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Nele, die Kerne eines Apfels aß, der angeblich aus Eden stammte, lebte viele hundert Jahre lang und wanderte in vielen Zeiten durch die Welt. Doch damit ist sie nicht die einzige von Zamorras Freunden, die das tat. Da ist noch ein Zeitenwanderer, der eine Zeitlang zu Zamorras Team gehörte - und den sie noch nicht kennt.
Doch ein Treffen der beiden ist - ironischerweise - in diesem Fall nur eine Frage der Zeit ...
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Seitenzahl: 148
Cover
Impressum
Die Zeitenwanderer
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Arndt Drechsler
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-0815-0
www.bastei-entertainment.de
Die Zeitenwanderer
von Adrian Doyle
Dylan McMour fuhr auf der Stadtautobahn von Edinburgh, als ihn ein sogartiger Schwindel erfasste.
Wenige Augenblicke zuvor hatte er sich noch über ein Graffito amüsiert, das längst von der Tagesaktualität überholt worden war; es forderte die dauerhafte Loslösung Schottlands vom britischen Commonwealth. Das entsprechende Votum war bekanntermaßen gescheitert – was niemand mehr bedauerte als der Schotte am Steuer des nigelnagelneuen Range Rovers.
Dylan McMour keuchte erstickt auf, als ihm – so fühlte es sich jedenfalls an – ein brennender Eiszapfen ins Gehirn getrieben wurde und sein Bewusstsein auslöschte. Sein letzter Gedanke galt Harriet, ohne die er das Haus im Stadtteil Danderhall besichtigt hatte – dann raste der SUV ungebremst in die Mittelleitplanke und ging in Flammen auf …
Freie und Hansestadt Hamburg, im Jahr des Herrn 1521
»Aaaah …!«, stöhnte der Pestkranke und versuchte, sich aus den Fesseln zu winden, die ihm Magus Schorer angelegt hatte.
»Weiter! Nicht aufhören, Junge, du machst das gut!«
Julius stellten sich die Haare zu Berge. Es war das erste Mal, dass der Meister nicht selbst Hand anlegte, sondern ihm das Messer überlassen hatte. Und schon der erste Schnitt in eine der durch Salben gereiften Geschwüre, die den kompletten Körper des uralt aussehenden Dreißigjährigen bedeckten, kostete den Gehilfen des Medikus unmenschliche Überwindung. Am liebsten hätte er die Klinge fallen lassen und wäre schreiend davon gerannt.
Aber Magus Schorers Stimme hatte etwas so Hypnotisches, dass er sich ihr nicht widersetzen konnte. Erneut führte er die Spitze des Messers in eine der eitrig gelben Beulen und brachte sie zum Platzen. Die Spannung in der Blase war so groß, dass ein Spritzer Julius’ linkes Auge traf. Nicht nur der Patient bäumte sich auf, weil die Schmerzen kaum zu ertragen waren, auch Julius krümmte sich, als sein Auge zu brennen begann, als wäre es mit ätzender Brühe in Kontakt gekommen. Sein Blick verschwamm linksseitig, aber mit dem gesunden Auge musste er mit ansehen, wie er die Klinge aus dem Affekt heraus mit einer unbedachten Bewegung zu einer der Körperstellen lenkte, die noch kein Geschwür verunstaltete. Der Stahl glitt fast widerstandslos ins Fleisch des Mannes, der das Seine dazu beitrug, dass das Messer bis zum Heft in die Brust getrieben wurde.
Augenblicklich erschlaffte der Tobende. Unheimliche Stille senkte sich über den Raum.
Julius war starr vor Entsetzen. Was dann geschah, schien sein Meister kommen zu sehen, denn er rief noch warnend: »Nein! Nicht!« Aber es war bereits zu spät. In einem törichten Reflex zerrte Julius die Klinge dort aus der Brust, wo sie zwischen zwei Rippen geglitten war, und sofort ergoss sich eine wahre Fontäne von Blut über Meister und Gehilfe. Wo das Blut auf die schwarzen Roben traf, wurde es förmlich absorbiert.
»Das … das wollte ich nicht! Meister – ich …«
Albertus Schorer schob ihn grob beiseite und entwand ihm gleichzeitig die Klinge, auf der sich eitriges Gelb mit verdorbenem Rot mischte. Das Messer verschwand in einer der zahllosen Falten seines Mantels. Mit kühler Stimme erteilte der Meister seine Instruktionen und brachte Julius dazu, seine Lähmung zu überwinden.
Zuerst brachten sie die Blutung zum Stillen, dann säuberten sie den Bereich, wo der Stahl ins Herz gedrungen war. Die tödliche Wunde war nur münzgroß. Magus Schorer verwendete das Harz der Rotbuche, um sie zu verschließen. Anschließend salbte er und puderte er die Stelle, bis sie niemandem mehr aufgefallen wäre, der nicht von ihrer Existenz wusste. Die schwarzgelben Geschwüre lenkten den Blick ohnehin davon weg.
»Mein guter Ruf wird leiden, fürchte ich«, brummte Schorer. »Ein wenig zumindest.« Julius zog den Kopf in Erwartung von Schlägen zwischen die Schultern. Aber der Meister brummte nur: »Sei’s drum. Hier war nichts mehr zu machen. Die Leute haben uns zu spät gerufen. Hörst du? Wer immer dich fragt: Wir wurden zu spät geholt!«
Julius nickte wie unter Krämpfen. »Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Herr!«
»Das dachte ich«, konnte Schorer sich nicht verkneifen, doch noch Salz in die Wunde zu reiben.
Julius senkte den Blick.
»Pack du zusammen«, wies der Medikus ihn an, »während ich mit der Witwe spreche.«
Als Schorer nach einer Weile zurückkehrte, saß Julius auf dem Dielenboden neben der speckigen Ledertasche, in der er die Werkzeuge und Ingredienzien des Heilers verstaut hatte, und versuchte zu verarbeiten, dass er es gewesen war, der die letzte Hoffnung des Kranken und seiner Familie zerstört, seinem Leben ein abruptes Ende gesetzt hatte.
»Hoch mit dir, Junge! Unsere Arbeit ist noch nicht erledigt.«
Hinter dem Meister tauchte kurz die Frau des Toten auf. Sie warf einen scheuen Blick auf den Leichnam, presste die Faust gegen den Mund und machte dann auf dem Absatz kehrt. Schluchzend verschwand sie im Flur.
»Es ist alles geregelt«, versicherte Schorer. »Er zeigte auf den verstorbenen Pestkranken. »Ich habe ihn ihr abgekauft.«
»Abgekauft?«, echote Julius verständnislos.
»Im Dienste der heiligen Wissenschaft«, behauptete Albertus Schorer. »Hilf mir, ihn in die Kutsche zu verfrachten.«
***
»Wie geht es deinem Auge? Es ist stark gerötet. Soll ich dir Tropfen geben, damit du nicht erblindest?«
Daran, dass sein Augenlicht gefährdet sein könnte, zumindest halbseitig, hatte Julius noch keinen Gedanken verschwendet. Aber sein Meister wusste, auch was das anging, gewiss, wovon er sprach. »Wenn Ihr so gütig sein wollt …«
Albertus Schorer kramte in einem der Schränke und träufelte Julius eine klare Flüssigkeit in das betroffene Auge, dessen Juckreiz sofort schwächer wurde.
»Danke, Herr!«
»Du kannst jetzt schlafen gehen«, sagte Schorer und warf einen Blick zu dem Leichnam, den sie sofort nach ihrer Rückkehr zwischen den allseitig angebrachten Regalen, vollgestopft mit Tiegel, Glaskolben und handgeschriebener Folianten, aufgebahrt hatten. »Den Rest erledige ich allein.«
Über den Raum verteilt brannten so viele Kerzen, dass das wabernde Licht es beinahe mit dem Sonnenlicht hätte aufnehmen können. Die Unzahl von Kerzen kostete übers Jahr gerechnet gewiss ein Vermögen, doch an Geldmitteln mangelte es Schorer nicht. Allein in der Zeit, die Julius bei ihm lebte – nicht ganz ein Dreivierteljahr – hatte er mehrere als hoffnungslos geltende Fälle behandelt und zur Gesundung geführt. Die Geheilten hatten ihm die »Wunder« vergoldet. Soweit Julius es mitbekam, hatte Schorer nie eine so horrende Summe gefordert, wie die meisten offenbar aus freien Stücken bereit waren zu zahlen. Im Gegenteil war er mehrfach Zeuge geworden, wie dem Meister die Goldmünzen förmlich aufgedrängt worden waren.
Es gab aber auch etliche Fälle, in denen Schorer sich, wie heute, in Gegenden der Elbstadt begab, wo er kein oder allenfalls ein bescheidenes Entgelt erwarten durfte. Obwohl Julius, seit Schorer die Vormundschaft für ihn übernommen hatte, in Gegenwart des Medikus nie ganz seine Beklemmung hatte ablegen können, begegnete er dem Heilkundigen mit aufrichtigem Respekt. Nicht zuletzt, weil Schorer ihn, den Waisen, bei sich aufgenommen und ihm eine Anstellung geboten hatte. In der ersten Zeit war es Julius schwergefallen, seine Furcht vor dem Schwarzen Tod im Zaum zu halten. Aber Schorer hatte ihm geholfen, seine Ängste zu überwinden.
Unwillkürlich tastete Julius nach der Gemme, die Schorer ihm mit dem Versprechen überlassen hatte, dass sie ihn gegen jede Anfeindung der Pestilenz schützen werde.
Julius hatte sich darauf eingelassen und es nie bereut. Bis heute jedenfalls nicht. Denn seit heute klebte Blut an seinen Händen. Er konnte sich noch so oft sagen, dass der Pestkranke mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ohne die »ausgerutschte Klinge« vor seinen Schöpfer gerufen worden wäre, es änderte nichts an seinem Schuldgefühl. Während der Heimfahrt durch die Straßen der Stadt waren sie an einem halben Dutzend Kreuzungen vorbeigekommen, wo Feuer kontrolliert abgebrannt wurden, um die »Luft von Pestilenzerregern zu reinigen«. Julius hatte erwartet, dass der Meister ihn noch einmal auf den Unfall ansprechen würde. Doch dem war nicht so gewesen. Für Albertus Schorer schien das Kapitel abgeschlossen zu sein. Jedenfalls was die Schuldfrage oder eine Verfolgung derselben betraf.
Julius wünschte, er hätte sein Gewissen mit Reden erleichtern dürfen und zögerte deshalb, als Schorer ihn zu Bett schicken wollte.
»Herr …«
Manchmal sahen die Augen seines Vormunds aus, als wären sie aus einem nicht schmelzenden Eis geformt. Die Farbe erinnerte an Packeis, wie es in harten Wintern den Fluss unbefahrbar machte. Und es gab Momente, da hätte Julius geschworen, dass diese eisfarbenen Augen wahrhaftige Gletscherkälte verströmten.
Er schauderte.
»Was gibt es noch?«, klirrten ihm Worte entgegen, als würden Eisschollen gegeneinander reiben.
Julius sank das Herz in die Hose. »N-nichts. Gute Nacht, Meister. Wann soll ich Euch wecken?«
Auch das gehörte gemeinhin zu seinen Pflichten.
»Da ich nicht weiß, wie lange mich meine Forschungen heute noch beschäftigten, brauchst du mich morgen nicht zu wecken. Ich überlasse es ganz meinem Körper, wann er die Nachtruhe für beendet erklärt. Du weißt, wie du dir die Zeit vertreiben kannst – die üblichen Arbeiten, du weißt schon.«
Julius nickte, zögerte aber immer noch. »Braucht ihr keine Hilfe bei dem, was Ihr vorhabt? Ich könnte Euch assistieren, lernen …«
»Ich werde es dich wissen lassen, wenn das infrage kommt. Ich weiß ja, wo ich dich finde. Jetzt geh!«
Julius verneigte sich unterwürfig. Dann verließ er den Raum, in dem Albertus Schorer mit dem Leichnam des Toten zurückblieb. Julius hatte seinen Meister selten so aufgewühlt erlebt – und zugleich so angestrengt bemüht, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen.
***
Julius’ Nachtlager befand sich hoch unter dem Dachgebälk des Elbhauses. Die Sprossen der Leiter, die zu der Empore führte, wo der Waisenjunge sich sein gemütliches Nest – er nannte es so – hergerichtet hatte, lagen etwa eine Fußlänge auseinander. Julius war längst darin geübt, die steile Leiter hinauf in luftige Höhe zu klettern und sich dort in die handgewebten Decken zu hüllen, die Schorer ihm freundlicherweise überlassen hatte. An den eigentümlichen Geruch der Stoffe hatte er sich ebenso gewöhnt, wie an die exotischen Muster und Farben, die er so von seinem Elternhaus her nicht kannte. Schorer hatte erzählt, dass er sie von Händlern erworben hatte, der sie von weit jenseits des Südmeeres mitgebracht hatten. Vor dem Einschlafen vertrieb sich Julius oft die Zeit damit, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen und in seiner Vorstellung dorthin zu reisen, wo das Webwerk entstanden war. Dabei malte er um die wenigen Fakten, die sein Meister ihm dazu verraten hatte, sein ganz eigenes Bild jener Lande, wo die Menschen von dunkler Hautfarbe waren und auch eine ganz andere Haartracht pflegten.
Insgeheim wünschte sich Julius, eines Tages mit einem der Schiffe, die zwischen Abend- und Morgenland verkehrten, die riskante Überfahrt zu schaffen und herauszufinden, wie die sagenumwobene Fremde tatsächlich aussah. Er hatte so viele Fragen, was das große Unbekannte betraf: Wie lebte man dort? Wovon lebte man? Wer herrschte? Welchem Glauben huldigten die Bewohner der fernen Lande? Welche Sprache benutzten sie und konnte man sie als Fremder erlernen?
Seufzend zog er eine der Decken bis unter das Kinn und versuchte, sich von den Schrecknissen abzulenken, die dieser Tag ihm als Wunden in die Seele geschlagen hatte. Dass er das Vertrauen seines Meisters, der ihm die Klinge ausgehändigt hatte, um zu versuchen, was Albertus Schorer schon dutzende, vielleicht hunderte Male zuvor erfolgreich getan hatte, so drastisch enttäuscht hatte, wollte ihm keine Ruhe lassen. Auch den Ausdruck auf dem Gesicht der Witwe, die ihren von der Pest entstellten Gemahl kaum noch einmal anzuschauen wagte, würde er nie in seinem ganzen Leben vergessen, davon war er felsenfest überzeugt.
Selbst zum Schlafen verzichtete er nicht auf die Gemme des Meisters. Er bettete sie in seine linke Hand und schloss die Finger darum. Der bräunliche Stein war keine Schönheit; er erinnerte in seiner Beschaffenheit an versteinertes Holz, das von unbekannten Kräften für die Ewigkeit konserviert worden war. Der Formgebung nach hätte es sich tatsächlich um ein Wurzelgeflecht handeln können. Aber mochte die genaue Zusammensetzung auch ungewiss sein, sicher war, dass ihm ein Zauber innewohnte. Zumindest hatte Magus Schorer dies seinem Lehrling hoch und heilig versprochen. »Nicht Pest noch Cholera oder eine andere Heimsuchung werden dich befallen, wenn du den Stein ebenso hütest wie der Stein dich. Hast du verstanden, Junge? Hüte ihn wie deinen Augapfel, und du sollst es nicht bereuen!«
Julius fürchtete den Tag, da er die Gemme verlor oder sie ihm gestohlen wurde und er so ihren Schutz für immer verlieren würde. Seit Jahresbeginn suchte die Pest Hamburg heim; jeden Tag mussten seither neue Gräber ausgehoben werden, um die Opfer zu bestatten. Viele Helfer, die sich um die Kranken kümmerten, bezahlten ihre Nächstenliebe oder Pflichterfüllung mit dem eigenen Leben.
Julius hatte sich, kurz nach dem Tod seiner Eltern, in einer Phase von Schorer überreden lassen, den Medikus zu unterstützen, in der ihm das eigene Überleben nicht mehr wichtig gewesen war. Noch heute lastete ein Schatten jener Agonie auf ihm, die nach dem Verlust von Vater und Mutter leichtes Spiel mit ihm gehabt hatte. Dass er überhaupt wieder Lebensmut gefasst hatte, verdankte er einzig und allein Schorer, der ihn fast schon an Sohnesstatt bei sich aufgenommen und ihm versprochen hatte, ihn nach und nach in die Geheimnisse der Heilkunde einzuführen.
»Und in Dinge, die weit darüber hinausgehen«, hatte er damals verschwörerisch hinzugefügt.
Die Gemme schien einem Fundus zu entstammen, der sich aus Schätzen jenseits der Vorstellungskraft zusammensetzte. Julius wob auch diese märchenhafte Komponente in die Erschöpfung ein, die ihn binnen weniger Atemzüge nach Schließen der Augen einschlafen ließ. Noch ahnte er nicht, dass ihn keine Nacht wie sonst erwartete. Noch wiegte er sich im allumfassenden Schutz der Aura des Meisters.
Aber diese Nacht, dieser Schlaf, sollte anders sein als aller Schlaf zuvor. Aus Gründen, die Julius erst viel später begriff, brachen in dieser Nacht Dämme in ihm, die ihn, wie jeden anderen Menschen auch, von Geburt an von jener Urkraft ausschlossen, die älter als die Menschheit selbst war – älter als die älteste Zivilisation auf Erden.
Es begann ganz unspektakulär.
Julius träumte …
***
GegenwartFrankreich, LoireChâteau Montagne
»Du warst lange nicht mehr hier.«
Zamorra hatte Nicole nicht hereinkommen gehört. Ohne sich zu ihr umzudrehen, wartete er, dass sie neben ihn trat. Er stand in der Mitte des Raumes. Die exakte Mitte zu bestimmen, war nicht schwer. Die schwebende Miniatur der Erde markierte diesen Punkt. Niemand wusste, warum. Ebenso wenig wie jemand hätte sagen können, welche genaue Bewandtnis es mit dem sonderbaren Konstrukt hatte, das aus einem Knäuel magischer Fäden entstanden war, gefunden in einem entlegenen Bereich der Katakomben unter dem Schloss.
Nach Julians Verschwinden war Zamorra, das wurde er nicht müde zu betonen, nach wie vor überzeugt, dass der Magier bei der Erschaffung des kleinformatigen Erdzwillings seine Hände im Spiel gehabt hatte. Was genau er damit bezwecken wollte, würde sich vielleicht nie ganz klären lassen. Der Einzige, der es Zamorras Meinung nach gewusst hatte, war vor über einem halben Jahr von den Schatten entführt, möglicherweise sogar eliminiert worden.
Wobei dagegen spricht, dass wir immer noch in seinem schützenden Traum leben. Wäre er tot, könnte er ihn nicht weiterträumen. Und würde die Traummagie versiegen, wären Erde und Silbermond wieder unübersehbaren Gefahren ausgesetzt. Die Hot Spots würden neu erblühen. Die Hölle auf Erden bräche aufs Neue aus, und diesmal würde sie alles und jeden verschlingen – alles Nichtdämonische, Nichtschwarzblütige, Nichtgrenzenlosböse jedenfalls!
Er seufzte.
»Es lässt dich immer noch nicht los, nicht wahr?«
Sie schlang von hinten die Arme um ihn und schmiegte sich fest an seinen Rücken. Wie fast immer war sie von einer Wolke betörender Düfte umgeben. Zamorra genoss ihre Nähe, und für ein paar kostbare Augenblicke gelang es ihm, alle Probleme, alle Rätsel und Gefahren auszublenden, mit denen er sich sonst fast unablässig auseinandersetzte. Selbst durch den Stoff seines Hemdes und den noch dünneren ihrer Bluse waren ihre Brüste zu spüren. Warm und fest. Mit der Zeit wurden die Spitzen ihrer Brustwarzen so hart, als würden sich zwei Finger in seinen Rücken bohren. Er konnte nicht anders, als Lust zu empfinden. Aber gerade, als die Sehnsucht nach ihr unbeherrschbar wurde, durchlief die Miniaturerde vor ihnen eine Metamorphose.
Von einem Moment zum anderen schrumpfte sie auf Tennisballgröße – ohne dass dafür der geringste Grund ersichtlich wurde.
Zamorra hinderte Nicole nicht daran, sich von ihm zu lösen. Ihr erotischer Zauber, in dem er gerade noch geschwelgt hatte, wich den nüchternen Tatsachen.
»Warst du das?«
Er wusste nicht, ob sie ihre Frage ernst meinte. Aber vielleicht glaubte sie, dass er das Phänomen vor ihrem Eintreten eingeleitet hatte.
Hatte er nicht.
Und sagte er ihr auch.
»Aber was steckt dann dahinter?«
Manchmal hatte sie das Talent, Fragen in Serie zu stellen, auf die er beim besten Willen keine Antworten hatte.
Zamorra machte einen Schritt auf das zu, was von der gerade noch medizinballgroßen Erdkugel geblieben war und stellte fest, dass sich weit mehr als ihr Umfang geändert hatte. Bislang hatte sie detailgetreu die Topografie der Welt wiedergegeben. Mit dem Extra, dass, wenn man ein bestimmtes Gebiet mit dem Blick fixierte, es sämtliche Details, die das menschliche Gehirn verarbeiten konnte, zur Verfügung stellte. Solche Momente fühlten sich an, als würde ein Superzoom einsetzen und den Verstand regelrecht in den magischen Globus ziehen. Ein Wimpernschlag genügte, um sich davon zu lösen.
Zamorra testete, ob dieser Effekt immer noch abrufbar war – ohne Erfolg.
»Es geht nicht mehr«, sagte er und fügte die Erklärung hinzu, was er meinte. »Versuch du es.«
Nicole schwieg. Nach ein paar Sekunden sagte sie: »Rien ne va plus. Hat sich ausgehokuspokust!«
Zamorra tippte die Kugel an. Vor der Schrumpfung war dadurch ein weiterer Effekt zum Tragen gekommen: Für Augenblicke war die Planetenkugel verblasst und den kalt glitzernden Fäden jenes Knäuels gewichen, aus dem sich die Miniaturerde überhaupt erst geformt hatte.
Auch dieses Kunststück klappte nicht mehr.
»Eine verspätete Reaktion auf das Verschwinden ihres Schöpfers?«, fragte Nicole.
Sie gingen beide davon aus, dass sie es bei der Miniatur mit einer Hinterlassenschaft Julians zu tun hatten, auch wenn dafür nie der letztgültige Beweis erbracht worden war.
Zamorra zuckte mit den Achseln. »Ich würde es bedauern, wenn sie auch verschwände. Ich habe mich an sie gewöhnt.«