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Carrie Bird schaute zufrieden in den Spiegel.
Haut glättete sich, Fältchen und Falten bildeten sich zurück.
Ein bitterböses Lächeln bildete sich um die Lippen der Frau, die sich das Verlorene zurückholte - auf Kosten des Spenders, für den sie kein Bedauern hatte.
Nur Dankbarkeit.
Das Lächeln wurde zum Lachen, das kalt und herzlos durch das leere Haus hallte ...
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Seitenzahl: 141
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Impressum
999
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Zdenek Sasek/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9404-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
999
von Adrian Doyle
London, 1883
Einmal mehr bahnte sich der Schmerz wie eine langsam geführte Klinge seinen Weg durch Ray Gumbles Kopf.
Die Umgebung verschwamm vor Gumbles Augen, und der vertraute Kupfergeschmack breitete sich im Mund aus. Zähneknirschend wartete er, dass der Schmerz und die Benommenheit wieder von ihm wichen, was von Mal zu Mal länger dauerte und somit den elenden Quacksalbern recht gab, die ihm einen baldigen und qualvollen Tod prophezeiten.
Irgendetwas Böses, so sagten sie, niste in seinem Kopf und wachse unaufhaltsam. Die Beule auf seiner Stirn, die dies bezeugte, wurde von Tag zu Tag größer.
Die Trunkenbolde, deren Gesellschaft Gumble pflegte, zogen ihn damit auf, hießen ihn Unicorn – Einhorn –, weil der Auswuchs Ähnlichkeit mit dem Stumpf eines abgesägten Horns hatte, wie man es bestimmten Fabelwesen nachsagte.
Gumble hätte weniger gegen seinen Spitznamen gehabt, wenn Einhörner tatsächlich existiert hätten. Dann wäre es ihm nämlich leichter gefallen, auch daran zu glauben, dass es noch Rettung für ihn geben und er Väterchen Tod noch ein Weilchen auf Abstand halten könnte. Aber nachdem er manchem Hundsfott von Betrüger auf den Leim gegangen war, der ihn letzten Endes statt zu helfen immer nur um seine Barschaft erleichtert hatte, war ihm der Glaube an Wunder abhandengekommen. Zumal er mittlerweile arm wie eine Kirchenmaus war und sich die Halunken auch gar nicht mehr hätte leisten können.
Er schüttelte sich und sog die Nachtluft tief in die Lungen ein. Die Nasenflügel blähten sich dabei auf wie die Nüstern eines Zossen, und ein paar Dutzend Herzschläge später war er endlich in der Lage, seinen Weg fortzusetzen.
Erneut begannen seine Gedanken um die Frau zu kreisen, auf die er seine letzte, seine allerletzte Hoffnung setzte. Eine Hexe sollte sie sein, und dem Vernehmen nach hauste sie abgeschieden in einem kleinen Häuschen hoch über der alten Stadt am Fluss. Das alte Mütterchen, das Gumble von ihr erzählt hatte, nachdem er ein paar Halunken in die Flucht geschlagen hatte, die sie vor ein paar Tagen nach Einbruch der Dunkelheit in Bedrängnis gebracht hatten, wusste nicht, ob die Namenlose überhaupt noch lebte. Ein Bekannter von ihr habe vor Jahren ihre Dienste in Anspruch genommen, nachdem er unheilbar an Schwindsucht erkrankte. Die Hexe, so das Mütterchen, habe nicht mehr von ihm verlangt, als er zu zahlen in der Lage gewesen sei. Danach habe sie seine Hand genommen und ihn binnen eines Lidschlags von aller Heimsuchung befreit. Der Betroffene habe nicht sagen können, wie genau das vonstattengegangen sei, aber ihm gehe es unverändert gut. Er habe seither keinerlei gesundheitliche Einschränkung mehr und fühle sich seinem Bekunden nach »wie neugeboren«.
Gumble hatte es als bloßes Gefasel abgetan, als den Versuch der Frau, ihm zu vergelten, was er für sie getan hatte. Bevor sie auseinandergegangen waren, hatte das Mütterchen ihm dennoch eine Wegbeschreibung gegeben, aber er hatte nicht vorgehabt, ihr zu folgen. Zu oft war er enttäuscht worden, und am liebsten hätte er sich einfach irgendwo verkrochen, um dem unaufhaltsam scheinenden Ende entgegenzudämmern.
Doch dann waren Anfälle in bis dahin nicht erlebter Stärke gekommen, manche so heftig, dass er geglaubt hatte, sein Kopf müsse zerspringen. Nur deshalb hatte er seine Meinung geändert und stolperte nun durch die Nacht.
Er hatte die letzten Häuser der Stadt bereits hinter sich gelassen. Im Mondlicht lag der ausgetretene Pfad vor ihm, der den bewaldeten Hang hinaufführte und sich mehrfach gabeln würde, bevor eine der Abzweigungen sich laut der alten Frau dorthin schlängeln sollte, wo das Cottage der Hexe lag.
Ein paar der markanten Stellen, die das Mütterchen ihm nannte, hatte er schon passiert, und dabei war ihm der Gedanke gekommen, dass kein Bekannter, sondern sie selbst Hilfe von der Hexe erfahren haben könnte, dies aber nicht hatte zugeben wollen.
Womöglich fürchtete sie, verfolgt zu werden.
Hexerei war nach wie vor ein heikles Thema. Besonders die Pfaffen heizten es immer wieder an.
Sei’s drum. Gumble spie verächtlich aus. Ob er im Himmel oder der Hölle landete, war ihm zwar nicht völlig gleichgültig, aber er glaubte auch nicht, es noch in der Hand zu haben. Nach dem Tod würde seine Seele gewogen werden wie die eines jeden Menschen, und danach würde der Allmächtige entscheiden, wohin er gehörte.
Wieder musste er innehalten, um den Schwindel an sich vorbeiziehen zu lassen, der die Welt zum Drehen brachte. Einmal mehr stand Gumble kurz davor, die Geduld zu verlieren. Mit sich selbst. Der Drang, sich einfach hinsinken zu lassen und im Gehölz zu verkriechen wie ein krankes Tier, drohte übermächtig zu werden. Aber dann meldete sich doch wieder diese vermaledeite Angst zu Wort, diese kreatürliche Furcht vor dem letzten Schritt, den jeder einmal tun musste, die einen jung, die anderen alt, manche noch rüstig und bei vermeintlich guter Gesundheit, andere siechend. Angst hatten alle. Vor dem Unbekannten, dem Ungewissen, dem Land Tod, aus dem niemand, der es einmal betrat, zurückkehrte.
Fast niemand, korrigierte sich Gumble. Die Lieblingsgeschichte seiner Mutter aus der Bibel war die von Lazarus gewesen, dem Toten, den der Heiland wiederweckt und ins Leben zurückgeführt hatte.
Gumbles Ma hatte niemand aus dem Erdloch zurückgeholt, in dem sie nach ihrem Tod verscharrt worden war. Genau wie all die anderen Toten in den Gräbern der Welt, von denen bislang wohl noch keiner die gleiche Gnade erfahren hatte wie dieser Lazarus.
Drauf geschissen. Der nächste Batzen Speichel landete im Irgendwo. Gumble trachtete nicht nach ewigem Leben. Ihm hätten schon ein paar Jährchen mehr genügt. Ob die Hexe, so es sie überhaupt – noch – gab, in der Lage war, ihm dazu zu verhelfen, würde sich zeigen müssen.
Hexen buhlten nach landläufiger Meinung mit dem Teufel, um ihre übersinnlichen Fähigkeiten zu erlangen und für dunkle Zwecke einzusetzen. Wie dies damit vereinbar war, was das alte Mütterchen Gumble erzählt hatte – dass diese hier Menschen half, anstatt sie ins Unglück zu stürzen –, wusste er nicht. Wahrscheinlich folgte er einem Hirngespinst. Früher hatte er für leichtgläubige Narren, wie er selbst einer geworden war, nur Verachtung übriggehabt. Früher.
Langsam entfernte er sich von den Lichtern, die die Stadt erhellten oder auf der Themse tanzten, wo Boote ankerten oder vorbeitrieben. Nur noch der runde Mond am Himmel leuchtete Gumble den Weg. Sein Silberlicht riss den schmalen Pfad aus den Schatten, der sich, wie von der Alten beschrieben, tatsächlich hier und da gabelte, und jedes Mal brauchte es eine Weile, bis er sich für eine Richtung entschieden hatte, von der er nur hoffen konnte, dass es auch die war, die ihn an sein Ziel führen würde.
Bei Tag wäre ihm die Orientierung beträchtlich leichter gefallen. Außerdem fragte er sich, ob es eine gute Idee war, eine Hexe bei Nacht und Nebel aufzusuchen. Aber wie viel Zeit blieb ihm wohl noch – und hatte einer wie er, der bereits am Abgrund balancierte, überhaupt noch etwas zu verlieren?
Wie oft hatten er und seine Zechkumpane genau darüber philosophiert. Darüber, dass es Ärgeres gab als den Tod selbst. Das Sterben war es, wovor einem angst und bange sein musste, nicht das Überschreiten der letzten Grenze. Laut der Überzeugung der meisten, mit denen er gesprochen hatte, gab es Mächte, die in der Lage waren, eine Seele festzuhalten und daran zu hindern, ins Jenseits überzuwechseln. Was sie ihr im Zuge einer solchen Attacke stattdessen anzutun vermochten, kam vermutlich dem nahe, was allsonntäglich von der Kirchenkanzel herabgepredigt wurde und womit die armen Sünder dazu gebracht werden sollten, Abbitte zu leisten.
Gumble grunzte hämisch. Die Pfaffen. Denen gehörte das Maul ebenso gestopft wie den geldgierigen Quacksalbern!
Ein unbedachter Schritt, und er geriet ins Straucheln. Er landete auf dem Boden und schlug sich den Kopf an einem Stein auf, der aus dem Boden ragte. Die Beule, die daraus erwuchs, während er sich die Stelle massierte, konnte schon bald mit der Ausbuchtung auf seiner Stirnmitte konkurrieren.
Gumble fluchte, rappelte sich auf und hastete weiter. Er verschärfte sogar das Tempo, weil es einerlei war, ob er noch einmal stürzte und sich weitere Verletzungen zufügte. Falls die Hexe existierte und falls sie über die Kräfte gebot, die das Mütterchen ihm beschrieben, würde es keinen Unterschied machen, ob er mit ein paar Schrammen mehr zu ihr kam oder »nur« mit dem, was ihm ohne das erhoffte Wunder den Garaus machen würde.
Und so rannte, taumelte und stolperte er weiter durch die Nacht, kam mehrfach vom Weg ab, verstrickte sich im Gestrüpp, schaffte es am Ende aber doch immer wieder, sich daraus zu befreien und auf den Pfad zurückzufinden.
Als vor ihm ein Schimmer auftauchte, hielt er es zunächst für eine Täuschung. Doch schon wenig später lichtete sich das Dickicht, und die Umrisse einer Kate, eines kleinen Häuschens, tauchten vor ihm auf. Prompt verließen Gumble die Kräfte. Er stürzte nach vorn, auf die Knie und musste sich mit den Händen anfangen. In dieser Haltung harrte er aus und schöpfte erst einmal Atem. Schließlich schleppte er sich weiter auf das Cottage zu, erreichte aber dessen Tür nicht, weil zuvor ihn etwas erreichte.
Eine Stimme.
Eine Stimme, die elektrisierte und der eine hypnotische Kraft innewohnte.
Gumble konnte gar nicht anders, als ihr zu folgen. Er ließ das Häuschen, das er als ursprüngliches Ziel seiner Suche betrachtet hatte, rechter Hand liegen und orientierte sich in den Bereich dahinter, tauchte in den Garten ein, der mit sanfter Neigung stadtwärts verlief und in seinem äußersten umfriedeten Winkel von einem abseitigen Schimmer erfüllt war, von dem Gumble im Nachhinein erkannte, dass er es gewesen war, der ihn sein letztes Wegstück geleitet hatte. Kein Licht, wie Gaslaternen, Kerzen oder anderes Feuer es verströmten, nein, der Schimmer schien aus einer anderen Welt oder Zwischenwelt zu kommen, wenn nicht gar …
Wenn nicht gar aus dem Jenseits selbst.
Gumble erschauderte. Seine Beine verselbstständigten sich. Schritt um Schritt brachten sie ihn dem Treiben näher, das sich dort, im hintersten Winkel des Gartens abspielte und das deutlich machte, dass es die Hexe, die das Mütterchen ihm beschrieben hatte, tatsächlich noch gab. Es schnürte Gumble die Kehle zu, sie so dastehen zu sehen, umhüllt von Nacht und Mondenschein wie von einem Umhang, der aus den Elementen selbst gewoben schien.
Eine alte Frau, die keinerlei Ähnlichkeit mit der gutherzigen Menschenfreundin hatte, als die sie ihm gepriesen worden war und die sich Gumble zuwandte, als hätte sie seine Witterung aufgenommen.
Alles Licht, das die Nacht bis dahin erhellt hatte, stürzte in die Hexe hinein, als könne sich nichts ihrem Willen und ihrer Anziehungskraft entziehen. Einer tieferen Dunkelheit hatte sich Gumble nie ausgesetzt gesehen. Absolute Schwärze.
Doch er erhielt keine Gelegenheit, sich weiter damit auseinanderzusetzen.
Die »Hexe« schickte ihm etwas entgegen, das die schreckliche Finsternis jäh aufriss.
Der Blitz entledigte Ray Gumble all seiner Ängste und Sorgen, wenn auch in anderer Weise, als von ihm erhofft.
Anschließend breitete sich der Gestank schmorenden Fleisches aus, und leiser Donner rollte den Hügel hinab.
☆
Die Hexe ging zu dem verkohlten Leichnam. Die Hitze hatte den Mann – um einen solchen handelte es sich zweifellos, so viel war noch erkennbar – schwer verunstaltet.
Carrie Bird erinnerte sich nicht, ihn jemals zuvor gesehen zu haben. Warum er sich zu dieser späten Stunde in ihren Garten verirrt hatte, konnte sie nur erahnen, aber es interessierte sie auch nicht wirklich. Auch nicht, dass sie ihm keine Chance gelassen hatte, sich zu erklären. Ihre Prioritäten hatten sich verschoben, genau wie ihr moralischer Kompass nicht mehr in die gleiche Richtung zeigte wie noch vor Jahren. Das ganze Leben war Veränderung. Anfangs hatte sie noch gegen die Einflüsterungen angekämpft, aber mittlerweile glaubte sie ihnen. Rücksichtnahme war der falsche Weg. Und falsche Rücksichtnahme hatte ihr lange genug jede Chance verbaut, wieder zum Ausgangspunkt ihrer Odyssee zurückzukehren: in die Zukunft, aus der sie stammte.
Mehr erbost über die Störung, als erschüttert über ihre brutale Reaktion zu sein, kehrte sie zu den Phantomen zurück, die sich schemenhaft wie Geister in einer Ecke ihres Gartens erhoben und die Öffnungen ihrer Kelche nach oben gebogen hatten, als versuchten sie, das Licht der Sterne zu trinken, das vom Firmament auf sie herabfiel.
Tatsächlich war es jedoch nur ihre Art, Carrie die kalte Schulter zu zeigen; ihr zu demonstrieren, wie sie sie verachteten und auch weiterhin mit Ignoranz zu strafen gedachten. Nur deshalb, davon war Carrie inzwischen überzeugt, hatten sie sich in diesen transzendenten Zustand versetzt.
Als Sperre für mich. Um zu verhindern, dass ich sie für den Zweck benutze, für den sie gemacht sind: Menschen und Dinge zu transportieren, über die Abgründe von Raum und Zeit.
Nachdem ihre Gabe zumindest darin versagte, zeitliche Strecken zurückzulegen, wären die Blumen die einzige Möglichkeit gewesen, wieder »nach Hause« zurückzukehren. Dass sie ihr dies gezielt verwehrten, wie Carrie glaubte, verzieh sie ihnen nicht. Und so hatte sich mit jedem Jahr mehr in der Verbannung ihr Hass auf die magischen Gewächse gesteigert. Mittlerweile wünschte sie ihnen die Pest an den Hals, und es verging kein Tag, an dem sie ihnen das nicht auch sagte.
Es waren stets leere Drohungen gewesen, die sie den »Geisterblumen« entgegengeschleudert hatte, wüste Beschimpfungen, von denen sie sich völlig unbeeindruckt zeigten. Aber auch das hatte sich geändert. Vor fast auf den Tag genau siebzehn Jahren. Damals war ein Instrument in Carries Besitz gelangt, von dem sie bis dahin nicht einmal zu träumen gewagt hätte; ein so mächtiges Artefakt, dass selbst die Phantomblumen davor zitterten.
Auch jetzt konnte sie deren Angst spüren. Ihre Panik und Hilflosigkeit.
Zamorras Amulett.
Merlins Stern.
Mit dem sie gerade – so beiläufig, wie man eine lästige Fliege erschlägt – ein Menschenleben ausgelöscht hatte.
Carrie hielt sich nicht mit Schuldgefühlen auf, sondern setzte das Unterbrochene fort. Die Magie des Amuletts floss auf die Geisterblumen über und wirkte in der gleichen Weise auf sie ein wie in zahllosen Nächten zuvor. Carrie konnte spüren, wie der Widerstand der Blumen mehr und mehr bröckelte. Die Teilerfolge gaben Anlass zur Hoffnung, dass sie bald nicht mehr auf das Wohlwollen der magischen Blumen angewiesen sein würde, um heimzukehren, sondern die Heimkehr erzwingen konnte.
Ich habe euch fast so weit, fast …
Was sie jetzt schon vermochte, war, mithilfe des Amuletts, das ihr in den Schoß gefallen war, in die Struktur der Blumen einzudringen, ihre Gedanken und Empfindungen zu lesen. Das Lesen war das eine, sie zu beeinflussen musste der nächste Schritt sein, und wenn das erst geschafft war, würde es kein Halten mehr geben.
Ich hatte euch gewarnt, bohrte sich Carrie in das Denken der Geister, die sich hin und her bogen, als ginge ein Sturm über sie hinweg. Sie bäumten sich auf und zuckten Carrie sogar entgegen wie Schlangen, die nach ihrer Beute schnappten. Doch die Attacken gingen ins Leere, woran die Blumen selbst schuld waren, da ihre Transzendenz ihnen nicht nur Vorteile brachte, sondern sie nun daran hinderte, Carrie auch nur einen Kratzer zuzufügen.
Wie oft habe ich vor euch gestanden und darum gebettelt, dass ihr mich erhört, mir helft? Dachtet ihr, mit eurer Ignoranz und Arroganz durchzukommen? Dachtet ihr, ich fände nie den Hebel, den ich ansetzen kann, um euch das Fürchten zu lehren?
Sie mussten geglaubt haben, es aussitzen zu können. Natürlich hatten sie bemerkt, dass Carrie stetig älter wurde. Aber spätestens als dieser Prozess ins Stocken geraten war, hätten sie erkennen müssen, dass es ratsamer wäre, einzulenken und ihre Vergebung zu erflehen. Vielleicht hätte sie das besänftigt. Es wäre darauf angekommen, wie glaubhaft die Reue der Regenbogenblumen bei ihr angekommen wäre.
Aber davon konnte gar nicht die Rede sein. Die Pflanzen waren störrisch wie eh und je. Von Einsicht keine Spur. Und damit hatten sie ihr Schicksal besiegelt. Bei jedem Kontakt schwor Carrie ihnen inbrünstiger, sie für ihre Verweigerung büßen zu lassen. Und seit das Amulett, das sie Algernon Crawry abgenommen hatte, ihre Drohung untermauerte, schien es den Elenden zu dämmern, dass sie den Bogen überspannt und den Zeitpunkt zur Umkehr und Einsicht verpasst hatten.
Nun war es zu spät.
Die Magie des Sterns wütete in dieser Nacht heftiger denn je in den Phantomblumen und offenbarte die Verzweiflung, die sie beherrschte; beherrschte und zu einem letzten Befreiungsschlag ausholen ließ.
Carrie sog jedes Detail des Plans in sich auf, mit dem die Blumen hofften, sich ihrer entledigen zu können.
Obwohl sie die Identität der Person, die ihnen dabei helfen sollte, zu verschleiern versuchten, blieb sie Carrie nicht verborgen. Die Pläne waren noch nicht allzu weit gediehen, sodass Carrie sich mit den Mitteln, über die sie verfügte, zutraute, das Unternehmen schon im Keim ersticken zu können.
Aber warum sollte sie? Wäre es nicht reizvoller, den Gesandten der Regenbogenblumen zu empfangen?
Das Einzige, das sie tun musste, war, die Blumen daran zu hindern, ihrem Helfer die Identität des Feindes zu verraten, den er überwältigen und ausschalten sollte.
Gesagt, getan.
Carrie konnte es kaum erwarten, Besuch aus der Zukunft zu erhalten …
… und die Falle zuschnappen zu lassen.
Saint-Cyriac,2019