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Die Nächte im Garten Eden waren zum Horror geworden.
Über die Tage kam der einsame Greis hinweg. Eine menschenverlassene Welt in Farbe war zu ertragen.
Aber mit Einbruch der Dunkelheit ging auch dieser letzte schwache Trost verloren. Dann gab es kein Entkommen mehr von den düsteren Heimsuchungen, der Angst und der Verzweiflung.
In solchen Nächten zehrte er allein von der Erinnerung an sie. Sie, die gegangen war, um ihn zu retten.
Wie lange war das her? Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Und allmählich schwand auch die letzte Hoffnung auf Wiederkehr.
Bis, eines Tages ...
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Seitenzahl: 153
Cover
Impressum
Götterdämmerung
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Arndt Drechsler
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-1549-3
www.bastei-entertainment.de
Götterdämmerung
von Adrian Doyle
Die Nächte im Garten Eden waren zum Horror geworden.
Über die Tage kam der einsame Greis hinweg. Eine menschenverlassene Weltin Farbewar zu ertragen.
Aber mit Einbruch der Dunkelheit ging auch dieser letzte schwache Trost verloren. Dann gab es kein Entkommen mehr von den düsteren Heimsuchungen, der Angst und der Verzweiflung.
In solchen Nächten zehrte er allein von der Erinnerung ansie.Sie, die gegangen war, um ihn zu retten.
Wie lange war das her? Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Und allmählich schwand auch die letzte Hoffnung auf Wiederkehr.
Bis, eines Tages …
Wieder eine solche Nacht, in der an Einschlafen nicht zu denken war. Weil die Dunkelheit wie ein Gewicht auf ihm lastete und ihm die Luft zum Atmen nahm.
Nikolaus wälzte sich stöhnend hin und her.
Plötzlich schien die Temperatur in der Hütte zu fallen, und in der Schwärze war auf einmal Bewegung, die sein Herz zum Rasen brachte. Nicht aus Furcht, sondern weil unweigerlich die Hoffnung in ihm erwachte, es könnte endlich soweit sein.
»Nele? Nele, bist du das …?«
Doch er wurde bitter enttäuscht. Eine Stimme, weit davon entfernt, auch nur menschlich zu sein, wisperte an seinem Ohr: »Du musst der sein, von dem sie mir berichtete. Der lebende Tote …«
***
Vor diesem Moment hatte sich Nikolaus immer gefürchtet: dass nicht sie zurückkehren würde, sondern lediglich jemand, der sie getroffen hatte. Und der alles überbringen würde, nur keine guten Nachrichten.
Dann wurde es auf unwirkliche Weise hell. Ein Glanz wie von fernen Sternen zeichnete die Konturen des ungebetenen Besuchers nach, der in die Hütte des vergreisten Unsterblichen eingedrungen war. Eine Gestalt, die mühelos als Cambrone zu identifizieren war, als übermannsgroßes, mit Intelligenz ausgestattetes Insektenwesen. Vertreter einer Spezies, die Eden schon vor der Ankunft des ersten Menschen bevölkert hatte, aber vor nicht allzu langer Zeit fast vollständig ausgerottet worden war. So viel Nikolaus wusste, hatte seinerzeit nur ein einziger Cambrone – und das auch noch unter höchst mysteriösen Umständen – überlebt. Aufgrund dieses Hintergrunds hätte Nikolaus darauf getippt, Oz gegenüberzustehen. Aber dazu passten nicht die Worte, die das Furcht einflößende Geschöpf an ihn gerichtet hatte. »Du musst der sein, von dem sie mir berichtete …« Nele hätte Oz nicht erst von Nikolaus berichten müssen; sie waren einander mehrfach, auch noch kurz vor dem Aufbruch der Gruppe durch das Anomalie-Portal, begegnet. Das konnte Oz nicht vergessen haben.
»Lebender Toter?«, fragte er. »So hat sie mich genannt?« Er richtete sich mühsam auf. Seine brüchige Stimme spiegelte seine körperliche Verfassung wieder. Jachhwa hatte ihm gerade so viele Jahre zugemutet, wie von ihm mit der nötigen Langmut noch bewältigt werden konnten. Ohne dass er auf fremde Hilfe angewiesen war. Es verging kein Tag, an dem Nikolaus die Entität für diese »Gnade« nicht verfluchte. »Wenn ich mir vieles vorstellen kann – das nicht.«
Der Cambrone gab ein knarzendes Geräusch von sich. »Nein«, räumte er ein. »Ihre Wortwahl war um einiges gepflegter. Es war meine freie Interpretation dessen, was sie mir über dich erzählte.«
»Sie muss dir sehr viel Vertrauen entgegen gebracht haben, wenn sie dich an unserer Misere hat teilhaben lassen«, sagte Nikolaus. »Geht es ihr gut? Und den anderen auch? Wo genau habt ihr euch getroffen? Und wie, wenn ich fragen darf, lautet dein Name?«
»Du kannst mich Jad nennen. Mein wahrer Name ist für menschliche Zungen unaussprechlich.«
Ja, dachte Nikolaus. So war es auch schon bei Oz.
»Als wir voneinander getrennt wurden«, sagte Jad, »waren alle Mitglieder der Gruppe wohlauf. Sie wollten mir nicht glauben, dass sie nicht das gleiche Tor benutzen können, um zu ihrem Aufbruchsort zurückzukehren, weil diese Pforten allesamt Einbahnstraßen sind – meiner bescheidenen Erfahrung gemäß. Ich hätte ihnen gewünscht, dass ich mich irre, aber selbst mithilfe meiner kleinen Freunde gelang es mir nicht, den Durchgangsspalt lange genug für sie offen zu halten, dass sie mir folgen konnten.«
»Kleine Freunde?«
Unvermittelt löste sich das, was Jad wie eine Haut aus Licht umschmeichelte, von seinem Körper und schwebte ein Stück weit von ihm weg, als wäre es ein Schwarm aus Myriaden winziger Glühwürmchen.
Nikolaus war fasziniert und erschrocken zugleich.
»Das«, sagte Jad, »sind meine kleinen Freunde – oder Helfer. Was dir besser gefällt.«
»Was ist das?«
»Naniten.«
»Naniten?«
»Mikroskopisch kleine technische Wunderwerke. Ein jedes ein autarkes System für sich, aber jederzeit vereinbar mit anderen Naniten, sodass sie für fast beliebige Zwecke eingesetzt werden können. Momentan beschränkt sich ihr Job auf den einer Lampe.«
Nikolaus hatte Mühe, den Ausführungen des Cambronen zu folgen. Aber die Erleichterung, dass es Nele und den anderen offenbar soweit gut ging, überwog und ließ ihn über manches Detail dessen, was Jad in der Folge von seiner Begegnung mit Jachhwas Kundschaftern berichtete, großzügig hinwegsehen. Er erfuhr einiges von der Welt, die hinter der »geheimen Pforte« lag, und auch, wie Jad dorthin gelangt war.
Spätestens als der Cambrone erwähnte, nicht aus Eden zu stammen, sondern aus einer zwar verwandten, aber doch auch völlig fremden Sphäre, läuteten bei Nikolaus die Alarmglocken. Und dann sprach Jad auch noch von »seinem Gott Jachhwa«, der über seine Heimat wachte. Womit er das Fass zum Überlaufen brachte.
Konsterniert hakte Nikolaus nach: »Du stammst nicht von hier, nicht aus Eden? Und trotzdem heißt auch dein ›Gott‹ Jachhwa, siehst auch du trotzdem genauso aus wie die Cambronen, die noch bis vor Kurzem hier lebten? Habt auch ihr einen fliegenden Hort, in dessen Mitte ein stilisierter Baum aufragt?«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht, ich frage. Und vor allem frage ich mich, wie das möglich sein soll.« Er schüttelte matt den Kopf. »Du musst dich irren. Du kannst nur von hier stammen! Vielleicht spielt dir dein Gedächtnis einen Streich. Das Durchqueren der Portale könnte als Nebenwirkung Erinnerungstrübungen hervorrufen. Oder, noch schlimmer, Halluzinationen.«
Jad schien diese Möglichkeit komplett auszuschließen. Was einerseits beruhigend war, denn falls die Anomalie-Portale tatsächlich einen solchen Effekt gehabt hätten, wäre auch Nele davon betroffen gewesen.
»Ich stamme nicht von hier, das kann ich dir versichern. Diesem Glauben hingen auch deine Freunde anfänglich an. Aber ich habe sie schon allein dadurch überzeugt, dass dem nicht so ist, indem ich ihnen meine Nanitenkunst vorführte. Die Cambronen von Eden, so wurde mir gesagt, hatten mit Technik dieses Standards nie etwas am Hut. Kannst du das bestätigen?«
Nikolaus musste zugeben, dass dem so war – zumindest solange er in Eden weilte, hatten Jachhwas Schützlinge keinerlei Bezug zu wie auch immer gearteter Technologie gehabt. Sie waren reine Naturkinder, denen der schwebende Hort von Jachhwa geschenkt worden war, ohne dass sie das Prinzip seines schwerelosen in der Luft Ankerns auch nur ansatzweise durchschauten. Und dieses Prinzip beruhte nach Nikolaus’ Überzeugung auch nicht auf hoch entwickelter Technik.
»Der Jachhwa, den ich kenne«, sagte er, »verwendet keine Technik, sondern Magie. Deiner mag genauso heißen wie der, der hier das Sagen hat. Aber sie können unmöglich identisch sein.«
»Das habe ich auch nie behauptet«, erwiderte der Cambrone. »Ich war – und bin es noch – genauso überrascht wie du, als ich einem Cambronen begegnete, der nicht aus meiner Welt stammt. Und von einem Gott gleichen Namens hörte, wie der meine ihn trägt. Offen gestanden kam ich in der Hoffnung hierher, mit diesem Gott in Kontakt treten zu können. Kannst du zwischen uns vermitteln?«
Nikolaus lachte heiser auf. »Du hättest dir niemanden mit schlechterem Leumund aussuchen können!«
Jad setzte zu einer Erwiderung an. Seine Mandibeln bewegten sich auch, als würde er sprechen. Aber der Ton ging irgendwo auf dem Weg zu Nikolaus verloren. Der Cambrone war auch nur noch unscharf erkennbar. Nikolaus glaubte zuerst, es läge an seinen Augen. Aber die übrige Umgebung präsentierte sich unverändert klar. Die Trübung betraf nur Jad allein.
Nikolaus machte einen unbeholfenen Schritt auf das Insektenwesen zu, erreichte es aber nicht. Stattdessen prallte er schmerzhaft gegen ein unsichtbares Hindernis, von dem er zurückgestoßen wurde. Nur mit Mühe konnte er einen Sturz verhindern, und als er sich Jad erneut zuwenden wollte, war der Cambrone schon fast vollständig hinter wirbelnden Luftmassen verschwunden, denen das Insektenwesen offenbar nichts entgegenzusetzen hatte. Trotz seiner »Kinder« nicht, nach denen Nikolaus vergeblich Ausschau hielt. Wo war der Nanitenschwarm geblieben? Hatten die Luftwirbel auch ihn in ihre Gewalt gebracht?
Nikolaus überlegte, ob er versuchen sollte, dem Fremden zu Hilfe zu kommen. Aber in seinem alten, gebrechlichen Körper fürchtete er, wenig bis nichts ausrichten zu können. Das Einzige, was er erreichen würde, waren Knochenbrüche. Außerdem war ihm der Cambrone nach wie vor suspekt. Ein solches Risiko für jemanden einzugehen, der umgekehrt wahrscheinlich auch ihm nicht geholfen hätte, kam eigentlich nicht infrage.
Trotzdem haderte Nikolaus mit sich, weil er das Gefühl hatte, dass Jad ihm längst nicht alles Bedeutsame von seiner Begegnung mit Nele berichtet hatte.
Die Gewalt, die nach dem Cambronen gegriffen hatte, nahm ihm die Entscheidung ab. Der Wirbel verließ seine Position und entfernte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Dabei nahm er Jad mit, und als das unheimliche Brausen, das ihn begleitete, verklungen war, gab es auch von dem Cambronen keine Spur mehr.
Für Nikolaus bestand nicht der leiseste Zweifel, dass Jachhwa ihn zu sich geholt – nachdem er jedes gewechselte Wort belauscht und schließlich darauf reagiert hatte, was das Insektenwesen über sich und seine Herkunft angedeutet hatte.
Von einem anderen Eden, einem anderen Jachhwa war die Rede gewesen.
Nikolaus schwante Böses.
Der Jachhwa, den er kannte, duldete keinen Gott neben sich. Und erst recht keinen Zwilling, von dessen Existenz er bis zu diesem Tag nicht einmal hatte ahnen können.
***
Etwa zur gleichen ZeitWelten entfernt
Nele sah ihren Freund Paul Hogarth neben sich zu Boden fallen und sterben.
»Schon wieder drei Stunden um?« Sie seufzte. »Okay, wir rasten. Keiner von uns weiß, wo genau die magische Pforte liegt, zu der uns Jads Nanitenkugel lotsen soll – und wie weit es noch bis dorthin ist. Wir hätten den Cambronen fragen sollen, als wir noch Gelegenheit dazu hatten. Nun ist es zu spät.«
Denn Jad hatte geschafft, woran sie noch arbeiteten: Er hatte diese Weltensphäre verlassen. Über ein Schlupfloch, das ihnen verschlossen blieb. Wenn alles nach seinen Vorstellungen geklappt hatte, war er jetzt in Eden.
»Ich frage mich, wie Jachhwa ihn empfangen hat«, sagte Carrie, während sie neben dem ehemaligen Scotland-Yard-Detective in die Hocke ging, behutsam nach seinem Kopf fasste und ein paar kleinere Steine darunter wegräumte. »Das, was Jad an Informationen in sich trägt, ist eine tickende Zeitbombe. Falls Jachhwa darauf Zugriff erlangt, wird es ihn in noch größere Selbstzweifel stürzen als ohnehin schon. Seine Einzigartigkeit ist mit dem, was Jad ihm zu berichten hat, endgültig vom Tisch.« Das Mädchen mit der Regenbogenblumen-Gabe blickte fragend von einem zum anderen und verweilte schließlich bei Nele. »Macht euch das keine Sorgen?« Sie schnitt eine Grimasse. »Mir schon!«
Nele nickte. »Mir auch«, sagte sie. »Aber wir können es aktuell nicht beeinflussen. Jad entstammt einer Sphäre, die sich seinen spärlichen Schilderungen zufolge von Eden unterscheidet, dennoch gibt es auch dort Cambronen.«
»Und – was viel beunruhigender ist – auch eine Entität, die sich genauso nennt wie die, die wir aus Eden kennen: Jachhwa«, gab Carrie zu bedenken. Sie erhob sich und ging zu Oz, mit dem sie eine außergewöhnliche Freundschaft verband. Die aufrecht gehende Schrecke sah aus wie ein Gestalt gewordener menschlicher Albtraum.
Und doch hat Carrie das Gute darin entdeckt. Das Menschliche im absolut Unmenschlichen. Nele zollte dem kahlköpfigen Mädchen den Respekt, der ihm gebührte. Auf andere Weise als bei ihr selbst blickte auch Carrie auf ein außergewöhnliches Schicksal zurück. Als krebskrankes Kind hatte sie den Untergang Londons überlebt, von dem sich die englische Metropole bis heute nicht erholt hatte. Dabei war Carrie in Kontakt mit einer entarteten Kolonie von Regenbogenblumen gekommen; diese wiederum hatten in Carrie latente Kräfte erspürt, die offenbar mit der Magie der Blumen verwandt war. Entstanden war daraus eine in dieser Form einzigartige Mutation. Die Verquickung von Regenbogenblumen-Magie und kindlicher Unschuld hatte dazu geführt, dass Carrie nicht nur ihre schwere Krankheit hatte besiegen können. Sie war seither auch in der Lage, auf mannigfache magische Fähigkeiten zuzugreifen. Genau wie die Regenbogenblumen vermochte auch sie, Lebewesen und Dinge von einem Ort zum anderen zu befördern. Dazu brauchte sie, anders als die Blumen, aber keine »Gegenstation«, sodass diejenigen, mit denen sie Umgang hatte, auch eher von Teleportieren sprachen.
Carries Fähigkeit wies aber über den eigentlichen Transport hinaus noch eine Besonderheit auf, die ihren Vorbildern, den Regenbogenblumen, fremd war: Krankes wurde bei einem gemeinsamen Sprung geheilt, Defektes repariert!
Auf diese Weise hatte Carrie einst Nicole Duval gerettet – und selbst das Wesen, das über Eden herrschte, von dem Keim des Bösen befreien können, der seinen Ursprung unter London hatte und in Eden eingeschleppt worden war.
Ja, wir sind schon ein illustrer Haufen, dachte Nele. Aber noch mehr dachte sie an den Mann, der in Eden zurückgeblieben war, als Faustpfand der Entität Jachhwa.
Nikolaus …!
Ihr Herz floss über, wenn sie sich ins Gedächtnis rief, wie sie sich voneinander verabschiedet hatten. Und wie sie endlich hatte verstehen können, dass dieser Mann, mit dem sie einst ins Heilige Land aufgebrochen war, um Jerusalem zu befreien, sie selbst dann noch geliebt hatte, als sie zu einer alten Frau geworden war, während er selbst schon in Jugendjahren zu altern aufgehört hatte. Er hatte diese Liebe immer leidenschaftlich verfochten, als sähe er jenseits aller Falten und Furchen immer noch das blutjunge Mädchen, dem er zu Cöln begegnet und das er für seine Idee eines Kinderkreuzzugs begeistert hatte.
Tatsächlich begeistert war sie eigentlich immer nur von ihm gewesen, seinem Charisma, seinem tiefen Glauben, dass er von keinem Geringeren als Gott selbst den Auftrag erhalten habe, die Gassenkinder der Stadt um sich zu scharen und mit ihnen auf einen Feldzug zu gehen, wie es noch keinen davor – und auch keinen jemals danach wieder – gegeben hatte. Eine Armee ohne Waffen war mit ihm über die Alpen nach Italien gezogen, von wo sie Schiffe hatten finden wollen, um das Meer zu überwinden …
Nele merkte, wie sehr die Erinnerungen sie auch nach all den Jahrhunderten angriffen. Die Erinnerung vor allem an das Scheitern der Mission. An den Tod oder die Versklavung, der kaum ein Teilnehmer hatte entrinnen können. Sie selbst hatte es dank ihrer besonderen Gabe heimgeschafft; zuvor schon hatten Nikolaus und sie sich zerstritten und getrennt. Danach war er mit den wenigen verbliebenen Getreuen allein weitergezogen, in Gefangenschaft geraten, geflohen … und dabei auf wundersame Weise dorthin gelangt, wo sich ihrer beider Schicksale erfüllt hatten. Nikolaus hatte einen Weg nach Eden gefunden. Das Eden, das die Heilige Schrift beschrieb und in dem es tatsächlich einen Baum gab, wie Nikolaus viel später bei ihrem Wiedersehen berichtete, dessen Früchte nicht weniger als das ewige Leben zu schenken vermochten.
Und so war Nele als alte Frau in den Segen der Unsterblichkeit gekommen; Nikolaus hingegen hatte sie schon als Jüngling erlangt. Den Altersunterschied hatte Jachhwa, als er noch als »freundlicher Gott« über seine Schäfchen wachte, korrigiert, indem er ihre beider Körper anglich, bis sie aussahen wie Mittvierziger. Allzu jung hätte nicht die Reife widergespiegelt, die sowohl Nele als auch Nikolaus im Laufe ihres gut achthundertjährigen Lebens erlangt hatten.
Und so war eine Zeit lang ihr Leben in Eden perfekt gewesen. Bis Jachhwa – und das auch noch von Nele – erfahren hatte, dass ein dunkles Geheimnis seine Existenz überschattete. Ein Geheimnis, das ihm selbst nie bewusst gewesen war bis zu dem Moment, da Nele ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Ab diesem Moment hatte sich alles zum Schlechteren gewendet und schließlich in der Erpressung gegipfelt, dass Jachhwa Nele gezwungen hatte, für ihn herauszufinden, wer ihn vor Äonen erschaffen und quasi in Eden eingesperrt hatte. Ein Statthalter allenfalls, wenngleich mit machtvollen Fähigkeiten ausgestattet – die sich aber ausschließlich auf die Sphäre beschränkten. Die Sphäre, die er selbst auch nicht verlassen konnte; das hatte sein Schöpfer zu verhindern gewusst, so als hätte er dem Versuch, irgendwann nach ihm zu forschen, schon von vornherein einen Riegel vorschieben wollen.
Jachhwa hatte sich jedoch zu helfen gewusst. Er hatte Nikolaus zum Greis altern lassen und Nele für den Fall, dass sie seine Kundschafterin sein würde und für ihn nach seinem Schöpfer suchte, in Aussicht gestellt, diese Maßnahme wieder zurückzunehmen.
Mit anderen Worten: Entweder ich spure, oder Nikolaus bleibt für alle Zeit das, was ich war, bevor ich – auch von Jachhwas Gnaden – meine Jugendlichkeit wiederbekam.
Neles Gedanken fanden zum Ausgangspunkt ihrer Abschweifung zurück: zu dem Mann, den sie mehr liebte als alle andere auf der Welt.
Mittlerweile sogar: als alles andere auf jeder Welt, die ich jemals betrat.
Das waren schon jetzt mehr, als sie es sich je hätte erträumen lassen. Und niemand wusste, wie viele noch folgen würden. Das Ziel aber würde immer gleich bleiben: Jachhwa so zufriedenzustellen, dass er Nikolaus erlöste!
Aber dafür muss ich dem Rätsel seiner Existenz, seines Schöpfers, auf die Spur kommen. Und davon – ganz ehrlich – sind wir meilenweit entfernt.
Die Begegnung mit Jad hatte sie mehr verunsichert als geholfen, das absurde Geflecht von Weltensphären zu durchschauen, von denen Eden nur eine war – und vielleicht nicht einmal die wichtigste.
Paul kam zu sich und gesellte sich zu Nele. »Wie ich das hasse!«
Sie lächelte dünn. »Verständlich, würde ich meinen.«
»Jachhwa muss das von mir nehmen.« Er hockte sich neben sie auf einen grauen Stein mit einer Mulde, die den Eindruck erweckte, als wäre er nur dazu da, um einem müden Wanderer einen Platz zum Ausruhen zu bieten.
»Das tut er bereits«, erinnerte Nele ihn. »In Eden warst du davon befreit.«
»Ja«, erwiderte Paul zerknirscht. »Aber du weißt, dass ich überall davon erlöst sein will. Und sag jetzt nicht, ich sei undankbar. Ausgerechnet du!«
»Ausgerechnet ich?«
»Nun, du wurdest überreich von Jachhwa beschenkt.« Als sie die Nase rümpfte, schob er rasch hinterher: »Natürlich das ausgenommen, was er mit Nikolaus veranstaltet hat! Aber sonst? Nimm deine Unsterblichkeit. Die ist ganz offenkundig nicht auf Eden beschränkt. Die Ursache deines ewigen Lebens ja, aber du hast die Frucht nicht in Eden essen und dich permanent dort aufhalten müssen, um in den Genuss ihres Zaubers zu kommen.« Er seufzte und rieb sich über die Augen. »Mehr wünsche ich mir für mich auch nicht: irgendeinen Zauber Jachhwas, der die Folgen meines Kontaktes mit dem entarteten Cherubim nachhaltig beseitigt.«