Professor Zamorra 1152 - Adrian Doyle - E-Book

Professor Zamorra 1152 E-Book

Adrian Doyle

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Beschreibung

Bis zuletzt hatten die Bewohner gebetet und gehofft, dass das Schicksal sich ihrer doch noch erbarmen würde. Vergebens. Seit Stunden nun zogen die Horden mordend und brandschatzend durch die geschichtsträchtige Stadt, kannten weder Ehre noch Gnade.
Nach wochenlanger Belagerung war Jerusalem gefallen, und die Folgen für die Zivilbevölkerung waren verheerend. Tod und Leid machten vor niemand Halt ...

In der Gegenwart wird das Zamorra-Team auf eine rätselhafte Verbrechensserie aufmerksam. Die Spur führt in das Dörfchen Valcroix, abseits aller Touristenströme.

"Undercover" wollen Zamorra und Nicole das Rätsel um das Dorf der Verdammten
lösen - und geraten in einen Strudel aus Magie und Mysterien, dessen Ursprung noch in vorchristliche Zeit zurückreicht.

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Seitenzahl: 155

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Inhalt

Cover

Impressum

Das Dorf der Verdammten

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Melkor3D / shutterstock

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-6658-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Das Dorf der Verdammten

von Adrian Doyle

Bis zuletzt hatten die Bewohner gebetet und gehofft, dass das Schicksal sich ihrer doch noch erbarmen würde. Vergebens. Seit Stunden nun zogen die Horden mordend und brandschatzend durch die geschichtsträchtige Stadt, kannten weder Ehre noch Gnade.

Nach wochenlanger Belagerung war Jerusalem gefallen, und die Folgen für die Zivilbevölkerung waren verheerend. Tod und Leid machten vor niemand Halt …

Jerusalem, 1099 A.D.

Es war, als hätte die Nacht selbst eine Stimme erhalten und brülle nun ihre Qual hinaus.

Ohrenbetäubender Lärm durchtoste Straßen und Gassen, und wer es nicht besser wusste, konnte glauben, der verzweifelte Widerstand derer, die die Stadt so verlustreich verteidigt hatten, sei immer noch nicht ganz erloschen.

Aber die Schlacht war entschieden. Was durch die Straßen und über die Plätze dröhnte, war nur noch der Widerhall des sinnlosen Tötens, das jeder martialischen Schlacht folgte und erst aufhören würde, wenn aller Blutdurst gestillt, wenn alle aufgestaute Wut verraucht war.

»Wohin führst du uns?« Die vierzehnjährige Saidah war außer sich vor Angst.

Aber ihre Mutter ließ sich nicht beirren. Raghda Metef hielt Hakeem, ihren Jüngsten, an den Busen gepresst und stolperte, den Tross ihrer Kinder im Gefolge, den engen Stollen entlang, Hakeem war der einzige Sohn der Familie und genoss als solcher alle Privilegien eines männlichen Nachfolgers – nur dass ihm dies mit seinen anderthalb Jahren noch nicht bewusst war.

Raghda hatte dem Vater nie nachgetragen, dass sie seit Hakeems Geburt in der Hierarchie seiner Lieblinge auf den zweiten Rang zurückgefallen war. Aber diesen Hundesöhnen, die ihm den Kopf abgeschlagen hatten, als er das Heim seiner Familie gegen die Bastarde aus dem Abendland hatte verteidigen wollen, würde sie niemals vergeben.

Niemals!

Auch ohne die Augen schließen zu müssen, sah sie wieder und wieder die Szene vor sich, wie der Fremde sein Schwert mit hasserfüllter Grimasse hatte herabsausen lassen. Schräg von oben, sodass die Klinge Kadir Metef nicht nur enthauptet, sondern ihm auch noch die halbe rechte Schulter abgespalten hatte. Eine Blutfontäne war gegen seinen Mörder gespritzt, hatte Gesicht und Rüstung wie mit einer wahnsinnigen Kriegsbemalung überzogen; das hatte den Unhold noch mehr angestachelt. Saidah hatte aus ihrem Versteck mit angesehen, wie seine Zunge zwischen den Lippen hervorgekommen war und über die Mundränder strich, um sich ja sich keinen Tropfen des warmen Totensaftes entgehen zu lassen. Als wäre es die größte Köstlichkeit auf Erden. Danach hatte der Fremde im Rausch weiter auf sein Opfer eingehackt, das keine Gegenwehr mehr leisten konnte.

Ungefähr da hatte Raghda Metef ihre Älteste vom Fenster weggezerrt und in das Bodenloch gestoßen, das zum Keller des Hauses führte, wo die Vorräte aufbewahrt wurden, die Kühlung benötigten. Vorräte, die in den Tagen der Belagerung mehr und mehr geschwunden waren, bis nichts mehr übrig geblieben war. Aber jeder in der Stadt litt Hunger … hatte Hunger gelitten. Inzwischen waren die meisten wohl tot und, so Allah es wollte, bereits ins Paradies eingegangen. Die, die es verdient hatten, jedenfalls. Ihr Vater war gewiss dort und würde bereits sehnsüchtig warten, dass sie ihm nachfolgten. Dass er sie wieder an seiner Seite hatte – und sie ihn.

Saidah fand keine Worte für den Schmerz, der in ihr wühlte. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter ein schweres Holzregal beiseite gezerrt und dahinter einen Gang freigelegt hatte, von dessen Existenz keines der Kinder auch nur geahnt hatte. Und seither stolperten sie diesen Stollen entlang, von dem Raghda Metef nicht verraten hatte, wohin er führte. Wahrscheinlich hatte sie einfach andere Sorgen, als zu langen Erklärungen auszuholen. »Weiter, weiter!«, drängte sie nur immer wieder. Und Saidahs jüngere Geschwister waren viel zu sehr mit Weinen und Wimmern beschäftigt, um sie in dem Versuch, der Mutter die Information abzuringen, zu unterstützen.

»Sag doch – wohin führt der Weg? Wo sind wir?«

Außer den Geräuschen, die sie selbst verursachten, glaubte Saidah immer wieder dumpfes Poltern zu hören, als würden über ihnen ganze Gebäude in sich zusammenstürzen. Aber vielleicht war es auch nur der Hufschlag von Pferden, das Getrampel der Marodierenden, die von Haus zu Haus eilten, um Gräuel zu begehen, um zu rauben und zu brandschatzen. Blutvergießen wie dieses hatte Saidah zuvor nur aus den Erzählungen der Älteren gekannt, wenn sie zusammensaßen und von den Verbrechen sprachen, die die »weißen Teufeln« auf ihrem langen Weg gen Jerusalem bereits begangen hatten. Ihr Ruf war ihnen vorausgeeilt. Bei Doryläum waren unzählige tapfere Männer gefallen, die versucht hatten, sich den fremden Eroberern entgegenzustellen und sie aufzuhalten. Zuvor hatten sie Nicäa eingenommen, hieß es, Antiochia niedergerungen. In Maarat an-Numan sollten sie sogar die Getöteten gegessen haben – im Verlauf eines Festmahls, das die Unterlegenen selbst im Tod noch verhöhnte.

Schauplätze, von denen Saidah nicht genau wusste, wo sie lagen. Aber es mussten Etappenziele auf dem Vormarsch derer gewesen sein, die gekommen waren, die Heilige Stadt an sich zu reißen.

Abschaum der Welt hatte ihr Vater den Heerwurm genannt, der vorgab, im Auftrag seines Gottes zu handeln.

Saidah wünschte, sie hätte einen von Allah gesegneten Dolch besessen, mit dem es ihr möglich geworden wäre, die Hälse sämtlicher Feinde mit einem einzigen schnellen Schnitt durchzuschneiden und so deren sicher geglaubten Sieg doch noch in eine Niederlage zu verwandeln. Jeder Einzelne von ihnen sollte einen schlimmeren Tod noch als ihr Vater sterben und für ewig in den dunklen Abgründen schmoren, die Allah für Sünder wie diese geschaffen hatte!

Vor ihnen tauchte, schwach im wabernden Licht der Fackel erkennbar, die Raghda Metef mit der Linken umklammert hielt, während die Rechte Hakeem Halt verlieh, eine steil nach oben führende Leiter auf.

»Da hinauf!«, zischte die Mutter. »Lasst mich zuerst. Ihr kommt nach, sobald ich mich vergewissert habe, dass …«

Sie sparte ihren Atem für den Aufstieg, brachte den Satz nicht zu Ende. »Hier.« Sie übergab Saidah die Fackel. »Halte sie. Du folgst als Letzte. Hast du verstanden? Erst, wenn deine Schwestern oben sind.«

»Lass mir Keem da. Du kannst besser klettern, wenn du ihn nicht …«

»Auf gar keinen Fall!«

Raghda Metef machte sich an den Aufstieg. Sie war geschickt. Und zäh. Das hatte Saidah immer an ihr bewundert.

Während ihre Mutter mit dem Säugling nach oben eilte, scharten sich Fawz und Dahah schluchzend um ihre große Schwester. In ihren Augen stand die blanke Angst geschrieben.

Saidah versuchte, ihnen Zuversicht zu vermitteln. Aber in ihr selbst wühlte eine fast noch schlimmere Furcht. Weil sie schon mehr über das wusste, was Menschen anderen Menschen zufügen konnten.

Wir werden alle sterben. Sie werden uns finden und uns Dinge antun, dass uns der Tod wie ein Geschenk vorkommen wird.

»Alles in Ordnung. Kommt jetzt! Erst du Fawz, dann Dahah und zuletzt Saidah! Eure Schwester gibt auf euch acht. Und passt auf der Leiter auf, sie ist rutschig. Macht trotzdem schnell. Macht … macht … macht …«

Saidah hatte ihre Mutter noch nie so aufgelöst erlebt. Aber es hätte auch übermenschlicher Kraft bedurft, in ihrer Situation keine Gefühle zu zeigen.

»Ihr habt es gehört! Geht schon, beeilt euch!«

Sie wartete ungeduldig, dass Dahah über ihr die Leiter freigab. Aber sie war ungeschickt wie immer, und hier kam noch die Panik dazu. Endlich hatte sie es geschafft und wurde oben von ihrer Mutter in Empfang genommen.

Saidah kletterte wie ein kleiner Affe die Sprossen empor. Die Fackel in der einen Hand störte kaum.

Die Leiter führte in einen Keller, der fast aussah wie der in ihrem Haus. Nur dass hier andere Dinge lagerten. Essbares war nicht dabei, wie Saidah mit einem schnellen Rundblick feststellte. Aber Äxte, Beile, Hämmer und Sicheln. Werkzeug, das sich auch als Waffe verwenden ließ.

Ob es zu diesem Zweck bereitlag, wusste Saidah nicht, aber sie hörte ihre Mutter rufen: »Jede greift sich etwas, mit dem sie umgehen kann. Nichts zu Schweres. Fawz, Dahah – Sichel oder Beil, egal. Du, Saidah, kannst eine Axt führen … falls es nötig wird.« Sie selbst hatte sich mit einer solchen bereits ausgerüstet.

Saidahs Gänsehaut sparte keinen Quadratzoll ihres Körpers aus. Aber sie gehorchte ebenso wie ihre Schwestern. Keem war zu klein, und doch hatte Saidah für einen aberwitzigen Moment, in dem der Fackelschein das unfertige Gesicht ihres Bruders ausleuchtete, den Eindruck, dass er die Situation erfasste und sehnsüchtig nach einem der Werkzeuge schielte.

Verrückt. Völlig verrückt.

Genauso verrückt wie der Anblick der Sterne über ihnen.

Wie sollte man im Keller das Nachtfirmament sehen?

Raghda Metef schien die Gedanken ihrer Tochter lesen zu können. »Das Haus über uns ist vollständig niedergebrannt, ebenso die Holzluke im Boden. Nur der gestampfte Lehm der Decke über uns hat standgehalten. Und die Treppe scheint auch unversehrt.«

Saidah stellte sich die qualmende Ruine vor, die über ihnen wartete.

»Sind wir hier sicher?«, fragte sie zaghaft.

Die Frage erzeugte einen Ausbruch von Hysterie. »Sicher? Kind, wir … ich … Vielleicht! Aber wir können hier nicht bleiben. Wir müssen versuchen, aus der Stadt zu kommen. Und uns dann weiter durchschlagen … immer weiter … bis ins nächste Dorf, das hoffentlich verschont geblieben ist und wo man uns aufnehmen wird, wenn wir …«

Ihre Stimme versagte. Jedes einzelne Wort, das über ihre Lippen kam, schien Kraft aus ihr zu ziehen.

»Wäre es nicht besser, hierzubleiben, bis sie … wieder weg sind?«

»Saidah, Mädchen, ich dachte, wenigstens du hättest es begriffen: Sie gehen nicht wieder weg. Sie werden bleiben. Vielleicht nicht alle, aber genug, um hier ihr Regiment des Schreckens aufrechtzuerhalten. Jerusalem wird nie wieder so sein, wie wir es kannten. Wir haben hier keine Zukunft. Allah zürnt uns. Ob er uns jemals vergibt, dass wir gegen die Barbaren versagt haben …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Kind, ich weiß es wirklich nicht. Jetzt geht es nur noch ums nackte Überleben. Dein armer Vater …«

»Hör auf!« Sie wollte es nicht hören. Sie wollte lieber tot umfallen, als immer wieder daran erinnert zu werden, wie »Schon gut, schon gut. Die Treppe hinauf, los. Ich gehe wieder vor. Hört ihr den Lärm? Er ist schon viel schwächer geworden. Sie sind stadteinwärts gezogen. Das ist unsere Chance.«

Noch während sie flüsterte, gelangte sie oben an und streckte den Kopf durch das Viereck, über dem die Sterne prangten.

Saidah hörte ein kurzes Sirren, dann fielen ihr zwei Dinge entgegen, von denen sie blitzschnell entscheiden musste, was es eher wert war, von ihr aufgefangen zu werden.

Bei dem einen handelte es sich um das Stoffbündel, in das Keem gewickelt war; bei dem anderen um Raghda Metefs vom Rumpf getrenntes Haupt.

***

Mehr als acht Jahrhunderte späterFrankreich, A86, kurz vor Rungis

Im ganzen Wagen stank es nach Erbrochenem. Aber auch davon wollten sich Stéphane und Inès Sollieu die gute Laune vermiesen lassen. Dafür war das Wochenende insgesamt zu schön gewesen. Gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn hatten sie Disneyland Paris »erobert«. Über zwei volle Tage hinweg. Was sich angeboten hatte, da Christophes zehnter Geburtstag dieses Jahr auf einen Samstag fiel und seine Eltern angesichts des ersten »Meilensteins« in seinem Leben, wie Vater Sollieu es nannte, beschlossen hatten, sich nicht lumpen zu lassen. Also hatten sie dem ohnehin schon achtbaren Geschenk noch die Krone aufgesetzt und in einem der Themenhotels die Übernachtung gleich mitgebucht. Obwohl sie nicht einmal eine Autostunde entfernt wohnten und an beiden Tagen bequem auch hätten pendeln können.

Christophe hatten sie damit beeindruckt, schwer beeindruckt. Er war nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen und hatte sich während des erlebnisreichen Wochenendes gefühlte tausendmal bei ihnen für »das schönste Geschenk seines Lebens« bedankt. Nur die Indoor-Achterbahn von Tomorrow-Land ganz zum Schluss hätten sie wohl besser ausgelassen. Sie war der berühmte Tropfen gewesen, der das Fass des Vergnügens zum Überlaufen brachte. Bei Christophe zumindest, der nach dem wilden Ritt durch die futuristische Kulisse leichenblass ausgestiegen und lädiert mit ihnen zum Parkplatz getrottet war, um die Heimfahrt anzutreten. Unterwegs hatte er dann all das wieder erbrochen, was er zuvor an Süßigkeiten und Snacks geschlemmt hatte und sich dabei völlig die Kleidung versaut. Inès hatte ihn rasch umgezogen, und danach hatte es zunächst den Anschein gehabt, als würde es ihm wieder besser gehen. Doch vor zehn Minuten hatte er sich erneut übergeben. Alles war so schnell gegangen, dass er die Einkaufstüte, die seine Maman ihm vorsorglich in die Hand gedrückt hatte, nicht mehr hatte benutzen können.

In seinem Bemühen, nun erst recht schnellstens nach Hause zu kommen, wäre Stéphane um ein Haar noch in eine Radarfalle gerauscht. Im letzten Moment hatte er den mobilen Blitzer erkannt und abgebremst; nun hoffte er, dass es noch gereicht hatte.

»Du brauchst auch nicht zu rasen«, hatte Inès ihren Mann vom Rücksitz aus, wo sie neben Christophe saß, um ihn zu trösten, wissen lassen. »Das Malheur ist doch schon passiert, schlimmer kann es nicht mehr kommen.«

Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich irrte. Aber Stéphane gab ihr recht. Morgen würde er den Wagen in der Mittagspause zu seiner Stamm-Waschanlage bringen und einer gründlichen Reinigung – innen wie außen – unterziehen lassen. Nach Feierabend würde er ihn tipptopp gereinigt wieder abholen. Damit tat er sich selbst einen Gefallen. Er liebte es, wenn sein langsam in die Jahre kommender Van wenigstens kurzzeitig wieder fast wie ein Neuwagen duftete. Das hatten sie drauf, das musste man ihnen lassen.

Er schmunzelte.

Inès bemerkte es im Rückspiegel und fragte leicht besorgt: »Geht’s dir gut, Chérie? Dein Lächeln beunruhigt mich. Ich wüsste nichts, was mich gerade dazu bringen könnte.«

»Wir sind doch gleich zu Hause. Alles ist gut. Das hier ist kein Kollateralschaden, es lässt sich beheben. Morgen lachen wir alle darüber. Sogar Christophe.« Er wandte kurz den Kopf. »Wie geht es unserem Helden?«

»Irgendwie hat er es geschafft, einzuschlafen. Beneidenswert, diese Kinder. Am besten trägst du ihn geradewegs in sein Bett. Den Rest erledige ich. Er wird nicht mal aufwachen. Wenn er schläft, könnte neben ihm eine Bombe hochgehen.«

»Das hat er von mir.«

Nun lachten sie beide, und keine fünf Minuten später lenkte Stéphane den Wagen bereits in die Einfahrt ihres schmucken Reihenhäuschens im beschaulichen Pariser Vorort Rungis.

***

»Komm her.«

Stéphane winkte Inès mit einem Weinglas zu, das er zur Hälfte mit ihrem Lieblingsrosé gefüllt hatte. Er selbst bevorzugte Rotwein.

»Du musst doch auch erschossen sein. Es waren anstrengende zwei Tage. Besonders die letzten zwei Stunden.«

Sie nahm das Glas entgegen und ließ sich in der gleichen Bewegung neben ihn auf die Couch sinken. Nach einem tiefen Schluck entspannte sie sich.

»Hast du seine Augen gesehen?«

»Vorhin? Als er …«

Sie griff sich ein Kissen und schlug gespielt aufgebracht nach ihm. »Ich meine die ganze Zeit. Während wir es uns gutgehen ließen. Das war doch wow! Das war doch alles …«

»… wow!« Er nickte. »Mindestens.«

»Und du musst morgen wirklich schon wieder arbeiten? Kannst du nicht anrufen und irgendwas erfinden? So Gott will ist Chris nach seinem Schokomüsli wieder fit für die Schule. Wir beide könnten die Zeit nutzen, um … nun, um mal wieder …«

Er seufzte. »Warum verschieben? Lass sie uns jetzt gleich nutzen. Du sagtest selbst, ihn weckt nichts und niemand auf. Morgen muss ich im Büro antanzen. Ein wichtiges Bauprojekt. Der Kunde reist eigens an und verbringt die Nacht schon im Hotel, so war es jedenfalls abgesprochen, damit wir uns morgen ausgiebig mit seinem Projekt auseinandersetzen können.« Er schüttelte den Kopf. »So gern ich krank feiern würde, als Selbstständiger hänge ich am Geldtropf solcher Leute. Und du hängst mit. Sorry, aber es hat zu lange gedauert, ihn von meinen Ideen zu überzeugen. Ich werde den Teufel tun und ihn abspenstig machen.«

Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn. »Sorry auch von mir. Aber ich bin zu kaputt, als dass ich es jetzt noch genießen könnte. Mir fallen gleich die Augen zu. Sei nicht sauer.«

Er schüttelte den Kopf. »Bin ich nicht. Wenn du willst, geh schon mal vor. Ich zappe mich noch ein bisschen durchs Programm, dann komme ich nach. Vielleicht gönne ich mir auch noch ein zweites Trostpflästerchen.« Er hob sein fast schon leeres Glas.

Sie gingen lächelnd auseinander.

Nichts deutete darauf hin, dass die Nacht blutig enden würde.

Aber das sollte sie.

Das sollte sie in einem Maße, das die Grenze des Erträglichen sprengte.

***

Als Inès aus einem ihr nicht gleich ersichtlichen Grund erwachte, leuchteten ihr die Ziffern des Radioweckers wie die geröteten Augen eines in der Dunkelheit lauernden Tieres entgegen.

Sie verkrampfte schlagartig.

01:37 Uhr.

Der Grund ihres Erwachens war ein ebenso undefinierbares wie ungutes Gefühl, das sich jäh verdichtete, als sie neben sich tastete und die andere Bettseite verlassen vorfand.

Fahrig knipste sie die Nachttischlampe an und quälte sich aus dem Bett, in der festen Annahme, dass Stéphane vor dem Fernseher eingenickt war und der Flimmerkasten noch laufen würde, wenn sie rüberging, um ihn ins Bett zu lotsen. Möglicherweise war dem zweiten Glas Wein noch ein drittes gefolgt. Stéphane vertrug nicht viel. Er schlug selten über die Stränge, so richtig eigentlich nie. Sie führten eine gute Ehe, und die Geburt von Christophe war sozusagen das Sahnehäubchen auf ihr Glück gewesen. Während ihrer ganzen Beziehung hatte es keinen einzigen Tag gegeben, an dem Inès es bereut hätte, dem Liebeswerben des damaligen Architekturstudenten nachgegeben zu haben.

Sie seufzte, wechselte vom Schlafzimmer in den Flur und stutzte auf Höhe des Kinderzimmers kurz, weil die Tür, anders als sie es in Erinnerung hatte, nicht angelehnt, sondern fest zugezogen war.

Hatte sie das in Gedanken getan – oder hatte Stéphane zwischenzeitlich noch einmal nach dem Rechten gesehen?

Aus dem Wohnzimmer drangen zwar keine Geräusche, aber zuckende Lichter, die ihre Vermutung zu bestätigen schienen: Offenbar war ihr Mann vor der Glotze eingeschlafen.

Ihre Gedanken gerieten kurz ins Stocken, als sie ins Zimmer trat und es wider Erwarten verlassen vorfand.

Von Stéphane keine Spur.

Sein Glas stand auf dem Couchtisch, als hätte er es gerade erst gefüllt, und der Blick auf die Flasche daneben verriet, dass ihr Pegel fast noch bis zur Hälfte reichte. Viel konnte Stéphane nicht mehr getrunken haben.

Und wäre er auf der Toilette gewesen, hätte ihr das brennende Licht am Außenschalter auffallen müssen. Außerdem war der Lüftungsventilator mit der WC-Beleuchtung gekoppelt, sodass ihr das typische Summen nicht entgangen wäre.

»Stéph?«, rief sie halblaut und lenkte Blick und Schritte zur Küche, zu der es vom Essbereich aus eine direkte Verbindung gab.

Licht brannte auch dort nicht. Und auch die Stille sprach dagegen, dass Stéphane einer Heißhungerattacke nachgegeben haben könnte oder einfach nur seinen Durst hatte löschen wollen.