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In diesem Buch aus dem Jahr 1950 hat Fromm erstmals seine Ansichten zur Religion veröffentlicht. Sie sind von seiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse ebenso beeinflusst, wie von seiner Auseinandersetzung mit nicht-theistischen Religionen und der Mystik. Fromms Sicht der Religion ist stark davon geprägt, dass er ein autoritäres Religionsverständnis einem humanistischen gegenüberstellt – eine Kontrastierung, die auf der in Psychoanalyse und Ethik ausgeführten Unterscheidung zwischen einer nicht-produktiven und der produktiven Charakterorientierung aufbaut. Da institutionalisierte Volksreligionen in der Regel an den nicht-produktiven Gesellschafts-Charakterorientierungen partizipieren, haben sie nur zu oft negative Wirkungen für das Gelingen des Menschen. Diese Erkenntnis führt bei Fromm zu einer deutlichen Religionskritik, obwohl für ihn das Phänomen des Religiösen ein urmenschliches Phänomen ist. Fromms kritische Auseinandersetzung mit autoritären Religionsphänomenen provozierte eine zum Teil heftig geführte Auseinandersetzung vor allem mit christlichen Theologen des angelsächsischen Raums, die sich gegen Fromms Kritik am calvinistisch geprägten Protestantismus zur Wehr setzten und nicht müde wurden, sein humanistisches Religionsverständnis in Frage zu stellen.
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Seitenzahl: 176
(Psychoanalysis and Religion)
Erich Fromm (1950a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Elisabeth Rotten überarbeitet von Rainer Funk
Erstveröffentlichung unter dem Titel Psychoanalysis and Religion, New Haven (Yale University Press) 1950; eine deutsche Übersetzung erschien erstmals 1966 unter dem Titel Psychoanalyse und Religion beim Diana Verlag, Zürich; mit überarbeiteter Übersetzung wurde der Titel 1980 in die zehnbändige Erich Fromm Gesamtausgabe aufgenommen. Mit der überarbeiteten Übersetzung erschien das Buch 1983 bei Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VI, S. 227-292. Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.Copyright © 1950 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Psychoanalyse und Religion
Vorwort
1. Das Problem
2. Freud und Jung
3. Analyse einiger Typen religiöser Erfahrung
4. Der Psychoanalytiker als „Seelenarzt“
5. Ist die Psychoanalyse eine Bedrohung für die Religion?
Hinweise zur Übersetzung
Literaturverzeichnis
Der Autor
Der Herausgeber
Impressum
Dieses Buch[1] kann als Fortsetzung der in Psychoanalyse und Ethik (1947a) niedergelegten Gedanken angesehen werden, die eine Untersuchung der Psychologie der Ethik sind. Ethik und Psychologie sind einander nahe verwandt, und darum überschneiden ihre Gebiete einander bisweilen. Doch habe ich in diesem Buch versucht, den Schwerpunkt auf die Religion zu legen, während er in Psychoanalyse und Ethik ganz und gar auf der Ethik lag.
Die in den folgenden Kapiteln dargestellten Ansichten sind keineswegs kennzeichnend für die „Psychoanalyse“ überhaupt. Es gibt Psychoanalytiker, die praktizierende Anhänger einer Religion sind, und andere, welche religiöse Interessen für ein Symptom ungelöster emotionaler Konflikte halten. Die Stellung, die in diesem Buche eingenommen wird, weicht von beiden Haltungen ab und ist höchstens charakteristisch für die Überzeugung einer dritten Gruppe von Psychoanalytikern.
An dieser Stelle möchte ich meiner Frau[2] danken, nicht nur für die zahlreichen Anregungen, die ich unmittelbar verwerten konnte, sondern weit darüber hinaus für das, was ich ihrem durchdringenden Forschergeist verdanke und was so viel zu meiner eigenen Entwicklung beigetragen hat, dass meine Gedanken über Religion davon mitgeprägt sind.
E. F.
Nie zuvor war der Mensch der Erfüllung seiner liebsten Hoffnungen so nahe wie heute. Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Errungenschaften befähigen uns, den Tag vorauszusehen, an dem der Tisch für alle Hungrigen gedeckt sein wird – einen Tag, an dem das Menschengeschlecht eine einzige Gemeinschaft bilden und nicht mehr in getrennten Einheiten leben wird. Tausende von Jahren waren nötig für diese Entfaltung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, für sein wachsendes Vermögen, eine Gesellschaftsordnung aufzubauen und seine Kräfte zweckorientiert zu gebrauchen. Der Mensch hat eine neue Welt mit eigenen Gesetzen und eigenem Schicksal geschaffen. Wenn er seine Schöpfung betrachtet, kann er sagen: Wahrlich, sie ist gut.
Aber was kann er sagen, wenn er sich selbst betrachtet? Ist er der Verwirklichung eines anderen Traumes der Menschheit nähergekommen – dem von der Vervollkommnung des Menschen? Des Menschen, der seinen Nächsten liebt, Gerechtigkeit übt, die Wahrheit spricht und das zur Wirklichkeit gemacht hat, was er der Möglichkeit nach ist – das Ebenbild Gottes?
Die Frage aufwerfen, heißt uns Pein bereiten, denn die Antwort ist so schmerzlich eindeutig. Während wir wunderbare Dinge geschaffen haben, versäumten wir, uns selber zu Wesen zu machen, welche dieser gewaltigen Anstrengung wert wären. Unser Leben ist nicht das der Brüderlichkeit, des Glücks und der Zufriedenheit, sondern es gleicht einem geistigen Chaos und einer Verworrenheit, die einem Zustand des Verrücktseins gefährlich nahekommt – nicht jener hysterischen Form von Verrücktheit, die es im Mittelalter gab, sondern einer Verrücktheit, welche der Schizophrenie verwandt ist, bei der der Kontakt mit der inneren Realität verlorengegangen, und bei der das Denken vom Gefühl abgespalten ist.
Sehen wir uns nur einiges aus dem Nachrichtenteil der Presse an, wie wir ihn täglich morgens und abends lesen. Als Reaktion auf die Wasserknappheit in New York ermahnen die Kirchen, um Regen zu beten, und gleichzeitig versuchen die Regenmacher, mit chemischen Mitteln Regen herzustellen. Mehr als ein Jahr lang wurde von fliegenden Untertassen berichtet. Die einen bestreiten ihr Vorhandensein, andere erklären sie für wirklich und der eigenen oder einer fremden Militärmacht zugehörig, [VI-231] während wiederum andere ernsthaft behaupten, es seien Maschinen, welche die Bewohner eines andern Planeten zu uns schickten. Man sagt uns, nie habe Amerika so gute Aussichten auf eine helle Zukunft gehabt wie jetzt um die Jahrhundertmitte; auf derselben Seite wird die Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges erörtert, und die Gelehrten streiten sich darüber, ob die Atomwaffen zur Zerstörung des Erdballs führen werden oder nicht.
Die Leute gehen in die Kirchen und hören Predigten, in denen die Grundsätze der Liebe und der Barmherzigkeit gepriesen werden; und dieselben Leute würden sich für Narren oder Schlimmeres halten, wenn sie Bedenken hätten, einem Kunden etwas aufzuschwatzen, wovon sie wissen, dass es über seine Verhältnisse geht. Kinder lernen in der Sonntagsschule, dass Ehrlichkeit, Lauterkeit und die Sorge um das Seelenheil die leitenden Prinzipien des Lebens sein sollten, während „das Leben“ lehrt, dass die Befolgung dieser Grundsätze uns bestenfalls zu weltfremden Träumern macht. Wir haben die erstaunlichsten Möglichkeiten der Mitteilung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, und zugleich werden wir täglich mit einem Unsinn gefüttert, der für den Verstand von Kindern beleidigend wäre, würden diese nicht damit großgezogen. Viele Stimmen verkünden, unsere Lebensweise mache uns glücklich. Aber wie viele Menschen unserer Zeit sind glücklich? Es ist interessant, sich an eine zufällige Aufnahme zu erinnern, die kürzlich in der Zeitschrift „Life“ erschien. Eine Gruppe von Menschen wartet an einer Straßenecke auf das grüne Licht. Was an diesem Bilde so auffällig war und so aufrüttelnd wirkte, war der im Text erklärte Umstand, dass diese Menschen, die alle wie gelähmt und verängstigt aussahen, nicht etwa einen schrecklichen Verkehrsunfall mitangesehen hatten, sondern beliebige Leute waren, die ihren Geschäften nachgingen.
Wir klammern uns an den Glauben, wir seien glücklich; wir lehren unsere Kinder, dass wir es weiter gebracht haben als irgendeine frühere Generation und dass im Endeffekt kein Wunsch unerfüllbar und nichts uns unerreichbar sein werde. Der äußere Anschein unterstützt diesen Glauben, der uns unablässig eingehämmert wird.
Aber hören unsere Kinder eine Stimme, die ihnen sagt, wohin sie gehen und wofür sie leben? Irgendwie fühlen sie, wie alle menschlichen Wesen, dass das Leben einen Sinn haben muss – aber welchen? Finden sie ihn in den Widersprüchen, in Doppelzüngigkeiten und der zynischen Resignation, der sie auf Schritt und Tritt begegnen? Sie sehnen sich nach Glücksgefühl, nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach Liebe, nach einem Objekt der Hingabe – vermögen wir ihr Verlangen zu befriedigen?
Wir sind ebenso hilflos wie sie. Wir kennen die Antwort nicht, weil wir sogar vergessen haben, die Frage zu stellen. Wir geben vor, unser Leben habe eine feste Grundlage und leugnen die Schatten des Unbehagens, der Angst und der Verwirrung, die uns nie verlassen.
Manche Menschen halten die Rückkehr zur Religion für die Antwort; doch nicht als einen echten Glaubensakt, sondern um quälenden Zweifeln zu entgehen; sie entscheiden sich dafür nicht aus Hingabe, sondern aus Sicherheitsbedürfnis. Wer die gegenwärtige Zeit erforscht und wessen Hauptanliegen nicht die Kirche, sondern die Seele des Menschen ist, sieht in einem solchen Schritt ein weiteres Symptom für die Schwäche unserer Lebenskraft. [VI-232]
Diejenigen, welche die Lösung in einer Rückkehr zur traditionellen Religion sehen, sind von einer Auffassung beeinflusst, die häufig von Religionsanhängern vorgebracht wird, nämlich dass wir zu wählen hätten zwischen Religion und einer Lebensweise, die sich einzig um die Befriedigung unserer instinktiven Bedürfnisse und materiellen Annehmlichkeiten kümmert; dass wir, wenn wir nicht an Gott glauben, keinen Grund – und kein Recht – hätten, an die Seele und ihre Forderungen zu glauben. Priester und Seelsorger scheinen die einzigen Berufe zu sein, die sich mit der Seele befassen, die einzigen Anwälte für die Ideale Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit.
Geschichtlich ist dies nicht ganz zutreffend. Während in einigen Kulturen, wie der ägyptischen, die Priester die „Seelenärzte“ waren, lag diese Aufgabe z.B. in Griechenland mindestens teilweise in den Händen der Philosophen. Sokrates, Plato und Aristoteles behaupteten nicht, im Namen irgendeiner Offenbarung zu sprechen; vielmehr beriefen sie sich auf die Autorität der Vernunft und auf ihr Anliegen, dem Menschen zum Glück und zur Entfaltung seiner Seele zu verhelfen. Sie beschäftigten sich mit dem Menschen als einem Selbstzweck und sahen in ihm den wichtigsten Gegenstand der Forschung. Ihre Abhandlungen über Philosophie und Ethik waren zugleich Werke der Psychologie. Diese Tradition der Antike hat die Renaissance fortgeführt, und es ist sehr charakteristisch, dass das erste Buch, das in seinem Titel das Wort Psychologie enthält, den Untertitel trägt: Hoc est, de hominis perfectione („Das heißt: Von der Vervollkommnung des Menschen“, R. Goeckel, 1590).[3] Zur Zeit der Aufklärung erreichte diese Tradition ihren Höhepunkt. Aufgrund ihres Glaubens an die menschliche Vernunft bejahten die Philosophen der Aufklärung, die zugleich Seelenforscher waren, die Unabhängigkeit des Menschen von politischen Fesseln ebenso sehr wie von den Banden des Aberglaubens und der Unwissenheit. Sie lehrten ihn, sich gegen Existenzbedingungen zu wehren, welche die Aufrechterhaltung von Illusionen verlangten. Ihre psychologische Forschung wurzelte in dem Versuch, die Bedingungen des menschlichen Glücks zu entdecken. Ein Zustand des Glücklichseins, sagten sie, könne nur erreicht werden, wenn der Mensch innere Freiheit erlangt habe. Nur dann vermöge er geistig gesund zu sein. Doch hat der Rationalismus der Aufklärung bei den darauf folgenden Generationen einen drastischen Wandel erfahren. Berauscht von einem neuen materiellen Wohlstand und vom Erfolg bei der Beherrschung der Natur, hat der Mensch aufgehört, sich selbst für das Wesentliche des Lebens und den wichtigsten Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung zu halten. Statt mit der Vernunft die Wahrheit zu entdecken und mit ihr durch die Oberfläche hindurch zum Wesen der Phänomene vorzudringen, setzte man auf den technischen Verstand[4] als einem bloßen Werkzeug zur Manipulation der Dinge und Menschen. Der Mensch hat aufgehört zu glauben, dass die Kraft der Vernunft die Gültigkeit von Normen und Ideen für das menschliche Verhalten begründen kann.
Dieser Wandel des intellektuellen und emotionalen Klimas hat einen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft gehabt. Ungeachtet gewisser Ausnahmen, wie Nietzsche und Kierkegaard, wurde die Tradition, nach der die Psychologie die Erforschung der Seele im Blick auf des Menschen Tugend und Glück war, verlassen. Die akademische Psychologie beschäftigte sich, indem sie die Naturwissenschaften und deren Laboratoriumsmethoden des Wägens und Zählens [VI-233] nachahmte, mit allem, ausgenommen der Seele. Sie versuchte, jene Aspekte des Menschen zu verstehen, die im Laboratorium geprüft werden können, und behauptete, das Gewissen, die Werturteile, das Wissen um Gut und Böse seien metaphysische Vorstellungen, deren Abklärung außerhalb der Aufgaben der Psychologie liege; sie befasste sich weit häufiger mit unbedeutenden Problemen, für welche die angeblich wissenschaftlichen Methoden passten, als mit der Ausarbeitung neuer Methoden zum Studium der wesentlichen Probleme des Menschen. Damit wurde die Psychologie zu einer Wissenschaft, deren Hauptgegenstand, die Seele, fehlte. Sie befasste sich mit Mechanismen, Reaktionsbildungen, Trieben, jedoch nicht mit den ganz spezifisch menschlichen Phänomenen: mit der Liebe, der Vernunft, dem Gewissen und den Werten. Weil mit dem Wort Seele Assoziationen verbunden sind, die auf diese höheren Kräfte des Menschen deuten, benutze ich es hier und in den folgenden Kapiteln häufiger als die Ausdrücke „Psyche“ oder „Geist“.
Dann kam Freud, der letzte große Vertreter des Rationalismus der Aufklärung und zugleich der erste, der dessen Grenzen an den Tag brachte. Er wagte es, die Lobgesänge über den Triumph des instrumentellen Verstandesdenkens[5] zu unterbrechen. Er zeigte, dass die Vernunft die wertvollste und eigentümlichste Kraft des Menschen ist, dass sie jedoch der verzerrenden Einwirkung der Leidenschaften unterworfen sei, und dass einzig das Verstehen der Leidenschaften des Menschen seine Vernunft so befreien kann, dass er den richtigen Gebrauch davon macht. Er wies sowohl die Macht als auch die Schwächen der menschlichen Vernunft auf und erhob den Satz „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Jo 8,32) zum leitenden Prinzip einer neuen Heilmethode.
Zuerst meinte Freud, er habe es nur mit bestimmten Krankheiten und ihrer Heilung zu tun. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er weit über das Gebiet der Medizin hinausgegangen war und eine Tradition wieder aufgenommen hatte, in der die Psychologie, indem sie die Seele des Menschen erforscht, die theoretische Grundlage für die Kunst des Lebens und für das Erlangen von Glück war.
Freuds Methode, die Psychoanalyse, ermöglichte höchst genaue und gründliche Erforschung der Seele. Im „Laboratorium“ des Analytikers gibt es keinerlei Geräte. Er kann das Gefundene weder wägen noch zählen; aber Träume, Phantasien und Assoziationen geben ihm einen Einblick in die verborgenen Wünsche und Ängste seiner Patienten. In seinem „Laboratorium“, in dem er sich einzig auf Beobachtung, Vernunft und seine eigene Erfahrung als Mensch verlässt, macht er die Entdeckung, dass geistig-seelische Erkrankungen nur im Zusammenhang mit ethischen Problemen verstanden werden können: dass sein Patient krank ist, weil er die Forderungen seiner Seele vernachlässigt hat. Der Analytiker ist weder Theologe noch Philosoph und will in diesen Bereichen auch nicht kompetent sein. Aber als Seelenarzt hat er es mit genau den gleichen Problemen wie Philosophie und Theologie zu tun: mit der Seele des Menschen und ihrem Heil.
Wenn wir die Aufgabe des Psychoanalytikers in dieser Weise umschreiben, finden wir, dass gegenwärtig zwei Berufsgruppen um die Seele des Menschen bemüht sind: die Priester und die Psychoanalytiker. Wie verhalten sie sich zueinander? Versucht der Psychoanalytiker sich des Bereichs des Priesters zu bemächtigen und ist [VI-234] Gegensätzlichkeit zwischen ihnen unvermeidlich? Oder sind sie Verbündete, die nach den gleichen Zielen streben und deren Arbeitsgebiete sich ergänzen und ineinander übergreifen, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis?
Den ersten dieser beiden Standpunkte haben sowohl Psychoanalytiker als auch Kirchenvertreter eingenommen. Freuds Die Zukunft einer Illusion (S. Freud, 1927c) und Sheens Peace of Soul[6] betonen den Gegensatz. C. G. Jungs Psychologie und Religion (C. G. Jung, 1937) und Rabbi Liebmans Peace of Mind (J. L. Liebman, 1946) sind charakteristische Versuche, Psychoanalyse und Religion zu versöhnen. Die Tatsache, dass eine beträchtliche Zahl von Seelsorgern sich mit der Psychoanalyse beschäftigt, ist ein Anzeichen dafür, wie weit dieser Glaube an eine Verbindung von Psychoanalyse und Religion schon in das Gebiet der seelsorgerlichen Praxis eingedrungen ist.
Wenn ich es unternehme, in dieser Schrift das Problem von Psychoanalyse und Religion aufs Neue zu erörtern, dann darum, weil ich zeigen möchte, dass es trügerisch ist, ein Entweder-oder des unversöhnlichen Gegensatzes einerseits oder der Gleichheit der Interessen andererseits aufzustellen. Vielmehr kann eine gründliche und unvoreingenommene Untersuchung zeigen, dass die Beziehung zwischen Religion und Psychoanalyse zu vielgestaltig ist, um mit der einen oder andern dieser beiden einfachen und bequemen Einstellungen gleichgesetzt werden zu können.
Ich möchte zeigen, wie falsch es ist, wenn behauptet wird, wir müssten auf die Beschäftigung mit der Seele verzichten, wenn wir nicht die Lehrsätze der Religion akzeptierten. Der Psychoanalytiker ist in der Lage, die menschliche Wirklichkeit sowohl hinter der Religion als auch hinter den nicht-religiösen[7] Symbolsystemen zu untersuchen. Er kommt zu dem Schluss, dass es nicht darum geht, ob der Mensch zur Religion zurückkehrt und an Gott glaubt, sondern ob er die Liebe lebt und die Wahrheit denkt. Tut er das, dann ist es von zweitrangiger Bedeutung, welchem Symbolsystem er anhängt. Tut er das nicht, so ist es überhaupt ohne Bedeutung.
Freud hat das Problem von Psychoanalyse und Religion in einem seiner tiefgründigsten und geistreichsten Bücher, Die Zukunft einer Illusion, behandelt. Jung, der der erste Psychoanalytiker war, der verstanden hat, dass Mythen und religiöse Ideen der Ausdruck tiefer Einsichten sind, hat dasselbe Thema in den Terry-Vorlesungen 1937 behandelt (publiziert unter dem Titel Psychologie und Religion).
Wenn ich jetzt versuche, eine kurze Zusammenfassung der Stellungnahme beider Psychoanalytiker zu geben, so geschieht es zu einem dreifachen Zweck:
um anzugeben, wo die Diskussion des Problems jetzt steht und welches der Ausgangspunkt für meine Darlegungen ist;
um durch die Erörterung von einigen grundlegenden Begriffen Freuds und Jungs die Grundlagen für die Darlegungen der folgenden Kapitel zu geben;
um die weitverbreitete Meinung zu korrigieren, Freud sei „gegen“ und Jung „für“ Religion. Dies wird uns erlauben, das Trügerische solcher Übervereinfachungen in diesem komplexen Bereich einzusehen und die Zweideutigkeit der Ausdrücke „Religion“ und „Psychoanalyse“ zu untersuchen.
Welche Stellung nimmt Freud zur Religion in Die Zukunft einer Illusion (S. Freud, 1927c) ein?
Für Freud liegt der Ursprung der Religion in der Hilflosigkeit des Menschen angesichts der Naturkräfte außer ihm und der Triebkräfte in ihm. Religion entsteht nach Freud in den Frühstadien der menschlichen Entwicklung, wo der Mensch noch nicht imstande ist, seine Vernunft zur Bewältigung dieser äußeren und inneren Kräfte zu gebrauchen; er muss sie entweder verdrängen oder mit Hilfe anderer affektiver Kräfte mit ihnen fertig werden. Statt diesen Kräften mit Hilfe der Vernunft gewachsen zu sein, bewältigt er sie mit „Gegen-Affekten“, also mit anderen emotionalen Kräften, deren Aufgabe es ist, das zu unterdrücken und zu beherrschen, was er vernünftig zu bewältigen nicht imstande ist.
In diesem Prozess entwickelt der Mensch das, was Freud eine „Illusion“ nennt, deren Inhalt aus den eigenen Kindheitserfahrungen stammt. Angesichts gefährlicher, unkontrollierbarer und unverständlicher Kräfte innerhalb und außerhalb seiner selbst, erinnert er sich an früher und regrediert auf eine Kindheitserfahrung, als er sich von einem Vater beschützt fühlte, dem er überlegene Weisheit und Stärke zuschrieb und [VI-236] dessen Liebe und Schutz er gewinnen konnte, wenn er seinen Befehlen gehorchte und vermied, seine Verbote zu missachten.
Auf diese Weise ist die Religion nach Freud eine Wiederholung der Kindheitserfahrung. Der Mensch bewältigt die bedrohlichen Kräfte in eben jener Weise, in der er als Kind lernte, mit seiner eigenen Unsicherheit fertig zu werden, nämlich dadurch, dass er sich auf seinen Vater verließ, ihn bewunderte und fürchtete. Freud vergleicht die Religion mit den Zwangsneurosen, wie wir sie bei Kindern finden. Und nach ihm ist Religion eine kollektive Neurose, durch ähnliche Bedingungen verursacht wie diejenigen, welche Kinderneurosen hervorrufen.
Freuds Analyse der psychologischen Wurzeln der Religion versucht zu zeigen, warum die Menschen auf die Idee von einem Gott kamen. Aber er behauptet, zu mehr als nur zu diesen psychologischen Wurzeln vorzustoßen. Er behauptet, die Irrealität der theistischen Auffassung erwiesen zu haben, indem er sie als eine Illusion beschrieb, die der Wunschwelt des Menschen entspringt.[8]
Freud geht noch über den Versuch, den Illusionscharakter der Religion aufzuzeigen, hinaus. Er erklärt die Religion für eine Gefahr, weil sie dazu neige, schlechte menschliche Institutionen zu sanktionieren, mit denen sie sich im Verlauf ihrer Geschichte verbunden habe; ferner, weil sie die Menschen lehre, an eine Illusion zu glauben, und weil sie das kritische Denken verbiete und deshalb für die Verarmung des Vernunftvermögens verantwortlich sei.[9] Diese Anklage wurde, ebenso wie die erste, von den Denkern der Aufklärung gegen die Kirche erhoben. Aber in Freuds Bezugsrahmen bekommt der zweite Vorwurf eine noch größere Bedeutung, als er sie im achtzehnten Jahrhundert hatte. Freud vermochte in seiner analytischen Arbeit zu zeigen, dass, wird in einem Bereich das kritische Denken verboten, dies zu einer Schwächung der kritischen Fähigkeiten auch auf anderen Gebieten führt und damit die Kraft der Vernunft hemmt. Freuds dritter Einwand gegen die Religion lautet, dass sie die Moral auf einen sehr unsicheren Grund stelle. Wenn die Gültigkeit ethischer Normen darauf beruht, dass sie Gottes Gebote sind, so steht und fällt die Zukunft der Ethik mit dem Glauben an Gott. Da Freud als erwiesen ansieht, dass religiöser Glaube mit der Zeit aufhört, muss er zwangsläufig annehmen, dass der Fortbestand der Verbindung von Religion und Ethik zur Zerstörung unserer moralischen Werte führen werde.
Die Gefahren, die Freud in der Religion sieht, machen deutlich, dass seine eigenen [VI-237]