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Ein seit Jahrzehnten besiegt geglaubter unheiliger Terror erwacht aufs Neue - und macht ein scheinbar verlassenes Waisenhaus in den Ardennen zur Todesfalle. Zamorra und Section-Spéciale-Agent Onyx machen sich auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit.
Und Carrie, das Mädchen mit der Gabe der Regenbogenblumen, macht eine erschreckende Entdeckung ...
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Seitenzahl: 167
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Impressum
Die Martyrien des Emeric Rifaud
Leserseite
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BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Arndt Drechsler
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-4537-7
www.bastei-entertainment.de
Die Martyrien des Emeric Rifaud
Von Adrian Doyle
Claudette nahm ihren Mut zusammen und klopfte. Das Geräusch musste bis in den letzten Winkel des Hauses zu hören sein, aus dem aber nichts weiter zu hören war.
Dann klang es aber doch plötzlich, als würde ein Riegel zurückschnappen. Die Tür glitt einen Spalt weit auf, und das Bellen, das aus dem Inneren zu Claudette drang, entlockte ihr einen Seufzer der Erleichterung. Ihr Westie!
Als niemand die Tür weiter aufstieß, schlüpfte Claudette erwartungsfroh ins taghelle Innere. Doch kaum hatte sie die Schwelle überschritten, verklang das Bellen.
Totenstille senkte sich über die Umgebung, und von hinten legte sich eine uralte Hand auf ihre Schulter. Dazu erklang ein Kichern, dem Hecheln eines großen Hundes nicht unähnlich …
»Leute fragen mich, warum ich so grausame Sachen schreibe. Ich erkläre ihnen dann gerne, dass ich das Herz eines kleinen Jungen habe … und es in einem Einmachglas auf meinem Schreibtisch steht.«
Stephen King
ArdennenSpätsommer 1976
Den Letzten beißen die Hunde!
Wann immer Emeric Rifaud durch die verwinkelten Gassen von La Croix tollte und sich übermütige Wettrennen mit den vierbeinigen Bewohnern des kleinen Bergdorfes lieferte, musste er an diesen Spruch seiner Mémé denken, die auch andere »Weisheiten« vom Stapel ließ: Hunde, die bellen, beißen nicht, beispielsweise.
Das zumindest wusste der sechsjährige Emeric besser. Gerade von den größten Kläffern war er mehr als einmal übel drangsaliert worden. Obwohl er flink war und Haken schlagen konnte wie ein Hase, gelang es ihm eben nicht immer, ihnen zu entkommen. Oft zog er bei solchen Verfolgungsjagden einen ganzen Rattenschwanz von Streunern hinter sich her. Und hin und wieder ging bei seinen Fluchten auch etwas zu Bruch, vorzugsweise Blumentöpfe, die ihre Besitzer vor ihren Häusern aufgestellt hatten. Seine Mémé sollte dann für den Schaden aufkommen. Bezahlt hatte sie, soweit Emeric wusste, aber nie. Beschwerden pflegte sie mit der Bemerkung abzuschmettern, die Leute könnten sich ja an den wahren Schuldigen, den vierbeinigen Plagen, schadlos halten – oder an ihren Haltern, so sie ausfindig zu machen seien. Ihr Enkel habe um Leib und Leben bangen müssen, und deshalb sei weder er noch sie zu belangen. Zumal die streunenden Hunde von La Croix dafür berüchtigt waren, auch nicht vor Erwachsenen-Waden haltzumachen.
Nicht nur wegen ihrer Schlagfertigkeit und ihres Durchsetzungsvermögens liebte Emeric die alte Dame abgöttisch. Amandine Luzaine, so ihr bürgerlicher Name, war unter der rauen Schale eine herzensgute Frau und ihm Mutterersatz und Freundin in einem. Seine Eltern kannte er nur vom Hörensagen. Er war gerade zwei Jahre alt gewesen, als er mit ihnen bei einer nächtlichen Fahrt durchs Gebirge verunglückt und in eine Schlucht gestürzt war. Während er selbst mit dem Schrecken davongekommen war, hatten Mama und Papa weniger Glück gehabt, sie wohnten jetzt »beim lieben Gott«, wie seine Mémé es ausdrückte. Mit fortschreitendem Alter verstand Emeric immer weniger, wie man einen, der so etwas zuließ, lieb nennen konnte. Aber er haderte auch nicht ständig mit seinem Schicksal, er hatte ja seine Mémé.
Allerdings mochte sein innerer Zorn gegen den Herrgott mit schuld daran sein, dass er sich allsonntäglich zunehmend unwohler in der kleinen Kirche fühlte, in der Pater Auguste Varonne sein strenges Regiment führte. Der Geistliche garnierte seine Predigten gern mit dem Anprangern dörflicher Missstände und scheute auch nicht davor zurück, die armen Sünder im gleichen Aufwasch beim Namen zu nennen.
Emeric verstand davon nur die Hälfte, und das auch nur, weil seine Großmutter nicht müde wurde, die Tiraden des Herrn Paters zu kommentieren und gelegentlich sogar dessen eigenen Lebenswandel infrage zu stellen. Sie war nun einmal eine erklärtermaßen streitbare Person und als solche hatte sie ihre Ecken und Kanten.
Emerics Liebe zu der Frau, die ihn wie ihr eigenes Kind großzog, tat das keinen Abbruch.
Beim Gedanken an sie musste Emeric im Rennen so hell auflachen, dass sein tierischer Verfolger (nur einer, wo blieben, wie sonst üblich, die anderen?) für einen Moment verdutzt innehielt und der Junge seinen Vorsprung wieder vergrößern konnte.
In seinem Übermut rempelte er jedoch kurz darauf einen Mann an und brachte ihn beinahe zu Fall. Obwohl der Sturz gerade noch verhindert werden konnte, schwang der Alte – es war Monsieur Hocquemond, der früher den Krämerladen geführt hatte – drohend seinen Gehstock und fluchte wie ein Rohrspatz.
Carl Hocquemond, das war allgemein bekannt, war nach dem Tod seiner Frau immer wunderlicher geworden. Er hatte den Krämerladen mit 65 Jahren verkauft und ein kleines Häuschen am Ortsrand erworben, in dem er nun schon im fünften Jahr lebte. Das Häuschen, in das er sich zurückgezogen hatte, stand so eng zwischen den ersten Bäumen, als wäre es ein natürlicher Bestandteil des Waldes, der im Norden an La Croix angrenzte. Soweit Emeric gehört hatte, munkelte man, der alte Mann würde dort in der Abgeschiedenheit nach Einbruch der Dunkelheit – vorzugsweise bei Vollmond – mit den Toten sprechen, allen voran mit seiner verblichenen Frau. Bewohner des Dörfchens wollten zu nächtlicher Stunde unheimliche Stimmen und Geräusche aus dem Haus gehört haben.
All dies schoss Emeric durch den Sinn, während er fast ungebremst weiterhetzte. Beim Blick über die Schulter konnte er sehen, wie sich der einzelnen Promenadenmischung, die es heute auf ihn abgesehen hatte, das Fell sträubte und sie einen weiten Bogen um den stockschwingenden Alten machte.
Bevor Emeric um die nächste Ecke biegen konnte, hörte er den alten Hocquemond mit Reibeisenstimme krächzen: »Halt! Stopp! Stehenbleiben, du vermaledeiter Galgenstrick!«
Erstaunlicherweise gehorchte nicht nur Emeric, sondern auch das struppige Fellbündel, das sich an seine Fersen geheftet hatte. Das Hündchen starrte ebenso entgeistert wie erschrocken zu Monsieur Hocquemond hinüber – dann zog es den Schwanz ein und floh durch eine Zaunlücke in den verwilderten Garten des Küsters.
Emeric wäre ihm am liebsten gefolgt. Aber die Augen des früheren Krämers schienen ihn am Boden festzunageln, während der Alte energisch auf ihn zu hinkte. Dicht vor ihm blieb er stehen und schnaubte: »Du bist doch der Hundejunge – Madame Luzaines Enkel?«
Emeric starrte sein runzliges Gegenüber nur an. Hundejunge nannten ihn die Jugendlichen des Ortes, weil er eine fast unheimliche Anziehungskraft auf alles ausübte, was bellen konnte. Aber dass auch ein Erwachsener wie Monsieur Hocquemond ihn so titulierte, versetzte ihm einen Stich ins Herz.
»Du bist es doch – oder?« Der Alte blieb unerbittlich. »Ich habe dich früher manchmal in meinem Laden gesehen, an ihrer Hand. – Gib Antwort!«
Emeric gewann seine Fassung zurück und rang sich ein Nicken ab.
»Ich mag Hunde«, brummte Monsieur Hocquemond schon etwas versöhnlicher. »Wusstest du das?«
Emeric schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf.
»Schon gut.« Hocquemond beließ es dabei. »In letzter Zeit sind etliche Köter verschwunden. Spurlos. Manch einer trauert ihnen nach, andere sind froh. Was hältst du davon, Hundejunge?«
Erst Hocquemonds Worte machten Emeric bewusst, dass in den vergangenen Tagen und Wochen tatsächlich spürbar weniger Hunde als früher üblich in La Croix unterwegs waren.
»Hey, sag’s nicht weiter, Junge, aber ich verdächtige den verrückten Alphonse«, sagte Hocquemond in verschwörerischem Tonfall. »Angeblich stellt er seine Fuchs- und Marderfallen ja nur im Wald auf, aber wer weiß das schon?« Der Alte zuckte die Achseln, um seine Zweifel zu unterstreichen. Dann wechselte er unerwartet das Thema. »Bevor ich’s vergesse: Der Pater sucht dich. Bin ihm vor einem Viertelstündchen über den Weg gelaufen. So wie du mir gerade.«
»Der Pater?« Emeric fühlte sich augenblicklich unbehaglich.
Hocquemond nickte. »Wer dich sieht, soll dich sofort nach Hause schicken. Es geht wohl um deine Oma. Irgendetwas muss ihr zugestoßen sein. Sie …«
Emeric wartete nicht ab, bis der Alte sich noch deutlicher ausdrückte. Seine Beine lenkten ihn bereits in die Richtung, in der er wohnte.
Das Herz schlug ihm bis in den Hals, als er wenig später dort eintraf, wo sich bereits etliche Nachbarn vor dem Eingang versammelt hatten. Er schnappte mitleidige Blicke und Bemerkungen auf, ohne dass er es schaffte, ihren Sinn zu erfassen. Seine Gedanken kreisten nur noch um eines, um seine arme, geliebte Mémé – vor der er kurz darauf stand.
Sie lebte noch, auch wenn es ihr sichtlich schlecht ging.
Beim Anblick ihres Enkels schien sich die Leichenblässe ihrer Haut noch einmal zu durchbluten.
»Em …« So nannte sie ihn. »Em, mein guter Junge … Komm her …!« Sie zog rasselnd den Atem ein, und die Decke über ihrer Brust blähte sich ein wenig auf, bevor sie mit verändertem Ton weiterbrabbelte »Und ihr anderen: Schert euch raus! Schert euch zum …« Sie zügelte sich, blieb aber in ihrem Willen und Wollen unmissverständlich. »Auch du, Prediger, geh – lass mich mit meinem armen Jungen allein!«
»Aber die Sterbesakramente … Ich war noch nicht fertig.«
»Das hier ist wichtiger!«
***
Emeric wusste nicht, wie ihm geschah. Als er das Haus verlassen hatte, um draußen zu spielen, war seine Mémé noch quicklebendig gewesen. Mit erhobenem Zeigefinger hatte sie ihn ermahnt, ausnahmsweise einmal keine Dummheiten zu machen, weil sie ihm sonst die Ohren langziehen müsse. Emeric hatte ihr hoch und heilig versprechen müssen, brav zu sein – wie immer eben. Und wie immer waren seine guten Vorsätze vergessen gewesen, kaum dass er den ersten potenziellen Spielgefährten erblickte. Er wusste selbst nicht, warum es ihn jedes Mal in den Beinen juckte, wenn ihm ein Streuner über den Weg lief. Vielleicht weil seine Großmutter sich nicht erweichen ließ, einen eigenen Hund anzuschaffen. Über die wilde Jagd jedenfalls, die er sich mit der Promenadenmischung geliefert hatte, bis er mit dem alten Hocquemond zusammengestoßen war, war sein Verstand wie üblich komplett ausgeschaltet gewesen. Und im Grunde war Emeric auch jetzt noch nicht fähig, klar zu denken. Die Situation, in der er sich und seine Mémé wiederfand, riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Er wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton über die Lippen.
»Du hast doch keine … Angst vor mir?«
Die Worte fielen zäh und schwer wie Teertropfen in die Stille.
Amandine Luzaine streckte ihm zittrig die Hand entgegen. Aber zunächst konnte er sie nur weiter anstarren, während das Herz in seiner Brust dröhnte, als wollte es aus seinem Gefängnis ausbrechen.
Endlich schaffte er es, die letzten Schritte, die ihn vom Bett trennten, zurückzulegen und seine Hand in die der Großmutter zu legen, die einen tiefen Seufzer von sich gab. Klamm und fremd fühlten sich ihre Finger an, ganz anders als sonst, wenn sie ihm über Haar und Gesicht streichelte und ihn für etwas lobte. Ja, lobte. Er war ja nicht ununterbrochen der kaum zu bändigende Irrwisch, der durchs Dorf fegte und allenthalben Unruhe stiftete.
Mit Verspätung reagierte er auf ihre Worte, schüttelte benommen den Kopf. Angst? Natürlich hatte er keine Angst vor ihr. So konnte man es nicht nennen. Es war einfach Unbeholfenheit und die unbestimmte Ahnung, dass dies der Tag war, vor dem er sich tief in sich drin immer gefürchtet hatte, ohne in der Lage zu sein, diesem Gefühl einen Namen zu geben. Unbewusst war ihm schon lange klar gewesen, dass seine Mémé ein Alter erreicht hatte, in dem Krankheiten zum Leben gehörten und sie mit ihren Kräften haushalten musste. Dennoch hatte er sie vor diesem Moment jetzt nie als alt empfunden oder gar gebrechlich.
Wahrscheinlich hatte sie sich auch Mühe gegeben, ihn das Schwinden ihrer Kräfte nicht spüren zu lassen. Aber das zu durchschauen war einem Jungen von sechs Jahren noch nicht möglich. Ein Junge von sechs Jahren konnte nur dastehen und sich wie hypnotisiert dem Ereignis ergeben, das sich vorgenommen hatte, sein kleines Paradies zu zerstören.
Amandine Luzaine fing unvermittelt an zu husten. Kraft- und saftlos, wie es zu dem Bild passte, das sie in ihrem Sterbebett bot. Emerics Mienenspiel wurde immer verzweifelter. Seine Fingernägel krallten sich in den Handballen seiner Mémé, deren knochige Faust seine kleine Faust vollständig umschloss.
»Ich habe mit dem Pater … eine Abmachung getroffen, Kind. Und bitte dich, sie zu verstehen. Ich hätte gern … mehr für dich getan, aber … Ich wünschte, ich hätte … es in der Hand …«
Ihre Stimme faserte auseinander wie Rauch, der aus einem Schornstein steigt.
Emeric sah, wie sich ihre Augen schlossen, und er wurde fast ohnmächtig, weil er glaubte, dass sie sich gerade für immer geschlossen hatten. Aber dann sprangen sie noch einmal auf, als würde die Sterbende noch einmal allerletzte Kräfte mobilisieren. Sie schaffte es sogar, sich auf die Ellenbogen zu stützen und ein wenig aufzurichten. Dabei rutschte Emerics Hand aus der ihren, und er fing an, hemmungslos zu weinen. Sein Schluchzen übertönte beinahe die Stimme der alten Frau, aber irgendwie schaffte er es, sich noch einmal zusammenzureißen.
»Du … du darfst mich nicht allein lassen!«, brach es aus ihm heraus.
Seine Mémé jedoch wiederholte unbeirrt den Satz, den sie gerade gesprochen hatte: »Geh zu der … Kommode dort. Die untere Schublade … mach sie auf … Geh schon, los. Uns bleibt … nicht mehr viel … Zeit …«
Wieder war es dem Jungen, als würden sich seine Beine ganz von selbst bewegen, sie setzten Fuß vor Fuß und trugen ihn zu dem Möbel, das Amandine Luzaine beschrieben hatte.
Als er sich bückte, um die untere Schublade herauszuziehen, wurde seine Mémé von einem erneuten Hustenanfall geschüttelt. Emeric trieb es erneut die Tränen in die Augen, einige kullerten heiß über seine Wangen, sein Blick verschwamm.
Das harte Husten endete. »Hast du es?«
Sie hatte ihm noch gar nicht gesagt, wonach er Ausschau halten sollte. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und konnte wieder klarer sehen. Die Schublade war bis auf einen einzelnen Gegenstand leer. Dabei handelte es sich um ein Schmuckstück, eine Kette mit schwarzweißem Anhänger.
»Nimm die Gemme. Häng sie dir um den Hals … Sie ist mein Geschenk. Damit du immer … an mich denkst, wenn du sie ansiehst – oder fühlst. Ich lebe, solange … du mich nicht … vergisst …«
Ein schwerer Seufzer von einer Art, die Emeric intuitiv begreifen ließ, dass dies die letzten Worte waren, die seine Großmutter für alle Zeit über die Lippen gebracht hatte, ließ ihn herumfahren. Und da lag sie, mit offenem Mund und Augen so starr, als wären sie aus Glas. Sie schien noch in seine Richtung zu schauen, aber bei genauem Hinsehen endete ihr Blick noch auf der Iris, die ihn eingefroren hatte.
Emeric schluckte und wusste nicht, ob er zu seiner Mémé rennen oder vor dem, was aus ihr geworden war, flüchten sollte. Seine Hand tauchte in die Schublade und griff blind nach der Kette, bekam sie zu fassen, richtete sich auf und stürmte zur Tür.
Als er sie aufriss, stand Varonne, der Pater, davor, die Hand ausgestreckt, als habe er gerade nach der Klinke greifen wollen. Offenbar erschrak er sich vor Emeric und trat reflexartig einen Schritt beiseite. Der Junge nutzte die Gelegenheit, um an ihm und anderen Dörflern, die sich eingefunden hatten, vorbei zu stürmen und das Haus zu verlassen.
Neue Tränen trübten seine Augen. Aber das hinderte ihn nicht daran, zu laufen, laufen und immer weiter zu laufen. Irgendwann fiel er irgendwo erschöpft ins Gras. Hemmungslos schluchzend presste er das Gesicht so fest gegen den Boden, als könnte – und wollte! – er sich selbst ersticken.
***
Es war dunkel, als er den ohnmachtsgleichen, von bösen Träumen durchwobenen Schlaf abschüttelte und wieder zu sich kam. Der Sternenhimmel über ihm funkelte wie ehedem. Als wäre überhaupt nichts von Belang geschehen – dabei war eine ganze Welt in Schutt und Asche gelegt worden – die des kleinen Emeric nämlich. Sein ganz persönlicher Planet Erde, der sich aber offenbar weiter um die Sonne drehte, nur dass er von einem Moment auf den anderen so lebensfeindlich geworden war wie Mars und Venus zusammen.
Der Junge setzte sich auf und wischte sich den Dreck vom Gesicht. Der Boden war taubedeckt und die Nässe in die Kleidung gekrochen. Obwohl es bei Tag noch spätsommerlich heiß war, zogen die Nächte an und wurden bereits empfindlich kalt. In den Häusern hielt sich die Wärme mühelos bis zum nächsten Morgen, aber im Freien konnte davon keine Rede sein. Emeric fror jämmerlich. Und wenn ein Windhauch ihn streifte, prickelte seine Haut, als würden winzige Eiskristalle hineinschneiden.
Benommen kam er auf die Füße. Mit verschränkten Armen ließ sich die Kälte besser ertragen. Aber für wie lange?
Wo bin ich?, durchfuhr es ihn. Dass er nicht daheim in seinem Bett lag, ließ die Hoffnung, den Tod der Großmutter nur geträumt zu haben, zerstieben. Es ist alles wahr. Alles wahr. Ich bin allein.
Er bezog es nicht nur auf das Hier und Jetzt, sondern auf sein ganzes künftiges Leben.
Allein.
Die wahre Dimension dieses Wortes wurde ihm in einer Weise bewusst wie nie zuvor. Er krümmte sich wie unter einem körperlichen Schmerz. Eine Weile stolperte er orientierungslos durch die Dunkelheit, bis ihm aufging, wo in etwa er sich befand – wohin seine Füße ihn, während sein Verstand betäubt gewesen war, getragen hatten. Die Lichter des Dorfes wurden verzerrt von Dunst- und Nebelschwaden, die wie tiefhängende Wolken durch das Bergdorf trieben. Der Himmel über Emeric hingegen war glasklar. Hatten sich die Augen erst an das spärliche Licht der Gestirne gewöhnt, war eine Orientierung am Boden möglich.
Emeric war bergauf, über den Ortsrand hinaus, gelaufen, nachdem das, was sein kindlicher Verstand nicht bewältigen konnte, über ihn hereingebrochen war. Einen Steinwurf entfernt begannen talwärts die ersten Häuser des Dorfes, eingebettet in den Dunst. Als Emeric hinter sich schaute, sah er etwas zwischen den Bäumen des kleinen Wäldchens schimmern. Bei Tag wäre es ihm sofort klar gewesen, worum es sich dabei handelte, aber in der Dunkelheit brauchte er länger. Schließlich dämmerte ihm, dass es sich nur um das Haus des bärbeißigen Monsieur Hocquemond handeln konnte, der ihm die Hiobsbotschaft, seine Mémé betreffend, überbracht hatte. Zu dem Haus gehörte ein großer Schuppen, dessen Tore, wann immer Emeric bei Tag hier vorbeigekommen war, sperrangelweit aufgestanden hatten. Hocquemond hielt sich Kaninchen; die Ställe nahmen eine der Wände des Schuppens vollständig ein. Entlang der gegenüberliegenden stapelten sich Heuballen, die er für die Fütterung verwendete.
Unter anderen Umständen hätte es den Jungen auf dem kürzesten Weg nach Hause gezogen. Nur existierte dieses Zuhause ja gar nicht mehr; nicht, nachdem seine Großmutter für immer von ihm gegangen war.
Emeric wusste nicht, was mit ihr passiert war, mit ihrem Körper. Befand sie sich noch im Haus, oder hatte der Pater sie schon fortbringen lassen?
Bei Tagesanbruch wollte er sich vergewissern, aber nicht jetzt, bei Nacht. Die Vorstellung, mit seiner toten Mémé unter einem Dach zuzubringen, bescherte ihm eine Gänsehaut. Leichen waren etwas Schockierendes. Ohne dass er es verhindern konnte, stiegen Bilder in ihm auf. Bilder von toten Menschen, in deren unmittelbarer Nähe er sich einst befunden hatte, über endlos scheinende Stunden hinweg. Ihre Gesichter waren verschwommen, aber er wusste, dass es sich um Papa und Maman handelte, wie sie im Auto eingeklemmt waren und verbluteten, während er fast ohne Schramme in seinem Kindersitz im Fond gekauert und sich die Seele aus dem Leib gebrüllt hatte.
Er drängte die Erinnerung, die ihn noch nie zuvor in dieser Schärfe überkommen hatte, zurück. Monsieur Hocquemond würde gar nicht merken, dass er einen Schlafgast hatte. Emeric wollte sich in den Heuberg neben den Kaninchen wühlen und schnellstmöglich in den Schlaf fliehen, damit umso rascher der neue Morgen graute. Wie es dann mit ihm weitergehen sollte, wusste er allerdings noch nicht. Erst einmal die Nacht überstehen …
Als er sich dem Schuppen näherte, sah er Schatten hinter den Gardinen der erleuchteten Fenster, die zum Hof hin zeigten.
Kurz darauf tauchte er in das gähnende Dunkel des Schuppens ein. Weder Sternenlicht noch die Helligkeit, die aus den Fenstern des Hauses fiel, reichten bis hierher. Emeric bedauerte, seine Taschenlampe nicht dabei zu haben, das hätte vieles erleichtert. Aus der Erinnerung wandte er sich nach links, um den Kaninchenkästen aus dem Weg zu gehen. Erschrak er sie, würden sie einen Radau machen, der Hocquemond auf den Plan rufen konnte.
Endlich ertastete er das Heu und ließ sich vorsichtig hineinsinken. Nicht, dass noch irgendwo eine achtlos hingeworfene Heugabel lag.
Die nächsten Minuten verbrachte er damit, durchzuatmen und in die Umgebung zu lauschen. Zum Haus hin. Zu den kistenartig übereinandergestapelten Holzboxen, die als Ställe dienten …
Nichts. Alles blieb ruhig.