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Nach dem Tod der Mutter verlässt Blaire ihr Zuhause, um bei ihrem Vater und dessen neuer Familie in einem luxuriösen Strandhaus zu leben. Vor allem ihr attraktiver Stiefbruder Rush lässt sie jedoch immer wieder spüren, dass sie nicht willkommen ist. Er ist so abweisend wie anziehend, so verletzend wie faszinierend, er ist verwirrend und unwiderstehlich – und er kennt ein Geheimnis, das Blaires Herz mit einem Schlag für immer brechen könnte.
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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Heidi Lichtblau
ISBN 978-3-492-96401-2 Dezember 2015
© Abbi Glines 2012 Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Fallen Too Far« Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2013 Umschlaggestaltung: Zero-Werbeagentur Umschlagmotiv: Bayram Tunc/Getty Images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Wo ich herkam, standen alte Pick-ups mit großen erdverkrusteten Rädern vor den Häusern, in denen eine Party stieg. Keine ausländischen Luxusschlitten – und in dieser langen Einfahrt hier gab es mindestens zwanzig davon. Damit ich niemandem im Weg war, steuerte ich den fünfzehn Jahre alten Ford-Pick-up meiner Mom etwas abseits auf eine sandige Grasfläche. Dass an diesem Abend eine Party bei ihm stattfand, hatte Dad mir gar nicht erzählt. Aber er erzählte auch sonst nicht viel.
Ich wusste nicht einmal, warum er nicht zu Moms Beerdigung gekommen war. Ich wusste nur, dass ich nicht im Traum daran gedacht hätte, hierher nach Florida zu fahren, wenn ich irgendwo anders untergekommen wäre. Doch das kleine Haus meiner Großmutter hatte ich verkaufen müssen, um die letzten Arztrechnungen meiner Mom zu bezahlen. Außer meinen Klamotten und dem Pick-up war mir nichts geblieben. Nachdem sich mein Vater während der ganzen drei Jahre, die meine Mutter gegen den Krebs gekämpft hatte, nicht ein einziges Mal hatte blicken lassen, hatte mich der Anruf bei ihm einiges an Überwindung gekostet. Aber er war nun mal alles an Familie, was ich noch hatte.
Ich starrte auf die riesige dreistöckige Villa, die direkt am weißen Sandstrand von Rosemary Beach stand. Das neue Zuhause meines Vaters. Seiner neuen Familie. Ich gehörte nicht hierher.
Plötzlich wurde die Tür meines Wagens aufgerissen. Automatisch schoss meine Hand unter den Sitz und griff nach meiner Neun-Millimeter-Pistole. Ich riss sie hoch und richtete sie mit beiden Händen auf den Eindringling.
»Oha!« Ein Typ mit zerzaustem braunem Haar stand mit weit aufgerissenen Augen am anderen Ende des Laufs meiner Waffe und hielt die Hände hoch. »Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du dich verfahren hast, aber von mir aus sage ich dir alles, was du hören willst, solange du nur das verdammte Ding da wieder runternimmst!«
Ich hob eine Augenbraue, hielt die Waffe aber weiterhin auf ihn gerichtet. Ich wusste immer noch nicht, wer er war. Dass einem ein Fremder nachts einfach die Wagentür aufriss, war nicht normal. »Nein, ich habe mich nicht verfahren. Gehört das Haus da Abraham Wynn?«
Der Typ schluckte nervös. »Äh, mit so einem Ding im Gesicht kann ich nicht klar denken. Könntest du die bitte wegstecken, bevor sie noch aus Versehen losgeht?«
Aus Versehen? Echt jetzt? Langsam reichte es mir.
»Es ist dunkel. Ich bin allein. Ich kenne dich nicht. Und ich kenne die Gegend nicht. Also verzeih mir bitte, wenn ich mich gerade nicht so ganz sicher fühle. Und aus Versehen geht hier gar nichts los, glaub mir. Ich kann mit einer Waffe umgehen. Gut sogar.«
Daran schien der Typ seine Zweifel zu haben, und bei genauerer Betrachtung wirkte er eigentlich ziemlich harmlos. Trotzdem war ich nicht bereit, meine Waffe runterzunehmen.
»Abraham?«, wiederholte er langsam. Er wollte schon den Kopf schütteln, stutzte dann aber. »Warte mal, Abe ist Rushs Stiefvater. Aber der ist mit Georgianna in Paris!«
Paris? Rush? Bitte wie? Ich hoffte, er würde weiterreden, doch der Kerl starrte nur mit angehaltenem Atem auf die Mündung meiner Waffe. Während ich sie langsam senkte, sicherte und wieder unter dem Sitz verstaute, ließ ich ihn nicht aus den Augen. Vielleicht wurde er nun etwas gesprächiger.
»Hast du überhaupt eine Lizenz für das Ding?«, fragte er ungläubig.
Ich war jetzt wirklich nicht in der Stimmung, mich darüber zu unterhalten, ob ich im Besitz einer Waffe sein durfte oder nicht. Ich wollte Antworten.
»Abraham ist in Paris?« Ich brauchte Klarheit. Mein Vater wusste genau, dass ich heute ankommen würde. Wir hatten ja erst vor einer Woche telefoniert, kurz nachdem ich das Haus verkauft hatte.
Der Typ nickte. Er entspannte sich sichtlich. »Du kennst Abe?«
Nicht wirklich. Seitdem er meine Mom und mich vor fünf Jahren verlassen hatte, hatte ich ihn nur noch zwei Mal gesehen. Aber ich erinnerte mich noch an den Dad, der zu meinen Fußballspielen gekommen war und bei Festen in der Nachbarschaft Burger gegrillt hatte. An den Dad, den ich einmal hatte, bis meine Zwillingsschwester Valerie bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Mein Vater hatte am Steuer gesessen. An diesem Tag hatte er sich verändert. Er wurde ein anderer. Ein Mann, der mich nicht anrief, um zu fragen, ob es mir gut ging, während ich mich um meine kranke Mutter kümmerte … Nein, diesen Mann kannte ich nicht. Überhaupt nicht.
»Ich bin seine Tochter. Blaire.«
Der Typ riss die Augen auf und fing lauthals zu lachen an. Was war daran bitte so lustig? Ich wartete auf eine Erklärung, aber er streckte mir stattdessen die Hand entgegen. »Komm, Blaire, es gibt da jemanden, den du kennenlernen solltest. Er wird das alles spannend finden!«
Ich starrte kurz auf seine Hand und griff dann nach meiner Handtasche.
»Deine Handtasche? Hast du darin auch eine Knarre versteckt?« Der neckende Ton in seiner Stimme hielt mich davon ab, unhöflich zu werden. »Sollte ich die anderen davor warnen, sich lieber nicht mit dir anzulegen?«
»Du hast meine Wagentür aufgerissen, ohne anzuklopfen. Ich hatte Angst.«
»Und wenn du Angst bekommst, zückst du sofort die Waffe? Verdammt, wo kommst du denn her? Die meisten Mädchen, die ich kenne, würden einfach nur hysterisch loskreischen.«
Die meisten Mädchen, die er kannte, waren die letzten drei Jahre wahrscheinlich auch nicht auf sich selbst gestellt gewesen. Schutzlos. Ich musste mich um meine Mutter kümmern, aber keiner kümmerte sich um mich.
»Ich komme aus Alabama.« Ich ignorierte seine Hand und stieg aus dem Wagen.
Eine kühle Brise wehte mir entgegen, und ich roch die salzige Meeresluft. Ich war noch nie am Meer gewesen. Strände kannte ich nur von Bildern und aus Filmen. Aber den Geruch hatte ich mir immer genau so vorgestellt.
»Es stimmt also, was man über Mädchen aus Alabama sagt«, stellte er belustigt fest, und ich wandte mich wieder ihm zu.
»Was?«
Sein Blick glitt an meinem Körper herab. Dann sah er mir ins Gesicht und grinste. »Knackige Jeans, enge Tanktops und eine geladene Knarre. Verdammt, ich wohne eindeutig im falschen Bundesstaat!«
Ich verdrehte die Augen und ging nach hinten zur Ladefläche des Pick-ups. Dort standen ein Koffer und etliche Kartons, die ich noch zur Altkleidersammlung geben wollte.
»Warte, lass mich das machen.« Er ging um mich herum und griff nach dem großen Koffer. Der Koffer hatte jahrelang im Wandschrank meiner Mutter gelegen – für den »Road Trip«, den wir gemeinsam machen wollten. Sie hatte immer davon gesprochen, dass wir eines Tages das Land durchqueren und die Westküste hinauffahren würden. Dann war sie krank geworden.
Ich schüttelte die Erinnerungen ab und konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart. »Danke, ich … äh … Wie heißt du eigentlich?«
Der Typ hievte den Koffer herunter und schaute mich dann wieder an.
»Was? Ach ja, du hast vergessen, danach zu fragen, und mir lieber gleich die Neun-Millimeter-Knarre vor die Nase gehalten!«
Ich seufzte. Okay, ich hatte vielleicht ein wenig überreagiert, aber er hatte mich eben erschreckt.
»Ich bin Grant, ein … Freund von Rush.«
»Rush?« Wieder dieser Name. Wer war Rush?
»Du hast keine Ahnung, wer Rush ist, oder?« Ihn schien das maßlos zu amüsieren. »Meine Fresse, bin ich froh, dass ich heute Abend hergekommen bin!«
Er wies kurz mit dem Kopf zum Haus. »Komm schon, ich stelle ihn dir vor.«
Ich ging neben ihm her. Je mehr wir uns der Villa näherten, desto lauter wurde die Musik, die herausdrang. Wenn mein Dad mit seiner neuen Frau in Paris war, wer war dann hier? Ich wusste gerade noch, dass sie Georgianna hieß. Damit hatte es sich aber auch schon. War das eine Party, die ihre Kinder schmissen? Wie alt waren sie? Ich konnte mich nicht erinnern. Dad hatte sich letzte Woche sehr vage ausgedrückt. Er hatte gesagt, ich würde meine neue Familie schon mögen, aber nicht, wer denn eigentlich alles dazugehörte.
»Hier wohnt also Rush?«, fragte ich.
»Japp, tut er, zumindest im Sommer. Je nach Jahreszeit zieht es ihn dann in seine anderen Häuser.«
»Seine anderen Häuser?«
Grant schmunzelte. »Du weißt nicht gerade viel über die Familie, in die dein Dad eingeheiratet hat, was, Blaire?«
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Also dann ein Crashkurs, bevor wir uns diesem Wahnsinn hier stellen.« Er blieb auf der obersten Treppenstufe zum Hauseingang stehen und sah mich an. »Rush Finlay ist dein Stiefbruder. Er ist das einzige Kind des berühmten Drummers von Slacker Demon, Dean Finlay. Seine Eltern haben nie geheiratet. Und seine Mutter, Georgianna, war damals ein Groupie. Das Haus gehört Rush. Seine Mom kann hier wohnen, weil er es erlaubt.« In diesem Augenblick wurde die Haustür geöffnet. »Und dort drin sind seine Freunde.«
Eine hochgewachsene schlanke junge Frau mit rotblonden, makellos frisierten Haaren stand in einem kurzen königsblauen Kleid vor uns – in High Heels, mit denen ich keinen Schritt hätte machen können, ohne mir dabei das Genick zu brechen. Sie sah mich mit großen Augen an und verzog dann missbilligend das Gesicht. Ich kannte mich mit Frauen wie ihr nicht aus, aber mir war sofort klar, dass sie meine Kaufhausklamotten völlig daneben fand. Entweder das, oder auf mir krabbelte ein Käfer herum.
»Hallo, Nannette«, begrüßte Grant sie genervt.
»Wer ist das?«, fragte die Rotblonde und sah ihn an.
»Eine Freundin«, erwiderte er. »Zieh nicht so ein Gesicht, Nan, das steht dir nicht.« Er nahm meine Hand und zog mich an ihr vorbei ins Innere des Hauses.
Wir gingen an ein paar Leuten vorbei durch eine große Eingangshalle und traten schließlich durch einen bogenförmigen Durchgang ins, wie ich vermutete, Wohnzimmer – auch wenn das Zimmer größer war als mein ganzes Haus, beziehungsweise mein ehemaliges Haus. Durch zwei geöffnete Glastüren hatte man einen atemberaubenden Blick auf das Meer.
»Hier entlang!« Grant steuerte auf eine … Bar … zu? Ernsthaft? In dem Haus hier gab es eine Bar?
Ich konnte im Vorbeigehen nur kurze Blicke auf die Leute um mich herum werfen. Alle stutzten einen Augenblick und musterten mich abschätzig. Offenbar herrschte hier ein strenger Dresscode. Plötzlich blieben wir stehen.
»Rush, darf ich dir Blaire vorstellen? Ich habe sie draußen vor der Einfahrt aufgelesen, und ich glaube, sie gehört zu dir. Sie wirkte ein wenig verloren«, sagte Grant. Ich wandte meinen Blick von den neugierigen Leuten ab, um zu sehen, wer denn dieser Rush nun war.
Oh.
Oh. Wow!
»Ist dem so?«, fragte Rush und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes dunkelbraunes Haar. Er hatte es sich auf einem weißen Sofa mit einem Bier in der Hand bequem gemacht und richtete sich jetzt auf. Er beugte sich leicht vor und sah mich direkt an. »Ganz niedlich, aber leider zu jung. Sie gehört nicht zu mir.«
»O doch, ich glaube schon. Ihr Daddy hat sich mit deiner Mommy für die nächsten Wochen nach Paris abgesetzt. Also bist du jetzt für sie zuständig, würde ich sagen. Aber ich biete ihr auch gern ein Zimmer bei mir an, wenn dir das lieber ist. Vorausgesetzt, sie verspricht, ihre Knarre hübsch im Wagen zu lassen.«
Rush zog die Brauen leicht zusammen und musterte mich eingehend. Seine Augen hatten eine seltsame Farbe. Ungewöhnlich … schön. Sie waren nicht wirklich dunkelbraun. Aber auch nicht haselnussbraun. Sie hatten einfach einen dunklen warmen Ton und schienen silbern durchwirkt. Solche Augen hatte ich noch nie gesehen. Ob er Kontaktlinsen trug?
»Deshalb gehört sie noch lange nicht zu mir«, erwiderte er schließlich und lehnte sich wieder auf dem Sofa zurück.
Grant räusperte sich. »Du machst Witze, oder?«
Rush gab keine Antwort. Stattdessen nahm er einen Schluck aus der Flasche und warf Grant einen warnenden Blick zu. Aha, wahrscheinlich würde er mich gleich rauswerfen. In meiner Handtasche hatte ich noch ganze zwanzig Dollar, und mein Tank war fast leer. Alle Wertsachen, die ich besaß, hatte ich schon verkauft. Bei meinem Anruf hatte ich meinem Vater erklärt, dass ich nur vorübergehend eine Unterkunft bräuchte, bis ich einen Job gefunden und genug Geld verdient hatte, um mir eine eigene Wohnung leisten zu können. Er hatte schnell eingewilligt und mir diese Adresse genannt – mit den Worten, er würde sich riesig freuen, wenn ich bei ihm wohnen würde.
Plötzlich hatte ich wieder Rushs Aufmerksamkeit. Er sah mich an und wartete offensichtlich darauf, dass ich etwas sagte. Nur was? Ein amüsiertes Lächeln huschte über seine Lippen, und er zwinkerte mir zu.
»Heute Abend habe ich das Haus voller Gäste, und mein Bett ist leider schon belegt.« Er blickte zu Grant. »Am besten sucht sie sich ein Hotel, bis ich ihren Daddy erreiche.«
Wie verächtlich er das Wort »Daddy« aussprach – er mochte meinen Vater offensichtlich nicht. Was ich ihm nicht einmal verübeln konnte. Im Grunde ging ihn das aber nichts an. Mein Vater hatte mich eingeladen, und auf der Fahrt hierher war der Großteil meines Geldes für Benzin und Essen draufgegangen. Wieso nur hatte ich diesem Mann vertraut?
Ich griff nach dem Koffer, den Grant immer noch in der Hand hielt. »Er hat recht. Ich habe hier nichts verloren. Das war keine gute Idee«, erklärte ich, ohne ihn anzusehen. Ich zog an dem Koffer, und Grant ließ ihn widerstrebend los. Die Erkenntnis, dass ich gleich so gut wie obdachlos sein würde, trieb mir Tränen in die Augen, und ich konnte keinem der beiden mehr ins Gesicht sehen.
Ich machte auf dem Absatz kehrt und steuerte mit gesenktem Blick auf die Tür zu. Ich bekam noch mit, wie sich Grant und Rush stritten, aber das blendete ich aus. Ich wollte nicht hören, was Rush über mich sagte. Er mochte mich nicht. So viel war klar. Und anscheinend war auch mein Dad in dieser Familie nicht willkommen.
»Du gehst schon wieder?«, erkundigte sich eine Stimme, die mich an sämigen Sirup erinnerte. Ich blickte auf und sah in das eisig lächelnde Gesicht der jungen Frau, die uns vorher hereingelassen hatte. Auch sie wollte mich nicht hier haben. Wirkte ich auf diese Leute wirklich so abstoßend? Schnell öffnete ich die Tür. Ich war zu stolz, um vor dieser fiesen Zicke zu weinen.
Kaum war ich draußen in Sicherheit, heulte ich auch schon. Ich wollte nur noch zu meinem Wagen. Ich brauchte diesen einzigen Ort, an dem ich mich noch aufgehoben fühlte. Dort gehörte ich hin, nicht in dieses lächerliche Haus voll arroganter Schnösel. Ich vermisste mein Zuhause. Ich vermisste meine Mom. Schluchzend schlug ich die Tür meines Pick-ups zu und verriegelte sie hinter mir.
Ich wischte mir die Tränen weg und zwang mich, tief Luft zu holen. Ich musste jetzt unbedingt die Ruhe bewahren. Schließlich war ich, selbst als ich meiner Mom bei ihrem letzten Atemzug die Hand hielt, nicht zusammengebrochen. Auch nicht, als man sie in ihr Grab hinabließ. Und als ich unser Haus verkaufen musste und damit kein Dach mehr über dem Kopf hatte, genauso wenig. Auch jetzt durfte ich mich nicht unterkriegen lassen.
Für ein Hotelzimmer reichte das Geld nicht, aber ich hatte meinen Pick-up. Darin konnte ich schlafen. Die Frage war nur, wo ich mich damit über Nacht hinstellen konnte. An sich wirkte die Stadt sicher, aber egal, wo ich parkte, die alte Karre würde Aufmerksamkeit erregen. Noch ehe ich eingeschlafen war, würden die Cops auch schon ans Fenster klopfen. Meine letzten zwanzig Dollar würde ich also für Benzin opfern müssen. Dann könnte ich in eine größere Stadt fahren, wo so ein alter Wagen nicht weiter auffiel.
Vielleicht könnte ich ihn hinter einem Restaurant abstellen und dort auch gleich nach einem Job fragen. Dann würde ich mir das Benzin für den Weg zur Arbeit sparen. Mein Magen knurrte und erinnerte mich daran, dass ich seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Ich würde mir für ein paar Dollar etwas kaufen müssen, und ich betete zu Gott, dass ich am nächsten Tag Arbeit fände.
Alles würde gut.
Ehe ich den Motor anließ, warf ich einen Blick nach hinten. Silbrig schimmernde Augen blitzten mir entgegen. Ich stieß einen kleinen Schrei aus, bevor ich Rush erkannte. Was hatte er hier draußen zu suchen? War er gekommen, um sich zu vergewissern, dass ich auch tatsächlich verschwand? Ich hatte wirklich keine Lust mehr, mit ihm zu reden. Ich wollte gerade meinen Blick abwenden und dann möglichst schnell losfahren, als er eine Augenbraue hochzog. Was hieß das denn nun wieder? Ach, das konnte mir egal sein. Selbst wenn er dabei – zugegebenermaßen – ziemlich sexy aussah. Ich wollte den Motor anlassen, hörte jedoch statt des Motorengeräuschs nur ein Klicken. Und dann … Stille. O nein. Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt!
Ich versuchte es noch einmal und betete, dass ich mich irrte. Ich wusste, dass die Tankanzeige kaputt war, aber ich hatte doch extra auf den Meilenstand geachtet. Noch müsste Benzin im Tank sein. Ganz bestimmt.
Ich schlug mit der Hand auf das Steuer und schimpfte auf den Wagen ein, aber auch das half nicht. Ich saß fest. Würde Rush die Polizei rufen? Schließlich schien ihm sehr daran gelegen zu sein, dass ich verschwand. Tja, das war nun nicht mehr möglich. Würde er mich jetzt verhaften lassen? Oder schlimmer, einen Abschleppdienst rufen? Ich hätte gar nicht genug Geld, um mir den Pick-up zurückzuholen! Aber zumindest hätte ich im Gefängnis ein Bett und etwas zu essen.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, öffnete die Tür und hoffte das Beste.
»Probleme?«, fragte Rush.
Am liebsten hätte ich mir meinen ganzen Frust von der Seele geschrien. Stattdessen brachte ich ein Nicken zustande. »Das Benzin ist alle.«
Rush stieß einen Seufzer aus. Ich schwieg und wartete erst mal seinen Schuldspruch ab. Bitten und betteln konnte ich immer noch.
»Wie alt bist du?«
Was? Erkundigte er sich wirklich nach meinem Alter? Ich steckte in seiner Einfahrt fest, und er wollte allen Ernstes wissen, wie alt ich war. Ein seltsamer Typ.
»Neunzehn.«
Rush hob beide Augenbrauen. »Wirklich?«
Nur mit Mühe verkniff ich mir die bissige Antwort, die mir auf der Zunge lag. Er sollte ja schließlich Mitleid mit mir haben. Also rang ich mir ein Lächeln ab. »Ja. Wirklich.«
Grinsend zuckte Rush die Achseln. »Sorry. Du siehst viel jünger aus.« Sein Blick schweifte über meinen Körper. Wie peinlich – jetzt wurde ich auch noch rot. »Stop, das nehme ich zurück. Jeder Teil deines Körpers ist definitiv neunzehn. Nur dein Gesicht, das wirkt so frisch und jung. Du trägst kein Make-up?«
War das eine Frage? Was sollte das? Ich wollte mich jetzt nicht darüber auslassen, dass Make-up ein Luxus war, den ich mir nicht leisten konnte, sondern ich wollte endlich wissen, was Sache war! Außerdem hatte Cain, mein Exfreund und jetzt bester Freund, immer gesagt, ich sei eine natürliche Schönheit. Was immer das heißen mochte.
»Ich habe kein Benzin mehr. Und gerade mal zwanzig Dollar in der Tasche. Mein Daddy hat sich einfach aus dem Staub gemacht, obwohl er mir Hilfe angeboten hatte. Dabei war er die LETZTE Person, die ich darum bitten wollte, das kannst du mir glauben! Nein, ich trage kein Make-up. Ich habe andere Probleme! Und? Holst du jetzt die Polizei oder doch besser den Abschleppdienst? Sollte ich die Wahl haben, dann bitte Ersteres.« Abrupt verstummte ich. Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich meine Zunge nicht mehr unter Kontrolle gehabt hatte. Nun hatte ich ihn auf die blöde Idee mit dem Abschleppdienst gebracht. Mist!
Rush legte den Kopf schief und musterte mich. Die Stille war fast unerträglich. Ich hatte diesem Kerl gerade zu viele Infos geliefert. Wenn er wollte, konnte er mir das Leben schwer machen.
»Ich mag deinen Vater nicht, aber dir scheint es da ähnlich zu gehen«, sagte er nachdenklich. »Ein Zimmer ist noch frei heute Abend. MrsHenrietta, Moms Dienstmädchen, schaut immer nur einmal in der Woche zum Saubermachen vorbei, wenn Mom Urlaub macht. Du kannst es haben. Es ist zwar klein, aber es steht ein Bett drin.«
Er bot mir ein Zimmer an. Ich würde jetzt nicht in Tränen ausbrechen. Das konnte ich später immer noch. Ich kam nicht ins Gefängnis. Gott sei Dank!
»Danke. Mir bliebe ansonsten nur der Pick-up. Da ist dein Angebot mit Sicherheit besser. Vielen Dank!«
Kurz verfinsterte sich Rushs Miene, doch gleich erschien auch schon wieder sein ungezwungenes Lächeln. »Wo ist dein Koffer?«
Ich schlug die Wagentür zu und ging zur Ladefläche, um ihn zu holen. Doch Rush kam mir zuvor und griff über mich hinweg nach ihm. Dabei streifte mich sein warmer Körper, der fremd und köstlich roch, und ich erstarrte.
Mit einem fragenden Blick drehte ich mich zu ihm um.
»Einen Koffer kann ich gerade noch tragen«, meinte er augenzwinkernd. »So ein Unmensch bin ich nun auch wieder nicht.«
»Noch mal danke«, stotterte ich, unfähig, meinen Blick von seinen unglaublichen Augen abzuwenden. Die dichten schwarzen Wimpern, die sie umrahmten, wirkten fast wie ein Lidstrich. Ein ganz natürlicher! Wie unfair. Meine Wimpern waren blond. Was hätte ich für solche Wimpern gegeben!
»Ah, gut, dass du sie aufgehalten hast, Rush!« Grants vertraute Stimme riss mich aus meiner Trance. »Fünf Minuten, mehr wollte ich dir nicht geben, bevor ich rauskomme. Nicht, dass du sie noch ganz verjagst.« Dankbar für die Unterbrechung fuhr ich herum. O Gott, ich hatte Rush regelrecht angeschmachtet! Ein Wunder, dass er mich nicht gleich wieder ins Auto verfrachtete.
»Bis ich ihren Vater erreiche und wir eine Lösung finden, nimmt sie Henriettas Zimmer.« Rush klang plötzlich verärgert. Er ging an mir vorbei und reichte Grant den Koffer. »Hier, zeig du ihr das Zimmer. Ich muss mich um die Gäste kümmern.«
Ohne einen Blick zurück zu werfen, marschierte Rush davon. Nur unter Aufbietung all meiner Willenskraft konnte ich meinen Blick von seinem Hintern losreißen. Denn auch der war extrem verführerisch. Dabei sollte ich mich zu Rush nun wirklich nicht hingezogen fühlen.
»Was für ein launischer Scheißkerl!« Grant schüttelte den Kopf. Ich konnte ihm nur beipflichten.
»Du brauchst meinen Koffer jetzt nicht noch mal da reinzutragen«, sagte ich und griff danach.
Grant wich mir aus. »Wie’s der Zufall will, bin ich der charmante Bruder.« Er spannte seine Armmuskeln an. »Beeindruckend, oder? Und du meinst, da lasse ich dich den Koffer schleppen?«
Ich hätte gegrinst, wäre da nicht dieses eine Wort gefallen, das mich völlig aus dem Konzept brachte. »Bruder?«
Grant lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Ich habe wohl noch gar nicht erwähnt, dass ich der Sohn von Georgiannas Mann Nummer zwei bin. Die Ehe mit meinem Vater hielt von meinem dritten und Rushs viertem Lebensjahr bis zu meinem fünfzehnten. Lang genug, dass Rush und ich uns als Brüder fühlten. Daran änderte sich auch nichts, als sich mein Dad von Georgianna scheiden ließ. Wir sind zusammen aufs College gegangen und sogar in dieselbe Studentenverbindung eingetreten.«
Ach so. Okay. Das hatte ich nicht erwartet.
»Wie viele Ehemänner hatte Georgianna denn schon?«
Grant lachte kurz auf und ging dann Richtung Haus. »Dein Dad ist die Nummer vier, wenn man Rushs Vater mitrechnet, mit dem sie ja nicht verheiratet war.«
Mein Vater war ein Volltrottel. Diese Frau wechselte ihre Ehemänner so oft wie ihre Unterwäsche. Wie lange würde es dauern, ehe sie ihm einen Tritt verpasste und sich den Nächsten anlachte?
Schweigend gingen wir in die Villa zurück, wo Grant mich in die Küche führte. Mit ihren Arbeitsflächen aus schwarzem Marmor und den raffinierten Gerätschaften hätte sie einem exklusiven Wohnmagazin entspringen können. Dort öffnete Grant eine Tür, die in eine große Speisekammer zu führen schien. Verwirrt blickte ich mich um. Er ging ans andere Ende und öffnete eine weitere Tür zu einer Kammer.
Diese war groß genug, dass er hineingehen und den Koffer auf das Bett legen konnte. Ich folgte ihm und blieb neben ihm vor dem schmalen Bett stehen, das den Großteil des Raums ausfüllte. Ein kleiner Nachttisch, der gerade noch zwischen Bett und Wand passte, vervollständigte die Einrichtung.
»Wohin nur mit dem Koffer?« Grant schüttelte den Kopf und seufzte. »Keine Ahnung. Das Zimmer ist einfach viel zu klein. Hör mal, wenn du mit zu mir kommen möchtest, dann sag’s einfach. Ich hätte immerhin ein Zimmer anzubieten, in dem man sich auch bewegen kann.«
Grants Angebot war nett, aber ich konnte unmöglich eines seiner Zimmer in Beschlag nehmen. Hier würde ich zumindest niemandem im Weg sein und hatte auch nicht das Gefühl, mich aufzudrängen. Ich konnte mich im Haus nützlich machen und mich nach einem Job umsehen. Vielleicht durfte ich ja sogar hierbleiben, bis ich genug Geld für eine eigene Wohnung zusammenbekommen hatte. Morgen würde ich einen Laden finden und mir etwas zu essen kaufen. Erdnussbutter und Brot. Damit käme ich gut eine Woche hin.
»Passt doch alles«, erwiderte ich. »Außerdem ruft Rush morgen meinen Dad an und erkundigt sich, wann er zurückkommt. Vielleicht hat mein Vater ja einen Plan, wer weiß. Aber danke. Echt nett von dir.«
Grant blickte sich noch einmal mit düsterer Miene im Zimmer um. Ihm passte das alles gar nicht, aber ich war erleichtert. Wie süß von ihm, dass er sich sorgte.
Er sah zu mir. »Ich lass dich hier wirklich nicht gern zurück.« Seine Stimme hatte einen beinahe flehenden Ton angenommen.
»Ist doch toll hier. Viel besser als in meinem Pick-up.«
Grant runzelte die Stirn. »Pick-up? Du hattest vor, in deinem Pick-up zu übernachten?«
»Genau. Hier dagegen kann ich mir in Ruhe meine nächsten Schritte überlegen.«
Grant fuhr sich durch das zerzauste Haar. »Versprichst du mir was?«
Mit Versprechungen hatte ich es gar nicht. Sie konnten schnell gebrochen werden, das wusste ich. Ich zuckte die Achseln. Zu mehr konnte ich mich nicht überwinden.
»Wenn dich Rush rauswirft, dann ruf mich an. Okay?«
Gerade wollte ich es ihm versprechen, als mir auffiel, dass ich seine Telefonnummer ja gar nicht kannte.
»Wo ist dein Handy, damit ich meine Nummer eingeben kann?«, fragte er.
»Ich habe keins.«
Grants Augen weiteten sich. »Was? Du hast kein Handy? Kein Wunder, dass du immer eine Knarre mit dir rumträgst!« Er griff in seine Tasche und zog etwas hervor, das wie eine Quittung aussah. »Hast du was zu schreiben?«
Ich öffnete meine Handtasche, nahm einen Stift heraus und reichte ihn ihm.
Schnell kritzelte er seine Nummer auf den Zettel und gab ihn mir mitsamt dem Stift. »Ruf an. Ich meine es ernst.«
Nie im Leben würde ich das tun, aber sein Angebot war nett. Ich nickte. Versprochen hatte ich nichts.
»Ich hoffe, du kannst hier einigermaßen schlafen.« Sorgenvoll blickte er sich um.
»Bestimmt«, beruhigte ich ihn.
Er nickte. Dann ging er und schloss die Tür hinter sich. Ich wartete, bis ich auch die Speisekammertür ins Schloss fallen hörte, und ließ mich dann neben meinen Koffer aufs Bett fallen. Gut. Daraus ließ sich etwas machen.
Auch wenn ich in dem fensterlosen Raum nicht sehen konnte, ob die Sonne schon aufgegangen war, wusste ich, dass ich lange geschlafen hatte. Nach einer achtstündigen Fahrt und dem ewigen Getrappel auf der Treppe, das mich vom Schlaf abhielt, hatte ich das einfach gebraucht.
Ich streckte mich, setzte mich auf und tastete nach dem Lichtschalter an der Wand. Die kleine Glühbirne erhellte den Raum, und ich griff unter das Bett, wo ich meinen Koffer untergebracht hatte.
Ich musste dringend auf die Toilette und duschen. Vielleicht schliefen ja alle noch, und ich konnte mich unbemerkt ins Badezimmer schleichen. Allerdings hatte mir Grant gar nicht gezeigt, wo es sich befand. Mehr als das Zimmer hatte man mir nicht angeboten. Hoffentlich nahm ich mir nicht zu viel heraus.
Ich nahm mir einen sauberen Slip, eine schwarze Shorts und ein ärmelloses weißes Top aus dem Koffer. Mit etwas Glück hatte ich geduscht und aufgeräumt, ehe Rush herunterkam.
Ich durchquerte die Speisekammer, in deren Regalen Unmengen von Lebensmitteln aufbewahrt wurden. Wer sollte das bloß alles essen? Dann machte ich vorsichtig die Tür zur Küche auf. Durch die großen Fenster strömte strahlendes Sonnenlicht herein. Hätte ich nicht so dringend auf die Toilette gemusst, hätte ich erst mal die Aussicht aufs Meer genossen. Aber die Natur forderte ihr Recht, und ich riss mich davon los. Im Haus herrschte Stille. Von der Party standen noch gebrauchte Gläser und Teller herum, und ein paar Kleidungsstücke lagen verstreut am Boden. Das konnte ich wegräumen. Wenn ich mich nützlich machte, durfte ich vielleicht bleiben, bis ich einen Job gefunden und etwas Geld zurückgelegt hatte.
Ich öffnete vorsichtig die erste Tür, an der ich vorbeikam, denn ich befürchtete, sie könnte in ein Schlafzimmer führen. Doch es handelte sich um einen begehbaren Schrank. Ich schloss sie wieder und ging den Flur entlang zur Treppe. Wenn die einzigen Badezimmer direkt an die Schlafzimmer angeschlossen waren, saß ich in der Patsche. Außer … vielleicht gab es ja eines, das man nach einem Strandtag benutzte und deshalb von außen zugänglich war. Auch Henrietta musste sich ja irgendwann mal duschen und die Toilette benutzen können. Ich ging zur Küche zurück und trat dann durch die beiden Glastüren hinaus, die am Vorabend offen gestanden hatten. Ein Stück weiter entfernt führten Stufen zum unteren Teil des Hauses. Ich folgte ihnen.
Dort befanden sich zwei Türen in der Außenmauer. Die erste führte in einen Raum mit Rettungswesten, Surfboards und anderen Strandutensilien. Ich schloss sie wieder und versuchte es bei der zweiten. Bingo!
In diesem Raum befanden sich linker Hand eine Toilette und auf der anderen Seite des Raumes eine kleine Duschkabine. Shampoo, Haarpflege und Seife mitsamt einem frischen Waschlappen und einem Handtuch lagen auf einem kleinen Hocker daneben. Perfekt!
Sobald ich mich geduscht und wieder angezogen hatte, hängte ich das Handtuch und den Waschlappen über die Duschvorhangstange. Ich konnte die ganze Woche dasselbe Handtuch und denselben Waschlappen benutzen und sie an den Wochenenden waschen. Wenn ich denn so lange hierblieb.
Ich schloss die Tür hinter mir und ging wieder nach oben. Die Meeresluft roch herrlich. Ich stellte mich ans Geländer und blickte aufs Wasser hinaus. Wellen brandeten an den weißen Sandstrand. Noch nie hatte ich etwas so Schönes gesehen.
Mom und ich hatten uns an dem Gedanken festgehalten, dass wir eines Tages gemeinsam den Ozean sehen würden. Sie hatte schon einmal als kleines Kind die Gelegenheit gehabt, allerdings keine großen Erinnerungen mehr daran. Doch mein ganzes Leben über erzählte sie mir Geschichten davon. Jeden Winter, wenn es draußen kalt war, saßen wir am Kamin und planten unseren Strandurlaub. Nur war es nie dazu gekommen. Zuerst hatte Mom es sich nicht leisten können, und dann war sie krank geworden. Wir hatten dennoch Pläne geschmiedet. Träume kosteten ja nichts.
Nun stand ich hier und sah auf die Wellen hinaus. Leider nicht in dem von uns geplanten Märchenurlaub, aber ich war immerhin am Meer und betrachtete es für uns beide.
»An diesem Anblick kann man sich nicht sattsehen«, sagte jemand hinter mir mit tiefer Stimme. Rush! Ich fuhr herum. Er lehnte mit bloßem Oberkörper in der offenen Tür. Mir wurde plötzlich heiß, und ich brachte kein Wort heraus. Der einzige nackte Brustkorb, den ich bislang zu Gesicht bekommen hatte, gehörte Cain. Und das war Ewigkeiten her, als Mom noch gesund war und ich Zeit für Dates und Spaß hatte. Aber natürlich stand der schmächtige Brustkorb eines Sechzehnjährigen in keinem Verhältnis zu diesem muskulösen Oberkörper. Auf seinem Bauch zeichnete sich tatsächlich ein Sixpack ab!
»Genießt du den Anblick?« Der amüsierte Unterton entging mir nicht. Blinzelnd hob ich den Blick und sah in Rushs schmunzelndes Gesicht. Verdammt. Er hatte mich dabei erwischt, wie ich ihn mit offenem Mund angegafft hatte.
»Lass dich nicht stören. Ich genieße ihn ja selbst.« Er trank einen Schluck aus der Kaffeetasse, die er in seiner Hand hielt.
Ich lief knallrot an, drehte mich schnell um und blickte wieder aufs Meer hinaus. Wie peinlich! Schließlich wollte ich doch eine Weile bei diesem Typen wohnen. Gar nicht klug!
Sein leises Lachen machte alles nur noch schlimmer. Er machte sich über mich lustig. Na toll!
»Ach, hier bist du! Ich habe dich schon im Bett vermisst!«, schnurrte plötzlich eine weibliche Stimme. Die Neugierde trieb mich dazu, mich umzudrehen. Eine junge Frau, nur in BH und Höschen, schmiegte sich an Rush und fuhr ihm mit einem langen pinkfarbenen Fingernagel über die Brust. Den Wunsch, ihn zu berühren, konnte ich ihr nicht verübeln. Die Versuchung war einfach groß.
»Es wird Zeit, dass du verschwindest.« Rush schob ihre Hand weg und wich zurück. Ich beobachtete, wie er zur Haustür deutete.
»Was?«, erwiderte sie völlig perplex. Damit schien sie nicht gerechnet zu haben.
»Du hast bekommen, was du wolltest, Babe. Mich, zwischen deinen Schenkeln. Mehr ist nicht drin.« Die schroffe Kälte in seiner Stimme erschreckte mich. Meinte er das ernst?
»Das soll wohl ein Witz sein!«, fauchte die Frau und starrte ihn fassungslos an.
Rush schüttelte den Kopf und trank einen weiteren Schluck Kaffee.
»Das kannst du mir nicht antun. Die Nacht war phantastisch. Und das weißt du!« Sie fasste nach seinem Arm, doch er zog ihn schnell weg.
»Als du dich gestern Abend an mich rangeschmissen hast und gar nicht schnell genug aus deinen Klamotten kommen konntest, da habe ich dir gesagt, mehr als ein One-Night-Stand ist nicht drin. Beschwer dich also nicht!«
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder ihr zu. Ihr Gesicht war wutverzerrt. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn dann aber wieder zu. Sie schnaufte empört aus und rauschte dann ins Haus zurück.
Meine Güte, was war das denn gewesen? Ging man in diesen Kreisen so miteinander um? Meine einzigen Erfahrungen in dieser Richtung hatte ich mit Cain gemacht. Auch wenn wir nie wirklich miteinander geschlafen hatten, war er mir gegenüber immer aufmerksam gewesen. Das hier war einfach nur brutal.
»Na, wie hast du jetzt letzte Nacht geschlafen?«, erkundigte sich Rush, als wäre nichts gewesen.
Ich riss meinen Blick von der Tür los, durch die das arme Mädchen verschwunden war, und betrachtete ihn. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, mit ihm zu schlafen, obwohl sie wusste, dass es nur um Sex ging? Klar, Rush hatte einen Körper, bei dessen Anblick Unterwäsche-Models vor Neid erblassen mussten, und mit diesen Wahnsinnsaugen konnte er Mädchen sicherlich zu den verrücktesten Dingen bewegen. Aber trotzdem. Das war grausam.
»Machst du das öfter so?«, rutschte es mir unvermittelt heraus.
Rush hob eine Augenbraue. »Was denn? Leute fragen, ob sie gut geschlafen haben?«
Er wusste, wonach ich fragte, und wich mir aus. Aber es ging mich ja auch nichts an. Um bleiben zu können, durfte ich möglichst wenig anecken. Keine gute Idee, ihm da Vorwürfe an den Kopf zu knallen.
»Nein, mit Frauen schlafen und sie dann rauswerfen, als wären sie der letzte Dreck.« Kaum hatte ich es gesagt, packte mich das Entsetzen. Wollte ich unbedingt vor die Tür gesetzt werden?
Rush stellte seine Tasse auf dem Terrassentisch ab und setzte sich. Er streckte seine langen Beine vor sich aus und sah dann wieder zu mir auf. »Und du? Steckst du immer deine Nase in Dinge, die dich nichts angehen?«
Ich wollte wütend auf ihn sein. Schaffte es aber nicht. Ganz unrecht hatte er nicht. Wer war ich, dass ich mich in seine Angelegenheiten einmischte? Ich kannte ihn ja gar nicht.
»Normalerweise nicht, nein. Es tut mir leid«, sagte ich und eilte ins Haus. Ich wollte ihm keine Gelegenheit geben, auch mir noch die Tür zu weisen. Ich brauchte dieses Bett noch mindestens zwei Wochen lang.
Ich machte mich daran, die leeren Gläser und Bierflaschen einzusammeln. In diesem Haus musste aufgeräumt werden, und das konnte ich noch tun, ehe ich mich auf Jobsuche begab. Ich hoffte nur, es fanden nicht jeden Abend solche Partys statt. Wenn doch, musste ich es hinnehmen. Wer weiß, vielleicht war ich nach ein paar Nächten immun gegen den Krach und schlief dabei tief und fest.
»Das brauchst du nicht zu machen. Henrietta kommt morgen.« Wieder stand Rush im Türrahmen und beobachtete mich.
Ende der Leseprobe