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Nie hatte er sich elender gefühlt. Nie verlassener. Nie verlorener.
Thierry Bouchard irrte durch ein unüberschaubares Gewirr von Gängen, nur begleitet vom Widerhall der eigenen Schritte.
Immer wieder rief er: "Maman! - Papa!"
Eine Antwort erhielt er nicht. Wie auch, hatte er doch mitansehen müssen, wie beide starben.
Immer tiefer drang er in das Stollensystem vor, von dem er nicht ahnte, dass es zweimal existierte. Auf unterschiedlichen Realitätsebenen. Genau wie das auf dem Bergfried thronende, über tausendjährige Schloss. Die neue Bastion der Finsternis: Château Montagne.
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Seitenzahl: 153
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Steinerne Flut
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Impressum
Steinerne Flut
von Adrian Doyle
Nie hatte er sich elender gefühlt. Nie verlassener. Nie verlorener.
Thierry Bouchard irrte durch ein unüberschaubares Gewirr von Gängen, nur begleitet vom Widerhall der eigenen Schritte.
Immer wieder rief er: »Maman! – Papa!«
Eine Antwort erhielt er nicht. Wie auch, hatte er doch mitansehen müssen, wie beide starben.
Immer tiefer drang er in das Stollensystem vor, von dem er nicht ahnte, dass es zweimal existierte. Auf unterschiedlichen Realitätsebenen. Genau wie das auf dem Bergfried thronende, über tausendjährige Schloss. Die neue Bastion der Finsternis: Château Montagne.
Vergangenheit
Thierry Bouchard fuhr hoch. Er hatte das Gefühl, länger als jemals zuvor geschlafen zu haben.
Zwielicht erfüllte den Raum, der zwar den gleichen Schnitt, das gleiche Mobiliar aufwies wie der, in dem er (wann, vor Stunden oder Wochen?) auf dem Sofa eingenickt war, der aber dennoch beklemmend fremd auf den Jungen wirkte.
Die tatsächlichen Unterschiede waren gering und sprachen eher sein Unterbewusstsein an, als dass er sie genau hätte benennen können. Woran er sich jedoch ganz genau erinnerte, war, dass er sich vor dem Einschlafen nicht annähernd so allein und einsam gefühlt hatte wie jetzt; ein Eindruck, der bis in den verstörenden Traum hinein gewirkt hatte, aus dem er gerade erwacht war.
Der Professor hatte ihn in seine Obhut genommen, nachdem Thierrys Dorf und Elternhaus von dem Schrecklichem heimgesucht worden war, das in seinen Vater gefahren war und durch ihn, durch dessen Mörderhand, auch noch die Mutter umgebracht hatte.
All das war vor Thierrys Augen geschehen, und er hatte sich nicht dagegen tun können, war ja selbst gejagt worden ...
... und dann, als er schon unentrinnbar in der Falle gesessen hatte, wie durch ein Wunder doch verschont worden. Von dem Monster mit den Nebelaugen, dessen Blick er nie mehr vergessen würde. Das Monster, das einmal sein Papa gewesen war, bevor der unheimliche Nebel in ihn gefahren war und ihn gezwungen hatte, Dinge zu tun, Dinge ...
Thierry stöhnte auf.
Plötzlich erinnerte er sich wieder, was genau passiert war, bevor sich Nacht über seinen Geist gesenkt hatte.
Die Bewohner des Dorfes waren zur Burg gezogen, auch sie besessen von den Gespenstern, die schuld an allem waren. Seelenreste, hatte die Mademoiselle sie genannt, die Frau des Schlossbesitzers, die immer wieder auf ihn eingeredet und ihm die Wahrheit, die er geschaut hatte, nach und nach entlockt hatte.
Seelenreste.
Thierry hatte nicht verstanden, woher diese ... Reste stammten und warum sie so wütend auf seinen Papa und seine Maman gewesen waren, aber er wusste, wozu sie fähig sein konnten, wenn sie in Menschen eindrangen, in deren Köpfe, denn dann waren sie in der Lage, sie sie zwingen, selbst die schlimmsten Verbrechen zu begehen!
Lucia hatte auf ihn aufgepasst, als der Professor und seine Frau, die Mademoiselle, den Leuten aus Saint-Cyriac, denen das Böse in die Leiber gefahren war, draußen vor der Burg entgegengetreten waren.
Was weiter passiert war, wusste Thierry nicht, weil ihn drinnen – hier in diesem Zimmer –, während Lucia auf ihn achtgab, der Schlaf übermannt hatte.
Was grotesk genug war, weil er doch seit Langem schon gar nicht mehr schlafen konnte, keine verdammte Sekunde, seit Monaten nicht mehr!
Ein Mysterium, das seine Eltern veranlasst hatte, mit ihm zum Doktor zu gehen. Aber die Untersuchungen mit den bescheidenen Mitteln (armselig, hatte sein Papa gesagt, armseligen Mitteln), über die die Praxis ihres Hausarztes verfügte, hatten nichts zutage gebracht, was Thierrys Behauptung hätte stützen können. Und so waren alle Nachforschungen zur Ursache seiner Schlaflosigkeit im Sande verlaufen. Vielleicht hätte die stationäre Aufnahme in einer Klinik mehr herausfinden können, aber zu diesem Schritt hatten sich Thierrys Eltern um seinetwillen nicht durchringen können.
Und jetzt war es zu spät. Jetzt war sein Papa zu Asche verbrannt, und seine Maman hatte mit durchgeschnittener Kehle dagelegen. Die tödliche Verletzung hatte Eugène, ihr Ehemann (und damit Thierrys Papa), ihr beigebracht.
Die bloße Erinnerung an den Mann, der selbst tot noch genug Kraft und Zerstörungswut in sich angestaut hatte, dass er auch seinen Sohn verfolgt und ihm nach dem Leben getrachtet hatte, brachte Thierry zum Erzittern.
Die traumatischen Bilder schienen sich wie mit Widerborsten in Thierrys Seele gebohrt zu haben und darin festzuklammern, als wollten sie ihn nie mehr loslassen.
All das huschte streiflichtartig vor dem inneren Auge des Jungen vorbei, während er im Geiste immer noch durch Gänge irrte, die ein anderer als stockfinster wahrgenommen hätte, Thierry aber ... Nun, er wusste selbst nicht, wie genau er sich darin orientierte, selbst jetzt noch, da er glaubte, wach zu sein, Ob da noch ein wenig Restlicht war (nur, woher hätte es strömen sollen?), an das seine Augen sich inzwischen gewöhnt hatten und das sie verwerten konnten. Oder ob es geheimere Sinne gab, die ihm ein Fortkommen ermöglichten, ohne auch nur ein einziges Mal irgendwo anzustoßen.
Er stutzte, als ihm auffiel, dass er nach Erklärungen für etwas suchte, das ja gar nicht wirklich war. Er hatte geträumt und tat es, wie im Nachhall, immer noch. Punkt, basta, aus.
Kaum weniger verunsichert als gerade noch im Schlaf, erhob er sich und durchmaß das Kaminzimmer mit erst unbeholfenen, aber zunehmend sicherer werdenden Schritten.
Die Tür: Nachdem er sie geöffnete hatte, blickte er in einen Bereich, den er ebenfalls schon kannte – nur war er auf gleiche Weise anders und verändert wie schon das Zimmer.
Thierry erinnerte sich, sich schon vor den Morden, die ihn zur Waisen gemacht hatten, in seiner Vorstellung durch dieses Schloss gewandert zu sein. Der Anblick von außen war ihm seit frühester Kindheit vertraut, seit Bewusstsein und die Fähigkeit der Selbstreflexion in ihm erwacht waren.
Und in seiner Vorstellung, daran musste er jetzt denken, war das Château immer verlassen gewesen, menschenleer.
So wie es sich ihm auch gerade präsentierte. So wie sein Gefühl es ihm nahelegte.
Der Grad seiner Verwirrung stieg.
Wo waren die Leute, die ihn hergebracht hatten, der Professor und dessen Frau, dann noch dieser seltsame Mönch, der nicht wie ein Franzose aussah, sondern mehr Ähnlichkeit mit einer Figur aus dem Comic hatte, den sein Papa ihm einmal aus Lyon mitgebracht –
Als Nächstes steuerten seine Beine wie von selbst das große Portal an, durch das man nach draußen auf die Straße gelangte, die den Berg hinunter zum Dorf führte.
Aber bevor er den Ausgang erreichte, hörte er eine Stimme hinter sich sagen: »Ah, du bist wach! Das wird deinen Erzeuger freuen.«
Thierry wirbelte herum, kreidebleich. Namenloses Grauen überkam ihn.
Ein einziger Blick genügte, um zu erkennen, dass vor ihm kein Mensch stand.
Aber, du lieber Gott, was denn sonst?!
Die Gestalt erweckte nicht den Anschein, aus Fleisch und Blut zu sein. Vielmehr wirkte sie wie aus reinem Metall gegossen, einem der edelsten noch dazu: aus Silber. Und auch ihre Robe war nicht aus normalem Stoff genäht, sondern setzte sich aus kunstvoll und dicht gewebten Fäden zusammen, vom gleichen Glanz wie der davon bedeckte Leib.
Von der Form her erinnerte das Kleidungsstück an die Kutte jenes Mannes, den Thierry im Wald vor dem Schloss gesehen hatte, an dem Morgen, als er sich den Berg hinaufgezogen gefühlt hatte. Dabei war er auf den Mönch gestoßen, von dem er inzwischen wusste, dass auch er unter dem Dach des Professors Quartier genommen hatte. Im Dorf war er Thierry jedoch noch nie aufgefallen.
Diese erste Sichtung des Kuttenträgers hatte sich am Tag nach der Tragödie ereignet, der seine Eltern zum Opfer gefallen waren.
Also ... gestern?
Er schüttelte sich – einerseits vor Furcht, andererseits aber auch, weil er sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass viel mehr Zeit als nur ein Tag zwischen dem Sterben seiner Eltern und diesem Moment jetzt gerade lag.
»Gehen Sie weg! Wer ... wer sind Sie? Und was haben Sie gesagt? – Ich will zum Professor! Oder der netten Frau, die mir die heiße Schokolade gegeben hat! Egal, nur nicht ...«
Der Silberne machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich fürchte, du wirst dich an mich gewöhnen müssen. Und die, von denen du gerade gesprochen hast, solltest du vergessen. Je eher, desto besser.«
Damit schwand auch das letzte Fünkchen Hoffnung, sich in der Erscheinung zu täuschen; die Hoffnung, dass der seltsame Fremde ein weiterer noch nie von Thierry gesehener Freund des Professors war und dass der Professor selbst im nächsten Moment um die Ecke kommen könnte, um ihn zu beruhigen und ... und ...
In dem Moment, in dem Thierry begriff, dass sein Leben eine weitere, schreckliche Wendung erfahren hatte – eine, mit der kein Zehnjähriger auf der ganzen Welt zurechtgekommen wäre –, wollte er nur noch eins: wegrennen und sich irgendwo verkriechen!
Aber das ließ der aus Silber Gegossene nicht zu. Thierry hatte keine Ahnung, wie er es machte, aber er war sicher, dass sein Gegenüber dahintersteckte. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Sein Wille hatte keinen Zugriff mehr auf ihn. Er kam sich vor wie gelähmt.
»Mein Name ist übrigens Thibaut. Aber du darfst mich Ti nennen, wie dein Erzeuger auch.«
Thierry hatte das Verlangen, die Hand zu heben und sich die Faust in den Mund zu stecken, um nicht laut losbrüllen zu müssen. Aber nicht einmal das ließ die Knechtung seines Geistes noch zu.
»Und jetzt«, fuhr der Mann mit der Silberhaut fort, »erklär mir, wie du es gemacht hast!«
»Was ge... gemacht?«
»Spiel nicht den Ahnungslosen. Erklär es mir, oder du lernst mich kennen!«
Ein Schauer durchlief den Zehnjährigen, erst recht, als der Unheimliche ihm eine Kostprobe seiner Talente gab.
»Ich schwöre – ich weiß nichts von alledem! Wo ist der Professor? Ich will zu ihm! Er hat versprochen, sich zu kümmern ... mir zu helfen! Meine Maman ...«
Der Unheimliche – Ti – starrte ihn mit seinen mitleidlosen Augen so stechend an, dass Thierry verstummte.
Er gewann den Eindruck, als würden die Tätowierungen, die sich über die unbedeckte Metallhaut verteilten, in düsterem Rot aufleuchten. Es erinnerte an die Glut eines Feuers, und unweigerlich stellte Thierry sich vor, dass im Inneren des gespenstischen Körpers eben ein solches brennen könnte: ein Feuer, wie es sonst nur in der Hölle loderte, von der Pater Ralph einmal mit eindringlichen Worten bei einer Versammlung von Erwachsenen gewarnt hatte; damals hatte niemand bemerkt, dass ein paar Jungs – Thierry mit seinen ehemals besten Freunden Philippe und Pascal – sich heimlich im Saal des Gemeindehauses versteckt hatten, um herauszufinden, was bei einer eilends einberufenen Zusammenkunft wohl so Dringliches von den Alten besprochen werden sollte.
Das Trio hatte nicht viel von dem hitzig Diskutierten verstanden, aber selbst das Wenige hatte gereicht, dass sie tagelang durch den Wind waren und es zwischen ihnen kein anderes Thema mehr gegeben hatte als die Schreckgespenster, die der Pater als Wortführer heraufbeschworen hatte. Schon damals schienen auch das Schloss des Professors und der Professor selbst, obwohl nicht anwesend, eine herausragende Rolle gespielt zu haben. Es war herauszuhören gewesen, dass man ihm allein zutraute, der Gefahr, die niemand recht beim Namen nennen wollte, Einhalt zu gebieten.
»Du wirst einige Lektionen lernen müssen, bis du des Standes würdig bist, den der Meister dir zubilligen will. Ich selbst, das sollst du wissen, hege große Zweifel, dass du es verdienst, in unsere Kreise aufgenommen zu werden. Aber überrasche mich. Widerlege mich. Das Kunststück vorhin beweist immerhin, dass du Anlagen hast, die denen deines Erzeugers zumindest ähnlich sind. Als ich ihn zu mir nahm und mit seiner Schulung begann, war er sogar noch zwei Jahre jünger als du.«
Je mehr der Silberne redete, umso weniger verstand Thierry. Vor Aufregung und Angst war er kaum in der Lage, den Sinn der Worte, die sich an ihn richteten, zu erfassen.
Kein Mensch hatte je so mit ihm gesprochen.
Wobei ... Mensch?
»Wer«, krächzte er, »nein: Was sind sie?«
»Alles zu seiner Zeit. Momentan geht es ganz allein um dich. Und deinen Trick.«
Noch genauso ratlos wie zuvor, versuchte Thierry das Zittern, das sich seiner bemächtigt hatte, zu unterdrücken.
Der Unheimliche studierte ihn eine Weile wie ein seltenes Insekt. Dann nickte er und schüttelte gleich im Anschluss den Kopf, als wäre er zu neuer Überzeugung gelangt.
»Du weißt wirklich nicht, was ich meine!«
Thierry kniff die Lippen zusammen.
»Vorhin – als du dort lagst und so tatest, als würdest du schlafen, da war ich bei dir. Wusstest du das?«
Thierry verneinte.
»Ich habe ein Auge auf dich, seit der Meister gegangen ist. Er verlässt sich auf mich. Dir darf nichts zustoßen, sagt er. Nichts, was dich umbrächte jedenfalls. Aber das lässt einigen Spielraum, findest du nicht auch?«
Thierrys Mund war pulvertrocken.
»Jedenfalls«, fuhr der Silberne fort, »warst du mit einem Mal verschwunden. Zwischen zwei Blicken – einfach weg. Nicht auf der anderen Seite, sondern unauffindbar. Nicht lange, aber zu lange. Davon spreche ich. Diesen Trick meine ich. Wie hast du es gemacht?«
Der Silberhäutige sprach nicht nur bedrohlich, sondern auch immer mehr in Rätseln. Was um alles in der Welt meinte er mit »andere Seite«?
Immerhin hatte er durchblicken lassen, welches Geheimnis er von ihm, Thierry, gelüftet haben wollte. Nur dass der Junge ihm seine dahingehende Frage nicht beantworten konnte. Von seinem angeblichen Verschwinden und Wiederauftauchen hatte er nichts mitbekommen, außer ...
Er spürte, wie sein Blut in Wallung geriet, als er sich fragte, ob das, was er im Traum erlebt zu haben meinte, vielleicht gar kein Traum gewesen war. Dieses steinerne Labyrinth, durch das er geirrt war, gab es das am Ende wirklich? Aber wie hätte er dorthin und wieder zurück gelangen sollen, ohne das Sofa zu verlassen, auf dem er eingeschlafen und wieder aufgewacht war?
Ich müsste zaubern können, um so etwas hinzubekommen, dachte er. Und als Nächstes: Ich wünschte, ich könnte es, denn dann ...
... dann hätte er als Erstes seine Maman zurückgeholt, hätte er ihren und den Tod – die brutale Veränderung – seines Vaters rückgängig gemacht!
Aber wenn Thierry sich einer Sache ganz sicher war, dann der, dass der Schrecken, den seine Eltern mit dem Leben hatten bezahlen, nicht reparierbar war, nicht korrigierbar. Sie waren gestorben und würden tot bleiben. Und auch ihr Sohn hatte längst nicht alles überstanden. Die seelischen Blessuren würden, wenn überhaupt, nur mühsam verheilen. Aber davon abgesehen gab es nun auch noch die Tyrannei des Silbernen, der hier auf dem Schloss, von dem die Leute sich doch erzählten, es sei in ganz besonderer Weise gegen Geister und Dämonen geschützt, schalten und walten konnte, wie ihm beliebte!
Warum? Warum gebot der Professor, der doch das Sagen hier haben sollte, dem keinen Einhalt?
Der Silberhäutige machte einen plötzlichen Ausfallschritt auf Thierry zu und packte ihn so fest an beiden Armen, dass der Junge aufschrie.
»Deine Reaktion spricht für dich«, raunte er ihm zu. »Nicht das jämmerliche Gewinsel, das du von dir gibst, als würde ich dich häuten – aber die Ahnungslosigkeit, die ich in deinem Gesicht lese! Ich bin bereit, dir zu glauben. Noch zumindest. Was nicht bedeutet, dass ich dich so einfach davonkommen lasse.«
Die Worte peitschten Thierry durch ein Wechselbad der Gefühle. Kurzzeitige Erleichterung wich sofort wieder neu aufkeimender Angst, was sein Peiniger sich für ihn ausgedacht haben mochte.
»Bitte ... lassen Sie mich zum Professor! Sie ... Sie verwechseln mich mit jemandem! Bestimmt tun Sie das ...«
Die Miene des Unheimlichen blieb ausdruckslos. Dafür geriet etwas anderes in Bewegung: seine Haut!
Nacheinander ließ Thibaut beide Arme des Jungen los, der dies aber nicht nutzen konnte, weil die bloße Nähe des Silbernen ihm den Mut zur Flucht raubte.
Wäre ich zu dem in der Lage, was Thibaut mir unterstellt, würde ich meine Zauberkraft doch dazu nutzen, mich ihm zu entziehen! Warum begreift er das nicht?
Seine Gedanken wurden von dem abgelenkt, was sich an Thibaut abspielte. Wieder kamen dessen Hände ins Spiel, eine zumindest; die, mit der er erneut zupackte und diesmal Thierrys linken Unterarm umklammerte!
»Bit-te ...!«
Erneut fluteten Tränen die Augen des Jungen, und so sah er nur verschwommen, was weiter geschah. Aber es war auch fühlbar. Als schöbe sich etwas von der stählern die Mitte des Unterarms umklammernden Silberhand über Thierrys Haut bis hin zum Handgelenk, wo es dieses umfloss. Anfangs eisig kalt, aber sich schnell anpassend, sodass es rasch die Temperatur des von ihm umschlungenen Fleisches annahm.
Als Thierry panisch nach dem Fremdkörper greifen und ihn von sich schleudern wollte, unterband Thibaut dies sofort. Das Einzige, was dem Jungen noch blieb, war, zu versuchen, die Tränen wegzublinzeln, um wenigstens klar zu sehen, was der Silberne ihm gerade antat – oder angetan hatte.
Zu seinem Erstaunen schmiegte sich lediglich ein Band um sein Gelenk; ein Reif von der gleichen Farbe und aus dem gleichen Material, aus dem Thibauts Leib zu bestehen schien. Es gab sogar ein einzelnes Zeichen, ähnlich denen, die die Haut des Unheimlichen zierten; es prangte dort, wo bei einer Armbanduhr das Uhrengehäuse befestigt gewesen wäre.
»Was ...«
Thierry überlegte, aus welcher Tasche seiner Kutte Thibaut das Band genommen haben könnte, denn es war keine zu sehen. Glatt und makellos, ohne eine einzige sichtbare Naht, fiel der Silberstoff an ihm herab.
Aber obwohl sein Blick danach suchte, wusste sein Herz doch längst, was tatsächlich geschehen war; dass der Reif sich aus etwas gebildet hatte, das zuvor Bestandteil des Silbernen gewesen war, von ihm aber offenbar allein kraft seiner Gedanken abgespalten und angewiesen worden war, sich zu dem zu formen, was Thierrys Handgelenk nun eng, aber nicht schmerzhaft umschloss!
Der bloße Umstand, dass das Band von Thibaut stammte, brachte Thierry zum Aufheulen. »Mach das weg! Mach es sofort wieder weg! Ich will das nicht!«
Unerwartet ließ der Silberhäutige ihn los. Thierry taumelte einen Schritt nach vorn, bevor er sich wieder fing. Im nächsten Atemzug nutzte er die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit, um selbst zu versuchen, das fingerbreite, hauchdünn anmutende Band von sich zu zerren. Aber es saß so fest, als wäre es mit ihm verwachsen. Wie der Ehering, den Thierrys Großmutter bis zu ihrem Tod als Erinnerung an ihren schon viel früher verstorbenen Mann immer noch getragen hatte.
(Wie oft hatte sie ihn lachend gefoppt: »Wenn du ihn runterziehen kannst, gehört er dir!« – und natürlich war das unmöglich gewesen, was sie genau wusste. Thierry hatte es nach den ersten Versuchen auch festgestellt, trotzdem hatte er sich immer wieder auf das Spiel eingelassen, weil er seine Oma damit erheiterte. Sie war eine so liebe Frau gewesen. Die ältere Ausgabe seiner Mutter.)
Er kämpfte gegen den Schmerz an, den die Erinnerung in ihm auslöste.
»Gefällt es dir nicht?«, fragte Thibaut.
»Nein!«
»Es ist zu deiner Sicherheit. So kann ich dich künftig finden, falls dir wieder einfallen sollte, dich davonzustehlen mit deinem Trick.«
Die Ohnmacht, dem Schrecklichen einfach nicht begreiflich machen zu können, dass es keinen Trick gab und Thierry dementsprechend auch keine Erklärung dazu abgeben konnte, brachte den Jungen fast um den Verstand.
»Ich will gehen! Lass mich gehen!«
Thibaut nickte. »Nur zu.«