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Der Hüne stöhnte auf. Das Entartete griff nach ihm und zerrte ihn von seiner Begleiterin fort, die davon ebenso überrumpelt wurde wie er.
Gerade noch hatte Emeric Rifaud in der Licht durchfluteten Eingangshalle gestanden und die Atmosphäre des unheimlichen Hauses auf sich einwirken lassen ...
... und im nächsten Moment war es, als würden sich die Fänge unsichtbarer Bestien in seine Haut graben, sie aufreißen und sich hineinwühlen, um sich an seinem Fleisch und seinem Blut zu ergötzen.
Und an seinen Qualen.
Das vor allen Dingen, seinen Qualen.
Er hörte noch, wie Moira nach ihm rief - vergeblich rief -, dann erlosch auch die letzte Verbindung zum Reich der Lebenden ...
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Seitenzahl: 163
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Der Chronist des Grauens
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Impressum
Der Chronist des Grauens
von Adrian Doyle
Daphne Vigan, die Aufnahmeleiterin des Fernsehteams, das sich bei Eribon einquartiert hatte, schrie hell auf. Ihre Hand war gegen etwas gestoßen, das sich wie – welch aberwitzige Assoziation! – glühendes Fleisch angefühlt hatte.
Schließlich kehrte übergangslos das Licht zurück, und was bis dahin lediglich ein Verdacht gewesen war, bestätigte sich nun in erschreckender Weise: Vor ihnen auf dem abgewetzten Berber-Teppich kauerte eine menschliche Gestalt wie ein in die Enge getriebenes Raubtier, der Körper nackt und dampfend, als hätte die Hölle selbst ihn ausgespien ...
Der Hüne stöhnte auf. Das Grauen griff nach ihm und zerrte ihn von seiner Begleiterin weg, die davon ebenso überrumpelt wurde wie er.
Gerade noch hatte Emeric Rifaud in der Licht durchfluteten Eingangshalle gestanden und die Atmosphäre des unheimlichen Hauses auf sich einwirken lassen ...
... und im nächsten Moment war es, als würden sich ihm die Fänge unsichtbarer Bestien in die Haut graben, sie aufreißen und sich hineinwühlen, um sich an seinem Fleisch und Blut zu ergötzen.
Und an seinen Qualen.
Das vor allen Dingen, seinen Qualen.
Er hörte noch, wie Moira nach ihm rief – vergeblich rief –, dann erlosch auch die letzte Verbindung zum Reich der Lebenden.
Von einem Moment zum anderen erlosch auch die Illusion, sich an einem normalen Tatort aufzuhalten.
Nein, sie erlosch nicht einfach – sie zerbarst.
Moira Cobert sah ihren Partner neben sich verschwinden, als würde eine Kreidezeichnung von einer Tafel gewischt. Oder als würde ihn ein Grafikwerkzeug digital aus einem »Film« herausschneiden, ohne dabei die Struktur des Raumes – das, was allgemein als Realität missverstanden wurde –, in dem es stattfand, zu verletzen.
Geschockt und überrumpelt zugleich trat sie zu der Stelle, an der sie ihn zuletzt gesehen hatte und rief seinen Namen. Die Panik, die sich dabei ihrer Gedanken, mehr noch ihrer Stimme bemächtigte, war ihr in dieser Form fremd.
Aber sie war auch noch nie zuvor in eine Situation geraten, in der sie sich von einem Herzschlag zum nächsten ihres Mitstreiters beraubt gesehen hätte. Eine Grundregel der Section und ihrer Agenten lautete, sich nie ohne personelle Absicherung und Rückendeckung in eine Gefahr zu begeben. Und daran hatten Onyx und sie sich strikt gehalten. Es war auch nicht ihr erster gemeinsamer Einsatz in dieser Konstellation. Sie vertrauten einander blind. Aber jetzt ...
... habe ich ihn im Stich gelassen!
Der Gedanke brannte sich seinen Weg wie Säure durch ihr Gehirn.
Genauso kam es ihr vor: als hätte sie ihre Pflicht der Absicherung vernachlässigt und dadurch erst ermöglicht, dass –
Dass was?
»Emeric! Wenn du mich hören kannst, gib mir ein Lebenszeichen!«
Der Raum, in dem sie stand, schien auf ihre Worte zu reagieren, bäumte sich ihr entgegen. Wände und Decke kamen auf sie zu, als wollten sie über ihr einstürzen und sie unter sich begraben, zum Schweigen bringen.
Die Agentin hob in aussichtslos anmutender Abwehr die Arme, kämpfte dabei um Gleichgewicht und Verstand.
Für einen Moment glaubte sie, Emerics Umrisse auszumachen, irgendwo vor ihr, und war da nicht auch seine Stimme zu hören wie das ferne Heulen eines Sturms?
Warum wirkten die Schutzzeichen nicht, die sie am Leib trugen? Die geweihten Symbole, die zur Standardausrüstung eines Sectionsagenten gehörten?
Moira merkte kaum, wie Wortfetzen ihren Mund verließen; die einstudierten Formeln wollten ihr jedoch nicht in der vorgeschriebenen Weise über die Lippen kommen, vielmehr war es so, als würden sie auf der Zunge, bei dem Versuch, sie ordnungsgemäß zu artikulieren, zerschellen.
Ihre Hand krallte sich um den Schaft der Waffe, die sie für alle Fälle bei sich trug. Aber selbst, als es ihr gelang, sie aus dem Holster zu zerren, wusste sie nicht, was sie damit gegen diesen Angreifer ausrichten sollte.
Wohin zielen, wenn die Feindseligkeit von allen Seiten zugleich gegen sie schwappte?
Sie wusste, dass Onyx über die Standardausrüstung eines Agenten der Section Spéciale auch noch das Vermächtnis seiner Mutter bei sich trug, eine Gemme, die ihm in Extremsituationen zusätzliche Sicherheit verlieh, so als würde der Geist der Verstorbenen darin wohnen und über ihn wachen.
Rifaud selbst war sich bewusst, das hatte er in vielen Gesprächen beteuert, dass es sich um nicht viel mehr als einen frommen Wunsch, eine von ihm bevorzugte Interpretation des Erbstücks, handelte, dem allen Untersuchungen zufolge keine tatsächliche mythische Kraft innewohnte. Dennoch war die Gemme ihm so wichtig, dass er sie mit in jeden planbaren Einsatz nahm.
Geholfen hatte auch sie nicht. Nicht hier, nicht gegen den Überfall, der ohne Vorwarnung erfolgte, obwohl das, was die Voruntersuchung ergeben hatte, sie darauf hätte vorbereiten können.
Eigentlich müssen.
Und so lag die Verantwortung für ihr Versagen allein bei ihnen. Sie selbst hatten es verschuldet, hatten sich wie Anfänger von dem sonnenbeschienenen Idyll täuschen lassen, dem wohl auch die zum Opfer gefallen waren, auf deren Spuren sie wandelten.
Hinweise auf übernatürliche Vorgänge, die ursächlich für das Verschwinden der kleinen Familie waren, mit dem die Section sich zu befassen begonnen hatte, waren von einem der ermittelnden Polizisten entdeckt und – einer internen Doktrin folgend – an das HQ der Section in Paris weitergeleitet worden.
Der Startschuss für den geheimsten Dienst des Landes, der umgehend zwei seiner Agenten hierher entsendet hatte, um dem Verbrechen auf den Grund zu gehen, die im beschaulichen Seebad Deauville für Schlagzeilen sorgte.
Das Polizeisiegel an der Eingangstür war bei Onyx' und Moiras Eintreffen unverletzt gewesen. Die routinemäßige Sicherung der Spuren drinnen war abgeschlossen, die Ergebnisse in einer Akte festgehalten, die sie auf der Fahrt hierher studiert und diskutiert hatten.
All das war nun Makulatur.
Keiner der Befunde hatte sie auf das vorbereiten können, was in diesem Augenblick passierte.
Wieder erhob Moira ihre Stimme. Aber nicht, um erneut nach ihrem Partner zu rufen, der sich in Luft aufgelöst hatte, sondern um ...
... vor Schmerz aufzubrüllen.
Ihr tränengetrübter Blick zuckte nach unten. Zu ihrem linken Bein, wo in Knöchelhöhe Nägel wie Schrapnell in das Fleisch gedrungen waren; Nägel, die zuvor das Dielenbrett, auf dem die Agentin stand, am Boden fixiert hatten, nun aber von berserkerhafter Kraft herausgehebelt und gegen sie geschleudert wurden.
Es blieb nicht bei den Treffern im Knöchel, immer mehr Nägel lösten sich aus dem Holz des Bodenbelags und pfiffen mit wahnsinnigem Gekreische durch die Luft, stanzten blutende Wunden in Schenkel und Arme, in Rumpf und ...
Moira warf sich herum und suchte ihr Heil in der Flucht.
Wogegen das Haus, das sie wie ein Korsett umschloss, etwas hatte. Die unsichtbaren Schnüre dieses Korsetts wurden von unsichtbaren Händen beackert und zogen den Raum um die Agentin mehr und mehr zusammen, dampften ihn ein, schrumpften ihn. Es war, als befände sie sich einem von Kontraktionen geschüttelten Magen, in dem sie, wenn ihr Versuch zu entkommen scheiterte, von Kräften »verdaut« würde, die den Verstand eines Menschen überstiegen.
Noch nie zuvor hatte Moira sich so ausgeliefert gefühlt und von Ängsten besessen wie hier und jetzt.
Sie fragte sich, ob Onyx das, was ihr gerade widerfuhr, bereits hinter sich hatte. Ob das, was gerade über sie zu triumphieren versuchte, mit ihm noch kürzeren Prozess gemacht und ihn ohne eine Chance zur Gegenwehr mit Haut und Haar verschlungen hatte.
Was genau das vollbracht haben sollte, konnte sie nicht einmal abschätzen, während sie selbst davon attackiert wurde.
Sie spürte die Präsenz von etwas unsagbar Fremden, das auf der Welt nichts zu suchen hatte, sich daran aber nicht scherte.
Wo sind wir nur hineingeraten?
Ein neuerlicher imaginärer Ruck – und der Vorraum, durch den sie hetzte, stoppte ihre Schritte, indem die Wände sie mitten im Lauf erwischten und einklemmten wie zwischen den Backen einer Zange!
Moira Cobert verlor den Boden unter den Füßen, zappelte mit den Beinen, ruderte mit den Armen und stemmte die Hände in verzweifeltem Befreiungsversuch gegen die Wände mit den 60er-Jahre-Tapetenmustern, die die Zeit ebenso überdauert hatten wie der übrige antiquierte Look des Gebäudes, den die Agentin bei Betreten noch so faszinierend empfunden hatte. Sie war Ende der Achtziger geboren und kannte das Flair, das hier konserviert war, nur vom Hörensagen und aus alten Filmen.
Das Dünenhaus war ihr wie eine charmante Zeitkapsel erschienen, in der man sich zurückversetzen konnte in ein Damals, das aus heutiger Sicht so unattraktiv nicht gewesen sein konnte. Aber nie im Traum hätte sie beim Übertreten der Schwelle gedacht, dass dieses den Zeitgeist von einst atmende Relikt ihr zum Verhängnis – ihr Grab –werden könnte.
Und jetzt frisst es mich.
In dem Gedanken schwang so viel Resignation mit, dass die Agentin sich selbst nicht wiedererkannte. Widerstandskraft und der Charakterzug, nie – unter keinen Umständen – aufgeben zu wollen, hatten, wie sie in dem Gespräch, das ihrer Aufnahme in der Section gefolgt war, entscheidenden Anteil daran gehabt, dass sie Mitbewerber ausgestochen und es geschafft hatte, der Organisation beizutreten.
Wo waren diese Eigenschaften jetzt? Wo ihre Zähigkeit, ihr Überlebenswille, ihre kämpferischen Qualitäten?
Sie bäumte sich gegen das Unvermeidliche auf ...
... genauso, wie sich das Unvermeidliche gegen sie aufbäumte, ihre wieder aufflammende Gegenwehr zum Anlass nahm, noch unbarmherziger, noch rigoroser gegen sie vorzugehen.
Aus den Wänden flogen ihr plötzlich Funken entgegen wie tollwütige Glühwürmchen. Sie folgten den Bahnen, die zuvor die Dielennägel genommen hatten und brannten sich durch den Stoff ihrer Kleidung in Moiras Haut, brandmarkten sie in einer Weise, die ihr kaum bewusst wurde, weil der Schmerz alles überstrahlte und die Umklammerung der Wände verhinderte, dass sie die verbrannten Stellen untersuchen konnte.
Wie flüssiges Feuer bahnte sich die Marter den Weg durch ihren Körper, verdunkelte Bewusstsein und Denken und brachte sie dazu, den Widerstand einzustellen und nur noch um Erlösung zu betteln.
Ja, zu betteln!
Als bereits alles entschieden schien, lockerte sich die Umklammerung unvermittelt. Moira landete hart auf dem Boden und genoss für eine Sekunde die Bewegungsfreiheit, von der sie nicht wusste, was oder wem sie sie zu verdanken hatte. Sie war ja schon schachmatt gesetzt gewesen und musste erst einmal verarbeiten, dass es vielleicht doch noch ein Entrinnen für sie geben sollte.
Hatte Onyx nachgeholfen?
Aber noch immer hatte das Haus, in dem sie sich befand, keinerlei Ähnlichkeit mit dem, das sie betreten hatte. Die alles beherrschende Kraft, die die Agentin mit jeder Nervenfaser erfühlen konnte, war Chaos. In einen Mahlstrom zu geraten, wie er in antiken Sagen beschrieben wurde, konnte kein verheerenderes Echo in einem Menschen auslösen!
Blind und sehend zugleich wankte sie in die Richtung, aus der ihr ein Hoffnungsschimmer entgegenzukommen schien.
War das die Haustür?
Mit Tunnelblick kämpfte sie sich darauf zu, begleitet von infernalischen Klängen, bei denen unklar blieb, ob es sich um Stimmen oder unter Brachialgewalt berstende Materialien – Steine, Holz oder was auch immer – handelte.
Einmal – ein einziges Mal und auch nur für einen kurzen Augenblick – fand Moira Zeit, an sich herabzublicken. Sie erwartete einen von winzigen Kratern übersäten Körper zu sehen, aus dem ihr Lebenssaft hervorsprudelte; Verletzungen, denen sie, wenn ihr nicht schnell medizinische Hilfe zuteilwurde, erliegen würde.
Noch zwei Schritte, dann hatte sie die Tür erreicht. Ihre Hand schoss vor, um den Knauf zu fassen zu bekommen, ihn zu drehen und ...
... und dann wusste sie kaum, wie ihr geschah; heulte auf wie ein waidwundes Tier, das in einem schmerzverachtenden Akt einen seiner Läufe opferte, um einer Falle zu entrinnen, die es mit ihren Eisenzähnen festzuhalten versuchte.
Dann ...
... war sie im Freien. Taumelte weiter. Merkte, wie die Ohnmacht – oder etwas Endgültigeres – nach ihr zu schnappen versuchte. Schüttelte die lähmende Schwäche ab, die sie ins Straucheln bringen wollte, und hatte nur noch Augen für den Wagen, der vor dem Fluchhaus parkte. Erreichte und entsperrte ihn und ließ sich kopfüber ins Innere gleiten.
Der Rest waren Reflexe. Waren kurze, stroboskopartige Eingebungen eines kapitulierenden Gehirns, die ihre Stimme in Sprachbefehle umwandelte.
Umgeben vom Stahl der Karosserie kam sich Moira Cobert spätestens jetzt vor wie eine Kreatur, die sich zum Sterben in ihren Bau verkrochen hatte.
Dass sie in die Polster des Fahrzeugs gedrückt wurde, dessen Motor gestartet war, merkte sie schon nicht mehr.
Gleiche Adresse,
nur wenige Tage zuvor
Eine letzte Kurve, dann gaben die Kiefernbäume beidseits der Kiesauffahrt unvermittelt den Blick auf das gebuchte Feriendomizil frei – so plötzlich, dass selbst Isabelles gerade noch missmutig verzogenen Lippen ein beeindrucktes »Oha!« entwich. Während der ganzen Fahrt davor hatte sie ausdauernd auf der Rückbank geschmollt, offenbar in der festen Überzeugung, ein Teenager dürfe das, beziehungsweise, es werde regelrecht von ihm erwartet.
Sie hatten sich dem auf einem Hügel gelegenen Anwesen von der Landseite her genähert, sodass das Haus von ihrer Position aus den Blick auf die Dünen und das dahinterliegende Meer versperrte. Nur ein schmaler Saum zur Linken ließ ein wenig Blau durchblitzen, von dem zunächst nicht klar war, ob es sich um Himmel oder Wasser handelte.
Oddon Lando drehte den Zündschlüssel, und der leise tuckernde Motor erstarb. Anschließend zog der Familienvater die Handbremse und ging mit dem Fuß von dem Pedal, mit dem er den Wagen zuvor gestoppt hatte, unmittelbar vor dem Aufgang zur Tür des Gebäudes, das genau den morbiden Charme verströmte, den sich seine Frau – im Gegensatz zu Mann und Tochter – erhofft hatte. Dennoch verfehlte der Anblick auch bei den Skeptikern seine Wirkung nicht. Im Licht der Mittagssonne war dem verwinkelten Komplex eine gewisse Anziehungskraft nicht abzusprechen, nicht einmal von einem zickenden Teenager.
Im Gegensatz zu den Häusern, an denen sie vorbeigekommen waren, konnte dieses hier nur mit Einschränkungen als mondän bezeichnet werden. Bei genauerer Betrachtung war der Sanierungsstau unübersehbar. Aber der erste Eindruck war immerhin dergestalt, dass Mann und Tochter sich zumindest vorstellen konnten, ein paar Tage in den vier Wänden zu verbringen, wie es Odettes Herzenswunsch war.
»Ist es nicht wunderschön?« Während Odette in die Hände klatschte und sofort auf den Hauseingang zuging, hielt sich die Begeisterung ihrer Angehörigen in Grenzen.
Isabelle hatte ihr Handy gezückt und fuchtelte damit in der Luft herum, als würde sie nach lästigen Insekten schlagen. »Wie ich befürchtet habe: Kein Netz!«
Ihr Vater beruhigte den Nachwuchs. »Es gibt WLAN. Der Code dafür soll im Haus hinterlegt sein. Zumindest, wenn der Buchungsbestätigung zu trauen ist. Chérie? WLAN war doch inklusive, oder? Du weißt, dass ich erreichbar bleiben muss. Ich bin ein Sklave der Firma. Wenn ich nicht zwischendurch geschäftliche Mails abrufen kann ...«
Odette hörte gar nicht zu. Sie war völlig hingerissen von den Bildern und Gedanken, die sich ihr aufdrängten. Die Faszination des Hauses übertraf noch ihre kühnsten Erwartungen. Mit klopfendem Herzen stieg sie die Holzstufen zur Eingangstür hinauf und ließ ihren Blick über den Verandaboden schweifen. Schließlich stoppte er bei einer Terrakotta-Vase mit einem in prachtvoller Blüte stehenden Hibiskus darin. Sie trat darauf zu, bückte sich, hob ihn an und schob die freie Hand darunter. Zwei Sekunden später richtete sie sich wieder auf und schwenkte den Gegenstand, den sie wie beschrieben vorgefunden hatte. Der Schlüssel passte tadellos ins Schloss der buntglasdurchwirkten Holztür, und nach einem letzten Zögern drückte Odette sie nach innen auf.
Ein Schwall abgestandener Luft trieb ihr entgegen und schuf für einen Moment die Illusion, sie, Odette Lando, siebenunddreißig Jahre jung und neben ihrem Job als Hausfrau und Mutter bekennende Leseratte (wenn es ihre knapp bemessene Freizeit zuließ), könnte die Erste sein, die dieses Haus betrat, seit ...
... seit er es damals verließ.
Er.
Sie hielt beinahe andächtig inne. Über das Schicksal des Erbauers dieser Stätte war wenig bekannt. Die wenigen Quellen, die Odette aufgetan hatte, berichteten, dass er eines Tages urplötzlich über seiner Arbeit den Verstand verloren habe und in eine Anstalt eingewiesen worden sei. Ein Irrenhaus, wie man früher sagte. Heutzutage gab es subtilere Namen dafür, die letztlich aber das Gleiche meinten.
Von hinten drängten Mann und Tochter nach.
»Worauf wartest du? Lass uns reingehen. Wer von uns war denn scharf drauf, ausgerechnet hierher zu kommen? Aber jetzt schwant dir wohl allmählich, was für ein sterbenslangweiliger Urlaub das werden könnte ...« Sie spürte seinen Atem im Nacken, als er fortfuhr: »Aber ehrlich gesagt, hab ich's mir schlimmer vorgestellt. Regelrecht gruselig. Das ist es gar nicht. Hält sich alles im Rahmen. Was meinst du, Belle?«
Belle, wie er sie nannte, schnaubte. Ihr Vater lachte und schob seine Frau, als sie immer noch zögerte, sanft nach drinnen.
»Du täuschst dich«, murmelte sie.
»Bitte?«
»Es ist nicht, wie du glaubst.« Sie straffte sich, während ihr Blick über die Bilder an den Wänden, die Tapete und tausend andere Kleinigkeiten streifte. »Ich bin alles andere als enttäuscht. Ich ... ich versuche nur, das alles ganz tief in mich aufzunehmen.« Sie seufzte.
Er legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie zärtlich. »Du bist einmalig! Ich wusste, warum ich dich vom Markt genommen habe.«
Sie drehte ihm ihr Gesicht zu. »So nennst du es? Vom Markt genommen?« Sie versetzte ihm einen Stoß in die Seite.
»Wie nennst du es denn?«
Bevor Odette etwas erwidern konnte, fauchte Isabelle: »Himmel, ihr seid so peinlich! Kann ich jetzt endlich mein Zimmer sehen?«
»Bist du wirklich nicht enttäuscht?«, fragte Oddon, als sich der erste Wirbel gelegt hatte und das Gepäck von ihnen ins Haus verfrachtet worden war.
Er musste die Frage noch einmal stellen, weil seine Frau immer noch ganz benommen wirkte, wie erschlagen von Eindrücken, die sie so überwältigend offenbar nicht erwartet hatte.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihren Blick zwingen konnte, von der Einrichtung loszulassen und sich stattdessen an ihn, ihren Gemahl, zu heften, der fast ein wenig verloren in dem düsteren kleinen Zimmer stand, in dem sie die kommenden Nächte schlafen würden. Eigentlich war es kaum mehr als eine Kammer, aber da Odette der festen Überzeugung war, hier habe der von ihr verehrte Schriftsteller Eugène Eribon ebenfalls genächtigt, der all die Romane ersonnen, denen sie regelrecht verfallen war und von denen sie mangels Nachschub an neuem Lesestoff aus seiner Feder manche schon mehrmals verschlungen hatte, war Odette nicht davon abzubringen gewesen, das große, weitaus freundlichere Schlafzimmer an ihre Tochter abzutreten. Wie üblich hatte sie von Oddons Seite mit wenig Protest rechnen müssen. Von Anbeginn ihrer Beziehung hatte sie jede Entscheidung treffen dürfen – oder müssen –, die von größerer Tragweite war, angefangen von der Wahl ihrer Wohnung über die Freundschaften bis hin zu dem ihrer Ansicht nach idealen Zeitpunkt, ein gemeinsames Kind zu zeugen. Selbst die Wahl des familientauglichen Kleinwagens hatte er ihr überlassen und damit bereitwillig eine Domäne aus der Hand gegeben, die fast traditionell in männlicher Hand lag. In den letzten Jahren – seit Isabelle vom süß-anhänglichen Kleinkind mehr und mehr zur sich abnabelnden, nervigen Halberwachsenen herangereift war –, häuften sich die Momente latenter Unzufriedenheit, die er an ihr festzustellen glaubte. Es machte ihn traurig, auch wenn sie stets bestritt, es wäre so. Für ihn war sie immer noch der Inbegriff dessen, was er sich erhofft und lange nicht zu erträumen gewagt hatte: Die Partnerin, mit der er sein restliches Leben verbringen und Nachwuchs in die Welt hatte setzen sollen – wenngleich es aus mehreren Gründen bei nur einem Kind geblieben war.
»Bewahre – nein!«, beteuerte sie neuerlich. »Wie kommst du nur darauf? Es ist fantastisch! Ich kann mich gar nicht sattsehen! Ich bin so froh, hergekommen zu sein. Ich bin so froh ...«
»... dass wir uns dazu breitschlagen ließen, deinem Wunsch Folge zu leisten?«
Erstmals seit ihrer Ankunft schien sich ihre Laune zu trüben. Ihr Blick spiegelte Betroffenheit, fast Verärgerung wider. Dann schüttelte sie den Kopf, wie um sich von allen negativen Anfechtungen zu befreien, und erklärte es ihm, im gleichen Tonfall, mit dem sie auch zu ihrer gemeinsamen Tochter zu sprechen pflegte. »Dass ich dieses Juwel im Netz gefunden habe. Es war purer Zufall, ich hätte nie damit gerechnet, dass ein Haus wie dieses zur Vermietung angeboten wird!«
Er nickte. »Wenn du glücklich bist, bin ich es auch. Und Isabelle wird die Annehmlichkeiten der Gegend auch noch zu schätzen lernen. Der Strand, habe ich mir sagen lassen, ist wunderschön, und das Wetter für die nächsten Tage könnte nicht idealer sein.«