Sanna Rutlands Ehe - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

Sanna Rutlands Ehe E-Book

Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

Im Südwesten von Afrika lebt Sanna Folkhard zusammen mit ihrem Vater auf einer Farm. Eines Tages eilt Klaus Folkhard einem Mann zur Hilfe. Er rettet damit Werner Rutland das Leben, wird dabei selbst jedoch schwer verwundet. Kurz vor seinem Tod beteuert ihm der Gerettete, sich zukünftig gut um Sanna zu kümmern und die junge Frau mit nach Deutschland zu nehmen. Doch dort trifft das junge Paar auf Werners herrschsüchtige Tante und sie müssen um ihre Verbindung kämpfen ...-

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Hedwig Courths-Mahler

Sanna Rutlands Ehe

 

Saga

Sanna Rutlands Ehe

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1921, 2022 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728472958

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

1

Seit dem Tod seiner Eltern wuchs Werner Rutland im Hause seines Onkels Johann Rutland auf. Das große Patrizierhaus der Rutlands war wohl das vornehmste der alten Stadt Danzig, deren Bürger ihren Wohlstand den berühmten Reedereien und Schiffswerften verdankten, und Johann Rutland galt als der reichste Mann in Danzig. Seit ihn ein körperliches Leiden gezwungen hatte, sich von den Geschäften zurückzuziehen, hatte er ein Gesellschaftsunternehmen gegründet, zumal sein Neffe und Erbe keinerlei Neigung zeigte, Schiffe zu bauen und später die Geschäfte zu übernehmen; und nun lebte Johann Rutland ziemlich zurückgezogen in dem wundervollen alten Haus.

Ein ausgedehnter herrlicher Garten, der sich hinter dem Haus fast bis zu den Schiffswerften hinzog, war das Paradies von Werner Rutlands Knabenzeit. Mit seinem Freund Rudolf Raven und dessen Schwester Käthe verbrachte er hier all seine Freistunden. Manchmal zwar waren auch noch andere Kinder dabei, aber das geschah selten, denn Fräulein Seraphine Münzer, eine entfernte Verwandte des Hausherrn, die seit Jahren dessen Haushalt vorstand, liebte Kinder nicht. Sie mochte es nicht leiden, daß die sich im Garten tummelten und die schönsten Frühbirnen und die Gravensteiner Äpfel vertilgten, obwohl reichlich viel davon vorhanden waren.

Tante Phine – so wurde sie von Werner genannt – hätte am liebsten auch Rudolf und Käthe Raven aus diesem Kindheitsparadies verwiesen, wie weiland der Cherub mit feurigem Schwert das erste Menschenpaar aus dem wirklichen Paradies; aber das litt der alte Herr Rutland nicht, denn die Geschwister waren die Kinder seines besten Freundes. Und sosehr Tante Phine ihn im Lauf der Jahre sonst unter den Pantoffel gekriegt hatte: in diesem Punkte blieb er der Herr.

So waren die Geschwister Raven Werner Rutlands unzertrennliche Spielgefährten. Werner und Rudolf waren in einem Alter, Käthe vier Jahre jünger. Sie war ein schönes, lustiges und lebensprühendes Geschöpf, sehr übermütig und unerschrocken, dabei jedoch herzensgut und von erfrischender Offenheit. Mit allen Menschen war sie gut Freund, nur nicht mit Tante Phine. Deren Abneigung erwiderte sie, gleich ihrem Bruder Rudolf, mit ehrlicher Streitlust, und die Schroffheiten und Unliebenswürdigkeiten des ältlichen Fräuleins wurden mit gleicher Münze heimgezahlt.

Als die beiden Knaben herangewachsen waren und ihre Abschlußprüfung bestanden hatten, verließen sie Danzig zur selben Zeit, um sich ihrem Studium zu widmen. Und als sie nach Beendigung ihrer Studien wieder in der Heimat zusammentrafen – Werner als Dr. phil. und Rudolf als Baumeister –, da war Käthe Raven zu einer wunderlieblichen Jungfrau herangewachsen, deren Liebreiz und Lebensfreude allen Menschen wohltaten – mit Ausnahme Tante Phines, die fröhliche Menschen im allgemeinen und Käthe Raven im besonderen nicht leiden mochte. In Werner Rutland aber, der das holde Bild seiner früheren Spielgefährtin schon immer im geheimsten Herzensschrein aufbewahrt hatte, erwachte nun ein heißes Verlangen nach ihrem Besitz.

Er vertraute sich Rudolf an und verriet ihm seinen Entschluß, um Käthe zu werben. Da aber mußte Rudolf dem Freund eine herbe Enttäuschung bereiten: Käthe hatte inzwischen ihr Herz bereits an den Sohn des Geschäftsteilhabers ihres Vaters, Fritz Verhagen, verschenkt – schon in den nächsten Tagen sollte die Verlobung stattfinden.

Werner suchte sich zu beherrschen, so gut es ging; doch trieb es ihn nun fort aus der Heimat, wo er Käthe täglich begegnen mußte. Er bat seinen Onkel, auf einige Jahre eine Forschungsreise nach Afrika unternehmen zu dürfen; und Johann Rutland gab ihm gern die Erlaubnis, denn Tante Phine hatte mit ihrem Spürsinn herausgefunden, daß Werner Käthe liebte, und es dem Onkel hinterbracht.

So verließ Werner Rutland wenige Tage nach Käthe Ravens Verlobung die Heimat.

 

Südöstlich von Windhuk, etwa zwei Tagereisen von dieser Stadt entfernt, lag an der Nordgrenze des Namalandes die Farm eines Deutschen, Klaus Folkhard mit Namen, der mit zu den ersten deutschen Ansiedlern der Kolonie gehörte. Ein ehemaliger deutscher Offizier, hatte er vor langen Jahren daheim seinen Abschied nehmen müssen, weil er ein armes Mädchen heiratete, das ebensowenig wie er selbst die notwendige Bürgschaftssumme hatte aufbringen können. Beide verwaist und ohne Anhang, verließen sie ihre deutsche Heimat, um in den Kolonien eine neue zu suchen. Sie bauten sich zuerst ein winziges Holzhäuschen und lebten als Farmer ein mehr als schlichtes, entbehrungsreiches Leben. Aber trotz aller Mühen und Plagen waren sie glücklich im gegenseitigen Besitz.

Die erworbene Farm, im Norden durch zerklüftetes Gebirge und zerrissene Schluchten begrenzt, bestand aus steppenartigem Weideland, und Klaus Folkhard verlegte sich auf die Viehzucht. Im Anfang war der Betrieb sehr klein und äußerst beschwerlich, da man mit schwierigen Verkehrsverhältnissen und in der regenlosen Zeit mit großem Wassermangel zu rechnen hatte. So war es ein schweres, mühevolles Ringen, und Klaus und seine Frau Maria hatten allen Lebensmut nötig, um über die ersten zehn Jahre hinwegzukommen.

Mehr als einmal bereute es damals Klaus, seine junge Frau in diese Wildnis geführt zu haben. Er redete sich gern ein, daß er sich auch in der Heimat hätte eine bescheidene Existenz gründen können; und dann mußte ihm Maria immer wieder vorhalten, wieviel vergebliche Mühe er sich daheim gegeben hatte: »Hier sind wir wenigstens frei von lächerlichen Standesvorurteilen und Herr des Bodens, auf dem wir leben. Zu hungern brauchen wir auch nicht, und wenn wir nur Ausdauer haben, kommen wir vorwärts. Vielleicht haben wir auch ein wenig Glück, und wenn wir dann alt und müde vom Schaffen sind, kehren wir heim und ruhen uns aus.«

Ein Jahr, nachdem sie nach Südwestafrika gekommen waren, wurde ihnen ein Töchterchen geboren. Sie tauften es auf den Namen Susanna. Ein Missionar vollzog die heilige Handlung, als ihn sein Weg über die Farm führte. Die eingeborene Dienerin aber rief die Kleine von Anfang an nur Sanna, und da die Eltern die Abkürzung gleichfalls bequem fanden, behielt das Kind diesen Namen.

Als Sanna zehn Jahre alt war, erkrankte ihre Mutter schwer. Und ehe Folkhard bei den schwierigen Verkehrsverhältnissen und weiten Entfernungen einen Arzt hatte herbeischaffen können, starb die tapfere Frau, bis zuletzt ihrem Mann und ihrem Kind Mut und Hoffnung zusprechend.

Klaus Folkhard war lange der Verzweiflung nahe, und nur der Gedanke an sein Kind hielt ihn immer wieder ab, seiner geliebten Frau in die Welt zu folgen, die uns nach dieser erwartet. Nur langsam kamen ihm Mut und Entschlossenheit zurück, dann aber schloß er sich mit inniger Liebe seinem Kind an: Sanna war nun sein einziges Kleinod.

Das Kind wuchs in Luft und Sonne wie eine schöne wilde Blume auf. Der Vater sah seines ganzen Lebens Ziel und Inhalt jetzt nur noch in dem Kind. Er selbst unterrichtete Sanna gewissenhaft in allem, nicht nur in allen Fächern der Schulweisheit, sondern auch in den praktischen Dingen des Lebens. Und eigentlich nur Musik und neuere Literatur blieben ihr fast fremde Gebiete. Sie sang zwar deutsche Volkslieder sehr hübsch mit ihrer warmen, kräftigen Stimme, wenn sie über die Steppe streifte oder mit dem Vater des Abends vor dem Blockhaus saß, das nun ein hübsches, stattliches Gebäude war mit einer luftigen Holzveranda, aber ein Klavier oder sonstige Musikinstrumente waren ihr so fremd wie die dazugehörigen Noten. Dagegen fehlte es keineswegs an deutschen, französischen und englischen Klassikern, in denen Sanna nach des Vaters Angaben eifrig las.

Weltfremd wuchs das Kind freilich auf. Nur selten war sie, seit sie vierzehn Jahre alt war, mit dem Vater nach Windhuk gefahren – auf ihrem geliebten Fahrrad, das ihr der Vater zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte, damit sie ihn zuweilen begleiten konnte. Und was hatte Sanna für erstaunte Augen gemacht, als sie die für ihre Begriffe große Stadt zum erstenmal gesehen hatte! Scheu hatte sie sich an den Vater geschmiegt, wenn er mit diesem oder jenem Bekannten sprach.

Auf dem Heimweg hatte ihr der Vater dann von den viel, viel größeren Städten seiner alten Heimat erzählt, von dem Leben und Treiben dort. – Wie ein fremdes Wunderland erschien Deutschland dem Kind. Sie sprachen nun fast täglich davon, und wie schön es sein würde, wenn sie erst heimkehren könnten. Des Vaters Sehnsucht nach der Heimat weckte gleiche Gefühle in Sannas Herzen: »Wenn wir erst in die Heimat zurückkehren« – so begannen fast alle traulichen Gespräche zwischen ihnen.

Langsam hatte in den letzten Jahren die Zivilisation ihre Arme auch nach dieser weltfernen Farm ausgestreckt. Missionare und Reisende aller Art kamen zuweilen in Klaus Folkhards Blockhaus, auch deutsche Offiziere und Soldaten rasteten hier auf ihren Erkundungsritten und Märschen. Dann war Klaus Folkhard tagelang in gehobener Stimmung. Sanna indes behielt eine gewisse Scheu vor fremden Menschen. Die wilde Anmut ihrer durch keine strenge Form beengten Bewegungen, ihre erblühende, unberührte Schönheit machten auf die Gäste ihres Vaters großen Eindruck; in manchem Männerauge spiegelte sich das Wohlgefallen an dieser seltsamen Wunderblume wider; man vergaß zuweilen über den Liebreiz des seltenen Geschöpfes, daß es noch ein Kind war. Aber wer dann in die kindlich unschuldsvollen Augen blickte, der erkannte bald, daß die Seele dieses Kindes noch ein völlig unbeschriebenes Blatt war. Und wer sie in kindlicher Lust und Wildheit mit ihrem Pony über die Steppe fliegen sah, der glaubte eher einen Knaben vor sich zu sehen.

Immer ungeduldiger sehnte sich Klaus Folkhard von Jahr zu Jahr nach der Heimat, nicht zuletzt Sannas wegen. Er rechnete und rechnete immer wieder, wann es so weit sein würde, daß er seine Farm um einen Preis verkaufen könnte, der es ihm ermöglichen würde, sich in Deutschland eine sorgenlose Existenz zu gründen. Aber immer mußte er sich sagen, daß seine Zeit noch nicht gekommen war. Dann wurde er oft so ungeduldig, daß nun Sanna, wie früher ihre Mutter, ihm gut zureden mußte. Wurde ihm in solchen Zeiten von den noch immer umherstreifenden räuberischen Stämmen ein Stück Vieh geraubt, dann war er imstande, diese Wilden bis tief in die Felsschluchten zu verfolgen, um ihnen die Beute wieder abzujagen, so gefährlich das auch war, da es den Verfolgten nicht darauf ankam, einen Menschen umzubringen.

Als Sanna eben fünfzehn Jahre alt geworden war, fehlten eines Tages wieder zwei der besten Kühe. Folkhard wußte, wo sie waren, warf sich auf sein Pferd und jagte den Räubern nach, trotz Sannas abratenden Bitten.

Er kannte Weg und Steg in der unwirtlichen Wildnis, und auf sein Pferd konnte er sich verlassen. Nachdem er jedoch stundenlang die Spur der Räuber verfolgt hatte, sah er ein, daß es vergeblich sein würde, weiter vorzudringen. Im Bestreben, den Rückweg abzukürzen, stieg er schließlich ab und führte sein Pferd über einen Felsengrat in eine Nebenschlucht, die mit wildem Gestrüpp bewachsen war.

Klaus Folkhard schüttelte finster den Kopf.

Da drangen plötzlich verworrene Stimmen an sein Ohr. Sollte er hier unvermutet den Viehräubern nahegekommen sein?

Er band sein Pferd an dem knorrigen Gestrüpp fest und schlich sich vorwärts. Noch sah er niemand, aber er hörte deutlich Ausrufe in der Sprache der wild umherstreifenden Stämme. Und dann plötzlich stockte sein Fuß: ganz deutlich vernahm er zwischen diesen Lauten den Ausruf eines Mannes in deutscher Sprache:

»So schieß doch endlich, schwarze Bestie!«

Ein wildes Geschrei antwortete auf diesen Ausruf. In Klaus Folkhards Gesicht aber spannte sich jeder Muskel. Erst vor zwei Jahren hätte man hier in der Nähe einen französischen Forschungsreisenden ermordet und ausgeplündert aufgefunden. Sollte er hier, statt seiner geraubten Kühe, einen deutschen Landsmann in Gefahr finden?

Mit dem Gewehr im Anschlag, schlich er, sich im Gestrüpp duckend, weiter vorwärts, da sah er, ungefähr zwanzig Schritt vor sich, einen schlanken, hochgewachsenen jungen Mann, gefesselt an einem Baumstamm. Auf dem Boden, im Reisegepäck des fremden Mannes, wühlten johlend vier oder fünf Schwarze; dicht vor dem Deutschen jedoch stand ebenfalls ein Schwarzer und hielt diesem mit teuflischem Grinsen eine Pistole vor. Klaus konnte so viel verstehen, daß sie sich nicht einig waren, ob sie den Fremden mit seiner eigenen Pistole niederschießen oder einfach hier in der Wildnis allein zurücklassen und dem Hungertod preisgeben wollten. Der mit der Pistole war für das erstere; er wollte anscheinend die hübsche Schußwaffe probieren.

In Klaus Folkhards Augen trat ein stählerner Glanz. Nur einen Blick warf er auf das düstere Gesicht des Fremden. Dann sprang er mit einem lauten, drohenden Ruf plötzlich hervor und legte das Gewehr auf den Pistolenschützen an. So unerwartet stand er plötzlich unter der Bande, daß die in feiger Flucht auseinanderstob, in der Meinung, daß Folkhard nicht allein sei.

Dieser benutzte sofort den günstigen Augenblick und schnitt mit dem Dolchmesser die Fesseln des Fremden durch. Schnell reichte er ihm dann seinen eigenen, geladenen Revolver und sagte hastig:

»Folgen Sie mir, so schnell Sie können. Wenn die Kerle merken, daß ich allein gekommen bin, kommen sie zurück.«

Der Befreite streckte erlöst beide Arme empor und folgte seinem Retter durch das Gestrüpp. Noch hatten sie aber Folkhards Pferd nicht erreicht, als sie merkten, daß die Verscheuchten umkehrten und ihnen folgten. »Wir schießen nur im Notfall«, gebot Folkhard ruhig. »Sind wir über den Felsen, folgen sie uns kaum, falls wir nicht einen von ihnen über den Haufen geschossen haben. Sind wir jedoch gezwungen, den einen oder anderen zu töten, verfallen wir der Blutrache der anderen und kommen kaum mit dem Leben davon. Sie sind in der Überzahl und im Besitz Ihrer und der eigenen Waffen. Also Vorsicht.«

Jetzt hatten sie das Pferd erreicht, und nun ging es in wilder Hast aufwärts über den Felsen. Aber die Verfolger waren hinter ihnen her. Endlich waren sie oben, und freier Weg lag vor ihnen.

»Wir müssen beide aufs Pferd«, sagte Folkhard und ließ den Fremden aufsteigen. In dem Augenblick jedoch, als er selbst aufstieg, sah er eben einen Kopf über den Grat auftauchen und gleich darauf einen Arm mit der geraubten Pistole. Folkhard riß dem Fremden den geliehenen Revolver aus der Hand. Ein Blitz, ein Knall – ein Aufschrei, das dumpfe Aufschlagen eines menschlichen Körpers – Folkhard hatte getroffen.

Dem Pferd die Zügel straffend, jagten die beiden Männer den Abhang auf der anderen Seite hinunter. Hinter ihnen her mit wildem Geschrei die Bande. Folkhard wußte, daß nur schnelle Flucht jetzt helfen konnte. Das Tier mußte freilich doppelte Last tragen, aber es war zäh und die Verfolger zu Fuß.

»Ich glaube, wir sind in Sicherheit«, sagte der Fremde.

»Wenn wir keinen von ihnen getötet hätten, wären wir vor ihnen sicher. Ich halte aber ihr scheinbares Zurückbleiben jetzt nur für eine List.«

Und er sollte recht behalten. Schon waren die beiden Männer glücklich aus den Schluchten heraus und ritten in das freie Steppenland. In der Ferne sah man bereits Folkhards Farm liegen, als plötzlich aus dem Hinterhalt eine Kugel herüberpfiff.

»Ich bin getroffen«, murmelte Klaus und wankte im Sattel.

Der Fremde wandte sich erschrocken um und sah in seines Retters erblassendes Gesicht. Mit einem dumpfen Schreckenslaut sprang er vom Pferd, um ihn zu stützen. Folkhard glitt zur Erde herab.

»Es ist nicht schlimm«, sagte er halblaut, die Zähne zusammenbeißend, »ich will bei den Kerlen nur den Anschein erwecken, als sei ich tot. Dann geben sie sich zufrieden. In die Ebene hinaus wagen sie sich nicht. Feuern Sie, bitte, schnell hintereinander dreimal in die Luft – das ist das Zeichen für meine Leute – sie werden es hören und herbeikommen.«

Der Fremde – es war Werner Rutland – tat, wie ihm geheißen, und kaum waren die drei Schüsse verhallt, wurde es auf der Farm lebendig. Folkhards Diener kamen in wildem Lauf herbei, allen voran aber jagte Sanna auf ihrem Pony. Einen Augenblick scheute sie vor Werner Rutland, aber dann sah sie den Vater am Boden liegen. Mit einem herzzerreißenden Schrei sprang sie vom Pferd und warf sich neben ihm auf die Knie. »Vater, lieber Vater – was ist dir?«

Folkhard nahm alle Kraft zusammen und lächelte. »Keine Angst, Sanna – es ist nichts – ein Streifschuß«, sagte er leise, und auf Werner deutend, fuhr er fort: »Unser Gast, Kind – ein Deutscher.«

Dann wurde er ohnmächtig.

In hilflosem Entsetzen sah Sanna zu Werner empor.

»Wir müssen ihn ins Haus bringen, mein Kind, und einen Arzt herbeischaffen«, sagte Werner Rufland erschüttert. Sanna machte auf ihn in ihren Kleidern ganz den Eindruck eines Kindes.

Nachdem Sanna den ersten Schreck verwunden hatte, zeigte sie sich tapfer wie eine kleine Heldin. Kein unnützes Wort, kein Klagelaut kam mehr über ihre Lippen. Nur sehr bleich sah sie aus, und in den scheuen Augen, die zuweilen nach Werner Rutlands düsterem Gesicht hinüberstreiften, lag eine heiße Angst um den geliebten Vater.

2

Wochenlang schwebte Klaus Folkhard zwischen Leben und Tod, und während der ganzen Zeit wich Werner Ruthland nicht von seinem Lager. Er dachte nicht daran, seinen Retter zu verlassen, bevor er wußte, ob er am Leben bliebe. Der Arzt, ebenfalls ein Deutscher, der sich zum Glück vorübergehend in dem einige Stunden entfernten Missionshaus aufgehalten hatte, hatte festgestellt, daß die Kugel Folkhards Lunge gestreift hatte.

Sanna und Rutland pflegten den Kranken mit großer Sorgfalt und Aufopferung. Sannas Scheu vor Werner verlor sich ein wenig, als sie sah, wie sehr sich der junge Mann das Leiden des Vaters zu Herzen nahm. Er hatte ihr erzählt, wie nahe er selber dem Tod gewesen war und wie ihn nur ihres Vaters Unerschrockenheit und Mut gerettet hätten. Tief beklagte er, daß nun Folkhard statt seiner das Opfer der Bande geworden war, die er sich als Führer und Gepäckträger gedungen und die ihn dann überfallen und beraubt hatten. »Ohne deines Vaters Eingreifen wäre ich längst ein toter Mann«, hatte er seinen Bericht geschlossen.

Als endlich das Fieber wich und der Kranke wieder bei Bewußtsein war, hatte Werner oft Gelegenheit, das unendlich zarte Verhältnis zwischen Vater und Tochter zu bemerken. Aber auch zwischen den beiden Männern, die sich in der Stunde der Gefahr kennengelernt hatten, entspann sich in diesen Wochen eine innige Freundschaft.

Rutland konnte sich nicht genugtun in Liebesbeweisen für seinen Retter, der ihn dem sicheren Tod entrissen hatte und nun selbst mit dem Tod rang. Und so wurde auch Sanna von Tag zu Tag zutraulicher gegen Werner Rutland, da sie sah, wie ihn der Vater liebte. Ihr junges Herz erschloß sich dem fremden Mann in kindlicher Zuneigung, und bald nannte sie ihn auf seinen Wunsch »Onkel Werner«.

Einige Tage nach Werner Rutlands Rettung hatten Folkhards Leute die Schlucht nach dem Gepäck des Reisenden abgesucht. Sie fanden aber nichts bis auf einige Papiere und einige Instrumente. Das aber war gerade für Werner das wichtigste, denn die Papiere enthielten seine wissenschaftlichen Aufzeichnungen über seine fast vollendete Reise. Zwei Jahre war er unterwegs gewesen und hatte sich nun nach Windhuk führen lassen wollen, um die Heimreise anzutreten.

Werner Rutland blieb länger als zwei Monate auf der Farm seines neugewonnenen Freundes. Folkhard erzählte, als er auf dem Wege der Besserung war, seinem jungen Gast von seinen Plänen und Hoffnungen für die Zukunft und von seiner Sehnsucht, mit seinem Kind nach Deutschland zurückkehren zu können. Auch Werner gab dem Freund Aufschlüsse über sein früheres Leben – nur über das sprach er nicht, was ihn aus der Heimat getrieben hatte. So war Folkhard der Meinung, daß nur der Forschungstrieb seinen Gast in diese Gegend geführt habe. Und er konnte Werner noch manchen wichtigen Aufschluß geben über Land und Leute, über seltsame Pflanzen und Gesteinsschichten.

Sanna saß meist dabei, wenn die Freunde miteinander sprachen. Mit angehaltenem Atem und großen Augen lauschte sie, wenn Werner dem Vater allerlei Neues aus der Heimat berichtete.

Werner strich dann wohl lächelnd über Sannas wundervoll üppiges Haar, das sich in seiner Lockenpracht kaum bändigen ließ und im Sonnenlicht so seltsam kupferfarbigen Schimmer bekam wie reife Kastanien.

»Ja, ja, kleine Sanna – du wirst Augen machen, wenn du erst in Deutschland bist«, sagte er dabei.

Sie blickte ihn erregt atmend an.

»Werde ich dich auch dort wiedersehen, Onkel Werner?« fragte sie hastig.

Er nickte.

»Ganz gewiß. Ich freue mich schon darauf, dir all das Neue, Fremdartige zu zeigen und es mit deinen Augen anzusehen.«

Sie preßte die Handflächen zusammen.

»Oh, nun will ich mich doppelt auf die Heimkehr freuen. Wie lange wird es noch dauern, Vater?«

Folkhard seufzte.

»Kind, einige Jahre werden immerhin noch vergehen«, sagte er, und ein weher Ausdruck lag in seinen Augen. Werner sah es, und ein sinnender, nachdenklicher Zug erschien in seinem Gesicht.

»Wenn du hier helfen – wenn du deine Dankesschuld abtragen könntest«, dachte er und machte heimlich Pläne.

Eines Tages traf dann für Werner eine Nachricht aus Deutschland ein. Seines Onkels Leiden hatte sich verschlimmert, und er wünschte die baldige Rückkehr seines Neffen.

So mußte Werner an die Abreise denken. Bewegten Herzens schied er von dem Freund.

»Ich komme noch einmal wieder, Klaus, sobald ich mich daheim freimachen kann. Und dann hoffe ich, dich mit heimnehmen zu können«, sagte er herzlich.

Folkhard saß draußen auf der Holzveranda und wandte das blasse, von der Krankheit ausgezehrte Gesicht dem Freund zu. In seinen Augen lag ein schwermütiger Ausdruck.

»Wie schön, wenn sich diese Hoffnung erfüllte. Ich fühle es – lange halte ich es hier nicht mehr aus. Mein selbstgestecktes Ziel zu erreichen, dauert mir zu lange. Ich will mich langsam nach einem Käufer umsehen für meine Farm, und wenn ich sie unter Preis losschlagen muß. Von den Zinsen allein kann ich ohnedies in Deutschland nicht leben, so muß ich sehen, daß ich noch etwas dazuverdiene. Nur heimkehren – das Heimweh läßt mich nicht mehr los.«

Werner drückte ihm stumm die Hand, und wieder erwog er, wie er dem Freund helfen könnte. Er nahm sich vor, mit seinem Onkel zu sprechen, ihn zu bitten, Klaus in irgendeiner Weise zu helfen.

Auch von Sanna nahm er zärtlichen Abschied. Das Kind schmiegte sich in seiner scheuen Art in seine Arme, und er hörte den lauten Schlag ihres Herzens.

»Vergiß mich nicht, kleine Sanna!«

Sie schüttelte ernst das Köpfchen. Wie verstreute Goldfunken glänzte es über ihrem Haar. Noch nie hatte er so wundervolles Frauenhaar gesehen.

»Ich vergesse dich nie – niemals, Onkel Werner!« sagte sie mit verhaltener Stimme. Da küßte er ihre Stirn und ihre großen dunklen Augen.

»Lebewohl – und auf Wiedersehen!« sagte er. Dann riß er sich los und eilte die Treppe hinab. Noch ein letztes Winken hüben und drüben.

»Grüß die Heimat!« rief Klaus.

Und Werner rief zurück: »Dank dir, mein Klaus – daß ich lebe!«

Dann waren sie getrennt.

Sanna warf sich in ihres Vaters Arme in ungestümem Schmerz.

»Vater – glaubst du, daß er wiederkommt – daß wir ihn wiedersehen?«

Klaus Folkhard streichelte ihr Köpfchen, und seine Augen folgten dem in der Ferne entschwindenden Freund mit glanzlosem Blick.

»Wir wollen es hoffen, Kind. Kehrt er nicht zurück – so sehen wir ihn wohl in der Heimat wieder. Du hast ihn liebgewonnen, nicht wahr?«

Sanna nickte.

»Ja – er ist gut – fast so gut wie du, Vater, und ich hab’ ihn nach dir am liebsten auf der Welt.«

Es war nun wieder sehr still auf Folkhards Farm. Klaus erholte sich nicht so, wie er es sich wünschte. Eine Schwäche blieb in seinem Körper zurück. Wohl war die Wunde verheilt, aber er merkte nur zu bald, daß seine Lunge nicht mehr ganz gesund war. Jede Anstrengung löste ein Gefühl ohnmächtiger Schwäche in ihm aus. Dazu kam, daß ihn das Heimweh stärker denn je befiel, seit Werner fort war. Dieser hatte zu deutlich die Erinnerung an die Heimat in ihm geweckt.

So sann er unablässig darauf, seine Farm baldmöglichst zu verkaufen. Er hatte ihren Wert auf sechzig- bis siebzigtausend Mark bringen wollen. Nun wollte er zufrieden sein, wenn er sie mit fünfzigtausend Mark losschlagen konnte. Damit hoffte er sich daheim ein bescheidenes Heim gründen zu können. Er fieberte vor Verlangen heimzukehren. Es war plötzlich eine heimliche Furcht in ihm, daß er die Heimat nicht mehr wiedersehen würde.

Doktor Werner Rutland war wieder daheim. Er fand seinen Onkel sehr schwach und leidend und nicht in der Lage, schwerwiegende Dinge mit ihm zu besprechen. Sosehr es ihn drängte, des Freundes Angelegenheit zur Sprache zu bringen, mußte er es doch vorläufig hinausschieben.

Fräulein Seraphine Münzer herrschte noch immer mit ihrer kalten, überlegenen Art in dem alten Patrizierhaus. Mit geheimer Befriedigung erzählte sie Werner, daß Käthe Raven sich inzwischen in eine Käthe Verhagen verwandelt hätte und daß sie als junge Frau, »wenn das überhaupt möglich gewesen« sei, noch übermütiger und unausstehlicher geworden sei.

Werner wußte nur zu gut, daß Tante Phine Käthe haßte, wie der Schatten das helle Sonnenlicht haßt. Aber sein Herz zuckte schmerzhaft bei dem Gedanken, daß Käthe ihr Glück bei Fritz Verhagen gefunden hatte. Daß dieser Fritz Verhagen ein prächtiger Mensch war und wohl geschaffen, eine Frau mit Käthes sonnigem Gemüt glücklich zu machen, wußte er nur zu gut; aber er konnte ihm Käthes Liebe nicht neidlos gönnen – jetzt noch nicht. Mit Rudolf Raven traf Werner zwar zusammen, aber Käthes Anblick mied er. Sie verstand ihn und suchte ebenfalls, sich ihm fernzuhalten. Des Onkels Leiden bedingte ohnedies auch für ihn ein zurückgezogenes Leben. Er ordnete seine Reiseerlebnisse, das Ergebnis seiner Forschungen und erledigte Vorarbeiten zu einem größeren Werk, das er später über die Kolonien herausgeben wollte.

Ging es dem Onkel zuweilen etwas besser, dann las er ihm davon einiges vor. Und dabei fand sich endlich auch eine Gelegenheit, mit ihm über Klaus Folkhard zu sprechen. Der alte Herr hörte aufmerksam zu und versprach, sobald er sich wohler fühle, darüber nachzudenken, wie man dem Lebensretter seines Neffen in unauffälliger Weise dankbar sein könnte. Inzwischen empfand es Werner erst so recht, in welch unangenehmer Weise Seraphine Münzer sich als Herrscherin des Hauses aufspielte. Früher hatte er nicht so darauf geachtet Vielleicht war es auch mit der Zeit schlimmer geworden.

Aus der geduldeten, das Gnadenbrot essenden Verwandten war in aller Stille ein unausstehlicher Haustyrann geworden, der den alten Herrn vollständig beherrschte.

Werner wollte sich erst darüber ärgern und den Onkel aus dieser Tyrannei befreien. Als er aber sah, daß dieser sich anscheinend ganz wohl dabei fühlte, sagte er sich: »Wozu aufregen?« Der stille Humor, der auf dem Grunde seines Wesens lag, erwachte. Er nahm Tante Phine von der humoristischen Seite, belustigte sich über ihre überlegene Herrschermiene, über ihre prunkhaft sich gebende Vornehmheit. Gelegentlich machte er eine spottende Bemerkung oder einen Scherz über ihre Herrschsucht, und ihre Versuche, ihn gleichfalls unter ihr Zepter zu beugen, beachtete er entweder nicht oder erklärte ihr kurz und bündig, daß sie damit bei ihm kein Glück hätte.

Das ärgerte Tante Phine ungemein. Sie beantwortete mit zornigen Blicken Werners Spötteleien und wünschte ihn mit Inbrunst wieder »zu den Wilden«. Vielleicht wäre sie auch dem Onkel gegenüber feindlich gegen Werner vorgegangen. Aber sie war klug genug, einzusehen, daß hier ihrer Macht Grenzen gesteckt waren. Johann Rutland liebte seinen Neffen wie einen eigenen Sohn.