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London, 1683. Einer der kältesten Winter in den Aufzeichnungen der Stadt sorgt für ein spektakuläres Ereignis: Die Themse friert zu! So tief, dass auf dem Eis fahrendes Volk erscheint: Wahrsager, Gaukler, Händler.
Und auch ein Mädchen, das es durch Zufall in diese Zeit verschlug: Carrie. Sie ist auf der Suche nach Nele. Eigentlich wollten beide nach den Ereignissen in der Stadt unter dem Friedhof zusammen nach London, doch Carries Gabe, die sie von den Regenbogenblumen erbte, scheint völlig verrückt zu spielen.
Nun muss Carrie sich allein durch den eisigen englischen Winter schlagen - wenn sie ihre Freundin nicht wiederfindet ...
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Seitenzahl: 153
Cover
Impressum
Der Frostjahrmarkt
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Grandfailure / iStockphoto
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-5859-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Der Frostjahrmarkt
von Adrian Doyle
Gevatter Tod wütete wie ein tollwütiges Tier.
Aaaah,dachten die elend Sterbenden in befremdlichem Gleichklang, bevor ihnen selbst das Denken wie saure Milch in den Hirnen gerann.So ist es also, vor die Hunde zu gehen.
Die Eiseskälte brachte jedes Herz, jeden Atem zum Stillstand. Alles Leben floh aus den Unglücklichen, deren Seelen unter dem Grauen, das sie in seine Arme nahm, erbebten wie ein Amboss unter den unerbittlichen Schlägen des Schmiedehammers. Ihre armen Seelen wurden geradewegs in die Höllengründe geschmettert.
Doch manchmal – zu besonderen Zeiten nur – durften sie die schwefligen Klüfte verlassen. Um andere zu verleiten und der ewigen Verdammnis zuzuführen …
Der laue Spätsommerabend war erfüllt vom Gesang der Vögel in den Bäumen und dem der Grillen im kniehohen Gras. Von der Anhöhe aus, über die sich die beiden ungleichen Frauen dem London des Jahres 1683 näherten, wirkten die Häuser wie das Spielzeug verwöhnter Kinder. Nur eine einzige Brücke verband beide Uferseiten der Themse, und auch sonst hatte die Stadt wenig Ähnlichkeit mit der vor Leben berstenden Metropole jener Zukunft, in der Carrie Bird, die Zeitreisende, geboren worden war und die sie hatte untergehen sehen.
Der Anblick verursachte ihr ein Schwindelgefühl, das sie Halt an der Hand der alten Frau suchen ließ, mit der sie sich zusammengetan hatte, um nicht länger ganz auf sich allein gestellt durch die Wildnis dieser ihr fremden Vergangenheit irren zu müssen.
»Was ist? Geht es dir nicht gut?«, fragte Nele Großkreutz, zwischen deren knochigen Fingern Carries zarte Hand fast verschwand.
Für einen Moment hatte die Siebzehnjährige das Gefühl, selbst zu verschwinden. In ihrem Kopf tobte ein Gewitter, das sie an den Moment ihrer Ankunft in dieser Zeit erinnerte – als etwas auf sie, den Eindringling, reagiert hatte und gegen sie vorgegangen war.
Inzwischen wusste Carrie, worum es sich dabei gehandelt hatte. Um die Ceyx – ein Wesen von den Sternen, das sich unter dem Friedhof der englischen Stadt Crawley, unweit von London, eingenistet und dort einen Hort erschaffen hatte, in der den begrabenen Toten eine neue Rolle zugewiesen worden war.
In den anhaltenden Schwindel hinein schauderte es Carrie. Minutenlang konnte sie keinen Fuß vor den anderen setzen und war schon froh, nicht zu fallen.
Neles Versuche, mit ihren Fragen zu ihr durchzudringen, scheiterten so lange, wie es dauerte, bis sich der Sturm hinter ihrer Stirn endlich gelegt hatte.
»Kleine, Kleine – du machst mir Sorgen. Aber ich glaube, das sagte ich bereits.«
»Du wirst nicht müde, es zu beteuern.«
»Weil ich dir nie hätte nachgeben dürfen. Wir beide sind wie Feuer und Wasser – grundverschieden. Du solltest dein Leben selbst in die Hand nehmen, bist ja kein kleines Kind mehr. Und auch wenn du Mutter und Vater verloren hast, wie du mir sagtest – auch wenn niemand auf der ganzen Welt auf dich zu warten scheint, wirst du deinen Platz finden. Mein eigener Weg war dornenreich genug, ich weiß, wovon ich spreche.«
Carrie schüttelte entschieden den Kopf und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass trotz der heftigen Bewegung der Schwindel nicht zurückkehrte. »Ich bin müde und hungrig, das ist alles. Wenn ich erst eine Nacht geschlafen habe, werde ich dir nicht mehr zur Last fallen. Im Gegenteil, du bist alt – ich bin jung. Du wirst noch froh sein, eine so flinke, zähe Verbündete zu haben, die sogar um deine besondere Gabe weiß.«
»Weil ich es dir verraten habe. Aber auch das hast du mir schlecht gedankt. Ich warte noch immer, dass auch du dich mir offenbarst. Die Kreatur unter dem Totenacker von Crawley war ganz versessen auf dich – mehr als auf jeden anderen Menschen vor dir. Gewiss hat das seine Gründe, und wenn wir beisammenbleiben sollen, wäre es klug von dir, sie mir zu verraten. Du irrst, wenn du glaubst, es würde dich interessanter machen, wenn du deine Geheimnisse wahrst. Das mag ich für den Moment durchgehen lassen, aber auf Dauer …«
»Ich … ich denke darüber nach«, beeilte sie sich, ihr zu versichern.
Mit der Hand, die immer noch von Nele gehalten wurde, drängte Carrie die unsterbliche Alte, den unterbrochenen Weg fortzusetzen.
Unsterbliche Alte. Wie despektierlich. Zumal falsch, wie die Zukunft brutal bewiesen hatte.
Die Situation, in der sie sich durch das Zusammentreffen mit der »Quasi-Toten« wiedergefunden hatte, konnte ruhigen Gewissens als »insgesamt brutal« bezeichnet werden. Brutal für sie, Carrie, die es unter keinen Umständen riskieren wollte, ihre wahre Herkunft und Identität zu offenbaren. Weil sie damit alles infrage gestellt, alles zerstört hätte, möglicherweise sogar ihre eigene Existenz. Denn was würde passieren, wenn sie Neles Tun und Handeln im Hier und Jetzt veränderte und die Unsterbliche veranlasste, andere Wege zu gehen, andere Entscheidungen zu treffen, als im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte geschehen wäre?
Wenn ich ihr verriete, unter welchen Umständen sich unsere Wege in der Zukunft gekreuzt und was wir dort gemeinsam erlebt haben, würde unser Kennenlernen dort nie stattfinden. Ganz zu schweigen davon, was geschähe, wenn sie erführe, wie und warum sie – die eigentlich Unbesiegbare – im fernen Jahr 2016 doch hat sterben müssen. Nämlich, weil ein Gegner, gegen den kein Kraut gewachsen war, es so entschieden hat.
Carrie drängte die Erinnerungen zurück, die sich wie Mühlsteine um ihre Seele gelegt hatten. Ihre auf so besondere Weise auferstandene Freundin löste ihre Hand aus der Umklammerung, wie um zu signalisieren, dass sie nicht vorhatte, die verbliebene Strecke mit magischer Unterstützung zurückzulegen. Ghosten nannte sie das. Wenn sie ghostete, erschuf sie einen eigenen Mikrokosmos um sich herum, der sie für den Rest der Welt nicht nur unsichtbar, sondern inexistent machte. Innerhalb dieser magischen Blase vermochte sie sich mit unerhörter Geschwindigkeit von einem Punkt zum anderen zu bewegen. Es war keine Teleportation, wie Carrie sie beherrschte – oder besser: beherrscht hatte –, sondern ein zeitrafferschnelles Dahingleiten, ohne dass Hindernisse oder andere topographische Eigenarten einer Landschaft sie aufhalten oder auch nur bremsen konnten. In dieses Ghosten konnte Nele auch andere Personen einbeziehen, aber nur, wenn sie dies innerlich ausdrücklich befürwortete.
Carrie hatte sie diese Gunst erwiesen, sonst hätten sie noch eine ganze Weile länger gebraucht, um die Stadt an der Themse zu erreichen.
»Das will ich hoffen. Nachdenken hat noch nie geschadet.« Nele zeigte in die Richtung, in die sie strebten. »Was hältst du von diesem Moloch?«
Zweifellos meinte sie die nahe Stadt, die auf Carrie beinahe gemütlich in ihren Ausmaßen wirkte. In ihrer angestammten Zeit gab es ganz andere Ballungszentren – New York etwa, oder Tokio, Mexico City und Istanbul –, gegen die das hier trotz seiner beachtlichen Größe verblasste. Gleichzeitig haftete diesem London aber auch etwas an, das keine der Metropolen der Zukunft zu bieten hatte: ein Gänsehaut-Feeling, dem Carrie sich nicht entziehen konnte.
»Sie sieht aus, als würde es brennen«, erwiderte sie vorsichtig und mit Blick auf all die rauchenden Schlote, die für einen Moment vergessen machten, dass kalendarisch gerade erst der Herbst vor der Tür stand und die Raunächte noch auf sich warten ließen.
»Brennen«, echote Nele und blieb noch einmal stehen. Ihr Blick verklärte sich, als würden Erinnerungen in ihr erwachen, auf die Carrie keinen Zugriff hatte. »So abwegig ist das gar nicht. Es ist noch keine zwei Jahrzehnte her, da brannte sie tatsächlich und lichterloh. Du warst noch nicht oder vielleicht gerade eben erst auf die Welt gekommen, als hier eine Feuersbrunst wütete, wie sie ihresgleichen sucht. Die Stadt, die du jetzt siehst, hat kaum noch etwas mit der zu tun, wie sie sich in ihrer Blütezeit präsentierte.«
Carrie wusste aus dem Geschichtsunterricht vom Großen Brand, der 1666 neun Zehntel der Häuser und Kirchen Londons verschlungen und das Gesicht der Stadt vollständig verändert hatte. Aber auch dieses Wissen durfte sie sich nicht anmerken lassen. Also mimte sie Erschrecken und fragte: »Hast du den Brand selbst erlebt? Warst du hier, als dieses Unglück geschah?«
»Nein. Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu der Stadt. Obwohl sie mich seit Jahrhunderten anzieht wie ein Magnet, habe ich es immer vermieden, herzukommen. Aber irgendwann muss man sich seinen Dämonen stellen.«
»Willst du darüber sprechen?«
Nele machte eine abwehrende Geste. »Du stellst zu viele Fragen – und beantwortest selbst zu wenige. Ich habe dir schon viel zu viel über mich verraten. Du weißt, wer als Nächste an der Reihe ist.«
Sie setzten sich erneut in Bewegung. Doch schon nach ein paar Schritten wiederholte sich, was Carrie schon kurz zuvor aus dem Konzept gebracht hatte: Ein anhaltendes Schwindelgefühl nahm Besitz von ihr. Alles drehte sich, und, anders als zuvor, schien sich diesmal auch eine glühende Nadel in ihren Hinterkopf zu bohren.
Sie schrie panisch auf und versuchte durch die Nebel, die ihren Geist umwölkten, ihre Umgebung zu erfassen … Nele, die ganz nahe stand und merken musste, wie ihre Begleiterin ins Straucheln geriet.
Eine Erschütterung!
Erschütterung?
Bin ich gefallen?
Die Welt war ihr entrückt. Taubheit und Blindheit griffen nach ihr. Sie versuchte, sich zu artikulieren, zurück ans Licht zu finden. Aber der Strudel, der sie erfasst hatte, gab sie nicht wieder frei.
Ihr nächster Gedanke war: Ich sterbe! Aber warum? Was Ihr Schädel zerplatzte wie ein zur Erde stürzender Komet; so jedenfalls fühlte es sich an. Stille und Dunkelheit senkten sich so blitzartig über sie, dass ihr keine Gelegenheit blieb, auch nur Furcht zu empfinden.
***
Gegenwart Tendyke’s Home, Florida
»Keine Ausflüchte mehr wie am Visofon! Was verschlägt dich her ins Paradies?« Monica Peters eilte Nicole Duval in aufgekratzter Stimmung über den Rasen entgegen.
Zwar handelte es sich nicht um einen »Überfall«, wie Monica unangemeldete Besuche zu bezeichnen pflegte, denn Nicole hatte sich wohlweislich fernmündlich angekündigt. Was sie aber nicht getan hatte, war, den Grund ihres Kommens zu verraten. Das schürte verständlicherweise Monicas Neugier, zumal reine Freundschaftsbesuche nur um des Wiedersehens willen zwischen ihnen in den letzten Jahren rar geworden waren; genau genommen fanden sie gar nicht mehr statt.
So bedurfte es keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu erahnen, dass Nicole etwas von ihr wollte. Etwas, das sie nur hier finden konnte – oder zumindest auch hier.
Auf ihrem Weg aus dem entlegenen Winkel des riesigen Grundstücks, wo sich die hiesige Regenbogenblumen-Kolonie befand, war Nicole keiner Menschenseele begegnet. Robert Tendyke – nach dem dieser Ort, Tendyke’s Home, benannt war – weilte höchstwahrscheinlich unweit von Nicoles Startpunkt: in dem kleinen Dorf unterhalb des Châteaus, das ihm längst »zur wahren Heimat« geworden war. Und von den Bediensteten, die für das adrette Aussehen des Anwesens zuständig waren, ließ sich keiner blicken. Monica anzutreffen, war ein glücklicher Zufall; meist hielt sie sich in El Paso auf, wo sie ein schmuckes Penthouse bewohnte und ihren Pflichten als Geschäftsführerin von Tendyke Industries nachkam. Sie war eine taffe Frau, auch wenn man ihr das nicht unbedingt auf den ersten Blick ansah. Schon gar nicht in jenem Hauch von Nichts, das sie einen Bikini nannte und ihre Attraktivität beinahe schon unanständig hervorhob.
Nicole hatte damit kein Problem, nicht das geringste, war sie doch selbst bekennende Verfechterin einer »Freikörperkultur«, die sie zu Hause, auf Château Montagne, bei jeder sich bietenden Gelegenheit auslebte, ja zelebrierte. Obwohl dort, von wo sie kam, noch keine annähernd so sommerlichen Temperaturen herrschten wie in Florida, hatte sie sich den Gegebenheiten hier bereits mit einem hauchdünnen, quietschgelben Minikleid angepasst, dessen Schnitt an die Blumenkinder-Bewegung der Wilden Siebziger erinnerte. Genaugenommen stammte der Fummel tatsächlich noch aus dieser Zeit. Nicole hatte ihn irgendwann damals erworben und dann im Bermudadreieck ihres begehbaren Kleiderschranks versenkt, von dem ihr Lebensgefährte Zamorra behauptete, er müsse nach dem gleichen Prinzip wie ein Meegh-Spider funktionieren, die bekanntermaßen innen größer waren als von außen sichtbar. Anders, so sein Credo, hätte er längst aus allen Nähten platzen müssen. Jedenfalls war das Kleidchen ihr beim heutigen Stöbern unverhofft in die Hände gefallen und hatte geradezu darum gebettelt, wieder einmal Auslauf zu erhalten.
Sie begrüßten sich auf die Art, wie sie sich im Loiretal eingebürgert hatte – und der zu widersetzen Nicole ihrer Freundin keine Chance ließ: Küsschen rechte Wange, Küsschen linke Wange – und dann gleich noch einmal das gleiche. Vier Luftküsschen insgesamt.
Monica täuschte Erschöpfung vor, als das Ritual endlich vollbracht war. Aber dann lachte sie herzlich, zog den Besuch eng an sich und umarmte ihn erst einmal. Anschließend führte sie Nicole zum Haus.
»Ich sehe gar kein Gepäck.«
»Wie ich beim Anruf schon sagte: Ich will mich nicht länger aufhalten als nötig.«
Sie traten auf die Veranda des eineinhalbstöckigen Bungalows, wo eine gemütliche Bank stand, von der aus man die Weite des Geländes noch einmal anders aufnahm als abseits des Gebäudes. Robert Tendyke, der Sohn des Asmodis, hatte sich hier einst eine Fluchtburg geschaffen, in der er Abstand nehmen konnte von Teufel und der Welt. Das Anwesen war trotz seiner Größe und Weitläufigkeit komplett eingezäunt; zum einen, um unliebsame Besucher, zu denen auch Alligatoren gehörten, abzuhalten, zum anderen aber auch, um einen ganz besonderen Schatz vor Missbrauch oder Zerstörung zu schützen. Eben jenen Schatz, mit dessen Hilfe Nicole hierher gereist war und der, wie sie ihrer Freundin nun offenbarte, auch der Grund ihres Kommens war.
»Du kommst wegen unserer Regenbogenblumen?«, wiederholte Monica erstaunt. »Sind euch die eigenen ausgegangen?« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Ich erinnere mich an euren Anruf vor nicht allzu langer Zeit. Da ging es um eure Kolonie. Die abzusterben drohte. Wegen irgendwelcher Asche. Lebender Asche, wenn ich mich nicht vertue.«
»Dein Gedächtnis trügt dich nicht. Aber das ist Asche von gestern. Wir konnten die Gefahr gerade noch eindämmen.« Sie klopfte mit den Knöcheln ihrer Faust gegen die Holzlehne der Sitzbank. »Toi, toi, toi, dass es so bleibt. Damit hat mein Besuch aber nichts zu tun. Es geht um etwas, was uns – damit meine ich Zamorra und mich – schon lange Rätsel aufgibt. Wir hatten nur nie Zeit, uns gebührend damit zu befassen. Aber aktuell sieht es ganz gut aus. Und da ich das, was ich meine, solo erledigen kann, wollte ich es nicht weiter auf die lange Bank schieben.«
Monica nickte, obwohl sie immer noch im Dunkeln tappte, was Nicoles Vorhaben anging. Sie hebelte den Griff eines in das Tischchen, das vor ihnen stand, integrierten Kühlschranks auf und holte, ohne zu fragen, ob ihr Gast Lust darauf hatte, zwei Bud Light in den typischen Aluflaschen heraus, öffnete sie und reichte eine davon an Nicole weiter.
»Cheers.«
Sie prosteten einander zu und Nicole nippte vorsichtig daran. Sie war alles, nur keine Bierliebhaberin. Aber was machte man nicht alles, um sich als guter Gast zu verkaufen!
Monica wischte sich den Schaum von der Oberlippe und nickte der Freundin auffordernd zu. »Sag schon, was genau du vorhast. Dass es um unsere Blumen geht, habe ich kapiert. Aber was genau willst du mit ihnen? Du bist ja nicht um sie herumgekommen. Gab es irgendeine Besonderheit während des Transfers, von der ich wissen sollte?«
»Es hat nichts mit dem Transfer zu tun.«
»Nicht? Sondern?«
»Mit ihrer Persönlichkeit.«
Monica machte große Augen. Dann lachte sie verunsichert auf. »Du nimmst mich auf den Arm. Ihre Persönlichkeit?« Kopfschüttelnd nahm sie noch einmal einen tiefen Zug; danach schien die Flasche leer zu sein. Sie stellte sie auf den Tisch.
»Du kannst es nicht wissen. Wir haben nie Wind darum gemacht.«
»Worum?«
»Dass ich ab und zu mit unseren Varnen kommuniziere.«
»Wer sind die Varnen?«
»Das ist der Eigenname der Regenbogenblumen-Kolonie in unserem Gewölbekeller.«
»Ihr habt ihnen einen Namen gegeben?«
»Umgekehrt: Das ist der Name, den sie mir telepathisch vermittelt haben.«
»Telepathisch …« Monica, selbst eine fähige Telepathin, musste die Information erst einmal sacken lassen. »Dann … dann sind sie intelligent?« Plötzlich weiteten sich ihre Augen noch mehr. »Heißt das, unsere Blumen draußen auf dem Gelände sind das auch?«
»Um das herauszufinden«, sagte Nicole, »bin ich gekommen. Vorausgesetzt, du gestattest es mir. Immerhin bin ich hier nur geduldeter Gast.«
***
Vergangenheit
Er schlug die Augen auf und erwachte – halbwegs zumindest, denn eine sonderbare Beklemmung drückte ihm aufs Gemüt. Weil er sich fragte, ob es nicht eigentlich umgekehrt hätte sein müssen: Kam nicht immer zuerst das Erwachen, bevor man die Augen öffnete?
In seinen Schläfen pochte es hart. Er stöhnte. Die Umgebung war ihm einerseits vertraut, andererseits aber auch nicht, fast so, als wäre er lange nicht mehr hier gewesen. Er kramte in seiner Erinnerung.
Name?
Algernon.
Alter?
Zweiunddreißig.
Beruf?
Menschenbeglücker.
Er lauschte in sich. Algernon. War das sein Name? Algernon, der Menschenbeglücker. Und wie weiter? Er versuchte, seine Benommenheit abzuschütteln.
Das Tuch, das die Wagentür ersetzte, wurde von außen zurückgeschlagen. Eine schlaksige Person trat ins Innere des Holzaufbaus. Der Boden wankte unter ihrem Gewicht, obwohl sie aus kaum mehr als Haut und Knochen – und einer maßgeschneiderten Fantasieuniform – zu bestehen schien. Der Eintretende war mindestens zwanzig Jahre älter als Algernon, eher dreißig. Sein faltiges Gesicht sah aus, als hätte das Gewicht des schweren Huts, der sein Haupt zierte, es zusammengequetscht.
»Glaubst du, ich bezahle dich fürs Nichtstun, du Taugenichts?«, krähte Direktor Barnabas. »Raus aus den Federn! Verdien dir dein Brot! Erleichtere die Taschen der Geldsäcke! Da draußen laufen mehr als genug herum, und die meisten haben ihre Gören dabei. Früher war das ein gefundenes Fressen für dich. Was ist nur aus dir geworden, Black? Trauerst du immer noch diesem mannstollen Flittchen nach? Nicht dein Ernst!«
Black. Bin ich das? Algernon Black …?, geisterte es durch seinen Kopf, bevor sein Verstand sich an etwas anderem festbiss: Flittchen.
In einer von der Realität kaum unterscheidbaren Vision sprang Algernon auf, packte Barnabas und drehte ihm das Knautschgesicht mit einem Ruck auf den Rücken. Es knackte hässlich, danach sank der Direktor mit gebrochenem Genick zu Boden.
In der wahrhaftigen Wirklichkeit hielt er sich jedoch im Zaum, obwohl ihm die Hitze zu Kopf stieg und er seine ganze Beherrschung aufbieten musste, um nicht zum Mordgesellen zu werden.
Ein Gedanke dazu erheiterte ihn auf morbide Weise: Konnte man Totes denn noch einmal töten?
»Was glotzt du mich an wie ein Gespenst, Black? Ich warne dich: Wenn du nicht spurst, jage ich dich zum Teufel!«
Obwohl er es für eine leere Drohung hielt, entschied sich Algernon, aus dem Bett zu kriechen und Barnabas sein Entgegenkommen zu signalisieren.
»Schon gut. Schon gut. Wo … sind wir? Wie spät ist es?«
»Willst du mich verscheißern?«