Bewachen wird ihn ein Sonderkommando. Es wird sich immer in Sichtweite zu euch aufhalten. Betreuen und begleiten wirst du ihn auch nur vordergründig. Mein eigentlicher Auftrag für dich lautet so: Prüfe die Geschichten, die er erzählt, auf ihre historische Wahrheit. Er behauptet nämlich, aus der Vergangenheit der Erde zu kommen! Sammle so viele Informationen über ihn, wie du kannst. Das war‘s.«
Die Ratspräsidentin erhob sich, und Kassadra blieb nichts übrig, als es ihr gleich zutun. »Kann ich nicht noch ein wenig mehr erfahren?«
»Ich lasse dir das Dossier des Gefangenen auf dein Terminal schicken.« Cansu Alison Tsuyoshi kam um das Pult herum, blieb vor Kassadra stehen und musterte sie von oben bis unten.
»Der Erdbursche ist nur eins fünfundachtzig groß, also drei Zentimeter kleiner als du. Wir wollen ihn nicht unnötig entmutigen, zieh also flache Schuhe an und toupier dein Haar nicht so hoch.«
Wut und Enttäuschung machten Kassadras Stimme heiser, als sie sich verabschiedete. Beides wuchs mit jedem Schritt, während sie durch die Vorzimmer stelzte, denn auf einmal dämmerte ihr eine niederschmetternde Einsicht: Es gab viele Historiker und etliche Sprachwissenschaftler auf dem Mars.
Aber es gab kaum jemanden, der den Erdenmann nur um wenige Zentimeter überragte. Wahrscheinlich hatte Cansu sie einzig und allein ihrer unterdurchschnittlichen Größe wegen für diese undankbare Aufgabe ausgesucht.
Ein grauer Steinbrocken, unförmig und zerklüftet, als diene er kosmischen Titanen als Zielscheibe für Schießübungen, so hing der innere und größere der beiden Marssatelliten, Phobos, unter dem gleichnamigen Schiff. Unheimlich wirkte er, vollkommen öde und irgendwie abweisend.
Spiegelte er nicht die klammen Erwartungen wider, die Timothy Lennox befallen hatten, seit er hier oben allein in der Aussichtskuppel der PHOBOS stand und den Anflug auf den Mars beobachtete? Weiß Gott, das tat er!