Professor Zamorra 1153 - Adrian Doyle - E-Book

Professor Zamorra 1153 E-Book

Adrian Doyle

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Beschreibung

Ein Friedhof auf Haiti ist Schauplatz des nächsten Professor ZAMORRA-Romans.
Die Vorgänge dort erregen das Interesse des Mythenforschers Atwood Church, geht doch die Mär, dass Tote, wenn sie in einer bestimmten Gruft beigesetzt werden, wieder zum Leben erwachen. Und zwar nicht als seelenlose Zombies, sondern als normale Menschen, die eine zweite Chance erhalten ...

Die Realität sieht dann doch ein wenig anders aus. Der Tod hat sich in den seltensten Fällen dauerhaft betrügen lassen, und das müssen auch die Wiedererwachten schmerzlich erfahren - und ihre Angehörigen.

Als für Atwood Church alles außer Kontrolle gerät, erinnert er sich eines Mannes, den er bei einer Tagung kennengelernt hat. Ein Mann, der sich dem Kampf gegen die Mächte der Finsternis und des Wahnsinns verschrieben hat ...

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Seitenzahl: 138

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Untoten von Port-au-Prince

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Melkor3D / shutterstock

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-6831-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Die Untoten von Port-au-Prince

von Adrian Doyle

Worauf haben wir uns bloß eingelassen?

Ann Church hatte das Gefühl, eine in flüssigem Stickstoff heruntergekühlte Rasierklinge unter die Kopfhaut geschoben zu bekommen. Die davon ausgehende Kälte drohte ihren Verstand zu lähmen. Es war, als wären sogar die Gedanken plötzlich von Eis ummantelt und würden darunter begraben.

Begraben.

Ein jäher Schwindel erfasste die 25-jährige Amerikanerin. Ihr wurde schwarz vor Augen, und der von monotonem Getrommel untermalte Sprechgesang der Versammelten rückte von ihr ab, als hätte sich ein dämpfendes Tuch über sie gebreitet …

Das größte aller Mysterien ist der Tod.

Der größte aller Schlächter ist der Tod.

Die größte aller Hoffnungen ist – der Tod.

Er verliert seinen Schrecken für die, die an Bondye glauben und sich großzügig zeigen gegenüber denen, die als Mittler stehen zwischen ihm und den Sterblichen.

Bondye gebietet über den gemeinen Tod. Wer sich seiner Gnade unterwirft, vermag ewig zu leben …

(aus: Das geheime Wissen der Loa)

Der mitternachtsblaue Transporter mit dem verschnörkelten B auf beiden Seiten der Karosserie fuhr in die Auffahrt des in die Jahre gekommenen Massedrier-Hauses und hielt an. Der Motor erstarb.

Danach tat sich eine ganze Weile nichts. Die verdunkelten Front- und Seitenscheiben des bulligen Ford Transit verhinderten Blicke ins Wageninnere. Schließlich aber klappten synchron die Türen auf Fahrer- und Beifahrerseite auf, und zwei Männer in tadelloser Handwerker-Kluft stiegen aus. Einer trug eine Werkzeugtasche, der andere eine Aktenmappe, beides aus dunklem Leder gearbeitet und ebenfalls mit dem Logo ihrer Firma versehen.

Die kantigen Gesichter blieben ausdruckslos, während die Männer auf die Tür des Hauses mit der Nummer 113 zugingen. Bevor sie läuten konnten, wurde ihnen bereits aufgemacht.

Ihr Kommen war erwartet worden, was wiederum für sie keine Überraschung darzustellen schien.

»Mr. Massedrier? Gabin Massedrier?«

Der Zweimeter-Mann, der den Türrahmen fast ausfüllte, nickte. Er wirkte übernächtigt. Um seine Augen lagen dunkle Ringe, die Wangen hingen schlaff und kraftlos herab, wie auch seine Schultern. Hinter ihm tauchte ohne ein Wort des Grußes eine sehr viele kleinere und zierlichere Frau auf und blieb in seinem Schatten, als müsste er sie beschützen. Der Gram hatte ihr früher gewiss einmal hübsches Gesicht auf eine Weise verunstaltet, als wäre sie über Nacht um Jahrzehnte gealtert. Auch ihr schlohweißes Haar entsprach nicht ihrem tatsächlichen Alter, nicht annähernd.

Wer sich die Bilder an den Wänden im Eingangsbereich anschaute und die Personen darauf mit den lebenden Vorbildern verglich, hätte meinen können, es handele sich um völlig verschiedene Menschen. Zumal noch ein fröhliches Kind auf den meisten Aufnahmen zu sehen war, mal als Baby, mal als Vorschulkind und in seiner ältesten Version fast schon ein Teenager. Auf diesen Fotos wirkte die Familie, als hätte sie ihr Glück gefunden. Den Ist-Zustand hatte, falls ihn jemand mit der Kamera festgehalten hatte, niemand auf Papier gedruckt, gerahmt und dazugehängt.

Der Hausherr nickte. »Kommen Sie herein.« Er spähte an ihnen vorbei zu den Häusern gegenüber, wo zwar keine Bewegung sichtbar war, er aber offenbar neugierige Augen hinter den Gardinen fürchtete.

Die beiden »Handwerker« traten ein. Gabin Massedrier führte sie, seine Frau wie einen Schatten hinter sich herziehend, ins Wohnzimmer, wo der Tisch für vier Personen mit Kaffeegeschirr eingedeckt war. Ein bereits in gleichdicke Scheiben geschnittener Kuchen stand bereit, und der Kaffee war so frisch aufgebrüht, dass noch Dampf aus dem Hals der Porzellankanne stieg.

Die beiden Besucher waren auf die Minute pünktlich, denn in diesem Augenblick schlug die altmodische Pendeluhr an der Wand 3 Uhr nachmittags – genau die Zeit, die vereinbart worden war.

Die erste Frage, die der Mann mit der Aktentasche stellte, noch bevor er richtig Platz genommen hatte, war: »Haben Sie das Geld auftreiben können?«

Gabin Massedrier kniff die Lippen zusammen, dann nickte er und sagte: »Das haben wir.«

Hinter dem Glas der Sonnenbrille schien es aufzublitzen. »Ich bin überrascht.«

»Überrascht?«, echote Massedrier.

Sein Gegenüber machte eine Geste, die offenbar über den Raum, in dem sie saßen, hinausging. »Wie haben Sie es gemacht? Wenn ich mich hier umsehe … nun, verzeihen Sie, es soll nicht anmaßend klingen, aber normalerweise finden unsere Besuche in anderer Kulisse statt.«

»Wir sind arm«, sagte Massedrier. »Wollen Sie das sagen?«

»Sie können nicht arm sein, wenn Sie die nötige Summe aufgetrieben haben. Sie müssen nicht antworten, wie Sie das gemacht haben, aber Sie müssen gestatten, dass wir uns wundern.«

»Wir hatten Erspartes. Das Haus ist abbezahlt gewesen. Nun lastet eine neue Hypothek darauf. Wir werden die Raten für den Rest unseres Lebens abstottern müssen, aber …« Seine Stimme wurde heiser. Er räusperte sich. »Aber das ist es uns wert. Ein Haus ist ein Haus, ein Kind ein Kind. Ich weiß nicht, ob Sie den Unterschied verstehen.«

»Wir verstehen ihn natürlich. Und wir wollten Ihnen auch nicht zu nahetreten. Empfehlen Sie uns die Bank, die ein Haus wie dieses als Sicherheit für eine so hohe Summe akzeptiert, wie wir sie …«

Massedrier unterbrach den Handwerker, der keiner war, mit einer harschen Geste. Dann griff er unter den Sessel, auf dem er saß, und zog einen Aluminiumkoffer darunter hervor. Er stellte ihn zwischen sich und die Besucher auf den Couchtisch und ließ erst die Verschlüsse, dann den Deckel aufschnappen. Darunter kamen die mit Banderolen umwickelten Geldscheinbündel zum Vorschein, ausnahmslos Hunderter.

»Unsere Seite der Vereinbarung wäre damit erfüllt. Oder … oder täusche ich mich?«

Die Augen hinter dem Brillenglas hefteten sich auf den Inhalt des Koffers und anschließend wieder auf Massedrier. »Wo ist er? Wir möchten ihn sehen, wenn das möglich ist.«

Zum ersten Mal erwachte die unscheinbare Frau, die die ganze Zeit nur auf den Kuchen gestarrt hatte, als überlege sie, ihn anzubieten – ohne sich jedoch dazu überwinden zu können – aus ihrer Agonie. »Er schläft«, flüsterte sie, und eine Träne rann aus ihrem linken Auge die Wange hinunter. Nur eine einzige Träne, als hätte sie kaum noch welche und müsste damit haushalten. »Er schläft viel. Er muss starke Medikamente einnehmen.«

»Wir werden leise sein«, versprach der Mann. »Nur ein kurzer Blick.«

»Wozu?«, fragte Massedrier.

»Wir können dann abschätzen, wie lange es noch dauern wird.«

Seine Antwort machte die Massedriers sprachlos – beide. So sprachlos, dass sie, als die Besucher aufstanden, sich ebenfalls erhoben und fast wie ferngesteuert zur Treppe und ins Obergeschoss gingen, wo Lucs Zimmer lag.

Vorsichtig öffnete Madame Massedrier die Tür – und ließ einen der Besucher hineintreten. Er machte drei Schritte auf das Bett zu, in dem die schmale Jungengestalt fast verschwand. Nicht weil das Bett so groß war, sondern weil der Schlafende wie ein Chamäleon fast damit verschmolz.

Die Vorhänge waren zugezogen, und im gedämpften Nachmittagslicht harrte der Gesandte der »Bondye Inc.« minutenlang vor dem bettlägerigen Knaben aus, dessen Gesicht fiebrig glänzte. Dann trat er genauso leise, wie er hineingegangen war, wieder aus dem Zimmer und nickte der Mutter zu, die Tür wieder zu schließen.

Als sie wieder im Erdgeschoss standen, waren die Massedriers wieder versöhnlicher gestimmt, weil der Besucher sein Versprechen, leise zu sein, gehalten hatte.

Jetzt galt es nur noch, das eigentliche Versprechen zu halten.

Die beiden Besucher besprachen sich kurz, dann wechselte der Koffer mit dem Geld den Besitzer. »Wir werden in drei Tagen wiederkommen«, sagte der zweite Mann, der die ganze Zeit noch kein Wort gesprochen hatte. »Um die gleiche Zeit. Sie müssen nur darauf achten, niemanden, dem sie nicht hundertprozentig vertrauen, merken zu lassen, dass Luc gestorben ist. Wenn wir aufflögen, müssten wir, so leid es uns täte, vom Vertrag zurücktreten. Einen Anspruch auf das gezahlte Geld hätten Sie bei Vertragsbruch nicht. Das ist Ihnen doch klar? Je weniger eingeweiht sind, desto besser für Sie. Halten Sie sich daran. Bleibt es bei den beiden Personen, die außer Ihnen an der Zeremonie teilnehmen?«

Massedrier überwand sein Zögern. »Es bleibt alles wie besprochen. Wenn Sie ihn uns wirklich wiedergeben, wird es für unser Umfeld den Anschein haben, als wäre er auf wundersame Weise genesen. Sie geben ihn uns doch wieder? Lebendig!«

»Sie müssen aufhören zu zweifeln. Vertrauen ist die Basis.« Die Männer wandten sich zum Gehen. »Bringen Sie uns noch zur Tür?«

***

»Wie kommen sie bloß auf drei Tage? Gab, Liebling, wie kommen sie auf drei Tage?«

Gabin Massedriers Miene unterschied sich in diesem Moment kaum von den versteinerten Gesichtern ihres gerade verabschiedeten Besuchs. »Ich werde Church anrufen. Er muss davon erfahren.«

»Dieser Amerikaner – war es klug, sich mit ihm einzulassen?«

»Nein«, sagte ihr Mann. »Klug war es bestimmt nicht. Aber die einzige Wahl, die uns sonst geblieben wäre, hieße aufgeben. Aufgeben, Liv, würdest du das wollen? Erst recht, wenn es wahr wäre. Wenn Luc wirklich nur noch drei Tage blieben.«

»Wie sollten sie das wissen können?«

»Sie stehen mit den Geistern im Bunde. Und mit dem, der über die Geister herrscht.«

»Sprich seinen Namen nicht aus, ich bitte dich!«

Sie zuckten beide zusammen, als das Glöckchen bimmelte.

»Er ruft! Ich muss zu ihm!« Liv Massedrier wirkte fast erleichtert, sich abwenden zu können.

»Soll ich …?«

»… mitkommen?« Sie schüttelte, bereits im Gehen, den Kopf. »Ich mach das schon. Wenn er die Klingel drücken konnte, geht es ihm nicht so schlecht wie die letzte Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass er …« Sie hörte einfach auf, den Satz weiterzusprechen.

Denkt sie, ich interessiere mich nicht für seine Verfassung? Wie kann sie das glauben?

Die Monate des schleichenden Verfalls, seit Lucs Diagnose feststand, hatten ihre Ehe verändert. Eigentlich bestand sie nur noch auf dem Papier, auch wenn keiner von beiden es wahrhaben wollte.

Gabin Massedrier wartete, bis die Schritte seiner Frau im Flur und auf der Treppe verklungen waren. Dann ging er zum Telefon und wählte die Nummer, die er im Schlaf hätte aufsagen können.

»Atwood Church.«

»Mister Church, Gabin Massedrier hier. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass sie da waren. Und … und in drei Tagen wiederkommen wollen.«

***

Drei Tage späterPorte-au-Prince, Haiti

Atwood Church bezeichnete sich selbst als Mythenjäger. Er hatte mehrere Bücher über übersinnliche Phänomene und geheimnisumwobene Spukorte veröffentlicht. Sie warfen einen anständigen Gewinn ab und erschienen teilweise schon in der x-ten Auflage. Ein reicher Mann war er dadurch nicht geworden.

Was nicht hieß, dass er nicht reich war. Stinkreich sogar. Aber das verdankte er der Frau, die ihn geboren und dem Mann, der ihn gezeugt hatte. Schon Edward Church war in die Fußstapfen seines Vaters, eines Baumwollplantagenbesitzers, getreten, und Atwood hatte die Tradition fortgeführt. Aus der Plantage war längst ein riesiger Fabrikkomplex für alle Arten von Textilien geworden, aber seine Erfüllung hatte Atwood Church nie darin gefunden, den Markt zu beobachten, Leute einzustellen oder zu feuern – je nachdem, wie es die wirtschaftliche Lage gerade erforderte – oder Meetings mit Leuten abzuhalten, die er für noch langweiliger als sich selbst hielt.

Wobei das mit der Langeweile besser geworden war, seit er seine wahre Passion gefunden hatte und ihr praktisch rund um die Uhr frönte. Der Einfachheit halber hatte er einen fähigen Manager an die Spitze seines Imperiums gesetzt, dessen Gehalt und Boni alljährlich eine Heidensumme verschlangen; andererseits hielt Hagman alles von ihm fern, womit er sich hätte auseinandersetzen müssen, wenn er weiter an der Spitze der Pyramide ausgeharrt hätte.

Nein, ihn interessierten, wenn überhaupt, nur noch die echten Pyramiden. Oder uralte Tempelanlagen, wie sie ab und zu noch immer bei Rodungsarbeiten in früher undurchdringlichen Dschungelgebieten entdeckt wurden. Manchmal auch bei der Auswertung von Satelliten-Aufnahmen.

Church zahlte regelmäßig einen erklecklichen Betrag an Leute, die an den richtigen Stellen saßen und den lieben langen Tag nichts anderes taten, als Aufnahmen zu überprüfen, die aus dem Erdorbit gemacht worden waren. Auf diese Weise war er seinen Konkurrenten schon manches Mal die berühmte Nasenlänge voraus gewesen, was sich prompt in den Verkaufszahlen seiner Bücher niederschlug.

Ein erfreulicher Nebeneffekt, dem er aber nicht nachjagte. Seine Jagd bezog sich auf die Mysterien, die ihn seit frühester Jugend beschäftigten, und eines, auf das noch nie jemand auch nur ansatzweise eine überzeugende Antwort gefunden hatte, war nun einmal die Frage: Gab es ein Leben nach dem Tod? Und wenn ja, wie sah es aus? Was erwartete den Menschen, wenn er starb?

Und wenn Atwood Church sich mit diesem größten aller Rätsel auseinandersetzte, ging es nicht um den x-ten Report zu Nahtod-Erfahrungen und dergleichen; nein, wenn er es anpackte, wollte er Neuland betreten. Wollte er, im optimalen Fall, das liefern, woran all seine Vorgänger bislang gescheitert waren: Er wollte eine verlässliche und letztlich belegbare Antwort auf die Frage aller Fragen liefern. Er wollte die Öffentlichkeit schockieren – weil er davon ausging, dass auch er selbst schockiert von dem sein würde, was er herausfand.

Und der Mann, der ihn vor zwei Minuten angerufen hatte, sollte der Schlüssel zu seinem Triumpf sein.

Der Türöffner, um dorthin zu gelangen, wo die Gesetze der Natur ausgetrickst wurden. Das eine jedenfalls, das bedeutete, dass der Tod ein unumkehrbares Schicksal war. Für jeden. Egal, ob er zu Lebzeiten nicht wusste, wohin mit seinen Millionen, oder bettelarm war. Vor dem letzten Richter waren alle gleich.

Nachdem er Datum, Treffpunkt und Uhrzeit erfahren hatte, legte er auf und wandte sich der attraktiven Erscheinung zu, die ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Ann war mehr als nur seine Tochter. Sie war die verlässlichste Assistentin, die er sich nur wünschen konnte. Vor einem Jahr hatte er sie mit ins Boot geholt und es noch keine Stunde bereuen müssen.

»Wann geht es los?«, fragte sie.

»Heute. Nach Sonnenuntergang. In genau …« Er blickte auf die sündhaft teure Uhr an seinem Handgelenk. »In genau vier Stunden und elf Minuten. Uns bleibt also noch genug Zeit, uns vorzubereiten und gegenseitig noch einmal zu briefen.«

Die vier Stunden, von denen er sprach, vergingen wie im Flug.

***

Später an diesem Tag

Worauf haben wir uns bloß eingelassen?

Ann Church hatte das Gefühl, eine in flüssigem Stickstoff heruntergekühlte Rasierklinge unter die Kopfhaut geschoben zu bekommen. Die davon ausgehende Kälte drohte ihren Verstand zu lähmen. Es war, als wären sogar die Gedanken plötzlich von Eis ummantelt und würden darunter begraben.

Begraben.

Ein jäher Schwindel erfasste die 25-jährige Amerikanerin. Ihr wurde schwarz vor Augen, und der von monotonem Getrommel untermalte Sprechgesang der Versammelten rückte von ihr ab, als hätte sich ein dämpfendes Tuch über sie gebreitet.

Ihre Hand krallte sich um den Arm ihres Vaters, und ein heiserer Schrei löste sich aus ihrer Kehle.

Endlich wurde Atwood Church aufmerksam. »Ann, großer Gott, Liebes«, raunte er ihr zu. »Geht es dir nicht gut?«

Ihr Gesicht war tränenüberströmt, als sie ihm ins Ohr hauchte: »Mir … ist bloß so schrecklich kalt, Dad. Als …«

»Als?«

»Als wäre ich diejenige, um die sie trauern.«

Ihre Stimme versagte, und sie war sich nicht sicher, ob ihr Vater sie verstanden hatte, denn mit einem Schlag erreichte die Lärmkulisse sie wieder mit voller Lautstärke.

Atwood Churchs Reaktion zerstreute ihre diesbezüglichen Zweifel. Er hatte sie sehr wohl verstanden, und er reagierte in der Weise, für die sie ihn liebte. »Ich bringe dich raus!«

Er wollte sie zum Ausgang lenken, aber sie sträubte sich dagegen. »Nein! Es würde unsere ganze Vorarbeit zunichtemachen. Es geht schon. Es ist nur der Lärm. Und das schreckliche Licht. Und … die Kälte.«

»Kälte?« Er wirkte irritiert.

In diesem Augenblick verstummten die Gebete, die dem Rhythmus der Trommelschläge gefolgt waren – und auch die musikalische Untermalung endete nur wenig später. Für einen Moment, der Ann unendlich lange vorkam, eroberte vollkommene Stille die Gruft. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

Dann setzte ebenso unvermittelt die Stimme des Mannes ein, dem sie ihr Hiersein verdankten. Gabin Massedrier erinnerte vom Äußeren her an den Todeskandidaten John Coffey aus Stephen Kings »Green Mile«. Auch Massedrier war knapp zwei Meter groß und brachte fast drei Zentner auf die Waage. Dabei wirkte er zwar wie ein Koloss, war aber keinesfalls unansehnlich, im Gegenteil. Er füllte seine Vaterrolle in einer Weise aus, die Ann von ihrem eigenen, eher schmächtig geratenen Dad nicht kannte. Sie war nicht unzufrieden, aber in Gabin Massedriers Nähe hatte sie sich von der ersten Begegnung an geborgen gefühlt. Er weckte ein Urvertrauen, dass einem in seiner Gegenwart nichts passieren konnte; dass er einen gegen alles und jeden beschützen würde.

Bei seinem eigenen Kind hatte das schon mal nicht funktioniert. Was aber nicht wirklich ihm anzukreiden war, sondern vielmehr dem erbarmungslosen Schicksal, das – wie es schon ein Buch und der gleichnamige Film festgestellt hatten – ein mieser Verräter sein konnte.