Professor Zamorra 1122 - Adrian Doyle - E-Book

Professor Zamorra 1122 E-Book

Adrian Doyle

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Beschreibung

Menschen zerfallen zu Asche - lebendiger Asche - und die Regenbogenblumen werden schwarz oder verwelken. Besonders Letzteres wäre für den Professor eine Katastrophe von solchen Ausmaßen, dass er sie kaum absehen kann. Noch sieht Zamorra keinen Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen.

Aber es heißt ja nicht umsonst, dass Nichtwissen durchaus seine Vorteile haben kann ...

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Seitenzahl: 152

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Inhalt

Cover

Impressum

Krakatau

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-4714-2

www.bastei-entertainment.de

Krakatau

Von Adrian Doyle

London, 1816

Während sie auf den Fluss starrte, tastete Nell Foss selbstvergessen über die Prellungen, die ihr Vater ihr zugefügt hatte. Einmal mehr hatte er seine Wut mit Fäusten an ihr ausgelassen.

Nells Mutter war noch übler zugerichtet. Weil sie versucht hatte, dazwischen zu gehen. Keine gute Idee. Überhaupt keine gute Idee. Denn wenn Galen Foss betrunken war, durfte ihm keiner in die Quere kommen. Was bei anderen der Geduldsfaden war, war bei ihm eine brennende Lunte. An manchen Tagen war sie etwas länger – dann mochte es bis zum Abend dauern, dass er explodierte. Aber wirklich vorhersehbar war das nicht.

Die Dreizehnjährige hockte an ihrem Lieblingsplatz, am Nordufer der Themse, und malte sich einmal mehr aus, wie sie dem täglichen Terror ein Ende bereitete. Gift war die praktikabelste Methode. Schnell, aber nicht zu schnell sollte es gehen.

Das Treiben bei den Docks, wo Schiffe be- und entladen wurden, war für die geschundene Kleine wie eine heilsame Salbe auf ihre Wunden. Die Faszination des Flusses hatte sie schon als kleines Mädchen in den Bann gezogen. Damals war ihre Mutter noch manchmal mit ihr am Ufer spazieren gegangen, und seither brannte das in Nell, was man Fernweh nannte. Beim Anblick größerer Schiffe, die den Strom heraufkamen, verlor sich das Mädchen in seinen Tagträumen, stellte sich vor, sich an Bord eines solchen Kahns zu schleichen und heimlich damit auszulaufen. Erst aufs offene Meer und dann weiter zu den fernen Ländern und Inseln, über die die Seeleute ihr Garn spannen. Ganz gleich, wohin ein Schiff auch segeln mochte, Hauptsache, es würde Nell wegbringen von dem tristen Dasein, das sie in diesem Drecksloch namens London führte.

Es war kurz vor Sonnenuntergang. Am späten Nachmittag war Nell aus dem Haus geflüchtet und trieb sich seither im Hafen herum. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr heimgekehrt. Wenn sie doch bloß den Mut aufgebracht hätte, wirklich an Bord eines der Segler zu gehen, die die Ozeane bereisten! Aber sie wollte auch ihre Mutter nicht im Stich lassen. Sie nicht allein lassen mit diesem elenden Schläger, der nie ein gutes Wort für sie übrig hatte, manchmal sogar Saufkumpane nach Hause einlud und dann Dinge von Nells Mom verlangte, über die sie nicht sprechen wollte, niemals. Aber es brachte sie noch mehr zum Weinen als wenn ihm die Hand ausrutschte.

Monster!

Monster, Monster, Monster!

Wie andere jemanden lieben lernten, hatte Nell ihren Vater hassen gelernt. Sie konnte sich an keinen einzigen Moment der Freude erinnern, den er ihr beschert hatte. Manchmal schickte er sie betteln, und einmal war einer seiner stinkenden Freunde nachts zu ihr in die Kammer gekrochen, hatte sich auf ihr Bett gesetzt und angefangen, sie zu betatschen. Nell hatte sich schlafend gestellt, und zum Glück war der fette Kerl schon so abgefüllt und müde gewesen, dass er nach einer Weile zu Boden gerutscht und weggenickt war. Nell hatte den Rest der Nacht im Kleiderschrank verbracht und zitternd abgewartet, dass der schreckliche Mann aufwachte und fortging.

Kaum war das geschehen, war ihre Mom in der Kammer aufgetaucht und hatte leise Nells Namen gerufen. Nells Kehle war immer noch wie zugeschnürt gewesen, und auch die lähmende Angst hatte sie nicht loslassen wollen. Aber irgendwann war die Mutter an den Schrank gekommen, hatte ihn geöffnet und Nell herausgezogen. Sie waren sich in die Arme gefallen und hatten lange nur geweint.

Bis heute hatten sie nie darüber gesprochen, was passiert wäre, wenn der Trunkenbold nicht eingeschlafen wäre. Aber seit jener Nacht schlich sich Nell immer aus dem Haus, wenn sie hörte, dass Zechkumpane ihres Vaters zu Besuch kamen. In der Nachbarschaft, bei der einäugigen Maud, fand sich immer ein Plätzchen zum Schlafen bei deren Katzen. Die alleinstehende Alte hatte einen Narren an Nell gefressen. Mit den meisten anderen Leuten in der Straße kam sie weniger gut aus; manche nannten sie Kräuterhexe, andere Engelsmacherin. Nell hatte ein paar Mal gebeten, sie möge ihr einen der Engel, die sie machte, zeigen. Aber die Alte mit der Augenklappe war schroff geworden und einmal hätte sie sie beinahe aus dem Haus geworfen. Seitdem verkniff sich Nell weitere Bitten in dieser Richtung. Und einmal hatte jemand – der Stimme nach eine Frau – spätnachts wie am Spieß gebrüllt. Von wo genau die Schreie gekommen waren, hatte Nell nicht herausfinden können, weil sie sich ängstlich unter ihrer Decke vergraben und sich die Ohren zugehalten hatte. Aber entweder hatte in Mauds vier Wänden oder in einem der rechts und links angrenzenden Häuser jemand fürchterlich vor Schmerz geschrien. Am nächsten Morgen darauf angesprochen, hatte die Alte Nell wieder so merkwürdig gemustert, dass ihr die Neugier gründlich verleidet worden war.

Nein, ideal war es auch bei der Einäugigen nicht, um bestimmte Nächte hinter sich zu bringen. Trotzdem zog es Nell immer wieder zu ihr hin – als das kleinere Übel.

Aber lange wollte sie das alles nicht mehr mitmachen. Entweder stürzte sie sich in ihre geliebte Themse – oder sie mischte etwas in den Ale-Krug ihres Vaters, was das Problem ein für alle Mal beseitigen würde.

Ihn beseitigen würde.

Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres grobleinenen Kleides Tränen aus den Augen. Aber nur vorsichtig, weil die Schwellungen schmerzten.

Nach einer Weile stand sie auf und stieg die Böschung hinunter, bis dorthin, wo der Treidelpfad verlief, den die Pferde benutzten, wenn sie an dicken Seilen Kähne gegen die Strömung schleppten.

Für Nell war der Pfad Ausgangspunkt mancher »Expedition«, wie sie es nannte. Sie konnte Stunden am Wasser zubringen und Ausschau nach Treibgut halten, ohne müde zu werden. Was hatte sie hier nicht schon an kleinen Schätzen gefunden und heimgetragen! Ihre Kammer platzte schon aus allen Nähten. Ihre Mutter verlor nie auch nur ein Sterbenswörtchen über den Krimskrams, aber wenn ihr Vater gesehen hätte, was sich alles unter seinem Dach stapelte, hätte er in seinem Jähzorn das Fenster aufgemacht und alles auf die Straße geschleudert. Und an schlechten Tagen hätte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, vorher das Fenster zu öffnen.

Nell wich einem Streifen hoher Brennnesseln aus, die sich tief in den Weg bogen. In den alten Sandalen knirschte Sand, der sie aber nicht weiter störte. Routiniert suchte ihr Blick die Wasserkante ab, neben der sich Dinge, die angespült wurden, im ufernahen Geäst sammelten. Ausrangierte oder verrostete Gegenstände zumeist, die für die meisten Leute keinen Wert mehr hatten, für Nell aber schon. Eine alte Schiffslampe etwa. Oder andere, an Bord von Schiffen gebräuchliche Gegenstände, die irgendwann ins Wasser gefallen oder dort entsorgt worden waren. Aber es gab auch Dinge, die nicht direkt etwas mit Schifffahrt zu tun hatten. Manchmal gelangten Dinge auch vom Ufer oder von Brücken in den Fluss. Das Prunkstück von Nells Sammlung war ein Ring, von dem sie nicht wusste, nur träumen konnte, aus welchem Material er hergestellt war. Aber selbst wenn es nur Blech war, würde ihn niemand auf der ganzen Welt Nell Foss madig machen können.

Der wahre Schatz für sie war nicht der Ring gewesen, als sie ihn fand, sondern die abgehackte Hand, die sich im Gestrüpp verfangen und an deren Mittelfinger er gesteckt hatte.

***

Es kam immer wieder vor, dass Leichenteile aus dem Fluss geborgen wurden. Aber meist gingen ihnen aufwändige Suchaktionen voraus. Polizeiboote fuhren mit Treibnetzen übers Wasser oder Trupps stocherten mit langen Stöcken, an denen Eisenhaken befestigt waren, im Strom. Falls die Hand der von offizieller Seite unentdeckt gebliebene Überrest eines Vermissten war, empfand Nell es als unglaubliches Glück, dass ausgerechnet sie darauf gestoßen war. Nicht im Traum wäre ihr eingefallen, den Fund auf dem Revier abzugeben. Wenn sie etwas fast so verabscheute wie ihren Vater, dann die Constables, die manchmal regelrechte Treibjagden auf arme Schlucker veranstalteten, deren einziges Vergehen es war, kein Dach über dem Kopf und keinen Job zu haben. Die sich bettelnd durchschlagen mussten, manchmal auch mit kleineren Diebstählen, einen Laib Brot etwa oder etwas Obst, Gemüse oder Fleisch, wie es auf den Märkten und vor Geschäften feilgeboten wurde.

Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen!

Wenn es einen Spruch gab, den sie schon mit der Muttermilch aufgesogen hatte, dann diesen. Nein, mit dem uniformierten Pack, das vorzugsweise in Überzahl über Schwache herfiel, wollte sie nichts am Hut haben. Die Hand hatte sie mit nach Hause genommen und ihr einen Ehrenplatz zwischen morschen Holzplanken mit Fragmenten von Bootsnamen und all den anderen Dingen gegeben, die sich im Laufe der Jahre angehäuft hatten. Ihre Mom hatte auch dieses besondere Stück gesehen, kurz innegehalten, aber nie ein einziges Wort darüber verloren.

Als Nell tags darauf von einem Streifzug zurückgekommen war, war die verfaulte Hand nicht mehr an ihrem Platz gewesen, und das Mädchen hatte schon gefürchtet, ihre Mom oder – noch schlimmer – ihr Vater hätte sie weggenommen. Den Ring von dem aufgedunsenen Finger geschnitten und den Rest weggeworfen. Aber dann hatte sie gemerkt, dass die Hand nur hinter den Ledereinband eines Buches, von dem keine einzige Seite überdauert hatte, geschoben worden war, um eben nicht sofort jedem, der die Kammer betrat, sofort ins Auge zu fallen.

Nur eine Person kam dafür infrage: Nells Mom. Die kein Aufhebens darum machte, ihrer Tochter aber unmissverständlich signalisierte, mehr Vorsicht walten zu lassen, falls ihr Dad oder einer seiner ekligen Kumpane ins Zimmer platzte.

Nell hatte es sich zu Herzen genommen und die Hand auf der Rückseite eines hässlichen, gerahmten Bildes befestigt. Wenn sie zuhause war, hing das Bild so, dass sie ihren Schatz bewundern konnte; ging sie weg, drehte sie es um, und man konnte nur das hässliche Porträt eines unbekannten Mannes sehen, das niemanden dazu verleitet hätte, es sich aus der Nähe anzusehen. Die faulende Hand hatte Nell nach dem Fund erst tagelang in Salz eingelegt – ein Tipp des Fleischers an der Ecke, den sie mit unschuldigem Augenaufschlag gefragt hatte, wie er denn sein Fleisch haltbar machte – und anschließend in billigen Fusel, den sie von dem abgezweigt hatte, was sie ihrem Vater aus der nächsten Schenke besorgen musste.

Den gleichen Fusel hatte sie ihm später dann, nachdem sie die Haltbarmachung abgeschlossen hatte, in einer Flasche serviert, als wäre sie gerade erst von ihr gekauft worden. Der Alte hatte nichts gemerkt, den Schnaps sogar gelobt. Aber die Hoffnung, dass er an dem, was ihm an »Würze« beigefügt worden war, krepierte, hatte sich nicht erfüllt. Offensichtlich war er nicht einfach nur ein Bastard, sondern ein verdammt zäher dazu.

An dem Tag hatte Nell entschieden, falls sie je wirklich ein Gift für ihn mixen würde, nicht zu kleinlich mit der Dosis zu kalkulieren.

Nells Schlendergang kam ins Stocken, als sie einen großen Fetzen Segeltuch entdeckte, der sich im freigespülten Wurzelgeflecht eines Baumes verfangen hatte. Wahrscheinlich war es in einem Sturm abgerissen worden und eine Weile dahingetrieben, ehe es hier landete. Es hatte sich an allen Zipfeln verhakt und blähte sich in der Strömung auf wie früher, als es noch an einer Takelage hing, in einer steifen Brise.

Nell kletterte vorsichtig zur Wasserlinie hinab und versuchte, den Stofffetzen, aus dem sie sich eine Tasche oder ähnliches nähen wollte, von den Stellen zu lösen, wo er sich verheddert hatte.

Dabei fiel ihr auf, dass sich etwas darin gesammelt hatte. Etwas, das von der Strömung transportiert worden war, hatte sich im Leinen verfangen, und während das Wasser durch die Poren des Stoffes geströmt war, waren die feinen Teilchen hängengeblieben, und zwar in so großer Menge, dass es Nell an den vergorenen Brei aus Früchten erinnerte, den ihre Mom manchmal noch durch ein Küchentuch filterte, bis Flüssigkeit und feste Stoffe getrennt waren.

Auf den ersten Blick sah die Masse aus wie angeschwemmter Sand. Der Fluss war nie ganz sauber, die Strömung dafür zu stark; immer wieder wurden Trubteilchen vom Boden seines Betts aufgewirbelt.

Nells erste Regung war, einen oder zwei der Zipfel zu lösen und das Tuch noch im Wasser auszuschütteln, sodass der Inhalt wieder in den Fluss zurückfiel.

Aber dazu kam es nicht.

Weil die Masse nur darauf gewartet hatte, dass jemand ihr zu nahe kam. Nah genug, um …

Nell Foss prallte noch zurück, aber es war zu spät.

***

»Wo ist sie? Sie muss etwas für mich besorgen. Wenn sie nicht bald kommt, verdresche ich sie, dass ihr Hören und Sehen vergeht! Dieses unerzogene Balg!«

Galen Foss starrte seine Frau aus triefenden Augen an. Sein Gesicht kannte keine andere Farbe als tiefes Rot, und da er sich nur rasierte, wenn er Lust dazu hatte – was höchstens alle paar Tage einmal vorkam –, bildeten die tiefschwarzen Stoppeln einen harten Kontrast dazu.

Bevor Daisy Foss den Versuch unternehmen konnte, seinen in den Startlöchern stehenden Jähzorn klein zu halten, erklangen Schritte, und die Tür zur Küche wurde aufgestoßen.

»Nelly, Liebes, gut dass du …«

»Drauf geschissen gut!«, schnappte Galen und schoss wie von einem Katapult abgefeuert von der Küchenbank hoch, schnappte mit seiner Rechten nach Nells Arm und schüttelte sie. »Wo hast du dich wieder rumgetrieben? Kommst auch nur noch zum Fressen und Pennen heim! Brauchst wieder eine Tracht Prügel, um zu kapieren, für wen du da zu sein hast, wenn er dich braucht! Richtig? Das gnädige Fräulein bettelt regelrecht darum. Na warte …«

Mit der freien Hand fädelte er den Gürtel aus den Hosenschlaufen.

»Wie zur Hölle siehst du aus? Als hättest du dich mit den Schweinen im Dreck gewälzt! Hast du das?«

Daisy Foss stand zitternd ein paar Yards entfernt und rieb sich die Hände an der Schürze trocken, obwohl sie gar nicht nass waren. Ihr Blick flackerte, am Hals erschienen hektische Flecken. Der tiefe Ausschnitt ihres Kleides, auf den Galen bestand, ließ erkennen, dass ihr Herz unter der Brust wie ein ängstlicher Vogel flatterte. Es sah aus, als würde von innen eine wütende Faust gegen die Rippen boxen.

Die Einzige, die völlig ruhig blieb, war Nell.

Als ihr Vater sie erneut schüttelte – ihr Schweigen machte ihn noch ärgerlicher und auch, dass sie keinerlei Anzeichen von Angst zeigte –, öffnete sich ihr Mund doch noch.

Aber die Töne, die herauskamen, hatte in diesem Haus noch niemand je auch nur ähnlich gehört: ein monotoner, fremdartiger, gänsehauterzeugender Gesang in einer Sprache, die Nell niemals erlernt hatte.

Galen Foss war sekundenlang so perplex, dass sich seine Finger spreizten und den Arm seiner Tochter freigaben.

Freigeben wollten.

Doch irgendetwas hielt ihn fest. Der Dreck, der Nells Kleidung und Haut bedeckte und wie Flussschlamm aussah, auf den ersten Blick zumindest, geriet plötzlich in Bewegung und kroch von dem Mädchen auf den Vater über. Schob sich hart wie eine Klinge den Arm hinauf und rasierte ihm dabei die Härchen ab, die wie unter dem Messer eines Barbiers zu Boden regneten.

Galen Foss geriet in Panik. Und nicht nur er, auch seine Frau wich entsetzt nach hinten, bis sie die Anrichte im Rücken hatte und gestoppt wurde. Ihrer Kehle entrangen sich kurze, spitze Schreie, und ihr Mienenspiel verriet, wie hin- und hergerissen sie zwischen dem Wunsch, fortzulaufen, und dem, ihrer Tochter – nicht ihrem Mann, bewahre! – zu helfen, war.

Selbst Charlie, der Kanarienvogel, in seinem geflochtenen Weidenkäfig über dem Küchentisch, wurde von der Eskalation der Ereignisse aus seiner Apathie gerissen. Er lief aufgeregt seine Sitzstange hin und her und flatterte mit den Flügeln, als wollte er davonfliegen. Dazu hätte er den Käfig mitnehmen müssen, was ein Ding der Unmöglichkeit war.

Genauso unmöglich wie …

Galen Foss fielen fast die Augen aus dem Kopf, so sehr nahm ihn mit, was der Dreck, den Nell ins Haus geschleppt hatte, veranstaltete.

Vielleicht flüchtete sein Verstand sich in die Hoffnung, es könne sich um eine Halluzination handeln, weil der langjährige Konsum von Rauschmitteln sein Hirn inzwischen so stark aufgeweicht hatte, dass es seine eigene Realität erschuf.

Jedenfalls überlegte er fieberhaft, wie er aus diesem Albtraum erwachen konnte. Torkelte rückwärts und fiel schwer auf die Sitzbank, von der er zuvor hochgeschossen war.

Nell stand immer noch stoisch da. Um ihre Lippen hatte sich ein schmales Lächeln gebildet. So war sie nicht nur die Einzige, die Ruhe bewahrte, sondern auch die Einzige, die an der Situation regelrecht Gefallen zu finden schien.

»Kind! Kind – geh da weg! Geh weg von deinem Vater, er …«

Ein Teil des Schmutzes, der Nell angehaftet hatte, war jetzt zu Galen Foss gewandert. Eine graue, wie ein lebendiges Wesen über ihn dahingleitende Masse, die manchmal blubberte und Blasen warf, als würde sie von irgendwoher erhitzt, vielleicht sogar vom Körper desjenigen, über den sie kroch. Dabei bildeten sich Seitenstränge, »Ärmchen«, die in verschiedene Richtungen strebten, verschiedene Ziele anvisierten.

Einer dieser Auswüchse schlängelte sich um den Mundwinkel herum und verschwand im linken Nasenloch des Trunkenbolds; ein anderer schob sich ins rechte Ohr; und wiederum ein anderes verschwand zwischen seinen Lippen.

Galen Foss hustete und würgte, als müsste er ersticken. Immer wieder bäumte er sich auf …

… um ebenso plötzlich jede Abwehrreaktion einzustellen, beinahe zu erstarren und danach einfach nur zu Nell zu blicken. Sie anzusehen, wie er sie noch nie angesehen hatte. Als würde er sie in diesem Moment tatsächlich zum ersten Mal in vollem Bewusstsein betrachten.

Ein Röcheln entwich seiner Kehle. Seine Augen bettelten um Vergebung, die Nell aber nicht bereit war zu gewähren.

Nachdem ihm das wortlos vermittelt worden war und sich der schlammige Rest, der an dem Mädchen haften geblieben war, zu ihrem Kopf hoch geschoben hatte, um dort einen Schmuck zu formen, der sich um Stirn und Haar schmiegte, ging ein Ruck durch ihren Vater. Er griff nach dem Brotmesser, das vor ihm auf dem Tisch lag, und setzte die Spitze der geriffelten Klinge unterhalb des linken Ohres, etwa auf Höhe des Kiefergelenks, an und zog sie, ohne abzusetzen, quer über seine Kehle.

Das Blut schoss als dicker Strahl über den Tisch, und sofort schob sich das, was bereits Mund, Nase und Ohr des Mannes erobert hatte, auch in die neu geschaffene Öffnung.

Galen grinste Frau und Tochter blöde an, als ihm dämmerte, dass nicht einmal der Tod ihn wollte.

Die Züge von Daisy Foss entgleisten endgültig. Sie war so bleich, als hätte der Schlag sie getroffen.

Nell drehte sich zu ihr um und schlang die Arme um sie. Ihre Mutter versuchte noch zu entkommen. Aber ihr Widerstand brach ebenso schnell wie der des ausblutenden Tyrannen am Tisch.

»Neeellll! Was …?«