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Das Abenteuer geht weiter:
Der Geist schwebte, einem dreidimensionalen Schatten gleich, die Treppenstufen hinab.
Das Gespenst sah aus, als stünde sein Inneres in lodernden Flammen.
Schon raste der feurige Speer aus der Handfläche des Ifrit geradewegs auf Nicoles Brust zu.
Zum Ausweichen war es viel zu spät!
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Ifrit – Aus Feuer geboren
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Impressum
Ifrit – Aus Feuer geboren
(Teil 2)
von Ian Rolf Hill
Der Geist schwebte, einem dreidimensionalen Schatten gleich, die Stufen der Treppe hinab.
Mit der aschfahlen Haut und der dunkelgrauen, vollkommen farblosen Kleidung passte er in dieses Gebäude, das an Tristesse kaum zu überbieten war, wie die Faust aufs Auge.
Eine Studie in Grau.
Ohne die stroboskopartig flackernde Flurbeleuchtung hätte Nicole Duval ihn höchstens anhand der flammenden Augen oder des feurigen Symbols auf seiner Handfläche erkannt ...
Das Gespenst sah aus, als stünde sein Inneres in lodernden Flammen. Was vermutlich auch der Fall war, denn das war gewissermaßen ihr Markenzeichen.
Es handelte sich um einen arabischen Ifrit, und die bestanden nun einmal aus Rauch und Feuer. Letzteres sollte Nicole zum Verhängnis werden.
Schon raste der feurige Speer aus der Handfläche des Ifrit geradewegs auf ihre Brust zu.
Zum Ausweichen war es viel zu spät!
Selbst wenn noch Zeit dazu gewesen wäre, die Enge des Treppenhauses ließ es nicht zu.
Das grelle Licht der Flammen blendete Nicole. Stiche zuckten ihr durch die Augen, unwillkürlich riss sie die Arme vors Gesicht, in Erwartung des alles vernichtenden Schmerzes.
Aber noch bevor sie überhaupt auf die Idee kam, Merlins Stern zu rufen, materialisierte sich das Amulett in ihrer rechten Hand.
Der grün flirrende Schutzschirm, an dem der Flammenspeer zerbarst, baute sich ganz von allein auf. Und nur einen Atemzug später ging die handtellergroße Silberscheibe, die der Zauberer Merlin einst aus der Kraft einer entarteten Sonne schuf, zum Gegenangriff über.
Das Amulett erstrahlte und entließ einen Hagel aus silbrig schimmernden Blitzen, die geschlossenen in den von Rauchschwaden umwehten Ifrit hineinjagten und ihn von innen heraus zerfetzten.
Er verpufft regelrecht. Nichts blieb zurück. Nichts außer einer schwer atmenden Nicole Duval, einem wimmernden Mann in fleckiger Unterwäsche und einem erleichtert lächelnden Professor Zamorra.
Nicole erwiderte das Lächeln und nickte ihrem Gefährten dankbar zu. Schließlich hatte sie ihm ihre Rettung zu verdanken. Der Meister des Übersinnlichen, der hinter ihr die Treppen zu Gilbert Toussaints Wohnung erklomm, hatte die Gefahr blitzschnell erkannt und reagiert.
Merlins Stern konnte nicht nur jederzeit von den Dämonenjägern gerufen werden, sondern auch gesendet. Und genau das hatte Zamorra getan, um Nicole vor einem schrecklichen Tod zu bewahren, den der Ifrit eigentlich dem wissenschaftlichen Assistenten zugedacht hatte, der erst langsam begriff, dass er außer Gefahr war.
Unter anderem wohl deshalb, weil das Flackern des Lichts aufgehört hatte.
Zögernd hob der dickliche Mann den Kopf, den er mit den Armen geschützt hatte. Sein Haar war ungepflegt und fettig. Er sah aus, als hätte er sich mindestens eine Woche nicht rasiert. Unter den rot geäderten Augen hingen dicke Tränensäcke.
Irritiert flitzten seine Pupillen zwischen Zamorra und Nicole hin und her.
»W-wer s-s-seid ihr?«, stotterte er.
»Kommt ganz drauf an«, meinte Nicole, und gab ihrem Gefährten das Amulett zurück. »So wie es aussieht, waren wir die Kavallerie. Aber wir können auch ganz schnell zu Ihrem schlimmsten Albtraum werden, wenn Sie uns nicht die Wahrheit sagen.«
»D-die Wahrheit? Was denn für eine Wahrheit?«
Die Stimme des Mannes, bei dem es sich nur um Gilbert Toussaint handeln konnte, leierte hörbar. Schon allein der penetrante Geruch nach altem Schweiß und ausgedünstetem Alkohol ließ keinen Zweifel daran, dass der Knabe sternhagelvoll war.
»Zum Beispiel, warum ein Ifrit es auf Sie abgesehen hat?«
Der Mann wurde schlagartig kreidebleich, was bemerkenswert war, da er ohnehin kaum Farbe im Gesicht gehabt hatte.
»Hey, was'n da oben los?«
»Nichts«, rief Zamorra über die Schulter zurück.
»Dann haltet die Schnauze. Gibt Leute, die woll'n ihre Ruhe ham!«
»Sie haben es gehört«, sagt der Meister des Übersinnlichen, und zog Toussaint auf die Beine.
Sofort fing der Mann an zu jaulen wie eine Heulboje auf hoher See.
»Sind Sie verletzt?«, fragte Nicole halbwegs besorgt und beobachtete, wie der zornige Mieter, der so auf seine Nachtruhe pochte, hinter Zamorra auftauchte. Die Erscheinung unterschied sich nur unwesentlich von der Toussaints. Außer dass er noch die Bierflasche in der Hand hielt.
Mit einem Blick gab Niciole ihrem Partner ein Zeichen, der unmerklich nickte. Vermutlich hatte er ohnehin schon die Schritte des Kerls gehört, der sich, obwohl er barfuß war, mit der Schwerfälligkeit eines betrunkenen Nilpferds bewegte.
»Hab mir d-die Schulter gestoßen«, greinte Toussaint. »I-ich brauch dringend einen Arzt.«
»Sollen wir den vor oder nach der Polizei verständigen?«, erkundigte sich der Meister des Übersinnlichen harmlos.
Toussaint riss die Augen auf. »Polizei?«
Sein Nachbar aus dem dritten Stock machte auf dem Absatz kehrt. Nicole nickte, Zamorra grinste. Gilbert Toussaint stolperte mit hängenden Schultern die Stufen hinauf zu seiner Wohnung unter dem Dach des mehrstöckigen Mietshauses. Von seinem Wunsch nach medizinischem Beistand war keine Rede mehr.
Nicole Duval rümpfte die Nase.
Gilberts Körpergeruch war schon eine Herausforderung gewesen, allerdings nichts im Vergleich zu dem, was sie in der Wohnung erwartete. Der Gestank war im wahrsten Sinn des Wortes atemberaubend. Und zwar nicht im positiven Sinne. Dagegen duftete die kalte Nachtluft von Paris wie ein Rosengarten.
Nicoles erste Amtshandlung bestand daher im Öffnen sämtlicher Fenster, während Zamorra unter Gilberts Anweisung einen starken Kaffee kochte. Obwohl auch sie ein dringendes Bedürfnis nach Koffein verspürte, verzichtete sie in Anbetracht der hygienischen Verhältnisse auf eine Tasse.
Kaum hatte die Kaffeemaschine blubbernd ihren Dienst aufgenommen, da bugsierte Zamorra den Mann in die winzige Nasszelle, um ihn einigermaßen in Form zu bringen, damit sie bei der anstehenden Befragung halbwegs vernünftige Antworten bekamen.
Nicole nutzte die Gelegenheit, um sich in der Wohnung umzuschauen. Im Gegensatz zu den Behausungen von Victor Messier und Roland Vidal fand sie hier keinerlei weißmagische Symbole oder Zeichen an den Wänden. Nur ein Nazar-Amulett, das inmitten der zerwühlten Decke auf dem Bett lag.
Diese Dinger bekam man auf jedem Basar im Dutzend nachgeworfen. Der Begriff Nazar stammte aus dem Arabischen und bedeute Sehen, Blicken oder Einsicht. Eigentlich dienten die Anhänger dazu, den bösen Blick abzuwenden, der in arabischen Ländern Menschen mit blauen Augen nachgesagt wurde. Sollten jedoch auch, ähnlich wie das Auge der Fatima, das Hamsa, allgemein vor schädlichen Einflüssen schützen.
Gilbert Toussaint mochte vielleicht nicht zu den Preppern gehören, schien aber zumindest geahnt zu haben, was auf ihn zukommt.
Darauf deuteten auch die abgeklebten Fenster sowie die verhängten Spiegel hin.
Dessen ungeachtet war die Wohnung des wissenschaftlichen Assistenten eher spärlich möbliert und spartanisch eingerichtet. In der Bleibe eines Archäologen hätte sie mehr Nippes erwartet, der auf seinen Beruf hindeutete.
Mitbringsel aus fernen Ländern. Statuetten, Schmuck, Masken. Dinge, die sie auf die Spur des Dämons beziehungsweise jener Kraft führten, der oder die im Hintergrund die Fäden zog.
Nicole lauschte dem Rauschen des Wassers, hörte ein unterdrücktes Röcheln und Prusten und musste sich das Grinsen verbeißen. Zamorra ging nicht gerade zimperlich mit Toussaint um. Aber Rücksicht war sicherlich fehl am Platze, immerhin hatten sie es mit einem Mörder zu tun.
Weshalb sonst hätte ein Ifrit versuchen sollen, ihn umzubringen?
Das Rauschen verstummte, die Tür schwang auf, und Gilbert taumelte über die Schwelle wie der sprichwörtlich begossene Pudel. Ein graues, einmal zu oft gewaschenes Handtuch flog hinter ihm her und traf Toussaint am Hinterkopf.
Zamorra erschien hinter ihm auf der Schwelle zum Bad und war dabei, die Ärmel seines roten Hemdes herunterzukrempeln. Das weiße Jackett, das ebenso zu seiner Standardgarderobe gehörte, hing an einem Haken an der Innenseite der Tür.
Nicole nahm Gilbert in Empfang und bugsierte ihn in Richtung Küche, die hoffnungslos überfrachtet war mit dreckigem Geschirr, an dem sich die Schmeißfliegen labten. Die Spüle quoll über vor leeren Spirituosenflaschen.
Dem mit Fliegendreck verkleisterten Hängeschrank entnahm Nicole eine Tasse, die sie mit Kaffee füllte und vor Toussaint auf den winzigen Küchentisch stellte. Er stand vor dem Fenster mit den vergilbten Vorhängen, die den Blick in den Hinterhof des Mietshauses erschwerten. Nicht dass es dort etwas Bemerkenswertes zu sehen gegeben hätte.
»Was ... was wollt ihr von mir?«
»Antworten, mein Lieber«, erklärte Nicole und ließ sich ihm gegenüber auf einem freien Stuhl nieder. Zumindest brauchte sie keine Angst zu haben, an der Sitzfläche kleben zu bleiben.
»Antworten worauf?«
»Ich dachte, wir hätten bereits klargemacht, dass wir uns nicht für dumm verkaufen lassen«, sagte Zamorra, der eben die schmale Küche betrat und sich mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte lehnte, die Arme hielt er vor der Brust verschränkt.
»Erzählen Sie uns nicht, dass sich der Ifrit bloß in der Tür geirrt hat.«
Als Toussaint die Bezeichnung des Dschinns hörte, zuckte er zusammen. Zumindest wusste er Bescheid, worum es ging. Aber das hatten sie ja im Prinzip vorher schon geahnt.
»Wer war es?«, bohrte Zamorra weiter. »Mirelle Lejeune oder Chantalle Roux?«
Toussaints Kopf hob sich ruckartig. Er starrte seine Besucher abwechselnd an, in den Augen flackerte die nackte Angst.
»Ich habe sie nicht umgebracht! Bitte, Sie ... Sie müssen mir glauben!«
Zamorra suchte Nicoles Blick. Sie wusste, was er erwartete und seufzte leise. Ihr war klar, dass er sie niemals darum gebeten hätte. Es war ihre freie Entscheidung.
Seit sie mit dem Vampirkeim infiziert und von der Waldhexe gerettet worden war, war sie nicht nur gegen eine erneute Infektion gefeit, sie verfügte auch über telepathische Fähigkeiten, die allerdings längst nicht so ausgeprägt waren wie die der Silbermonddruiden oder der Blutgräfin Erzsébet Báthory. Beispielsweise benötigte sie Sichtkontakt mit dem zu scannenden Subjekt. Außerdem war es relativ einfach, sie zu blockieren. Sofern ihr Gegenüber mitbekam, was sie vorhatte.
Zum Glück brauchte sie nicht allzu tief in Gilberts Verstand vorzudringen oder konkret seine vordergründigsten Gedanken zu lesen, es genügte, dass sie den Wahrheitsgehalt seiner Worte prüfte.
Das Ergebnis überraschte sie selbst.
»Er sagt, die Wahrheit, chéri!«
»Natürlich sage ich die Wahrheit«, kreischte er hysterisch.
»Und was ist mit Professor Rosseau?«, wollte Zamorra wissen.
»Professor ...« Gilbert umklammerte die Kaffeetasse mit beiden Händen, damit sie das Zittern seiner Finger nicht sahen. »D-das war ... e-ein Unfall!«
»Dann ist er also tot?«
»I-ich g-g-glaube schon.«
Zamorra legte die Stirn in Falten. »Was soll das heißen, Sie glauben? Ist er es, oder ist er es nicht?«
»Ich habe ihn sterben sehen. Aber was bedeutet da schon?«
Da mussten sie ihm allerdings recht geben.
»Haben Sie den Ifrit denn erkannt?«, erkundigte sich Nicole.
Ihr Gegenüber nickte langsam. »Ich ... er sah aus, wie ... wie Chantalle Roux.«
»Und haben Sie irgendeine Idee, warum er bei Ihnen erschienen ist, wenn Sie Madame Roux angeblich nicht getötet haben?«, erkundigte sich Zamorra.
Gilbert schwieg. Nicole begriff, dass er zumindest eine Ahnung hatte, sich aber nicht traute, sie preiszugeben.
Die Dämonenjägerin beschloss, die Taktik zu ändern und Toussaint ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. »Sie können uns vertrauen, Gilbert.«
»Ihnen vertrauen?« Fast sah es aus, als wollte er lachen. »Ich kenne ja nicht einmal Ihre Namen.«
Nicole fühlte sich ertappt. Sie hatten tatsächlich vergessen, sich vorzustellen. Schnell holten sie das nach. »Professor Zamorra ist Parapsychologe und häufig Gast an der Universität. Mein Name ist Nicole Duval, ich bin seine Assistentin. Außerdem jagen und töten wir Dämonen. Sie haben ja gesehen, was mit dem Ifrit passiert ist.«
Gilbert überlegte, vorsichtig trank er einen Schluck Kaffee. Schließlich nickte er. »Okay, Sie ... Sie haben recht. Ich erzähle Ihnen, was passiert ist. Und ich schwöre Ihnen: Alles, was ich Ihnen gleich erzählen werde, ist die absolute Wahrheit!«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Nicole, und lächelte.
Umm as-Samim, irgendwo an der Grenze zwischen Oman und Saudi-Arabien
»Willkommen im Tempel des großen Salta Rednik!«
Der Satz hallte in dem Felsendom wider und brach sich dutzendfach an den wulstigen Mauern, die sich über zwanzig Meter in die Höhe schraubten, wo sie sich konisch verjüngten, als stünden die beiden Männer im Inneren eines Termitenhügels von gigantischen Ausmaßen.
Derjenige, der die Worte ausgesprochen hatte, war Professor Doktor Marcel Rosseau, seines Zeichens Archäologe an der Universität Paris, mit Schwerpunkt auf die untergegangenen Hochkulturen des Nahen Ostens und Vorderasiens.
Warum es den abenteuerlich veranlagten Rosseau ausgerechnet in eine Wüste nördlich von Oman in den Süden der arabischen Halbinsel verschlagen hatte, wusste wohl nur er selbst. Wenn überhaupt. Das wahnsinnige Funkeln in den Augen des Professors sprach Bände.
Rosseau stand leicht vornübergebeugt, in der Hand noch immer den Krummdolch, mit dem er die Fugen aus dem Tor gekratzt hatte, das mit bloßem Auge kaum zu erkennen gewesen war. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte Gilbert es mit Sicherheit nicht öffnen können, denn es hatte erst auf eine Art Beschwörungsformel reagiert.
Für den wissenschaftlichen Assistenten war das alles unverständlich. Er wurde hier mit Vorgängen konfrontiert, die weit über sein Begriffsvermögen hinausgingen. Angefangen bei dieser seltsamen Höhle unterhalb des mit Treibsand gefüllten Sabcha-Beckens inmitten der Wüste, bis hin zu der Riesenschlange, die den Eingang zum Tempel bewacht hatte und der sie nur mit knapper Mühe entkommen waren, bis hin zu dem Bauwerk selbst, das nicht von Menschenhand erschaffen schien, sondern tatsächlich den Eindruck erweckte, es wäre gewachsen.
»Wer ... wer ist Salta Rednik?«
Rosseau zog die Mundwinkel nach unten und betrachtete seinen Assistenten wie eine Made auf einem Stück Himbeertorte.
»Salta Rednik ist ein Wesen von unvorstellbarer Macht und Größe. Im übertragenen Sinne natürlich. Ein Gott von den Sternen, der herabgestiegen ist zur Erde, um all jene um sich herum zu versammeln, die von ihresgleichen verstoßen wurden. All die Schänder, Diebe und Mörder, für die in den großen Städten Uruk und Babylon kein Platz mehr gewesen ist.«
Unvermittelt fielen Gilbert die relativ gut erhaltenen Behausungen ein, die sich rund um diesen Tempelturm befanden, der laut dem Professor noch sehr viel älter war.
Schon kurz bevor es ihnen gelungen war hier einzudringen, hatte er bereits auf eine intelligente Spezies hingewiesen, die den Planeten Erde vor den Menschen besiedelt haben sollte. Wer oder was das gewesen war, darüber hatte er sich ausgeschwiegen.
»Rednik nährte sich von dem Bösen, das die Menschen in sein Tal brachten, angelockt von seinem Ruf, den er dank des Turms meilenweit über die Wüste hinaus in die Weiten des Landes schickte. Hier fanden die Ausgestoßenen nicht nur eine neue Heimat, sondern auch einen neuen Glauben, jenseits von Marduk, Ishtar und Inanna. Sie dienten einem neuen Herrn, der im Gegensatz zu ihren vorherigen Göttern kein hölzernes Standbild war, das einmal im Jahr durch das Ishtar-Tor und die Straßen Babylons getragen wurde. Salta Rednik war greif- und spürbar, und er stattete seine Anhänger mit großen Kräften und erstaunlichen Fähigkeiten aus. Die benötigten sie auch, um ihrem Herrn Opfer darzubringen.«
Rosseau legte eine kurze Pause ein. Vielleicht, um Atem zu schöpfen. Schließlich war die Luft hier unten ziemlich dünn. Vielleicht aber auch bloß, um seine Worte wirken zu lassen.
Gilbert traute sich kaum, nachzuhaken, was das für Opfer gewesen sein mochten. Plötzlich war er froh, im Schatten zu stehen, während Rosseau mit jeder Silbe, die ihm über die Lippen kam, in die Mitte des Raums zurückwich, wo eine Art antiker Herme emporragte.
Eine brusthohe, behauene Säule, die normalerweise zur Darstellung von Büsten diente.
Toussaint schielte in die Höhe, wo sich vor nicht mal zwei Stunden noch die Spitze des Turms befunden hatte, die als Stele aus dem Wüstensand geragt war. Kurz bevor Gilbert sie in Rosseaus Auftrag in die Luft gesprengt hatte. Die Erschütterungen hatten sich in Windeseile in den Boden fortgepflanzt, der raptusartig unter Gilberts Füßen weggesackt war.
Es war, als hätte jemand den Stöpsel aus einem mit Sand gefüllten Trichter gezogen. Aber nicht nur die Stele, auch der sich darum befindliche Wüstenboden war weggebrochen, sodass die Sandmassen nicht in den Tempelturm hinein-, sondern an ihm vorbei auf die Siedlung gefallen waren.
Wenn es einen Ausweg aus diesem Gefängnis gab, dann nur durch die Öffnung, über die sich jetzt langsam aber sicher das gleißende Rund der Sonne schob und sie mit ihrem grellen Licht flutete, das sich bereits die Hälfte der Strecke nach unten getastet hatte.
»Wo bleibt Ihre wissenschaftliche Neugier, Gilbert?«
Der Angesprochene zuckte zusammen und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf den Professor, der einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte.
»Bitte was?«, platzte es aus Toussaint hervor.
»Wollen Sie denn gar nicht wissen, was das für Opfer gewesen sind?«
Gilbert brauchte nur einen Blick auf den Krummdolch zu werfen, um die Antwort zu erahnen. Entsprechend heftig fiel sein Kopfschütteln aus.
Rosseau verzog verächtlich das Gesicht. Er gab sich überhaupt keine Mühe mehr, aus der Abscheu seinem Untergebenen gegenüber einen Hehl zu machen.
»Die Schwachen und Unschuldigen waren es, an deren Blut er sich labte. Und seine Anhänger waren nur allzu bereit, es ihm zu bringen. Denn mit jeder Unze davon wuchs die Macht von Salta Rednik. Und je mächtiger ihr Gott wurde, desto mächtiger wurden auch seine Diener.«
Gilbert schluckte. Seine Kehle war so rau und trocken, als hätte sich der Wüstensand darin festgesetzt. Er hätte töten können für einen Schluck Wasser ...
»Aber wie das so ist im Leben«, sprach Rosseau weiter. »Die Taten von Redniks Anhängern, seinen Kindern, wie sie sich selbst nannten, blieben nicht unbemerkt. Es war Nebukadnezar II., der Soldaten und Priester ausschickte, um den Kindern von Rednik Salta und ihrem Götzen das Handwerk zu legen.«
»Haben Sie es geschafft?«
Rosseau breitete die Arme aus. »Ja, sie haben es geschafft. Unter großen Verlusten erschlugen sie die Ausgestoßenen und beraubten Salta Rednik damit eines Teils seiner Kraft. Die Priester des Marduk bannten ihn daraufhin in ein Amulett des Sonnengottes Schamasch und zerbrachen es in mehrere Teile. Um zu verhindern, dass er wieder zu neuem Leben erwacht, versteckten sie die Bruchstücke an verschiedenen Plätzen. Unter anderem hier, in seinem Tempel, der nur eine seiner zahlreichen Wirkungsstätten darstellt.«
Der Archäologe drehte sich um und schritt auf die Herme zu, hinter der er Aufstellung nahm. Er streckte die freie Hand aus und winkte Gilbert Toussaint mit dem gekrümmten Zeigefinger zu sich. Der wissenschaftliche Assistent fühlte sich auf unangenehme Weise an die Hexe aus dem deutschen Märchen Hänsel und Gretel erinnert.
Trotzdem folgte er der Aufforderung. Allein schon aus Neugier, was Rosseau ihm zeigen wollte, schließlich konnte er nicht ewig hier stehen. Von ihrem Führer Ibrahim Said und dessen Sohn hatte er jedenfalls keine Hilfe zu erwarten.
Solange die Sonne schien und die Wüste in einen Glutofen verwandelte, würden sie sich an den Rand der Sabcha zurückziehen und mit den Kamelen auf die Abenddämmerung warten. Bis dahin war Gilbert mit Rosseau allein. Oder anders formuliert, auf sich gestellt.