Schlangen im Paradies - Mary Higgins Clark - E-Book

Schlangen im Paradies E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

In der luxuriösen Umgebung einer exklusiven Schön heitsfarm versucht eine junge Schauspielerin Klarheit über den plötzlichen Tod ihrer Schwester zu gewinnen. Aber hinter der Fassade dieses idyllischen Landsitzes lauert das Unheil. Elizabeth gerät in einen Strudel von gefährlichen Ereignissen, die nicht nur ihr Leben bedrohen.

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Seitenzahl: 407

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Titel der Originalausgabe WEEP NO MORE, MY LADY
Vollständige deutsche Ausgabe 08/2010
Copyright © 1987 by Mary Higgins Clark Copyright © 1988 der deutschen Ausgabe by Wilhelm HeyneVerlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München.Coverabbildung: © Mila Kusmenko, Lübeck Covergestaltung: Eisele Grafik-Design, München
ISBN 978-3-641-12216-4V003
www.heyne.de www.penguinrandomhouse.de

DAS BUCH

Fünf Monate nach dem Mord an ihrer Schwester Leila muss die junge Schauspielerin Elizabeth als Zeugin der Anklage aussagen. Leilas Verlobter, der Multimillionär Ted Winters, soll ihre Schwester vom Balkon ihres New Yorker Appartements im 40. Stock gestoßen haben. Elizabeth ist über den schrecklichen Tod ihrer Schwester noch immer nicht hinweg. Hatte sie sich all die Jahre in Ted getäuscht? Nur er konnte Leila getötet haben. Aufgrund ihrer Aussage würde Ted verurteilt werden. Sie musste nur die Nerven behalten.

Um vor Beginn des anstrengenden Prozesses ein wenig Ruhe zu finden, nimmt Elizabeth das Angebot von Freunden an, einige Tage auf deren exklusiver Schönheitsfarm in Kalifornien zu verbringen. Zu spät erkennt sie, dass man sie in eine Falle gelockt hat.

DIE AUTORIN

Mary Higgins Clark, geboren 1928 in New York, lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey. Sie zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Mit ihren Büchern führt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Beinamen wie die »Königin der Spannung« und die »Meisterin des sanften Schreckens« zeugen von ihrer großen Popularität. Sie hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, auch den begehrten »Edgar Award«.

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDIE AUTORINProlog - Juli 1969Samstag, 29. August 1987
12
Sonntag, 30. August 1987
123456789101112131415
Montag, 31. August
12345678910
Dienstag, 1. September
123456789101112
Mittwoch, 2. September
123456789101112
Donnerstag, 3. September
1234567891011
Freitag, 4. September
12
Copyright

Prolog

Juli 1969

Die Sonne tauchte Kentucky in glühende Hitze. Die achtjährige Elizabeth suchte, in eine Ecke der schmalen Veranda gedrückt, Schutz in dem spärlichen Schattenstreifen, den das überhängende Vordach warf. Das Haar, obwohl zurückgebunden, lastete ihr schwer im Nacken. Die Straße war menschenleer, die meisten Leute hielten entweder ihren sonntäglichen Mittagsschlaf oder tummelten sich in der städtischen Badeanstalt. Sie wäre auch gern schwimmen gegangen, hütete sich aber wohlweislich, um Erlaubnis zu bitten. Ihre Mutter und Matt hatten den ganzen Tag über getrunken und dann zu streiten angefangen. Sie haßte diese Auseinandersetzungen, besonders im Sommer, wenn die Fenster offenstanden. Alle Kinder hörten dann auf zu spielen und lauschten interessiert. Diesmal war der Krach wirklich lautstark ausgefallen. Ihre Mutter hatte Matt wüste Schimpfworte ins Gesicht geschrien, so lange, bis er sie wieder schlug. Jetzt schliefen sie beide, schlaff hingestreckt, ohne Bettdecke, die leeren Gläser neben sich auf dem Fußboden.

Wenn doch ihre Schwester Leila bloß nicht jeden Samstag und Sonntag arbeiten würde! Bevor Leila den sonntäglichen Job annahm, hatte sie den Tag ausdrücklich für Elizabeth reserviert und ihn gemeinsam mit ihr verbracht. Die Mädchen in Leilas Alter zogen meistens mit Jungen herum, doch Leila nie. Sie wollte nach New York und Schauspielerin werden und nicht in Lumber Creek, Kentucky, hockenbleiben. »Weißt du, Spatz, was der Haken bei all diesen Provinznestern ist? Da heiratet jeder gleich nach der High School, und das Ende vom Lied ist dann ein Haufen plärrender Gören mit vollgekleckerten Turnhemden. Das bitte nicht mit mir.«

Elizabeth hörte Leilas Schilderungen über ihre Zukunft als Star andächtig zu, auch wenn sie ihr zugleich Angst einflößten. Sie konnte es sich nicht vorstellen, in diesem Haus zusammen mit Mama und Matt zu leben – ohne Leila.

Zum Spielen war es zu heiß. Leise stand sie auf und zog ihr T-Shirt unter dem Gurtband der Shorts zurecht. Sie war ein mageres Kind, langbeinig, auf der Nase ein paar hingetupfte Sommersprossen. Ihre weit auseinanderliegenden Augen hatten einen ernsthaften, erwachsenen Ausdruck – »Prinzessin Rührmichnichtan« nannte Leila sie. Leila erfand ständig Namen für alle Welt – manchmal lustige, manchmal aber auch recht gehässige, wenn sie die Leute nicht mochte.

Im Haus war es womöglich noch heißer als auf der Veranda. Die grelle Nachmittagssonne schien durch die schmutzigen Fenster auf die Couch mit den durchgesessenen Sprungfedern und dem an den Nähten bereits herausquellenden Werg, auf den Linoleumboden, dessen ursprüngliche Farbe man schon gar nicht mehr erkennen konnte und der unter dem Ausguß voller Risse und Buckel war. Vier Jahre wohnten sie jetzt hier. An das andere Haus, in Milwaukee, konnte sich Elizabeth nur noch schwach erinnern. Es war ein bißchen größer, mit einer richtigen Küche, zwei Badezimmern und einem großen Hof. Elizabeth hätte gern im Wohnzimmer aufgeräumt, aber sobald Matt aufstand, würde es ja doch im Nu wieder ein heilloses Durcheinander geben – Bierflaschen, Zigarrenasche, achtlos herumliegende Kleidungsstücke. Doch vielleicht lohnte sich ein Versuch.

Aus dem offenen Schlafzimmer ertönte Schnarchen, rauh, widerlich. Sie spähte hinein. Mama und Matt hatten sich offensichtlich wieder vertragen. Sie lagen ineinander verschlungen da – sein rechtes Bein über ihrem linken, sein Gesicht in ihrem Haar vergraben. Hoffentlich wachten sie auf, bevor Leila heimkam. Leila konnte es nicht ausstehen, sie so zu sehen.

Leila machte offenbar Überstunden. Die Schnellgaststätte lag in der Nähe der Badeanstalt, und an manchen heißen Tagen erschienen einige Kellnerinnen einfach nicht zur Arbeit. »Ich hab meine Tage gekriegt«, jammerten sie dann dem Geschäftsführer am Telefon vor. »Scheußliche Krämpfe, ehrlich.«

Leila hatte ihr davon erzählt und erklärt, was es bedeutete. »Mit deinen acht Jahren bist du zwar noch ziemlich klein, aber bei mir hat Mama sich nie zu einem Gespräch aufgerafft, und wie’s dann passiert ist, konnte ich vor lauter Rückenschmerzen kaum nach Hause laufen und dachte, ich würde gleich tot umfallen. Ich will nicht, daß es dir auch so geht, und ich möchte auch nicht, daß andere Kinder irgendwelche dunklen Andeutungen machen und du dir sonst was vorstellst.«

Elizabeth tat ihr Bestes, das Wohnzimmer einigermaßen in Ordnung zu bringen. Sie ließ die Jalousien dreiviertel herunter, um die allzu grelle Sonne abzuhalten. Sie leerte die Aschenbecher, wischte die Tischplatten ab und räumte die Bierflaschen weg, die Mama und Matt vor ihrem Krach geleert hatten. Danach ging sie in ihr Zimmer, das gerade Platz bot für ein Bett, eine Kommode und einen Rohrstuhl mit geborstenem Sitz. Leila hatte ihr zum Geburtstag eine weiße Tagesdecke aus Chenille geschenkt und ein gebrauchtes Bücherregel gekauft, das sie rot gestrichen und an die Wand gehängt hatte.

Mindestens die Hälfte der Bücher im Regal waren Theaterstücke. Elizabeth suchte sich einen ihrer Lieblinge heraus, »Unsere kleine Stadt«. Leila hatte voriges Jahr in der High School die Emily gespielt und ihre Rolle so oft mit Elizabeth geprobt, daß die sie ebenfalls auswendig konnte. Manchmal las sie sich während der Rechenstunde ein ganzes Theaterstück lautlos aus dem Kopf vor. Das machte ihr weitaus mehr Spaß, als das Einmaleins herunterzuleiern.

Sie mußte eingedöst sein, denn als sie die Augen aufschlug, beugte sich Matt über sie. Sein Atem roch nach Tabak und Bier, was noch schlimmer wurde, als er lächelte und dabei zu keuchen begann. Elizabeth wich zurück, aber sie konnte sich ihm nicht entziehen. Er tätschelte ihr Bein. »Muß ja’n ziemlich langweiliges Buch sein, Liz.«

Er wußte genau, daß sie Wert darauf legte, mit vollem Vornamen angeredet zu werden.

»Ist Mama wach? Dann kann ich anfangen, das Abendessen zu machen.«

»Deine Mama wird noch ’ne Weile schlafen. Wie wär’s, wenn ich mich ’n bißchen hinlege und wir beide dann vielleicht gemeinsam lesen?« In Sekundenschnelle wurde Elizabeth an die Wand geschubst, und Matt machte sich auf dem Bett breit. Sie begann sich zu winden. »Ich steh jetzt auf und fange mit den Hacksteaks an«, sagte sie, bemüht, ihre Angst nicht zu zeigen.

Er hielt ihre Arme mit festem Griff umklammert. »Vorher umarmst du Daddy erst mal so richtig lieb, Schätzchen.«

»Du bist nicht mein Daddy.« Blitzartig erkannte sie, daß sie in der Falle saß. Sie wollte versuchen, Mama durch Rufen zu wecken, aber jetzt küßte Matt sie.

»Bist’n hübsches kleines Ding«, murmelte er. »Aus dir wird später mal ’ne richtige Schönheit.« Seine Hand glitt über ihr Bein, tastete sich weiter nach oben.

»Ich mag das nicht«, sagte sie.

»Was magst du nicht, Baby?«

Und dann sah sie über Matts Schulter hinweg Leila in der Tür stehen. Ihre grünen Augen waren dunkel vor Wut. Blitzschnell hatte sie das Zimmer durchquert und Matt so kräftig am Schopf gepackt, daß sein Kopf zurückschnellte, wobei sie ihn heftig anschrie – alles Wörter, die Elizabeth nicht verstand. Und dann brüllte sie: »Schlimm genug, was die anderen Kerle mir angetan haben, aber ich bringe dich um, wenn du sie auch nur anrührst!«

Matts Füße landeten krachend auf dem Boden. Mit einer Seitwärtsdrehung versuchte er, sich von Leila freizumachen. Doch sie hatte sein langes Haar fest im Griff, so daß jede Bewegung für ihn schmerzhaft war. Er fing seinerseits an, Leila anzuschreien, und wollte auf sie einschlagen.

Mama mußte wohl den Lärm gehört haben, denn das Schnarchen verstummte. Sie kam ins Zimmer, in ein Bettlaken gehüllt, Ringe unter den trüben Augen, das schöne rote Haar zerzaust. »Was geht hier vor?« murmelte sie. Ihre verschlafene Stimme klang ärgerlich. Elizabeth entdeckte eine Beule an ihrer Stirn.

»Mach du lieber deiner Tochter klar, daß sie nicht verrückt spielen soll, wo ich doch bloß ’n bißchen nett sein und ihrer Schwester vorlesen wollte – was ist denn da schon dabei?« Es hörte sich wütend an, aber Elizabeth merkte, daß Matt es mit der Angst zu tun bekam.

»Und du mach lieber diesem miesen Kinderschänder klar, daß er sich rausscheren soll, oder ich rufe die Polizei.« Leila riß Matt noch einmal heftig am Schopf, bevor sie ihn losließ, um ihn herumging, sich zu Elizabeth aufs Bett setzte und sie in die Arme nahm.

Mama begann auf Matt einzuschreien, dann begann Leila, auf Mama einzuschreien, und schließlich gingen Mama und Matt in ihr Zimmer und stritten sich dort weiter. Danach – lange Schweigepausen. Als sie aus dem Zimmer kamen, waren sie angezogen und sagten, das Ganze sei ein Mißverständnis und sie wollten jetzt ein Weilchen ausgehen, solange die beiden Mädchen hier zusammen wären.

Nachdem sie das Haus verlassen hatten, sagte Leila: »Ob du wohl eine Dose Suppe aufmachen und uns ein Hacksteak braten könntest? Ich muß inzwischen nachdenken.« Bereitwillig ging Elizabeth in die Küche, um das Essen vorzubereiten. Während sie es schweigend verzehrten, merkte Elizabeth, wie froh sie über Mamas und Matts Abwesenheit war. Wenn sie zu Hause waren, tranken sie und küßten sich, oder sie stritten und küßten sich. Beides war gleich gräßlich.

»Sie ändert sich nie«, erklärte Leila schließlich.

»Wer?«

»Mama. Sie ist ’ne Säuferin, und egal wen, einen Kerl wird sie immer haben, bis sie dann einfach kein lebendes Mannsbild mehr findet. Aber ich kann dich nicht bei Matt zurücklassen.«

Zurücklassen! Leila durfte nicht weggehen...

»Also pack deine Sachen zusammen«, befahl Leila. »Wenn dieser Schuft anfängt, dich zu betatschen, bist du hier nicht mehr sicher. Wir nehmen den letzten Bus nach New York.« Dann streckte sie die Hand aus und zerzauste ihr das Haar. »Wie ich es schaffe, wenn wir erst mal dort sind, das weiß nur der liebe Gott, Spatz, aber ich passe auf dich auf, das verspreche ich.«

An diesen Augenblick erinnerte sich Elizabeth später überdeutlich. Sie sah jede Einzelheit vor sich: Leilas Augen, nicht mehr von Zorn verdunkelt, sondern wieder smaragdgrün schimmernd, aber mit einem stahlharten Blick; Leilas schlanker, straffer Körper, ihre katzenhafte Anmut; Leilas glänzendes rotes Haar, das in dem von oben hereinfallenden Licht noch heller aufleuchtete; Leilas volltönende, kehlige Stimme, die sagte: »Hab keine Angst, Spatz. Es wird Zeit, den Staub unserer alten Heimat Kentucky von den Füßen zu schütteln.«

Dann begann Leila, trotzig lachend, zu singen: »Ich will dich nie mehr weinen sehn...«

Samstag, 29. August 1987

1

Die Sonne versank hinter den Zwillingstürmen des World Trade Center, als die Maschine aus Rom über Manhattan zu kreisen begann. Elizabeth preßte die Stirn an die Scheibe, trank den Anblick in sich hinein: die Wolkenkratzer, die frisch renovierte Freiheitsstatue, eine Fähre beim Durchqueren der Narrows. Diesen Augenblick hatte sie früher am Ende einer Reise genossen: das Gefühl, nach Hause zu kommen. Diesmal jedoch wünschte sie sich sehnlichst, an Bord bleiben zu können, weiterzufliegen – egal, wohin ...

»Einfach zauberhaft, dieser Blick, finden Sie nicht?« Als sie an Bord gekommen war, hatte die Platznachbarin, ein Großmuttertyp, freundlich gelächelt und ihr Buch aufgeschlagen. Zu ihrer Erleichterung, denn sieben Stunden Konversation mit einer Unbekannten, das war das Letzte, was sich Elizabeth wünschte. Jetzt hatte sie freilich nichts mehr dagegen. In wenigen Minuten würden sie ja landen. Also fand sie den Blick ebenfalls zauberhaft.

»Das war meine dritte Italien-Reise«, fuhr ihre Nachbarin fort. »Aber ich bin das letzte Mal im August dort gewesen. Es wimmelt nur so von Touristen. Und diese schreckliche Hitze. Wo waren Sie überall?«

Die Maschine setzte zum Landeanflug auf den Kennedy Airport an. Elizabeth fand, daß sie die Frage genausogut direkt beantworten konnte, anstatt irgendwelche Ausflüchte zu machen. »Ich bin Schauspielerin und war zu Dreharbeiten in Venedig.«

»Wie aufregend. Auf den ersten Blick erinnerten Sie mich ein bißchen an Candy Bergen. Sie haben fast die gleiche Größe und ebenso schönes blondes Haar und blaugraue Augen. Müßte ich Ihren Namen kennen?«

»Keineswegs.«

Es gab einen leichten Ruck, als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzte und auszurollen begann. Um weitere Fragen zu verhindern, zog Elizabeth ihre Bordtasche unter dem Sitz hervor und überprüfte ostentativ den Inhalt. Wenn Leila hier wäre, dachte sie, hätte es kein solches Ratespiel gegeben. Leila LaSalle erkannte jeder sofort. Aber Leila wäre ja erster und nicht Touristen-Klasse geflogen.

Wäre geflogen. Nach all den Monaten war es an der Zeit, ihren Tod als Tatsache zu akzeptieren.

Auf einem Zeitungsstand gleich hinter der Zollschranke stapelte sich die Abendausgabe des Globe. Unmöglich, die Schlagzeile zu übersehen. PROZESSBEGINN 8. SEPTEMBER! Der Untertitel lautete: »Richter Michael lehnt jede weitere Verschiebung im Mordprozeß gegen Multimillionär Ted Winters kategorisch ab.« Den Rest der Titelseite füllte eine vergrößerte Porträtaufnahme von Ted. In seinen Augen lag Bitterkeit; um den Mund hatte er einen harten, unbeugsamen Zug. Das Foto war entstanden, nachdem er erfahren hatte, daß die Anklagejury ihn beschuldigte, seine Verlobte Leila LaSalle ermordet zu haben.

Im Taxi las Elizabeth dann den Artikel – sämtliche Einzelheiten über Leilas Tod und das ganze Beweismaterial gegen Ted wurden wiederaufgewärmt. Über die nächsten drei Seiten verstreut Fotos von Leila: Leila bei einer Premiere mit ihrem ersten Ehemann; Leila auf Safari mit ihrem zweiten Ehemann; Leila mit Ted; Leila bei Entgegennahme des Oscar – alles Archivmaterial. Ein Foto erregte ihre Aufmerksamkeit. In Leilas Lächeln lag ein Anflug von Weichheit, eine Andeutung von Verletzlichkeit, was durchaus im Gegensatz stand zu dem arrogant hochgereckten Kinn, dem spöttischen Augenausdruck. Die halbe weibliche Jugend Amerikas hatte sich befleißigt, diesen Ausdruck nachzuahmen, Leila zu kopieren, wie sie das Haar zurückwarf, wie sie über die Schulter lächelte.

»Da wären wir.«

Verwirrt blickte Elizabeth auf. Das Taxi hielt vor dem Hamilton Arms, Ecke Fifty-seventh Street und Park Avenue. Die Zeitung rutschte ihr vom Schoß. Sie zwang sich zu einem gelassenen Tonfall. »Entschuldigen Sie bitte. Ich hab Ihnen die falsche Adresse angegeben. Ich möchte Ecke Eleventh und Fifth.«

»Ich hab den Taxameter schon abgeschaltet.«

»Dann lassen Sie ihn eben neu laufen.« Ihre Hände zitterten, als sie nach der Geldbörse suchte. Sie spürte, wie der Türsteher auf das Taxi zukam, und blickte nicht hoch. Sie wollte nicht erkannt werden. Gedankenlos hatte sie Leilas Adresse angegeben. Dies war das Gebäude, in dem Ted den Mord an Leila begangen hatte. Hier hatte er sie im Rausch und in rasender Wut von der Terrasse ihrer Wohnung hinuntergestoßen.

Elizabeth begann unkontrollierbar zu zittern bei der Vorstellung, die sie nicht loswerden konnte. Leilas wunderbarer Körper im weißen Satinpyjama, die flatternde rote Haarmähne, während sie vierzig Stockwerke tief auf den betonierten Hof stürzt.

Und die ständigen Fragen ... War sie bei Bewußtsein? Wieviel hat sie realisiert?

Wie grauenvoll müssen diese letzten Sekunden für sie gewesen sein!

Wenn ich bei ihr geblieben wäre, dachte Elizabeth, wäre das niemals geschehen ...

2

Nach zweimonatiger Abwesenheit wirkte die Wohnung eng und stickig. Doch sobald sie die Fenster öffnete, wehte eine Brise herein und brachte jene sonderbar anheimelnde Mischung von Gerüchen mit sich, die so typisch für New York war: die scharfen exotischen Düfte aus dem kleinen indischen Restaurant gleich um die Ecke, dazu ein zarter Hauch von Blumen von der gegenüberliegenden Terrasse, die beißenden Abgaswolken der Busse auf der Fifth Avenue, eine Spur von Meeresluft vom Hudson. Ein paar Minuten lang atmete Elizabeth tief durch und spürte, wie sie sich allmählich entkrampfte. Nun war sie also hier, und es tat gut, daheim zu sein. Die Filmarbeit in Italien war doch nichts als wieder ein Entfliehen gewesen, ein weiterer kurzfristiger Aufschub. Doch mit alldem ließ sich die Tatsache nicht aus dem Bewußtsein verdrängen, daß sie letztlich vor Gericht erscheinen mußte, als Zeugin der Anklage gegen Ted.

Sie packte rasch aus und stellte ihre Pflanzen in den Ausguß. Offensichtlich hatte die Frau des Hausverwalters ihr Versprechen, sie regelmäßig zu gießen, nicht gehalten. Sie entfernte die verdorrten Blätter und wandte sich dann dem Postberg auf dem Eßzimmertisch zu. Sie sah ihn flüchtig durch, sortierte Reklamesendungen und Gutscheine aus, trennte die Privatbriefe von den Rechnungen. Lächelnd betrachtete sie einen Umschlag mit auffallend schöner Handschrift und exaktem Absender auf der oberen Ecke: Miss Dora Samuels, Cypress Point Spa, Pebble Beach, California. Sammy. Doch bevor sie ihn las, öffnete sie zögernd den amtlichen Umschlag OFFICE OF THE DISTRICT ATTORNEY!

Ein kurzes Schreiben. Es bestätigte die Vereinbarung, daß sie Staatsanwalt William Murphy nach ihrer Rückkehr am 29. August anrufen und einen Termin zwecks Überprüfung ihrer Zeugenaussage ausmachen würde.

Auf den Schock, den ihr diese amtliche Mitteilung versetzte, war sie nicht vorbereitet, obwohl sie doch vorhin die Zeitung gelesen und dem Taxifahrer Leilas Adresse angegeben hatte. Ihr Mund wurde trocken. Sie bekam Platzangst. Die endlosen Vernehmungen vor der Anklagejury standen ihr wieder vor Augen. Der Tag, an dem sie im Zeugenstand ohnmächtig geworden war, nachdem man ihr die Fotos von Leilas Leiche gezeigt hatte. Mein Gott, jetzt fängt das alles noch einmal von vorn an, dachte sie ...

Das Telefon klingelte. »Hallo«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Elizabeth«, dröhnte es ihr entgegen. »Wie geht’s dir denn? Ich mach mir Sorgen um dich.«

Min von Schreiber! Ausgerechnet! Elizabeth fühlte sich prompt noch erschöpfter. Min hatte Leila den ersten Job als Fotomodell verschafft, war jetzt mit einem österreichischen Baron verheiratet und Eigentümerin von Cypress Point Spa in Pebble Beach, einem mondänen Kurzentrum. Eine gute alte Freundin, aber im Augenblick fühlte sich Elizabeth ihr nicht gewachsen. Und trotzdem gehörte Min zu den Menschen, denen sie nie etwas abschlagen konnte.

Elizabeth bemühte sich, munter zu klingen. »Mir geht’s prima, Min. Ein bißchen müde vielleicht. Ich bin erst vor ein paar Minuten nach Hause gekommen.«

»Pack ja nicht aus. Morgen früh kommst du her. Am Schalter von American Airlines ist ein Ticket für dich hinterlegt. Der übliche Flug. Jason holt dich am Flugplatz ab.«

»Ausgeschlossen, Min. Ich kann nicht.«

»Als mein Gast.«

Elizabeth unterdrückte ein Lachen. Leila hatte immer gesagt, dies seien die drei Worte, die auszusprechen Min am schwersten fielen. »Aber, Min...«

»Kein Aber. Neulich in Venedig hast du einfach jämmerlich ausgesehen. Klapperdürr. Dieser verdammte Prozeß wird die Hölle. Also komm. Du brauchst Ruhe. Laß dich verwöhnen.«

Elizabeth konnte sich Min deutlich vergegenwärtigen: das tiefschwarze Haar, das hochgekämmt den Kopf wie ein Helm umschloß, die dominierende Art, mit der sie als selbstverständlich voraussetzte, daß jeder ihrer Wünsche erfüllt wurde. Nach etlichen vergeblichen Protesten, in denen Elizabeth die Gründe aufzählte, weshalb sie nicht kommen konnte, hörte sie sich in Mins Pläne einwilligen. »Also dann morgen. Ich freue mich auf dich, Min.« Sie lächelte, als sie den Hörer auflegte.

Viereinhalbtausend Kilometer entfernt wartete Minna von Schreiber auf das Freizeichen, wählte dann sofort eine neue Nummer. Als sich der Teilnehmer meldete, flüsterte sie: »Sie hatten recht. Es ging ganz einfach. Sie kommt. Vergessen Sie nicht, Überraschung zu mimen, wenn Sie sie sehen.«

Ihr Mann kam herein, während sie telefonierte, und wartete das Ende des Gesprächs ab. Dann explodierte er: »Du hast sie also tatsächlich eingeladen?«

Sie blickte trotzig auf. »Allerdings.«

Helmut von Schreiber runzelte die Stirn. Seine porzellanblauen Augen verfinsterten sich. »Nach all meinen Warnungen? Elizabeth könnte dieses Kartenhaus rundum zusammenfallen lassen, Minna. Bis zum Wochenende wirst du diese Einladung bereuen, wie du noch nie im Leben etwas bereut hast.«

Elizabeth beschloß, den Anruf beim Staatsanwalt sofort hinter sich zu bringen. William Murphy freute sich offenbar, von ihr zu hören. »Ich fing gerade an, mir Ihretwegen Sorgen zu machen, Miss Lange.«

»Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß ich heute zurückkomme. Ich habe nicht damit gerechnet, Sie am Samstag anzutreffen.«

»Massenhaft Arbeit. Der Verhandlungstermin steht jetzt fest. Am 8. September fangen wir an.«

»Das hab ich gelesen.«

»Ich muß Ihre Aussage noch mal mit Ihnen durchgehen, um Ihr Gedächtnis aufzufrischen.«

»Das Ganze ist mir nie aus dem Kopf gegangen.«

»Verstehe. Aber ich muß über die speziellen Fragen sprechen, die der Verteidiger Ihnen stellen wird. Ich schlage vor, daß Sie am Montag auf ein paar Stunden herkommen, und dann könnten wir ja für nächsten Freitag noch einen weiteren Termin vereinbaren. Sie sind doch diese Woche hier erreichbar?«

»Ich verreise morgen früh«, entgegnete sie. »Können wir denn nicht am Freitag über alles reden?«

Die Antwort beunruhigte sie. »Ich hätte gern eine Vorbesprechung. Es ist erst drei Uhr. Mit einem Taxi könnten Sie in einer Viertelstunde hier sein.«

Zögernd willigte sie ein. Mit einem Blick auf Sammys Brief beschloß sie, ihn erst nach ihrer Rückkehr zu lesen. Dann hätte sie wenigstens etwas, worauf sie sich freuen konnte. Sie duschte geschwind, drehte sich das Haar zu einem Knoten, zog ein leichtes blaues Baumwollkostüm an und dazu Sandalen.

Eine halbe Stunde später saß sie dem Staatsanwalt in seinem vollgestopften Büro gegenüber. Das Mobiliar bestand aus Schreibtisch, drei Stühlen und einer Reihe Aktenschränken aus grauem Stahl. Überall türmten sich in Pappdeckel sortierte Aktenbündel – auf dem Schreibtisch, auf dem Fußboden, auf den Metallschränken. William Murphy scheint das Durcheinander nicht weiter zu stören – oder er hat sich damit abgefunden, dachte Elizabeth.

Murphy, ein Enddreißiger mit beginnender Glatze, pausbäkkig, starker New Yorker Akzent, vermittelte den Eindruck von scharfem Intellekt und unermüdlicher Energie. Nach den Verhandlungen vor der Anklagejury hatte er ihr mitgeteilt, daß man Ted hauptsächlich aufgrund ihrer Aussage angeklagt habe. Sie wußte, daß er ihr damit hohes Lob zu zollen meinte.

Er schlug einen dicken Aktenordner auf: Das Volk des Staates New York gegen Andrew Edward Winters III. »Ich weiß, wie schwer dies für Sie ist«, begann er. »Sie werden gezwungen sein, den Tod Ihrer Schwester noch einmal zu durchleben und damit auch den ganzen Schmerz. Und Sie werden als Zeugin gegen einen Mann aussagen, den Sie gern hatten und dem Sie vertrauten.«

»Ted hat Leila getötet. Der Mensch, den ich kannte, existiert nicht.«

»In dem vorliegenden Fall gibt es kein Wenn und Aber. Ihre Schwester hat durch ihn das Leben eingebüßt, es ist meine Aufgabe, mit Ihrer Hilfe dafür zu sorgen, daß er seine Freiheit einbüßt. Der Prozeß wird Ihnen furchtbare Qualen bereiten, aber danach werden Sie es leichter haben, zu Ihrem eigenen Leben zurückzufinden, das kann ich Ihnen versprechen. Nach der Vereidigung wird man Sie nach Ihren Personalien fragen. Wie ich weiß, ist ‹Lange› Ihr Künstlername. Denken Sie daran, daß Sie den Geschworenen den richtigen Familiennamen angeben müssen – La-Salle. Und nun wollen wir Ihre Aussage noch einmal durchgehen. Man wird Sie fragen, ob Sie bei Ihrer Schwester gewohnt haben.«

»Nein, nach dem College bin ich in eine eigene Wohnung gezogen.«

»Leben Ihre Eltern noch?«

»Nein, meine Mutter starb drei Jahre nachdem Leila und ich nach New York kamen. Meinen Vater habe ich nie gekannt.«

»Schildern Sie den Tag vor dem Mord.«

»Ich war drei Monate auswärts auf Tournee ... Ich kam am Freitag, dem 28. März, abends zurück, gerade noch rechtzeitig zu Leilas Generalprobe.«

»Wie fanden Sie Ihre Schwester vor?«

»Sie stand offensichtlich furchtbar unter Druck und vergaß dauernd ihren Text. Ihr Spiel war eine glatte Katastrophe. Während der Pause ging ich zu ihr in die Garderobe. Sie hat nie getrunken, höchstens mal ein Glas Wein, und jetzt hatte sie sich puren Scotch eingeschenkt. Ich nahm ihn ihr weg und schüttete ihn ins Waschbecken.«

»Wie reagierte sie?«

»Sie war außer sich vor Wut. Ein völlig anderer Mensch. Aus Alkohol hatte sie sich nie viel gemacht, aber plötzlich trank sie in Mengen ... Ted kam in die Garderobe. Sie schrie uns beide an, wir sollten rausgehen.«

»Hat Sie dieses Verhalten überrascht?«

»Es wäre wohl richtiger zu sagen, daß es mich entsetzt hat.«

»Haben Sie mit Winters darüber gesprochen?«

»Er wirkte bestürzt. Er war ebenfalls viel unterwegs gewesen.«

»Geschäftlich?«

»Ja, ich nehme an ...«

»Die Vorstellung lief schlecht?«

»Ein Reinfall. Leila weigerte sich strikt, vor den Vorhang zu treten und sich zu verbeugen. Hinterher gingen wir alle ins Elaine.«

»Wen meinen Sie mit ‹wir›?«

»Leila ... Ted und Craig ... mich ... Syd und Cheryl ... Baron und Baronin von Schreiber. Den engen Freundeskreis.«

»Sie werden vor der Jury nähere Erklärungen zu den einzelnen Personen abgeben müssen.«

»Syd Melnick war Leilas Agent. Cheryl Crane ist eine sehr bekannte Schauspielerin. Baron und Baronin von Schreiber sind die Besitzer von Cypress Point Spa in Kalifornien. Min – die Baronin – hatte früher eine Fotomodell-Agentur in New York. Sie verschaffte Leila ihren ersten Job. Ted Winters – ihn kennt jeder, er war Leilas Verlobter. Craig Babcock ist Mitarbeiter von Ted, geschäftsführender Vizepräsident von Winters Enterprises.«

»Was geschah im Elaine? «

»Es gab eine fürchterliche Szene. Irgend jemand rief Leila zu, er habe gehört, das neue Stück sei durchgefallen. Sie wurde fuchsteufelswild. Und ob!› brüllte sie. ‹Eine Superpleite, aber ohne mich! Habt ihr das alle gehört? Ich steige aus!› Danach feuerte sie Syd Melnick. Sie warf ihm vor, er habe sie nur seiner Prozente wegen da reingeritten. In den letzten zwei Jahren hätte er ihr alles mögliche aufgeschwatzt, weil er das Geld brauchte.« Elizabeth biß sich auf die Lippen. »Eins müssen Sie verstehen – das war nicht die wirkliche Leila. Sicher, wenn sie in einem neuen Stück spielte, konnte es Überreaktionen geben. Sie war schließlich eine Perfektionistin. Aber so wie an dem Abend hat sie sich noch nie aufgeführt.«

»Was taten Sie?«

»Wir haben uns alle bemüht, sie zu beruhigen. Doch das bewirkte nur das Gegenteil. Als Ted versuchte, vernünftig mit ihr zu reden, zog sie den Verlobungsring vom Finger und schleuderte ihn quer durchs Lokal.«

»Wie reagierte er?«

»Er war wütend, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Ein Kellner brachte den Ring zurück, und Ted steckte ihn ein. Er versuchte, die Sache ins Lächerliche zu ziehen, und sagte ungefähr: ‹Den nehm ich erst mal in Verwahrung bis morgen, wenn sie sich wieder abgeregt hat.› Danach verfrachteten wir sie ins Auto und fuhren nach Hause. Ted half mir, sie zu Bett zu bringen. Ich versprach ihm, dafür zu sorgen, daß sie ihn am nächsten Morgen anrief, sobald sie aufwachte.«

»Im Zeugenstand werde ich Sie nun nach den Wohnverhältnissen der beiden fragen.«

»Er hatte im zweiten Stock ein eigenes Apartment. Ich blieb die Nacht über bei Leila. Sie schlief bis mittags. Als sie nach zwölf aufwachte, fühlte sie sich miserabel. Ich gab ihr Aspirin, und sie legte sich wieder hin. Ich rief an ihrer Stelle bei Ted an. Er war im Büro und bat mich, ihr auszurichten, daß er abends gegen sieben zu ihr hinaufkäme.«

Elizabeth merkte, daß ihre Stimme zu schwanken anfing.

»Tut mir leid, aber ich muß weitermachen. Vielleicht könnten Sie das Ganze einfach nur als Probe ansehen. Je besser Sie vorbereitet sind, desto leichter wird es Ihnen später im Zeugenstand fallen.«

»Ist schon gut.«

»Haben Sie mit Ihrer Schwester über den vorhergehenden Abend gesprochen?«

»Nein. Sie wollte offenbar nicht darüber reden. Sie war sehr still. Ich solle jetzt nach Hause fahren und endlich auspacken, sagte sie. Ich hatte nämlich meine Koffer nur abgestellt und war dann gleich ins Theater gestürzt. Sie bat mich, sie gegen acht anzurufen, wir würden dann zusammen zu Abend essen. Ich nahm an, sie meinte damit sich, Ted und mich. Aber dann erklärte sie, daß sie seinen Ring nicht zurücknehmen würde. Sie sei fertig mit ihm.«

»Das ist ein sehr wichtiger Punkt, Miss Lange. Ihre Schwester sagte Ihnen, sie gedenke die Verlobung mit Ted Winters zu lösen?«

»Ja.« Elizabeth starrte auf ihre Hände hinunter. Sie erinnerte sich, wie sie sie Leila auf die Schultern gelegt und ihr dann damit über die Stirn gestrichen hatte. Hör auf, Leila. Das meinst du doch nicht im Ernst.

Aber ja, Spatz.

Nein, das stimmt nicht.

Was du denkst, ist deine Sache, Spatz. Ruf mich jedenfalls gegen acht an, ja?

In diesen letzten Minuten, die sie bei Leila war, hatte sie ihr die kalte Kompresse auf die Stirn gelegt, hatte sie fest in die Decken eingepackt und dabei gedacht, daß sie in ein paar Stunden wieder ganz sie selbst sein und die Geschichte amüsiert lachend als köstliche Anekdote zum besten geben würde. »Also hab ich Syd rausgeschmissen, Teds Ring weggeschmissen und die Rolle hingeschmissen. Das alles ging im Elaine in knapp zwei Minuten über die Bühne. Eine reife Leistung, oder?« Und dann würde sie den Kopf in den Nacken werfen und lachen, und rückblickend bekäme der Zwischenfall plötzlich Komik – ein Star, der in der Öffentlichkeit seinen Koller kriegt.

»Es war reines Wunschdenken, weil ich unbedingt daran glauben wollte«, hörte Elizabeth sich zu William Murphy sagen.

Hastig begann sie den Rest herauszusprudeln. »Ich rief um acht an ... Leila und Ted stritten sich. Sie klang, als habe sie wieder getrunken. Sie bat mich, in einer Stunde noch mal anzurufen. Das tat ich. Sie weinte. Sie hatte Ted weggeschickt und wiederholte unentwegt, daß sie keinem Mann trauen könne, daß sie keinen haben wolle, und ich solle mit ihr zusammen fortgehen.«

»Wie reagierten Sie darauf?«

»Ich ließ nichts unversucht, um sie zu beruhigen. Ich erinnerte sie daran, daß sie bei jedem neuen Stück solche nervösen Zustände bekam. Ich sagte ihr, diesmal sei ihr die Rolle wirklich auf den Leib geschrieben. Ich hielt ihr vor, daß Ted ganz vernarrt in sie sei, und das wisse sie auch. Dann tat ich wütend. Ich erklärte ihr...« Elizabeth stockte. Ihr Gesicht wurde kreidebleich. »Ich erklärte ihr, sie höre sich haargenau so an wie Mama, wenn sie wieder mal blau war.«

»Was sagte sie?«

»Anscheinend hatte sie das gar nicht mitgekriegt. Sie wiederholte nur dauernd: ‹Ich bin fertig mit Ted. Du bist die einzige, der ich noch vertrauen kann. Versprich mir, Spatz, daß du mit mir weggehst.›«

Elizabeth versuchte nicht mehr, die Tränen zurückzudrängen, die ihr in die Augen stiegen. »Sie weinte und schluchzte...«

»Und dann...«

»Ted kam zurück. Er begann sie anzuschreien.«

William Murphy beugte sich vor. Seine Stimme wurde eisig. »Also, Miss Lange, hier handelt es sich um den entscheidenden Punkt Ihrer Aussage. Bevor Sie sich im Zeugenstand näher dazu äußern, muß ich das Fundament legen, um den Richter zu überzeugen, daß Sie diese Stimme tatsächlich erkannt haben. Das gedenke ich folgendermaßen zu tun...« Er hielt inne, um die Spannung zu erhöhen.

»Frage: Sie hörten eine Stimme?«

»Ja«, entgegnete sie tonlos.

»Wie laut war diese Stimme?«

»Sie schrie.«

»Wie klang diese Stimme?«

»Wütend.«

»Wie viele Wörter hörten Sie diese Stimme aussprechen?«

Elizabeth überlegte kurz. »Elf Wörter. Zwei Sätze.«

»Haben Sie diese Stimme schon mal gehört, Miss Lange?«

»Unzählige Male.« Teds Stimme klang ihr in den Ohren. Ted, wie er lachte und Leila zurief: »He, Primadonna, beeil dich! Ich hab Hunger!« Ted, wie er Leila geschickt an einem allzu enthusiastischen Verehrer vorbeilotste: »Steig schnell ein, Liebling.« Ted, wie er im vergangenen Jahr bei ihrer eigenen Off-Broadway-Premiere erschien. »Ich soll Leila haarklein Bericht erstatten. Das Ganze kann ich in drei Worten zusammenfassen: Du warst einmalig...«

Was hatte Murphy sie gefragt? ... »Miss Lange, haben Sie erkannt, wessen Stimme Ihre Schwester anschrie?«

»Eindeutig!«

»Miß Lange, wem gehörte die Stimme, die im Hintergrund schrie?«

»Ted... Ted Winters.«

»Was schrie er?«

Unwillkürlich antwortete sie diesmal lauter: »Leg den Hörer auf! Du sollst den Hörer auflegen, sag ich!«

»Hat Ihre Schwester darauf reagiert?«

»Ja.« Elizabeth rutschte unruhig hin und her. »Müssen wir das bis ins einzelne durchgehen?«

»Das wird es Ihnen erleichtern, wenn Sie sich vor dem Prozeß überwinden, darüber zu reden. Also was hat Leila gesagt?«

»Sie schluchzte immer noch... und sagte: ‹Verschwinde. Du willst ein Falke sein ...?› Und dann knallte der Hörer auf die Gabel.«

»Sie hat den Hörer hingeknallt?«

»Ich weiß nicht, wer von beiden das getan hat.«

»Miss Lange, macht das Wort ‹Falke› für Sie irgendeinen Sinn?«

»Ja.« Sie sah Leilas Gesicht deutlich vor sich, den zärtlichen Augenausdruck, wenn sie Ted anblickte, die spontane Art, wie sie auf ihn zuging und ihn küßte. Ich liebe dich, mein Falke.

»Und wieso?«

»Das war Teds Spitzname ... der Kosename, den ihm meine Schwester gegeben hatte. Das tat sie nämlich mit Vorliebe – für jeden, der ihr nahestand, dachte sie sich einen passenden Namen aus.«

»Hat sie irgendwann noch jemanden so genannt?«

»Nein... nie.« Elizabeth stand abrupt auf und ging zum Fenster. Es war mit einer Staubschicht bedeckt. Ein Schwall feuchtwarmer Luft schlug ihr entgegen. Wenn ich doch nur hier wegkäme, dachte sie sehnsüchtig.

»Nur noch ein paar Minuten, Miss Lange, das verspreche ich Ihnen. Wissen Sie, um welche Zeit der Hörer hingeknallt wurde?«

»Genau um 21 Uhr 30.«

»Sind Sie da absolut sicher?«

»Ja. Während meiner Abwesenheit muß es einen Stromausfall gegeben haben. Ich habe an dem Morgen meine Uhr neu gestellt. Die Zeit stimmt, kein Zweifel.«

»Was taten Sie dann?«

»Ich war schrecklich aufgeregt. Ich mußte Leila sehen, stürzte auf die Straße. Es dauerte mindestens fünfzehn Minuten, bis ich ein Taxi erwischte. Als ich in Leilas Apartment kam, war es zehn vorbei.«

»Und es war kein Mensch da.«

»Niemand. Ich versuchte Ted anzurufen. Es meldete sich keiner. Da wartete ich einfach.« Sie wartete die ganze Nacht, schwankend zwischen Sorge und Erleichterung; sie hoffte, Leila und Ted hätten sich wieder versöhnt und wären ausgegangen, und ahnte nicht, daß Leila tot und zerschmettert im Hof lag.

»Als am nächsten Morgen die Leiche entdeckt wurde, nahmen Sie an, sie müsse von der Terrasse gestürzt sein? Warum sollte sie in einer kalten Märznacht nach draußen gehen?«

»Sie stand gern auf der Terrasse und genoß den Blick auf die Stadt. Bei jedem Wetter. Ich mahnte sie immer wieder zur Vorsicht ... Das Geländer war nicht besonders hoch. Schließlich hatte sie viel getrunken, dachte ich, sich zu weit über die Brüstung gelehnt, das Gleichgewicht verloren und war dann hinuntergestürzt ...«

Sie erinnerte sich – an den gemeinsamen Schmerz: Hand in Hand hatten Ted und sie bei der Trauerfeier geweint. Mit festem Griff hatte er sie gestützt, als sie, von Schluchzen geschüttelt, zusammenzubrechen drohte. »Ich weiß, Spatz. Ich weiß«, tröstete er sie. In Teds Jacht waren sie aufs Meer hinausgefahren, um Leilas Asche zu verstreuen.

Und dann war nach zwei Wochen eine Augenzeugin aufgetaucht und hatte unter Eid ausgesagt, sie habe gesehen, wie Ted um 21 Uhr 30 Leila von der Terrasse gestoßen habe.

»Ohne Ihre Aussage könnte die Verteidigung diese Sally Ross als Zeugin in der Luft zerreißen«, hörte sie William Murphy sagen. »Wie Sie wissen, ist sie nachweislich psychisch schwer gestört. Bedauerlich, daß sie so lange gewartet hat, bis sie mit ihrer Geschichte rausrückte. Die Tatsache, daß ihr Psychiater nicht da war und sie es ihm zuerst sagen wollte, erklärt das Ganze wenigstens halbwegs.«

»Ohne meine Aussage steht ihr Wort gegen Teds, und er bestreitet, noch mal in Leilas Apartment gegangen zu sein.« Als sie von der Augenzeugin erfahren hatte, war sie außer sich geraten. Sie hatte Ted restlos vertraut, bis ihr dieser William Murphy mitteilte, daß Ted strikt ableugnete, in Leilas Apartment zurückgekehrt zu sein.

»Sie können beschwören, daß er dort war, daß sie sich stritten, daß der Hörer um 21 Uhr 30 aufgeknallt wurde. Sally Ross sah, daß Leila um 21 Uhr 31 von der Terrasse wurde. Teds Version, er habe Leilas Apartment gegen zehn nach neun verlassen, um in sein eigenes zu gehen, wo er telefonierte und dann ein Taxi nach Connecticut nahm, hält nicht stand. Neben den Aussagen von Ihnen und dieser Frau haben wir in dem Fall auch noch starke Indizien. Sein zerkratztes Gesicht. Die von ihm stammenden Hautfetzen unter Leilas Fingernägeln. Die Blutspuren von ihr auf seinem Hemd. Die Aussage des Taxifahrers, daß er leichenblaß war und zitterte – daß er ihn kaum zu seinem Haus dirigieren konnte. Und warum zum Teufel hat er sich nicht seinen eigenen Chauffeur kommen lassen, damit er ihn nach Connecticut fährt? Weil er in Panik war, darum! Er kann keinerlei Beweis vorbringen, daß er irgend jemand telefonisch erreicht hat. Und er hat ein Motiv – Leila hatte ihm den Laufpaß gegeben. Aber über eins müssen Sie sich im klaren sein: die Verteidigung wird auf der Tatsache herumreiten, daß Sie und Ted Winters nach Leilas Tod eine so enge Beziehung hatten.«

»Wir beide liebten sie am meisten«, entgegnete Elizabeth leise. »Oder wenigstens dachte ich das. Kann ich jetzt bitte gehen?«

»Lassen wir’s dabei bewenden. Sie sehen wirklich reichlich erschöpft aus. Das wird eine langwierige und unerfreuliche Verhandlung. Versuchen Sie, sich in der kommenden Woche etwas zu entspannen. Wissen Sie schon, wo Sie die nächsten paar Tage verbringen wollen?«

»Ja. Baronin von Schreiber hat mich nach Cypress Point Spa eingeladen.«

»Das ist doch hoffentlich nicht Ihr Ernst?«

»Warum sollte ich darüber Witze machen?«

Murphys Augen verengten sich. Sein Gesicht lief rot an, und die Backenknochen traten plötzlich scharf hervor. Offenbar mußte er sich beherrschen, um nicht loszubrüllen. »Ich fürchte, Miss Lange, Sie unterschätzen Ihren Stellenwert. Ohne Sie würde die andere Zeugin von der Verteidigung abgeschmettert. Das heißt, durch Ihre Aussage wird einer der vermögendsten, einflußreichsten Männer dieses Landes für mindestens fünfzehn Jahre ins Gefängnis wandern, und sogar für dreißig, wenn ich Mord zweiten Grades durchkriege. Handelte es sich hier um einen Mafia-Prozeß, hätte ich Sie bis zum Ende des Verfahrens unter falschem Namen und mit Polizeischutz in einem Hotel versteckt. Der Baron von Schreiber und seine Frau mögen ja Freunde von Ihnen sein, aber genauso von Ted Winters, für den sie in New York als Zeugen auftreten werden. Und Sie beabsichtigen ernstlich, ausgerechnet jetzt dorthin zu reisen?«

»Ich weiß, daß Min und ihr Mann als Leumundszeugen für Ted aussagen«, erwiderte Elizabeth. »Ihrer Meinung nach ist er nicht fähig, einen Mord zu begehen. Ich wäre der gleichen Ansicht, wenn ich ihn nicht mit eigenen Ohren gehört hätte. Die beiden folgen ihrem Gewissen und ich dem meinen. Wir alle handeln so, wie wir müssen.«

Auf die Tirade, die Murphy nun losließ, war Elizabeth nicht gefaßt. Seine beschwörenden, mitunter sarkastischen Worte dröhnten ihr in den Ohren. »An dieser Einladung ist was faul. Das müßten Sie doch selber sehen. Sie behaupten, die Schreibers liebten Ihre Schwester. Dann fragen Sie sich doch gefälligst mal, wieso sie für Leilas Mörder auf die Barrikaden gehen wollen. Ich bestehe darauf, daß Sie sich von den beiden fernhalten, wenn schon nicht um meinetwillen oder in Ihrem eigenen Interesse, dann deshalb, weil Sie Gerechtigkeit für Leila verlangen!«

Es verwirrte Elizabeth, daß er sie so offensichtlich wegen ihrer Naivität verachtete, und sie erklärte sich schließlich bereit, die Reise abzublasen. Sie versprach, statt dessen nach Easthampton zu fahren, dort entweder Freunde zu besuchen oder sich in einem Hotel einzuquartieren.

»Ob Sie allein oder in Gesellschaft sind, seien Sie jedenfalls vorsichtig«, schärfte Murphy ihr ein. Nachdem er seinen Willen durchgesetzt hatte, quälte er sich ein Lächeln ab, das jedoch sofort erstarrte, und seine Augen blickten finster und zugleich besorgt. »Vergessen Sie eins nicht – ohne Ihre Aussage bleibt Ted Winters auf freiem Fuß.«

Trotz der drückenden Schwüle beschloß Elizabeth, zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie kam sich vor wie ein Punchingball, den eine Serie von wohlgezielten Schlägen rastlos hin- und herfliegen ließ. Natürlich hatte der Staatsanwalt recht. Sie hätte Mins Einladung ablehnen sollen. Sie würde sich in Easthampton bei niemandem melden, sondern lieber in ein Hotel gehen und die nächsten paar Tage nur müßig am Strand liegen.

Leila hatte immer gewitzelt: »Auf die Couch zwecks Seelenmassage wirst du nie müssen, Spatz. Dich braucht man nur in einen Bikini zu stecken und ins Meer zu tauchen, und schon bist du wunschlos glücklich.« Das stimmte. Sie erinnerte sich, mit welcher Begeisterung sie Leila die Preise gezeigt hatte, die sie beim Wettschwimmen gewonnen hatte. Vor acht Jahren hatte sie für die Olympiamannschaft einen zweiten Platz belegt. Und in Cypress Point Spa hatte sie vier Sommer lang Kurse für Unterwasseraerobic geleitet.

Unterwegs besorgte sie etwas zu essen – nur das Nötigste, um sich abends einen Salat und morgens rasch ein Frühstück zu machen. Als sie die letzten beiden Häuserblocks passierte, dachte sie, wie fern doch alles gerückt war. Ihr ganzes Leben vor Leilas Tod erschien ihr wie die unscharfen, vergilbten Fotos im Familienalbum.

Auf dem Tisch in der Eßecke lag die Post, obenauf Sammys Brief. Wieder mußte Elizabeth beim Anblick der gestochenen Handschrift lächeln. Sie sah Sammy deutlich vor sich – die zerbrechliche Gestalt, die irgendwie an einen Vogel erinnerte; die klugen Augen, eulenhaft hinter der randlosen Brille; die spitzenbesetzten Blusen und die soliden Strickjacken. Vor zehn Jahren hatte sich Sammy auf Leilas Anzeige um die Stelle einer Halbtags-Sekretärin beworben und sich binnen einer Woche unentbehrlich gemacht. Nach Leilas Tod hatte Min sie als Empfangsdame und Sekretärin für das Kurzentrum engagiert.

Elizabeth beschloß, den Brief nach dem Abendessen zu lesen. In ein paar Minuten hatte sie einen leichten Kaftan übergezogen, den Salat angemacht und sich ein Glas eisgekühlten Chablis eingeschenkt. Okay, Sammy, jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten, dachte sie, als sie den Brief öffnete.

Die erste Seite enthielt das Übliche.

Liebe Elizabeth

Ich hoffe, Sie sind gesund und einigermaßen zufrieden. Mir kommt es vor, als ob ich Leila von Tag zu Tag mehr vermisse, und ich kann nur erahnen, wie Ihnen zumute ist. Ich bin überzeugt, daß alles besser wird, sobald der Prozeß hinter Ihnen liegt.

Es hat mir gutgetan, für Min zu arbeiten, trotzdem denke ich, daß ich den Job bald aufgeben werde. Ich habe mich nie richtig von der Operation erholt.

Elizabeth drehte das Blatt um, las ein paar Zeilen auf der Rückseite; dann schnürte es ihr die Kehle zu, sie schob die Salatschüssel weg.

Sie wissen ja, daß ich Leilas Fanpost weiterhin beantwortet habe. Es bleiben immer noch drei große Säcke zu erledigen. Ich schreibe Ihnen, weil ich gerade auf einen sehr beunruhigenden anonymen Brief gestoßen bin. Er ist gemein und bösartig und gehört offenbar zu einer ganzen Serie. Diesen hier hatte Leila nicht geöffnet, aber die vorhergegangenen muß sie gesehen haben. Vielleicht wären die eine Erklärung dafür, warum sie in jenen letzten Wochen so völlig durcheinander war. Das Schreckliche daran ist, daß der Brief, den ich entdeckt habe, eindeutig von einem Menschen stammt, der sie gut kannte. Eigentlich wollte ich ihn diesem Brief beilegen, aber da ich nicht weiß, wer während Ihrer Abwesenheit Ihre Post für Sie aufbewahrt, wollte ich lieber vermeiden, daß ihn womöglich ein Unbefugter zu Gesicht bekommt. Rufen Sie mich an, sobald Sie wieder in New York sind?

Herzlichst Ihre

Sammy.

Je öfter Elizabeth diesen Brief las, desto mehr versetzte er sie in kaltes Grausen. Leila hatte also sehr beunruhigende, bösartige anonyme Briefe erhalten von einem Menschen, der sie genau kannte. Sammy, die nie zu Übertreibungen neigte, hielt es für denkbar, daß sich Leilas psychischer Zusammenbruch dadurch erklären ließ. In all diesen Monaten hatte Elizabeth in schlaflosen Nächten darüber nachgegrübelt, was Leila wohl zur Hysterie getrieben haben könnte. Gemeine anonyme Briefe, verfaßt von jemand, der sie gut kannte. Wer? Warum? Ob Sammy irgendeine dunkle Ahnung hatte?

Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer des Büros in Cypress Point Spa. Hoffentlich meldet sich Sammy, dachte sie. Doch am Apparat war Min. Sammy sei verreist, teilte sie Elizabeth mit. Zu Besuch bei einer Kusine, irgendwo in der Nähe von San Francisco. Sie käme Montagabend zurück. »Du siehst sie ja dann.« Mins Tonfall verriet Neugier. »Du klingst so aufgeregt, Elizabeth. Was gibt’s denn so Dringendes mit Sammy zu reden?«

Das war der geeignete Augenblick, Min mitzuteilen, daß sie nicht käme. »Der Staatsanwalt ...«, wollte Elizabeth gerade anheben, als ihr Blick auf Sammys Brief fiel. Sie mußte sie unbedingt sehen, nichts konnte sie daran hindern. Es war der gleiche zwanghafte Impuls, der sie in jener verhängnisvollen Nacht zu Leilas Apartment jagen ließ. Also sagte sie statt dessen: »Das eilt überhaupt nicht, Min. Auf Wiedersehen bis morgen.«

Ehe sie zu Bett ging, schrieb sie ein paar Zeilen an William Murphy mit Adresse und Telefonnummer des Kurzentrums. Gleich darauf zerriß sie den Zettel. Wozu diese Warnung? Schließlich war sie keine Zeugin gegen die Mafia und wollte weiter nichts als alte Freunde besuchen – Menschen, denen sie Liebe und Vertrauen entgegenbrachte, Menschen, die sie liebten und sich Sorgen um sie machten. Sollte er doch ruhig denken, sie sei in Easthampton.

Seit Monaten wußte er, daß es unerläßlich war, Elizabeth zu töten. Tag und Nacht hatte ihn der Gedanke an die Gefahr, die sie darstellte, begleitet. Ursprünglich hatte er geplant, sie in New York aus dem Weg zu räumen.

Der Prozeß stand unmittelbar bevor, so daß sie zweifellos jene letzten Tage innerlich immer wieder durchlebte, Sekunde um Sekunde. Dabei würde ihr unausweichlich klar werden, was sie ja bereits wußte – und mit diesem Erkennntnisprozeß wäre sein Schicksal besiegelt.

Ihr Tod würde in Kalifornien weniger offiziellen Verdacht erregen als in New York. Es gab verschiedene Möglichkeiten, sie in Cypress Point Spa zu beseitigen und das Ganze als Unfall zu tarnen. Er vergegenwärtigte sich ihre persönlichen Eigenheiten und Gewohnheiten, um den geeigneten Weg zu finden.

Ein Blick auf die Uhr. In New York war es jetzt Mitternacht. Träume süß, Elizabeth, dachte er.

Deine Zeit läuft ab.

Sonntag, 30. August 1987

Das Wort zum Tage:Wo sind sie, die Liebe, Schönheit und Wahrheit, die wir suchen?

SHELLEY

Guten Morgen, lieber Gast!

Wir wünschen Ihnen viel Freude für den neuen Tag in Cypress Point Spa.

Wir können Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß zusätzlich zu Ihrem individuellen Tagesprogramm zwischen 10 und 16 Uhr in der Damenabteilung Spezialkurse über die Kunst des Make-up stattfinden. Wie wäre es, wenn Sie sich in Ihren Freistunden von Madame Renford aus Beverly Hills in die Geheimnisse der schönsten Frauen der Welt einweihen ließen?

Unser Gast in der Herrenabteilung ist heute der bekannte Bodybuilder Jack Richard, der sein Trainingsprogramm um 16 Uhr vorführen wird.

Das musikalische Programm nach dem Diner bietet etwas ganz Besonderes. Der Cellist Fione Navaralla, einer der erfolgreichsten jungen Künstler in England, spielt Stücke von Ludwig van Beethoven.

Wir hoffen, daß alle unsere Gäste einen angenehmen, erholsamen Tag verbringen. Denken Sie daran – um wirklich schön zu sein, müssen wir im Innern gleichbleibend heiter und gelassen sein und frei von beunruhigenden oder quälenden Gedanken.

Baron und Baronin von Schreiber

1

Mins langjähriger Chauffeur Jason wartete vor dem Flugsteig, seine silbergraue Uniform schimmerte hell in der sonnendurchfluteten Ankunftshalle. Die kleine, drahtige Statur verriet noch immer den einstigen Jockey. Ein Rennunfall hatte seine Karriere beendet. Als Min ihn engagierte, arbeitete er als Stallbursche. Elizabeth wußte, daß er Min bedingungslos ergeben war. Das gleiche traf auch auf das übrige Personal zu. Die Fältchen in seinem zerknitterten Gesicht vertieften sich, als er sie entdeckte und willkommen hieß. »Schön, daß Sie wieder da sind, Miss Lange.« Ob er sich wohl auch daran erinnerte, daß sie das letzte Mal zusammen mit Leila hergekommen war?

Sie beugte sich zu ihm und küßte ihn auf die Wange. »Würden Sie bitte mit der ‹Miss Lange›-Tour aufhören, Jason? Man könnte mich ja sonst glatt für einen zahlenden Gast oder so was halten.« Sie bemerkte die diskrete Karte mit dem Namen Alvirah Meehan in seiner Hand. »Sie holen noch jemand ab?«

»Nur eine Person. Eigentlich müßte sie längst draußen sein. Die Passagiere aus der ersten Klasse steigen meistens auch als erste aus.«

Wer spart schon am Flugpreis, wenn er sich mindestens dreitausend Dollar wöchentlich für den Aufenthalt in Cypress Point Spa leisten kann, dachte Elizabeth. Gemeinsam mit Jason musterte sie die von Bord gehenden Passagiere. Jason hielt mehreren vorbeikommenden eleganten Frauen die Karte entgegen, ohne Ergebnis. »Hoffentlich hat sie das Flugzeug nicht verpaßt«, murmelte er, als noch eine Nachzüglerin auftauchte, eine massige Mittfünfzigerin mit breitem, scharfgeschnittenem Gesicht und sich lichtendem rötlichbraunen Haar. Sie trug ein grellrot bis rosa gemustertes und offensichtlich kostspieliges Baumwollkleid, das überhaupt nicht zu ihr paßte. An Taille und Oberschenkeln schlug es Falten, und der Saum rutschte über die Knie. Ein untrügliches Gefühl sagte Elizabeth, daß dies Mrs. Alvirah Meehan war.