Professor Zamorra 1184 - Adrian Doyle - E-Book

Professor Zamorra 1184 E-Book

Adrian Doyle

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Beschreibung

Zeit der Phantome

"Legt das Geld dort in die Schatulle."
"Wollt Ihr denn nicht nachzählen?"
"Ihr würdet mich nicht betrügen. Ihr wisst ja, was sich die Leute über mich sagen."
Die Besucher erbleichten. Der Mann trat vor und legte den Beutel mit den Münzen in das dafür bereitstehende Kästchen.
"Und jetzt das Kind. Macht schon, her damit! Sagtet ihr nicht, es sei dringend?"
Nun war es an der Frau, der Heilerin das mitgebrachte Bündel auszuhändigen. Dort blieb der Säugling aber nicht lange, sondern wurde brüsk an die Mutter zurückgereicht.
"Oh, ihr Elenden! Ihr hättet früher kommen müssen, nun ist es zu spät. Nehmt euer Geld zurück und geht. Ich vermag vieles, aber nicht den Tod zu betrügen!"

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Inhalt

Cover

Impressum

Zeit der Phantome

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Joe Therasakdhi/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-8715-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Zeit der Phantome

Adrian Doyle

Vergangenheit

London, 1866

»Legt das Geld dort in die Schatulle.«

»Wollt Ihr denn nicht nachzählen?«

»Ihr würdet mich nicht betrügen. Ihr wisst ja, was sich die Leute über mich erzählen.«

Die Besucher erbleichten. Der Mann trat vor und legte den Beutel mit den Münzen in das dafür bereitstehende Kästchen.

»Und jetzt das Kind. Macht schon, her damit! Sagtet ihr nicht, es sei dringend?«

Nun war es an der Frau, der Heilerin das mitgebrachte Bündel auszuhändigen. Dort blieb der Säugling aber nicht lange, sondern wurde brüsk an die Mutter zurückgereicht.

»Oh, ihr Elenden! Ihr hättet früher kommen müssen, nun ist es zu spät. Nehmt euer Geld zurück und geht. Ich vermag vieles, aber nicht den Tod zu betrügen! Geht und wendet euch stattdessen an einen Pfaffen. Er soll die Nottaufe vollziehen, damit das arme Ding nicht in einem Heideneck verscharrt werden muss …«

Die Heilerin wartete, bis das Paar das Cottage verlassen hatte. Dann ging sie zur Tür und schob den Riegel vor. Aber erst, nachdem sie sich zum Kamin begeben und in den Sessel dort niedergelassen hatte, erlaubte sie sich den emotionalen Zusammenbruch.

Die autoritäre Art, mit der sie bei ihrer Kundschaft auftrat, hatte nichts mit ihrem wahren Wesen zu tun. In all den Jahrzehnten, die sie in ihrem unfreiwilligen Exil weilte, hatte sie es immer noch nicht geschafft, sich das anzueignen, was man gemeinhin »ein dickes Fell« nannte.

Die Tragödie, die sich gerade in ihrem Heim abgespielt hatte, ging ihr in einem Maße an die Nieren, wie sie es dem Himmel sei Dank nur selten erlebte – weil die Besuche ihrer Patienten in 99 Prozent aller Fälle nicht im Desaster endeten. Ihr Ruf in den Kreisen derer, die ihre Hilfe suchten, war untadelig, und falls die Eltern des toten Säuglings nicht gegen die oberste Regel verstießen, die einzuhalten sich alle verpflichteten, die hier empfangen werden wollten, würde er auch nach diesem Abend keinen Schaden erlitten haben.

Während sie mit eingesunkenen Schultern in ihrem Sessel vor dem knisternden Feuer saß und die Fährnisse des Schicksals verfluchte, von denen, wie sich bewiesen hatte, auch andere nicht verschont blieben, hörte sie draußen auf dem gepflasterten Weg zur Haustür Schritte aufklingen.

Zuerst glaubte sie, der Vater des Kindes sei noch einmal zurückgekehrt – entweder, um sie anzuflehen, es doch um alles in der Welt wenigstens zu versuchen, seine Tochter der Dunkelheit, in die sie entschwunden war, wieder zu entreißen; oder um sie zu beschimpfen, weil er meinte, seinem Schmerz dadurch besser Herr werden zu können. Ihr Magen zog sich zusammen.

Als es klopfte, überlegte sie, sitzen zu bleiben und darauf zu hoffen, dass die harten Männerschritte sich auch wieder entfernten. Aber dann überwand sie sich und stand auf. Durch die geschlossene Tür fragte sie: »Wer da?«

Die Antwort überraschte sie und löste zugleich den harten Knoten in ihrem Bauch auf.

»Hall. Arsenius Hall – zu Euren Diensten, Madam Bird!«

Stimme und Name elektrisierten sie. Eilig schob die ergraute Frau den Riegel zurück und öffnete die Tür.

Im Gegensatz zu ihr hatte der Mann draußen in der kühlen Herbstluft sich äußerlich fast gar nicht verändert.

Carrie Bird rang um Worte. Schließlich brachte sie hervor: »Wie lange ist es her? Zehn Jahre?«

Kleidung und Auftreten des Besuchers überspielten, dass es sich bei ihm um keinen normalen Londoner handelte, so wie auch Carrie nie eine ganz normale Einwohnerin der Themse-Stadt werden würde. Sie trugen beide das Stigma des Außergewöhnlichen, was oft genug mehr Fluch denn Segen gewesen war. Aber anzusehen war ihnen dieser »Makel« – falls man es so nennen durfte – nicht. Es sei denn, man hatte ein Gespür für diese Art Mensch. Und leider Gottes war diese Fähigkeit meistens den Falschen in die Wiege gelegt worden, den Dämonischen, die von den größten menschlichen Siedlungen – den Hauptstädten – angezogen wurden wie die Motten vom Licht. Nur dass sie sich im genauen Gegenteil von Licht herumzutreiben pflegten: Die Nacht war ihr bevorzugter Tummelplatz. Und im Gegensatz zu Carrie hatte Arsenius Hall es sich seit Langem auf die Fahne geschrieben, diese seelenverschlingenden, blutsaufenden und mordenden Kreaturen aktiv zu bekämpfen.

»Seit unserer letzten Begegnung? Nun, nach meiner Zählung sind es elf. Es war Mitte der Fünfziger«, sagte Hall und zeigte mit dem Knauf seines Gehstocks, der seine Garderobe komplettierte, ins Innere des Cottage. »Darf ich …?«

Carrie machte wortlos einen Schritt beiseite, und der gutgekleidete Mann trat ein. Er orientierte sich sofort zum Kamin, wo er alles so vorfand, wie er es in Erinnerung haben mochte.

»Es sieht alles noch aus wie damals«, bestätigte er, was Carrie erst durch ihn bewusst wurde: dass sie in all den Jahren seither nie den Drang zu großartiger Veränderung verspürt hatte.

»Ich bin ein Gewohnheitstier.«

»Was nichts Schlechtes sein muss.« Hall stellte den Gehstock an die Wand neben der Feuerstelle und nahm die Kopfbedeckung ab. Nachdem er sich eine Weile suchend nach einer Ablagemöglichkeit umgeschaut hatte, erbarmte sich Carrie und nahm ihm den Bowler ab. Es fand sich ein passender Nagel, woran Mister Hall nichts auszusetzen hatte.

»Was verschafft mir die Ehre?«, fragte Carrie. »Offen gestanden hatte ich nicht erwartet, Euch noch einmal wiederzusehen.«

»Was schade ist«, erwiderte Hall.

»Tee?«, fragte Carrie.

Der Besucher schüttelte den Kopf. »Ich will gleich zur Sache kommen. Vielleicht setzen wir uns, so plaudert es sich leichter.«

Carrie zeigte auf denjenigen von zwei Sesseln, der von ihr selbst nie benutzt wurde, während sie sich auf dem anderen niederließ. »Wobei ich mich sehr täuschen müsste, wenn Ihr wirklich zum ›Plaudern‹ gekommen wärt.«

Er nickte. »Ihr habt recht. Ich sagte Euch damals, dass ich nie vergessen werde, was Ihr für mich tatet – nicht nur, dass Ihr mir das Leben gerettet habt, ihr erspartet mir auch ein Siechtum, von dem ich heute noch manchmal träume und schweißgebadet wach werde.«

»Das tut mir leid.«

Er schüttelte den Kopf, während seine eisblauen Augen keine Sekunde von ihr abließen. »Das muss es nicht. Lieber träume ich den Schrecken, den Rufus Agadir sich für mich ersonnen hatte, als dass ich ihn bis ans Ende meiner Tage leben und ertragen müsste. Denn so hätte es eigentlich enden müssen, selbst nachdem dieses Ungeheuer in Menschengestalt in die Flucht geschlagen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er mir ja schon beinahe alles angetan, was man seinem Feind zuzufügen imstande ist.«1)

»Wenn man ein Monstrum ist.« Diesen Kommentar auf Halls Rückblick konnte sie sich nicht verkneifen.

»Ja, man kann es nicht oft genug wiederholen und unterstreichen: Rufus Agadir war und ist – da er ja leider entkommen konnte – das, was man mit Fug und Recht einen Unmenschen, ein Ungeheuer oder auch eine Monstrosität nennen darf!«

Für eine Weile verloren sie sich beide in den unguten Erinnerungen, die auch an Carrie nicht spurlos vorüber gegangen waren. In den Folgejahren hatte sie sich immer mehr in das nach ihren Plänen erbaute Cottage zurückgezogen und Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihre übersinnliche Begabung, die sich ihr auf so eigentümliche Weise entfremdet hatte, wieder in den Griff zu bekommen. Einst hatte sie – wovon selbst Arsenius Hall nichts wusste, nicht einmal ahnte – damit Raum und Zeit überwinden können. Wodurch sie auch erst in der Verbannung (so nannte sie es) gelandet war. Denn eines Tages dort in der Zukunft des 21. Jahrhunderts, wo sie gelebt hatte, war diese Fähigkeit vorübergehend vollkommen versiegt …

… bevor sie sich in drastischer Weise zurückgemeldet und Carrie über Jahrhunderte in die Vergangenheit geschleudert hatte. Dort wiederum hatte sie ihre Gabe eben auch nicht mehr nach eigenem Gutdünken einzusetzen vermocht, sondern hatte sich damit abfinden müssen, dass sie sich noch sporadisch, meist in prekärer Situation, zum Einsatz bringen ließ. Nach einem kurzen Abstecher ins 18. Jahrhundert war sie schließlich im Jahr 1816 gelandet, und seither reihte sich in der Zeitfremde Tag an Tag, Monat an Monat, Jahr an Jahr. Die Fähigkeit, mit ihrer Regenbogenblumen–Fähigkeit zurück in ihre angestammte Gegenwart zu kehren, war ihr ganz und gar abhanden gekommen. Immerhin geblieben war ihr jedoch ein absonderlicher Nebeneffekt der Sprünge, die sie noch auszuführen vermochte: Wen oder was auch immer sie bei ihren Teleportationen – die den Namen nicht mehr verdienten, weil die überwindbaren Distanzen lächerlich klein geworden waren – mitnahm, wurde dabei wie durch Zauberhand von sämtlichen Wehwehchen oder Schäden befreit. Kranke gesundeten während eines solchen Sprungs, Dinge waren danach wieder wie neu.

Um ein Auskommen zu haben, hatte es sich angeboten, sich diesen Effekt zunutze zu machen. Und so war aus Carrie Bird, der Gestrandeten, Carrie Bird die Heilerin geworden, zu der Menschen mit den unterschiedlichsten Beschwerden kamen. Über das Wie ihrer Heilung erfuhren die Patienten nie auch nur das Geringste. Carrie teleportierte mit ihnen in einem mit einem Vorhang abgetrennten Bereich des Cottage, und sie tat es, ohne dabei merklich die Position zu verändern. Jemand, der sich doch die Möglichkeit verschafft hätte, zuzuschauen, hätte nicht mehr als ein kurzes Zittern der beiden Gestalten, deren Hände sich ineinander verschränkt hatten, bemerkt. Aber dieser »Trockensprung« genügte, um den Nebeneffekt der Gabe zur Entfaltung zu bringen. Danach waren die Patienten aller gesundheitlichen Sorgen ledig. Für begrenzte Zeit zumindest. Carrie konnte bestehende Unbill beseitigen, aber nicht verhindern, dass neue Krankheiten ausbrachen. Und sie konnte auch nur dann helfen, wenn die Betroffenen rechtzeitig zu ihr kamen. Solange wenigstens noch ein Funken Leben in ihnen glomm.

Bei dem Kind vorhin war das nicht der Fall gewesen, und damit waren selbst einer Frau mit solch großartiger Gabe die Hände gebunden.

Bei alldem agierte Carrie so vorsichtig wie nur möglich. Zwar waren die Zeiten der Hexenverbrennungen vorbei, aber sie wollte nicht einmal in den Verdacht geraten, mit dem Teufel zu buhlen oder Schwarze Magie zu zelebrieren. Sollte die Obrigkeit je auf sie aufmerksam werden, blieb ihr nur noch der vollständige Rückzug. Vielleicht würde sie sogar die Insel verlassen und zum Festland übersetzen müssen, um die letzten Jahre ihres Lebens nicht ständiger Anfeindung ausgesetzt zu sein.

»Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet, Master Hall: Was führt Euch zu mir? Welchem Umstand habe ich es zu verdanken, dass Ihr Euch meiner nach so langer Zeit wieder erinnert habt?«

Das Lächeln auf dem Gesicht ihres Gegenübers verschwand wie weggewischt. »Der Name fiel bereits – und damit der Grund meines Besuchs.«

Carrie erblasste. Namentlich erwähnt hatten sie in der kurzen Zeit ihrer Wiederbegegnung nur eine Person.

»Agadir«, bestätigte Hall. »Ich spreche von Rufus Agadir. Es gibt Hinweise darauf, dass er nach London zurückgekehrt ist. Und Ihr könnt Euch vorstellen, was das für uns beide bedeutet. Er wird nach uns suchen. Und er wird nicht eher ruhen, als er sein Versäumnis von damals korrigiert und uns zur Strecke gebracht hat. Es gibt nur einen Weg, das zu verhindern.«

»Welchen?«

»Wir müssen ihm zuvorkommen.«

Obwohl das Selkirk brechend voll war und der Wirt Jacob Blightser alle Hände voll zu tun hatte, um die durstigen Kehlen der Gäste am Ausschank zufriedenzustellen, erspähte sein ewig wachsamer Blick den neuen Gast durch die Rauchschwaden hindurch in dem Moment, als er den Pub betrat.

Eigentlich waren es zwei Gäste, die dicht hintereinander zur Tür hereinkamen. Aber obwohl der eine vom Erscheinungsbild her der klar auffälligere war, hatte Blightser nur Augen für den drahtigen Mann dahinter, der den Eindruck erweckte, hinter dem Stämmigen in Deckung zu bleiben. Und dass reihum die Gespräche an den Tischen verstummten, hatte auch weniger mit dem Drahtigen als mit seinem »Beschützer« zu tun, dessen Ausstrahlung eisiger war als das Land, in dem er zu Hause war.

Blightser überwand seine Verblüffung, übergab den Ausschank an sein Weib, das ihm hinter der Theke zur Hand ging und aufpasste, dass die Bedienung, die die vollen Humpen zu den Tischen und die leeren zum Befüllen zum Tresen schleppte, das erhaltene Geld immer gleich bei ihr ablieferte, damit sie es auf seine Richtigkeit prüfen und danach in ihre Obhut nehmen konnte. Ella Blightser hasste es, den Ausschank zu übernehmen und nahm auch kein Blatt vor den Mund, ihrem Gatten das klarzumachen. Aber Blightser hatte sich ein dickes Fell zugelegt, nicht erst im Selkirk. Der Ort, an dem er dem gerade eingetroffenen Gast zum ersten Mal begegnet war, hatte ihn gegen beinahe alles abgehärtet, was man sich nur vorstellen konnte.

Schnell hatte er die Theke umrundet und die beiden Ankömmlinge erreicht. Der Stämmige, dessen Hautfarbe, Statur und Kleidung verriet, dass seine Wiege nicht in diesem Teil des Vereinigten Königreiches und schon gar nicht in London stand, verstellte ihm mit grimmiger Miene den Weg, sodass er zunächst nicht zu dem Mann gelangte, den er respektvoll begrüßen wollte. Erst als der seinem Leibwächter etwas zuraunte, gab die lebende Wand den Weg frei.

»Jacob – wie ich mich freue! Ich sehe, du hast alles genauso wahr gemacht, wie du es vorhattest. Die Geschäfte laufen gut, wie ich sehe. Durst haben die Leute immer. Das ist hier nicht anders als dort, wo du den Grundstock für das hier …«, er machte eine Geste, die den schummrig erhellten Raum einbezog, »… gelegt hast. Andere waren nicht so klug und haben das sauer verdiente Vermögen versoffen. Du hingegen …«

Blightser blickte zu Boden und wirkte dabei so verlegen, wie ihn keiner seiner Gäste und erst recht nicht sein Weib, das immer wieder misstrauische Blick zu ihm warf, je gesehen hatte. »Algernon Crawry! Hört auf, Ihr beschämt mich! Mit jedem hätte ich gerechnet, aber dass Ihr mir hier eines Tages die Ehre geben könntet …«

Auf den kantigen Zügen des Gastes erschien ein kühles Lächeln. »Mit mir sollte man immer rechnen, lieber Jacob, hast du das etwa schon vergessen?«

Über Blightsers Gesicht legte sich ein Schatten, während er eifrig versicherte: »Gewiss nicht, gewiss nicht! Wann … seid Ihr denn angekommen? Dass Ihr Euch meiner erinnert, ehrt …«

Höflichkeit war Crawrys Sache nicht, nie gewesen. »Ich brauche ein Zimmer«, fiel er dem Wirt ins Wort. »Möglichst groß. Oder zwei Räume, die eine Tür verbindet. Glaubst du, damit kannst du mir dienen?«

Blightser merkte, wie sich sein Magen zusammenzog, als würde ein Tau verknotet. Aber er versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Fast überschwänglich erwiderte er: »Aber ja doch! Für Euch, Master Crawry, ist das Beste gerade gut genug. Das Obergeschoss steht zu Eurer Verfügung. Mein Weib und ich haben unsere Schlafstube hier unten. Die Quartiere für unsere Gäste, wenn wir denn welche haben, was selten genug vorkommt, liegen alle oben. Dort gleich die Treppe hinauf.« Er zeigte in die Richtung, die er meinte. »Dann gelangt ihr …«

Der Mann, den er zur Begrüßung Algernon Crawry geheißen hatte, unterbrach ihn, und es schien den Besucher auch nicht zu stören, dass inzwischen jeder Anwesende zu ihnen starrte und die Ohren spitzte, um sich kein Wort ihrer Unterhaltung entgehen zu lassen. »Das sollten wir anders lösen.«

»Anders lösen?«, echote Blightser.

»Für unsere Belange ist ebenerdig geeigneter. Mach das deinem Weib klar und sag ihr, sie soll noch das Nötigste, was ihr braucht, nach oben schaffen. Bis zu unserer Abreise wirst weder du noch wird sie eure Schlafstube betreten. Solltet ihr diesen meinen Wunsch – ich nenne es ausdrücklich so – nicht respektieren, fürchte ich, könnte das unsere Freundschaft belasten.«

Blightser hatte den Ankömmling von sich aus niemals als Freund bezeichnet, sich aber auch verboten, ihn als das Gegenteil eines solchen zu bezeichnen. Er schluckte. »Die Zimmer oben sind … sauberer, aufgeräumter …«, unternahm er einen letzten Versuch, Crawry umzustimmen und das Ungemach noch von sich abzuwenden.

Aber Crawry befand es nicht einmal einer Antwort wert. An seinen Begleiter gewandt sagte er: »Du kannst das Gepäck hereinholen. Ich gehe schon vor.« Nach diesen Worten schob er Blightser betont sanft beiseite und schritt auf die Tür zu, zu der der Wirt geschaut hatte, als er von den privaten Räumen im Erdgeschoss gesprochen hatte.

Blightser wankte leicht, machte aber keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Stattdessen folgte er ihm um die Theke herum und gestikulierte zu seinem Weib, dass sie ja nicht auf die Idee kam, dem Gast den Zutritt verwehren zu wollen.

Er schaffte es mit Müh und Not.

Algernon Crawry indes nickte ihr, ganz Gentleman, der er nicht war, zum Gruße zu, ehe er durch die Tür trat und sie hinter sich ins Schloss drückte.

Er wähnte sich, das wurde überdeutlich, schon ganz und gar zu Hause. Was in Jacob Blightser angesichts der gemeinsam verbrachten Zeit in der Vereinigten Provinz von Kanada eher zwiespältige Gefühle weckte, hatte er doch erlebt, was es bei Crawry hieß, sich irgendwo in dieser Weise einzunisten und heimisch zu fühlen.

Gegenwart

Loire–Tal, Château Montagne