Schwerenöter - Hanns-Josef Ortheil - E-Book

Schwerenöter E-Book

Hanns-Josef Ortheil

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Beschreibung

Hanns-Josef Ortheil entwirft in seinem Roman „Schwerenöter“ ein virtuos geschriebenes Porträt unser Nachkriegsgesellschaft. Der Autor zeichnet darin die Entwicklung jener Generation nach, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, in den fünfziger Jahren aufwuchs, die Studentenbewegung von 1968 mitgetragen hat und sich in den Jahren danach in die verschiedensten Lager zerstreute. Ein ungleiches Zwillingsbrüderpaar tritt auf, das auf phantasievolle Weise zwei deutsche Arten, sich in der Welt zu bewegen, noch einmal wiederholt: ekstatisch der eine, melancholisch der andere …

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BUCH: Hanns-Josef Ortheil entwirft in seinem Roman »Schwerenöter« ein virtuos geschriebenes Porträt unser Nachkriegsgesellschaft. Der Autor zeichnet darin die Entwicklung jener Generation nach, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, in den fünfziger Jahren aufwuchs, die Studentenbewegung von 1968 mitgetragen hat und sich in den Jahren danach in die verschiedensten Lager zerstreute. Ein ungleiches Zwillingsbrüderpaar tritt auf, das auf phantasievolle Weise zwei deutsche Arten, sich in der Welt zu bewegen, noch einmal wiederholt: ekstatisch der eine, melancholisch der andere …

AUTOR: Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er lebt als Schriftsteller in Stuttgart, Wissen an der Sieg und Rom und ist Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Brandenburger Literaturpreis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Georg-K.-Glaser Preis, dem Nicolas-Born-Preis und jüngst dem Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über 20 Sprachen übersetzt.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmung1 - Adenauers Spätgeburt2 - Das Kölner Ereignis3 - Im Land der Seligen4 - Der kalte Krieg5 - Bruderkampf6 - Siegfrieds Rache7 - Im Osten8 - Der Zauberer9 - Schwarze Galle10 - Exerzitien11 - Väterwahl12 - Vita sexualis13 - Atlantiker14 - Schwerenöter15 - Das römische Om16 - Der Herr der Gelehrten17 - Kombattanten18 - Vaterlose Gesellen19 - Hauptstrom20 - Traumarbeiten21 - Liebesdienst22 - Saudade23 - Furor24 - WiedergeburtCopyright

Meinen Brüdern

1

Adenauers Spätgeburt

Adenauer erwartete mich. Schon wenige Tage nach meiner Geburt hörte ich den altertümlich klingenden, mich sofort in den Bann schlagenden Namen. Einer der zahlreichen, auf mein Kommen hin angereisten Verwandten benutzte ihn, als er sich über das Bett beugte, in das man mich gelegt hatte. Deutlich bemerkte ich sein Erstaunen, den Tanz der Augenbrauen über den beinahe entsetzt sich weitenden Pupillen. Anfangs schien er dem Eindruck selbst nicht zu trauen, denn er runzelte die Stirn, ging langsam um das kleine Kinderbett herum und musterte mich von allen Seiten. Seufzend wandte er sich mit einem hilflosen Blick der gegenüberliegenden Wand zu, dann näherte er sich mir wieder und flüsterte mit einem wenig zurückhaltenden, nikotingesättigten Atem, als wolle er es nur mir sagen: »Der hat den Kopf des Alten, das ist Adenauers Dickschädel!«

Schon waren aber auch die anderen aufmerksam geworden, sie drängten herbei, standen um mich – den Schweigenden, Wahrnehmenden – herum, blickten mich mit aufgerissenen Augen ebenfalls überflüssig neugierig an und murmelten den merkwürdigen, mich beunruhigenden Namen nach. Einer nach dem andern sprach ihn aus, »ganz wie der Adenauer«, »wahrhaftig, ganz der Kopf des Alten«, so daß ich mich in meinem kleinen Bett unruhig hin- und herwälzte.

Wie alle Säuglinge wollte ich nicht erkannt und benannt sein. Haben Wiegenkinder in den ersten Wochen und Monaten nicht einen unbedingten Anspruch auf Stille und Pflege? Sie müssen sich von ihrem neunmonatigen, eingezwängten Mutterleibsdasein erholen; sie sollen das angenehme, tiefe und wärmende Dunkel gegen die störende Helligkeit des immer wiederkehrenden Morgens eintauschen. Es ist ein alter Irrtum, daß Kinder aus Mangel an Sprechfähigkeit, aus fehlendem Wissen oder aus Dummheit in den ersten Wochen des Lebens schweigen. Sie schweigen aus guten Gründen; gelten nicht diese ersten Wochen dem gründlichen Studium der Welt, dem Studium der prägenden Menschen, die fürs Spätere von größter Bedeutung sind? Dafür benötigen sie alle Kraft, allen Gedankenreichtum, jede Bewegung der Einbildungskraft.

So liegen die klügeren von ihnen beinahe unbeweglich in ihren engen Betten. Sie strampeln und schreien kaum, sie widmen sich einzig der Betrachtung der menschlichen Natur, der Familie, der sie umgebenden häßlichen und schönen Dinge. Nur gut, daß den Säuglingen erlaubt wird zu schweigen; kämen sie sprechend zur Welt, so fehlte es dieser an der notwendigen Erneuerung. Die Säuglinge aber schlafen, und im Schlaf erdenken sie sich insgeheim das Neue der Welt, sie vergleichen die lange im Mutterleib gehegten Spielbilder mit den Bildern des leibhaftigen Lebens; sie ahnen bereits, was zu ändern, was zu tun wäre. Einige Völker glauben mit Recht, daß das einzig Neue an einem Kind die Schale des Körpers sei, daß hingegen sein Geist und seine Seele etwas Uraltes, Vererbtes, Respektierenswürdiges darstellten, das in vielen verstorbenen Personen bereits gewohnt, von der Geschichte der Völker vorgebildet und bei der Geburt nur in veränderter Gestalt ins Leben gerufen worden sei.

Ich selbst sah es ähnlich, hatte ich doch in den zurückliegenden Monaten meiner allen Blicken entzogenen Entwicklung Erfahrungen genug gesammelt. Doch hatte die verfrühte Nennung des geheimnisvollen Namens Unruhe in meinem Inneren hervorgerufen. Anscheinend hatte sich niemand darüber Gedanken gemacht. Man unterschätzte mich, man hielt mich für ein unbeschriebenes Blatt, dem man bedenkenlos die fremdesten Urlaute aufprägen konnte.

Dabei hatte ich alles versucht, mich zu unterrichten. Schon im Mutterleib hatte ich den auf mich anstürmenden Traumbildern Erkenntnisse abgewonnen, um die mich so mancher beneidet hätte. Kaum hatten sich meine Sinne ausgebildet und verfeinert, hatten sie ihren Dienst bereits gründlich getan. Gekrümmten Leibes, noch kaum beweglich, war ich den Taten und Empfindungen meiner Mutter aufmerksam gefolgt. Zu allem entschlossen hatte ich meine ersten selbständigen Handgriffe eingeübt; auf den meist gleichmäßigen Schlag des mütterlichen Herzens hatte ich mit tiefem Durchatmen geantwortet. Ich hatte gelernt, den Hals allmählich freier zu bewegen, ihn zu drehen, zu wenden. Bald war es mir gelungen, die kleinen Hände zur trotzigen Faust zu ballen; bei stärkerem und eher bedrohlichem Klopfen und Pochen des nahen Mutterherzens hatte ich mitleidend die Stirn gerunzelt und erfolgreich grimassiert. Zwar hatte ich mit diesen sympathetischen Bewegungen keine besonders hilfreichen Dienste getan. Eingezwängt in die Höhle eines fremden Leibes, litt ich unter der eingeschränkten Bewegungs- und Denkfreiheit. Es wurde für mich gesorgt, alle Elemente der undurchschaubar zusammenarbeitenden Organismen griffen ineinander, um einen ordentlichen Menschen aus mir zu machen; andererseits war es mir doch unmöglich gewesen oder gar strikt verboten worden, in den Gang des Geschehens einzugreifen. Offensichtlich schlug sich meine Mutter mit feindlichen Mächten herum, sie setzte sich allen Widrigkeiten aus, während ich anscheinend nur dazu bestimmt war, zu ruhen, den Hals zu drehen und mit den Augen ins Dunkel zu schielen. Was ereignete sich draußen, was ging vor in diesen vielfach verworrenen Welten, aus denen so wenig zu mir hinüberdrang? Manchmal nahm ich ein plötzlich aufflammendes Licht wahr, dann wieder zuckte ich zusammen, wenn die Geräusche eindringlicher und markanter wurden. Doch konnte ich diese Außenlaute anfänglich nur wenig ordnen; was dort vor sich ging, blieb mir lange verschlossen.

So widmete ich mich den Träumen, die mir eine reichere und vielfältigere Wirklichkeit offenbarten. Es fiel mir nicht schwer, sie aus den Tiefen meiner Seele heraufzubeschwören. Gesammelt und angespannt erlebte ich die geheimen Planungen des Geistes mit, und auf dem dunklen Schirm, der mich sonst umgab, entstanden die ersten, quicklebendigen Schemen. Oft war ich verzaubert, denn unter ihrem Schutz wagte sich meine Seele, wie es mir schien, aus der Enge des gepreßten Körpers hinaus, sie machte ihre ersten Bekanntschaften mit der Welt und brachte so mit der Zeit in Erfahrung, in welchem Teil der Erde ich mich befand und mit welchen Stammeseigenheiten ich zu rechnen hatte.

Ohne Zweifel hielt ich mich in einer der prächtigsten und reichsten Städte des Kontinents auf, die würdig genug war, mich zu empfangen. Von Anfang an liebte ich ihre Schönheit, die so viele Geister in immer neuen Redensarten unermüdlich priesen. Betört, beinahe verhext lief ich durch ihre Gassen und Straßen, überquerte die weit sich öffnenden Plätze, besuchte die Märkte, die Lagerhallen am Fluß und suchte in den schmalen Laubengängen , die sich an die Wohnhäuser schmiegten, nach Schatten und Ruhe. Dort lauschte ich dem Gespräch der Philosophen, die sich beim Würfelspiel leise unterhielten; anscheinend machte es ihnen nichts aus, so lange an einem Platz zu verweilen. Sie liebten die Beständigkeit, sie verachteten die Hast, die uns in den Geschäften der Händler umgab, und sie spotteten über die Soldaten, deren Feldherr, Marcus Agrippa, mich schon bei einem meiner ersten Aufenthalte herzlich empfangen hatte. Den Spott der philosophischen Schule, hatte er ausgeführt, könne er leicht ertragen; unter den Soldaten nenne man sie die Eckensteher, die Wanzenbeschauer, die Neunmalklugen. Denen gehe nichts leicht von der Hand; sie lebten ihr Dasein auf Kosten der anderen, und nicht ihnen, sondern einzig den Soldaten, ihrem Ehrgeiz und ihrem Beharrungsvermögen habe die Stadt so viel zu verdanken. Wo finde man nördlich der Alpen etwas dergleichen an Pracht, Ordnung und Reichtum? Selbst in Italien spreche man von dieser Siedlung nur mit Respekt, was etwas heißen wolle, denn die Römer seien ein verwöhntes, anspruchsvolles Volk, das sich dem fernen Germanien nur mit großer Zurückhaltung genähert habe. Er selbst zweifle noch heute daran, ob es gut gewesen sei, die Truppen so weit in den Norden zu verlegen, um unter diesen finsteren, wenig zugänglichen Barbaren zu leben. Ein römischer Feldherr im Norden – das sei, um es deutlich zu sagen, eine wenig ansprechende Erscheinung, und an ihm selbst, seinen Zweifeln und Sorgen, könne ich leicht ermessen, was er von den Plänen des einzigen Cäsar halte, in diesen regendurchweichten, windgepeitschten Ebenen ein Leben zu führen, das sich den Ansprüchen einer höheren Kultur kaum fügen wolle. Wer habe schon freien Willens seine Heimat verlassen wollen, um dieses Germanien aufzusuchen, dessen Bewohner sich selbst ihrer Herkunft kaum gewiß seien, weil sie von geschichtlichem Leben nicht einmal etwas gehört, vielmehr alle Kraft darauf verwendet hätten, Eindringlinge durch die rauhen Töne und das dumpfe Dröhnen ihrer bardischen Gesänge in Schrecken und Angst zu versetzen? Tapferkeit habe man diesen Primitiven nicht absprechen können, wohl aber jedes Empfinden für Dauer und Schönheit. Der Krieg sei ihr Lebenselement gewesen, und außerhalb der Kriegszeiten hätten sie sich kaum zu betragen gewußt; gerade die Tapfersten seien in solchen Friedenszeiten ohne jede Beschäftigung gewesen, hätten die Glieder langgestreckt, Sorge und Arbeit den Frauen überlassen. So habe ihnen am ehesten eine ansteckende Trägheit entsprochen, eine offenbar kaum auszurottende Unlust, es mit der Welt aufzunehmen, während sie andererseits wiederum die Ruhe wenig genossen oder gar geliebt hätten. Herausgekommen sei dabei ein zwiespältig unentschlossenes Wesen, gezeichnet von einer anscheinend schweren Not, doch unergründlich in seinen tieferen Antrieben und Sehnsüchten, ein untätig lagerndes, träumendes, schwerfällig sich bewegendes Volk, das sich nicht einmal habe entschließen können, Städte zu bauen und feste Häuser zu bewohnen. Vielleicht habe ihre Schwermut derartige Planungen nicht erlaubt, vielleicht seien sie sicher gewesen, eines fernen Tages einmal in den Klüften und Spalten des von ihnen nur spärlich bebauten Bodens zu verschwinden, auf Nimmerwiedersehen, ungeliebt von den Nachbarn, zerbrochen eher an ihrer Schwermut, als an ihrer Tapferkeit, von der sie reichlich Zeugnis abgelegt hätten. Ihn, Marcus Agrippa, habe es immer gewundert, zu welchen Taten diese Wegelagerer und Hüttenbewohner fähig gewesen seien, denn was hätten sie schon zu verteidigen gehabt außer ihren düsteren Landstrichen und erdbestrichenen Häusern, in denen sie beinahe nackt, jedenfalls in tiefem Schmutz und Unrat aufgewachsen seien? So habe er inmitten dieses trostlosen Landes den Göttern einen Altar errichtet, er habe einer Legion seiner Soldaten einen festen Sitz gegeben und keine Mühen gescheut, den Blick der allmählich hier angesiedelten Ubier, die ein lernwilliges, den Römern freundlich gesinntes Volk seien, auf das Beständige und Nützliche wie auf das Schöne und Wertvolle zu lenken, eine Tat, die mehr Festigkeit und Kraft erfordere als die zynisch-nörgelnden Philosophen der Stadt es sich je zu träumen gewagt hätten.

Ich dachte nicht daran, ihm zu widersprechen; er machte Eindruck auf mich, und er ließ keine Gelegenheit ungenutzt, mir Beweise für seine Worte vorzuführen. Wahrhaftig boten Einwohner und Stadt ein überaus ansprechendes Bild. Größere Paläste wechselten mit einfacheren Wohnhäusern, Händler und Kaufleute hatten sich prächtige Villen gebaut und ließen sich während des Tages in Sänften durch die breiten Straßen zum Hafen schaukeln, um dort ihre Geschäfte zu regeln. Am späten Nachmittag zog man sich, vom Tagestreiben erschöpft, in die aufwendig gebauten Thermen zurück, man badete kalt und heiß, schwitzte, salbte den Körper und entfernte das Öl mit einem kleinen Schaber. All das vollzog sich unter dem Schutz der selten genug ins Bild tretenden Soldaten, und ohne die Gegenwart dieser rauhen Burschen wäre ein so üppiges und, wie mir schien, angenehmes Leben in der Stadt, die von ihren Einwohnern bald Colonia, bald einfacher Ara genannt wurde, kaum möglich gewesen.

Dennoch konnte ich mir selbst nicht verheimlichen, daß mich das Leben in den kleinen philosophischen Zirkeln erheblich mehr anzog. Dies war vor allem darin begründet, daß ich die Nacht liebte. Seit den Anfängen meiner Erinnerung hatte ich selbst im Dunkel gelebt, beschwerlich und wenig komfortabel. Als Kostgänger meiner Mutter war ich von ihren Bewegungen abhängig; sie bot mir, was ich brauchte, aber sie konnte nicht verhindern, daß ich meine Lage im Verlaufe der langen neunmonatigen Höhlenexistenz zu hassen begann. Warum dauerte es so lange, warum entwickelten sich meine Glieder unter so vielen Anstrengungen erst allmählich, während es in meinem Kopf schon viel weitschweifender und großartiger herging? Wie mühsam war es, dem Körper seine Lektionen aufzudrängen, ihn zu beschäftigen, ihm endlich die ersten Fertigkeiten beizubringen! Nach Wochen vollkommener Ruhe hatten sich endlich die Muskeln gelöst, um spontaneren Regungen zu gehorchen, meine Haut speicherte zarte Berührungen, empfand Warmes und Kaltes, mein Mund formte die ersten Laute, meine Ohren richteten sich nach den eindringenden Geräuschen, bis mir endlich auch meine Augen den Dienst nicht länger versagten.

Während all dieser Zeit hatten mein Denken und Sinnen die Oberhand über den zäh sich ausbildenden Körper gewonnen. Im Innern meines Kopfes tat sich Entscheidendes, die Weltgeschichte hatte mich als einen ihrer Bürger und künftigen Gestalter in Beschlag genommen und ohne Verzug damit begonnen, mich zu unterrichten. Sobald ich einschlief, rückten die Traumbilder nahe an mich heran; sie unterhielten und begeisterten mich, sie ließen mich leben, schauen und hoffen. Kaum erwacht, begann die jämmerlichere Seite meines Wachstums. Ich hatte mich zu ernähren, mußte meine inneren Organe anstrengen, um das Ernährte auszuscheiden, hatte den Daumen in den Mund zu stecken, um so anzuzeigen, daß ich für den ersehnten Weiterschlaf gerüstet war. Auf die Dauer ließen sich diese beiden Seiten meiner Existenz kaum noch miteinander vereinbaren: in den Schlafstunden verhandelte ich mit Marcus Agrippa, lauschte auf die Sätze meiner philosophischen Lehrer, in den Stunden des Wachseins, die ich auf ein möglichst beschränktes Maß zurückdrängen wollte, lernte ich, nach Luft zu schnappen und die Finger zu bewegen. Mit der Zeit verabscheute ich die Körperproben und wartete sehnsüchtig darauf, daß der Schlaf mich überfiel.

Im Dunkel zauberten die Traumereignisse mich in ein anderes Reich hinüber, Laternen und Fackeln erschienen, Öllämpchen flammten auf: rechtzeitig war ich zu einem der zu später Stunde stattfindenden Gelage im Haus eines römischen Kaufmanns erschienen, ich löste die Sandalen aus fein gegerbtem und schön gefärbtem Leder, ich stützte den Arm auf die weichen Kissen, man reichte mir eingelegte Fische, Schnecken, gefülltes Geflügel, Sklaven waren bereit, den Wein einzuschenken, und ich bat, ihn, meiner Jugend wegen, mit Wasser zu mischen.

In diesen Kreisen war ich ein aufmerksamer Zuhörer. Ich erlernte die Regeln des philosophischen Gesprächs, ich bemerkte, daß es darauf ankam, den Sprechenden, Denkenden ausreden zu lassen, ihm Zeit genug zuzugestehen, seine Gedanken abzurunden, sie mit gut gelungenen Sentenzen zu schmücken. Vor allem aber begeisterte mich das immer wiederkehrende Thema dieser Unterhaltungen, ein Thema, von dem ich mir selbst noch keine rechte Vorstellung machen konnte. Denn in all diesen Gesprächen ging es zuletzt doch nur um ein einziges, um etwas, das allen das Erhabenste und Bedeutsamste überhaupt zu sein schien: es ging um das, was meist als Glückseligkeit, als Glück, manchmal aber auch einfach nur als Zufriedenheit bezeichnet wurde. Offenbar handelte es sich um einen besonders schwer zu erreichenden Zustand, um ein Gefühl höchster Stimmung, das alle herbeisehnten und das doch nur die wenigsten zu finden wußten. Warum war es so schwierig, diese Glückseligkeit zu erwerben, und was konnte man tun, ihr näher zu kommen?

Jeder hatte eine andere Antwort auf diese entscheidende Frage. Einig war man sich anscheinend nur darin, daß die Wege, die zum Glück führten, äußerst verborgene waren. Mit den Tagesgeschäften hatten sie nichts gemein; diese wurden vielmehr mit großer Geringschätzung behandelt, mit einer Verachtung, die mich mit der Zeit von den Lockungen des Feldherrn Marcus Agrippa immer weiter entfernte. Militär und Verwaltung, Handel und Verkehr – das waren Angelegenheiten, die die Glückseligkeit nicht betrafen: man konnte sie ohne längere Betrachtung und Überlegung beiseite lassen. Die Pfade, die zum Glück führten, waren verschlungene, und sie bildeten ein Reich, das die meisten als Reich der Seele bezeichneten. Diesem Reich mußte man sich in vielerlei Übungen nähern, man mußte es sich erwerben und seine Geheimnisse in geduldiger Anspannung erforschen. Unüberwindliche Kraft, sagte man, wachse denen zu, die diesen Weg gewählt hätten; die Glückseligen seien gegen jederlei Zufall und Kummer gefeit, nur für sie gebe es so etwas wie Dauer und Heimat.

Schien die Erlangung des Glücks für viele meiner Freunde eine Angelegenheit von Geduld und Ausdauer zu sein, so lernte ich allmählich doch auch jene begreifen, die sich dafür aussprachen, die Sache des Glücks entschiedener, fordernder anzugehen. Sie bildeten zwar im Kreise unserer Unterhaltungen eine Minderheit, sie sonderten sich zuweilen ab, doch sie machten auf mich einen starken, nachhaltigen Eindruck. Von den anderen wurden sie mißtrauisch beobachtet; man nannte sie die Orphiker, und ich gab keine Ruhe, bis sie sich meiner annahmen und mich mit ihren geheimen Mysterien bekannt machten.

Die Orphiker versammelten sich in erlesenem, kleinem Kreis; ihre Gelage fanden stets nur in äußerster Abgeschiedenheit statt. Meist traf man sich in einer prachtvollen Villa, deren zentraler Saal einen überaus kostbaren Boden aus Mosaiksteinen besaß, die Szenen des orphischen Lebens vergegenwärtigten. Dabei kreiste alles um die Gestalt eines dem Wein ergebenen Wesens, das sich in auffälliger Zügellosigkeit seinen im Verlaufe der Nacht immer ausschweifender werdenden Gefühlen hingab. Weinbeseelt, ekstatisch bewegte es sich im Kreise der anderen und achtete nicht auf Kleidung und Sitte. Vielmehr zog es die Mitfeiernden durch seine heftige Lebensart immer stärker in seinen Bann. Traf man diese Gestalt zu Beginn des Gelages noch in der Hülle eines sorglos um die Lenden geschlungenen Pantherfelles an, so glitt diese Hülle doch mit zunehmendem Weingenuß immer häufiger von ihm ab, bis sie ihm lästig wurde. Die anderen taten es ihm nach; man trank, tanzte, feierte, man bekränzte sich, während man die Kleider längst abgelegt hatte, mit Weinlaub und Efeu, man musizierte und nährte sich ausschließlich von Früchten und Wein. Schließlich benahmen sich meine Freunde immer fremdartiger; sie bewegten den Körper in heftigen Zuckungen, sie sprachen schneller und wortreicher. So näherte man sich einem Zustand, den die meisten, den Namen ihres Anführers noch respektvoll verwendend, dionysisch nannten. Wie mir schien, hatte man in der dionysischen Lebensart eine besonders handgreifliche Form der Glückseligkeit direkt vor Augen. Denn mit der Zeit steigerten sich Tanz und Musik zu einer Ausgelassenheit, die in den Gesichtern der Beteiligten einen Freudenschimmer hinterließ, der mich selbst, der ich an diesen Festen anfangs nicht wie die anderen teilnehmen konnte, in dem Glauben bestärkte, im orphischen Leben habe die Seele erreicht, wovon meine gesitteteren philosophischen Freunde immer nur mit Worten handelten. So schloß ich mich diesen Kreisen an, ich wurde ein Dionysiker, ein Orphiker, dem die späten Stunden der Nacht die kostbarsten waren; ich lernte, den Rausch als den Zustand höchster Offenbarungen und tumultuöser Innenwelterlebnisse zu schätzen, und ich wußte, daß diese Erlebnisse mir den Zugang zu einer Welt erschlossen, die allen anderen für immer verborgen blieb. Als man auch mich zu den Eingeweihten zählte, ließ man mich an den festlichen Veranstaltungen teilhaben. Ich kostete den Wein, ich bewegte die Füße zum Tanz, und ich erfuhr in den letzten Stunden der Nacht, wie sich meinem Inneren Gesichter und Zeichen aufdrängten, die in der wirklichen Welt keinerlei Entsprechungen hatten.

So lebte ich früh in mehreren Welten. Als Mitglied eines geheimen Bundes wußte ich um die Mysterien, um die Künste, das Fernste und Verborgenste zu erfahren; als philosophischer Disputant schulte ich meine gedanklichen Fähigkeiten, um die Lehren des Diogenes von denen des Sokrates zu unterscheiden, und als Gefährte des Feldherrn Marcus Agrippa unterrichtete ich mich über die nun einmal lebensnotwendigen Geschäfte des Tages, über Schiffsbau und Heeresplanung, die auf mich freilich nicht mehr denselben Reiz ausübten wie früher.

Ich liebte die Nacht; ich liebte die Mysterien, ich liebte die Musik, ich liebte das philosophische Gespräch – waren das nicht Gründe genug, die Tagesereignisse geringzuschätzen und sich dadurch gleichzeitig einem Leben zu entziehen, das kaum andere Freuden für mich bereithielt als Übungen in der Kunst, den Körper in eine andere Lage zu bringen, mit den Händen aufzubegehren, den Daumen mit der Zunge zu umpinseln? Konnte man mir übelnehmen, daß ich keinerlei Anstalten machte, mich auf die bevorstehende Geburt vorzubereiten, daß ich alles der wirkenden Natur überließ, die mit meiner Mutter ein enges Bündnis geschlossen zu haben schien?

Noch immer kamen mir kaum Nachrichten von draußen zu, und obwohl ich den Bewegungen meiner Mutter nachrätselte und sie zu entschlüsseln suchte, konnte ich sie doch nicht verstehen. Warum zum Beispiel verbrachte sie so viele Stunden des Tages stehend und wartend? Unter diesen Wartezeiten schien sie zu leiden, sie seufzte, griff sich an die Hüfte … – und harrte doch anscheinend geduldig aus, bis sich wieder eine Gelegenheit gab, ein kleines Schrittchen zu tun. Wer hielt ihren Weg auf, wer ließ sie so lange warten und stöhnen, bis sie erhielt, was sie brauchte…? Oft überkam mich in solchen Stunden der Zorn, ich verfluchte heimlich die Widersacher, die ihr das Leben schwermachten; denn auch ich mußte darunter leiden. Ich trotzte, indem ich mich abwand, um erneut den Tiefschlaf zu suchen …

Einmal jedoch hatte sich in den regelmäßigen, schlafbefördernden Schlag des mütterlichen Herzens ein anderer, seltsamer Klang gemischt. Ich hätte das Tönen kaum zur Kenntnis genommen, wenn meine Mutter, eben noch im geschwinden Gang, nicht plötzlich haltgemacht hätte; ihr Herz begann rasender zu schlagen, es stürmte, preßte das Blut in Eilschüben durch den Körper, daß ich geschüttelt wurde, wie es mir noch nie geschehen war. Aus weiter Ferne vernahm ich ein immer mächtiger aufbrausendes Läuten, bald stärker, bald schwächer, ein Ding-Dong, Dinge-dong, dessen Lärm meine Mutter in die Knie zu zwingen schien. Denn wahrhaftig hatte sie sich nach kurzem Zögern entschlossen, hinzuknien, ihr Körper wurde heftig geschüttelt und rüttelte mich mit, sie führte die Hände zum Gesicht, ich hörte ihr Schluchzen, ohne begreifen zu können, was dort draußen vor sich ging. Der Klang hatte etwas Festliches, Triumphierendes, war aber andererseits anscheinend geeignet, die Menschen traurig oder nachdenklich zu stimmen. Hartnäckig ließ er mir keine Ruhe: so tat ich den ersten Schrei. Mein Körper krümmte sich zusammen, wurde gepackt, zitterte leicht, mein Mund wurde wie von einer höheren Gewalt aufgerissen, die Lippen wölbten sich nach außen: ich brüllte. Rasch schien meine Mutter begriffen zu haben, wie es um mich stand. Sie erhob sich…, tat wieder einige Schritte…, fuhr mit den Händen beruhigend an ihrem Bauch entlang und atmete tiefer durch; hatte ich ihr geholfen, das Leiden zu überstehen? Und zogen die mächtigen Laute sich nicht allmählich zurück, schwächer werdend …, ausklingend …, bis nichts davon übrig schien als ein mattes Gebimmel?

Mehr zu tun als zu schreien war mir offensichtlich nicht vergönnt. Ich ging sparsam mit dieser Notwehr um, sie diente mir nur in den Augenblicken höchster Gefahr als Mittel, auf meine besondere Lage aufmerksam zu machen. Ich hielt aus, ich wartete, bis die Tage im mütterlichen Leib gezählt waren. Mit der Zeit hatte ich gelernt, mich sicher zu bewegen; alle Glieder taten ihren Dienst, die Lungen pumpten kräftiger denn je, das Herz schlug lebensbereit.

Am Nachmittag eines dunstigen Novemberfreitags – ein wenig später in den Blick geratenes Kalenderblatt zeigte den fünften November an – war es soweit. In der Frühe, kurz nach halbzehn Uhr, hatte es begonnen. Ein Brausen und Ziehen hatte meinen ganzen Leib ergriffen, hatte ihn in Aufregung versetzt, keine Ruhe oder Abschweifung mehr gegönnt; einige Zeit hatte ich mich einer derartigen Gewalt noch zu entziehen gesucht. Ich hatte mich in einen kurzen Schlummer geflüchtet und versucht, mich an meine Traumwelten zu halten. Doch am späten Nachmittag hatte man mich mit allen Kräften ins Leben gezerrt; rasch, befriedigend schnell war es vor sich gegangen. Mein Leib hatte sich in plötzlichen, heftigen Zuckungen dem helleren Ausgang zubewegt, hatte gedrängt, gestoßen, war jedoch noch einige Zeit durch etwas Störendes, Lastendes an der erfolgreichen Geburt gehindert worden. Schließlich war es vollbracht; nur mein Kopf hatte sich länger widersetzt. In den langen Monaten des Eingesperrtseins hatte er beinahe meine ganze Unterhaltung bestritten. Konnte ich ihm verdenken, daß er sich lieber noch länger im Dunkel des Mutterleibes aufgehalten hätte, konnte ich ihm jetzt Vorwürfe machen, als er auf jene Tageshelligkeit traf, die ihm so sehr zuwider war? Schon wenige Minuten nach meiner Geburt war er der alleinige Gegenstand der Bewunderung.

Es war ein Kopf, der alles übertraf, was man von Köpfen gewohnt war, ein Turmschädel, ein Globus, ein Ministerkopf. Lange und erfolgreich hatte die Natur gebrütet, dieses Wunderwerk zu schaffen, das wie kein anderes Werkzeug der zweiseitig-symmetrischen Menschennatur zur Orientierung dient. Beherbergt er nicht die meisten Sinnesorgane, hatte man nicht die Geschichte der menschlichen Entwicklung als eine Geschichte des wachsenden Gehirnvolumens geschrieben, als Geschichte einer sich über die Jahrtausende hin vergrößernden Masse, die  – vom Schimpansen über den Australopithecus und den Homo erectus  – bis hinauf zum Homo sapiens führte? Zweifellos hatte die Natur in der Gestalt meines Kopfes dieser langen geschichtlichen Entwicklung die Krone aufgesetzt. Es war, wie ich schon früh ahnte und später bestätigt erhielt, der Kopf eines Genies.

Das Genie – schrieb der ebenfalls zu dieser bevorzugten Menschenklasse gehörende Immanuel Kant in einer kleinen Schrift (nicht ahnend, wie sehr sich seine Erkenntnisse einmal durch meine Kopfexistenz bewahrheiten würden) – das Genie gefalle sich in seinem kühnen Schwunge, es habe den Faden, woran die Vernunft sonst so griesgrämig hänge, abgestreift, es bezaubere durch seine Machtansprüche und durch große Erwartungen, es scheine sich selbst auf den Thron gesetzt zu haben, den die schwerfällige Vernunft so schlecht ziere, als Günstling der gütigen Natur sei es erleuchtet. Soweit – so richtig. Von Anfang an setzte ich ja alle Mühen daran, meinen Thron zu behaupten, meine Machtansprüche durchzusetzen, in mich gesetzte Erwartungen zu erfüllen.

Doch fügte mir meine Unfähigkeit, das Rätsel des fremden, in meiner Gegenwart schon wenige Tage nach meiner Geburt so gründlich und beinahe spöttisch wiederholten Namens (Adenauer ) zu ergründen, den ersten heftigen Schmerz zu. Ich ahnte bereits, daß diese Unfähigkeit nicht allein meiner Natur zuzuschreiben war; vielmehr schien deren zielsicheres Wirken über jeden Zweifel erhaben. So begann ich bald, die Geheimnisse meiner Geburt noch aufmerksamer zu studieren, und die weiteren Beobachtungen führten mich auf eine fatale, befremdliche Spur. Erst als das Gezischel meiner Umgebung mich veranlaßt hatte, nach rechts und links zu äugen, erhielt ich größere Klarheit. Mein Innerstes wurde um und um gewühlt, ich traute meinen kleinen, seltsam verklebten Augen noch kaum, sah nur ein schwaches Schimmern, ein Zappeln und Prusten ganz in meiner Nähe: Ich war nicht allein, ein anderer teilte das Säuglingsgestell mit mir.

Schon bevor ich ausreichend Gelegenheit erhalten hatte, mich darauf einzustellen und mein auf die Probe gestelltes Selbstbewußtsein zu beweisen, quäkte der Erstgeborene neben mir, schrie diese unheimliche Vorgeburt, dieser Frohsinnshans,dieser Maulheld und Sittenverdreher. Wenige Minuten meiner Unachtsamkeit hatte er offensichtlich genutzt, sich vor mir in die Welt zu drängen; schlau und listig hatte er sich aus der günstigen Kopflage in den befreienden Spalt geschoben, während die Ärzte bei meiner Zutageförderung wesentlich schwerere Anstrengungen hatten unternehmen müssen. Niemand hatte mit Zwillingen gerechnet, ich selbst am wenigsten.

So äugte ich mißtrauisch, etwa eine halbe Stunde nach dem schmächtigeren Bruder zur Welt gekommen, zu ihm, dem Eiligeren, hinüber. Hätte ich von dem Unglück vorzeitiger geahnt, wäre ich früher aus meinen vielfältigen Träumen zur Besinnung gekommen, um zu erfassen, was meine Geburt so behinderte und verzögerte, hätte ich mich wohl kräftig zur Wehr gesetzt, hätte um mich geschlagen, den Weg ins Freie begehrt, hätte wie Jakob den früher entschlüpfenden Esau vielleicht noch an der Ferse zu packen bekommen, um ihn zu halten und zu strafen. Allein: mir war entgangen, daß ich schon so früh gezwungen war, den Kampf ums Dasein aufzunehmen. Ich hatte den rechten Zeitpunkt der Gegenwehr verträumt, hatte länger als der andere im Schlummer gelegen, mich in den fernsten Gedanken gewiegt, einen längeren Verbleib im Mutterleib dem hellen Tageslichtdasein vorgezogen.

Von solcher Feinheit waren meines Bruders Gedanken und Empfindungen nicht. Er hatte sich durchgesetzt, er hatte den ersten Kampf ganz zu seinen Gunsten entschieden; nun bemerkte auch ich es, denn er beschrie seine Erstgeburt aus Leibeskräften, er dröhnte, spuckte und röhrte, er ließ nicht zu, daß auch ich einmal zum Tönen kam und die ersten Laute in meiner Gurgel fand. Unfein, übertrieben, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehend, bekiekste und begluckerte er seinen schmählichen Sieg; er lockte die Krankenschwestern, kaum daß sie sich von ihm abgewendet hatten, wieder heran, er ließ sich an den kleinen, in die Höhe gestreckten Beinchen fassen, nieste, wie es gefordert wurde, krümmte den krebsroten Kindsleib, dieses stinkende Ungeheuer, diese Frucht einer für mich noch unerklärlichen Zeugung. Was – fragte ich mich empört, auf den Anlaß meiner Beobachtungen zurückkommend – was hatte Adenauer mir angetan, indem er mich mit diesem Rauling verkoppelt hatte? Und wer war dieser ferne Magus, dem ich meine Benachteiligung vielleicht zu verdanken hatte?

Ich tat mich schwer. Denn von Anfang an hatte mein Bruder zu der Tageswelt ein gutes Verhältnis; er forderte von seiner Umgebung alle Beachtung, und man schenkte sie ihm reichlich. Man sprang um ihn herum, man tätschelte und koste ihn – und er wälzte den unappetitlich nährmoosigen Körper in unserem gemeinsam bewohnten Gestell hin und her. Er erbrach sich, er hielt das Schnupfen, Rülpsen und Aufbauern kunstvoll zurück, er gierte um Sympathie, er gluckerte wie ein Erbsenprinz plötzlich und unerwartet fröhlich. Was blieb mir da? Was hatte ich zu erwarten und was zu befürchten?

Ich strengte mich nicht an zu gefallen; ich verachtete die üblichen Neckereien, die die Erwachsenen ohne bessere Gründe mit Säuglingen treiben, ich zog mich ganz auf mein Inneres zurück. Angestrengt dachte ich nach, kombinierte, verknüpfte. Trieb mein Bruder es bunt genug, zerrte er durch sein Schreien, Brüllen und Prusten das laufende Volk der Pflegerinnen hinter seinen albernen Faxen her, so gab ich der Welt zum Erstaunen mein Bestes und vorläufig Einziges: diesen großen Kopf, diesen Guckindiewelt und sein altersweises, beinahe chinesisch gebändigtes Gesicht, ein Visionengesicht, umflort von auffälliger Undurchdringlichkeit. Doch gerade diese Einfachheit meines Ausdrucks wurde wenig geschätzt. Man deutete mißtrauisch auf mich, man blickte lächelnd hinüber zu dem Schreihals, der sich um so dreister betrug. In meiner Nähe tuschelte man leise und unverständlich, während man in Gegenwart meines Bruders kicherte und quietschte. Man zog die Stirn in Sorgenfalten und krittelte lange an mir herum, bis man sich entschloß, mich aus dem Bett zu zerren und mir eins von hinten zu geben. Man klopfte, erst vorsichtig, dann verhalten, schließlich kräftiger, man rüttelte an meinem jungen, gepflegten Körper, man wollte ihm mit allen Mitteln roher Gewalt einige Laute entlocken, etwas von diesem mir nur zu bekannten und verhaßten Geplärre, das ich um so entschlossener verweigerte. Ich blieb stumm, unbeteiligt, sollte man mich ruhig züchtigen und strafen. Manchmal mußte das Genie wohl auch zum Märtyrer werden, fest stand, daß es sich seinen Thron um keinen Preis nehmen ließ, es gab – so hatte es Immanuel, der ebenfalls Einsame, viel Bespöttelte festgehalten – der Kunst die Regel, nicht umgekehrt; jeglichem Nachahmungsgeist war das Genie gänzlich entgegengesetzt.

Endlich sah man sich genötigt, den Sieg meines triumphierenden, selbständigen Geistes anzuerkennen; man bettete mich erneut, deckte mich zu, und ich zeigte diesen Gewohnheitskreaturen und Allerweltskrämern, wie leicht es mir fiel, aus eigenen Kräften einzuschlafen.

Adenauer?! Selbst im Traum blieb ich bei Adenauer. Alle Visionen und Überlegungen führten mich zu diesem Namen zurück. Langsam trennte ich die ineinander verhakten Träume und Gesichte auseinander und begann, das ungeheure Innere meines Felsenschädels zu durchleuchten. Den ersten Wink verdankte ich Marcus Agrippa; er habe, teilte er mir bei einem Rundgang um die Festungsanlagen der Stadt mit, über Adenauer nichts in Erfahrung bringen können. Der Name deute überhaupt auf nichts Südliches, Römisches, eher auf eine Folge germanischer Urlaute, deren Sinn sich jedoch gerade ihm, dem allem Germanischen nicht gerade wohlgesonnenen Feldherrn, schlecht erschließe. Was andererseits mein Zwillingsdasein anbelange, so gebe es dafür mancherlei Erklärungen und keine könne beanspruchen, die einzig richtige zu sein. So hätten gebildete Völker wie etwa die griechischen – in der Doppelgeburt das Wirken eines hohen Gottes erkannt; nach ihrem Glauben habe Zeus mit Leda die springlebendigen strahlenden Brüder Castor und Pollux gezeugt. Primitivere Stämme dagegen hätten das verdoppelte Wesen ganz anders verstanden. Sie nämlich hätten die Schuld an diesem Unwesen der Natur der Untreue der gebärenden Mutter zugeschrieben und – wenig aufgeklärt – geargwöhnt, die Mutter habe es mit zwei verschiedenen, ungleichen Männern versucht, woraus dann eine schöne und eine häßliche Frucht hervorgegangen, wovon nur eine am Leben zu lassen sei. Was nun den germanischen Glauben betreffe, so treffe man dort auf die Erzählung von Baldur und Hödur; deren Geschichte freilich könne mich nicht gleichgültig lassen, sei doch der von der Natur verwöhnte Baldur von seinem hinterlistigen Bruder erschlagen worden.

Auch meine philosophischen Freunde konnten mich kaum beruhigen; im Lager der Zwillinge, hielten sie fest, gehe es um das Gute und das Böse. Zwei Elemente des Lebens ständen sich hier in kaum zu trennender und eben doch getrennter Einheit gegenüber. Nie wisse der eine, was er vom anderen zu erwarten habe, und ein Leben lang setze sich dieser Kampf fort, ein Kampf, der sich ebenso zur Freundschaft und liebenden Anhänglichkeit wie auch zur dauernden Feindschaft hin entwikkeln könne.

Am entschiedensten aber äußerten sich meine orphischen Bundesgenossen. Ohne lange zu zögern, erklärten sie den Silbenklang des Namens Adenauer für ein orphisch verschlüsseltes, wahrscheinlich aus dem Asiatischen kommendes Rätsel, dessen Lösung nur den Eingeweihten möglich sei. Sie versprachen, alles zu tun, was in ihren Kräften stand, und baten mich, Augen und Ohren offen zu halten, um mehr über diesen geheimnisvollen Namen in Erfahrung zu bringen.

So hielt ich die mir hilfreichen Traumbilder auf, so konzentrierte ich mich ganz darauf, was über Väter und Verwandte, was über göttliche Wesen und etwa beabsichtigte Kindstötungen zu ermitteln war. Mein Bruder jedoch schien den Ernst unserer Lage nicht zu begreifen. Er war der Visionen und Träume unkundig; siegessicher beschränkte der Gnom sich darauf, seine zappelnde Existenz unter Beweis zu stellen, als wäre damit schon alles getan. Nichts war getan, man mußte forschen, in den Mienen der verdutzten Betrachter lesen, die aufgeregt um uns herumeilenden Krankenschwestern belauschen, alles einbeziehen, was größere Klarheit bringen konnte.

Daher blieb ich bei Adenauer. Seinen Kopf also sollte ich, wie mein Onkel geflüstert hatte, geerbt haben, den Kopf des Alten; meine Vermutungen führten mich weit herum. Wenn von ihm als dem Kopf des Alten die Rede war, so konnte damit wohl eine etwas respektlose Redensart gemeint sein, die meinen Vater bezeichnete. War Adenauer also mein Vater? Aber warum zeigte dieser Erzeuger sich nicht, warum trat er nicht herbei und erfreute sich am Ebenkopfmaß seiner Zweitgeburt?

Andererseits erinnerte mich der Hinweis des Marcus Agrippa, daß die geistig helleren Völker der Geschichte die Geburt von Zwillingen auf die Einwirkung eines göttlichen Wesens zurückgeführt hatten, daran, daß Adenauer auch der Name eines solchen Gottes und Übervaters, eines fernen, in anderen Regionen und Bereichen thronenden Wesens sein konnte. Da man von ihm auch wahrhaftig wie von einem Gotte sprach, da man nirgends zu erkennen gab, er könne in diesem einfachen Krankenhaussaal auftauchen, um mich zu begrüßen und zu bestaunen, hielt ich lange an dieser Version fest.

Neue Nahrung erhielt diese Vermutung, als ich den Sätzen einer in hohem Alter stehenden mütterlichen Oberin entnahm, die Geburt so wohl geratener Zwillinge in diesen endlich wieder friedlichen Zeiten habe man einzig Adenauer zu verdanken; sie selbst, die Schwester Oberin, habe ihn noch gut aus der Zeit in Erinnerung, als er der Oberbürgermeister der Stadt gewesen sei, wo er vieles wiederaufgerichtet, wo er den Notleidenden geholfen und die Kriegsarmut überwunden habe. Daher dachte ich nach diesen eindringlichen Worten, daß Adenauer ein Wesen sein müsse, das über den klein genug geratenen Köpfen der anderen throne und herrsche, ein Wesen, das nur in den höheren, göttlichen Kreisen verkehrte. Dieser Wertschätzung mochte die ehrfurchtsvolle Haltung entsprechen, in der die lobenswerte Schwester Oberin von ihm sprach, das Durchstemmen der Beine, das Zusammenfalten der ans Beten gewöhnten Hände, eine Frömmigkeit, die mir durchaus behagte, redete sie mir doch ein, der legitime Sohn und Erbe eines gewaltig wirkenden Gottes zu sein, den seine Untertanen als Herrscher anerkannten.

Weiteren Aufschluß über die komplizierten Hintergründe meiner Vermutungen erhielt ich, als sich zwei meiner Onkel in unserem Beisein am Kindsbett unterhielten. Einer der beiden mochte in den dunklen Bereichen seiner Empfindungen etwas von meinen ungewissen Erwägungen mitbekommen haben; vielleicht aus dem Gefühl heraus, mich belehren zu müssen, vielleicht aber auch durch einen leichtfertigen Hang zum Spielerischen angestachelt, hielt er mir lachend wie einen Spiegel das Titelblatt eines Magazins vor die Augen, schneuzte sich in sein Taschentuch und rief beinahe übermütig aus: »So siehst Du aus, wahrhaftig, so siehste aus!«

Was hatte ich davon zu halten? Deutlich genug erkannte ich das strenge, um die Augen etwas schwermütige Gesicht eines bereits älteren Herrn, dessen Kopf, durch einen Strohhut gegen die anfallenden Sonnenstrahlen geschützt, sich über mich beugte. So sah ich aus? Zugegeben – das Antlitz dieses Menschen strahlte eine fremde, beinahe orphisch-asiatische Heiterkeit aus; andererseits deuteten der offene Kragen des Hemdes, die leichte Bekleidung sowie der mir nicht aus den Augen geratende Hut eher auf einen bejahrten Gartenfreund als auf den Herrscher eines mir noch unbekannten fernen Reiches hin. Verworrener aber wurde die Lage noch, als meine Onkel sich über die Sprossen unseres Bettes hinweg zuriefen, was ihnen beim Anblick dieses Bildes selbst in Erinnerung zu kommen schien. Schon früher – führte der eine, mit schlechter Atemluft Gestrafte aus – habe man Adenauer den heimlichen König der Gegenwart genannt, und ähnlich wie damals habe er auch jetzt als Präsident des Parlamentarischen Rates die Geschicke auf geheime Weise so in der Hand, daß man sich nicht wundern dürfe, wenn er in zukünftigen Zeiten einmal die höchste Stelle im neu sich bildenden Staate, von dem man freilich noch nicht wisse, wie er aussehen werde, einnehme. Ihm, Adenauer, traue er alles zu; zwar komme er mit Rechen und Gießkanne noch bieder genug daher, doch verberge sich in seinem unergründlichen Lächeln bereits die Schlauheit des Fuchses, der besser als alle anderen wisse, wie man es anzugehen habe. Gerade jetzt sei der lange verschollen Geglaubte wieder auf den Plan getreten, gerade jetzt, wo es darauf ankomme, den feindlichen Besatzern die Stirn zu bieten, das politische Leben neu zu gestalten, die Führung des Landes in die Hand zu nehmen. Schon daß er es geschafft habe, sich so lange im Verborgenen zu halten, sei ein Meisterstück, das ihm keiner nachmache, habe er sich doch in einem Kloster versteckt, unter befreundeten Mönchen vielleicht die Kutte übergeworfen, um allen Nachstellungen zu entgehen. Rosen habe er jahrelang gepflanzt, seinen Garten gepflegt, ein Haus oberhalb des Rheins gebaut, von dem aus man einen weiten Blick auf die Rheinebene werfen könne. Da throne er nun wie ein Fürst, nein wie der stolze Herzog vergangener Zeiten; nicht umsonst hätten ihm die Kölner einmal diesen Beinamen verliehen.

An Adenauers diplomatisches Geschick – höhnte der andere Onkel – glaube er gern; andererseits handle es sich doch um einen Menschen mit durchaus beschränktem Gesichtskreis. Was habe der in den vergangenen Jahren denn anderes zu Gesicht bekommen als seine Blumen und den still fließenden Rhein unterhalb seines Hauses? Schon früher habe er gerade nach dem Westen geschielt, nichts anderes sei ihm in den Blick gekommen; so einer habe den anderen Teil längst abgeschrieben, so einer sei nicht auf Wiedervereinigung aus.

Die Wiedervereinigung – entgegnete rechthaberisch der starke Raucher und Verunreiniger unserer Kinderatemwege – werde in künftigen Zeiten kommen; man werde sehen: dann werde gerade Adenauer mit den alliierten Hohen Kommissaren über die beiden Teile verhandeln. So, wie es jetzt sei, könne es doch nicht bleiben: der eine Teil hier, westlich und friedliebend, der andere dort, östlich und wenig friedfertig. Wer wisse schon, was man von der anderen, in Drohgebärden sich zeigenden Seite zu befürchten habe? Das Gute und das Böse lägen jetzt dicht beieinander, stünden sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, man dürfe der angriffssüchtigen, scheinheiligen Seite nicht vertrauen …

Aufmerksam hatte ich diesem Disput gelauscht, jedes Wort abgewogen und zu verstehen versucht; doch verhinderte das Quäken meines Bruders alle weitere Unterrichtung. Der Dummdreiste setzte sich durch, irritiert zogen die Onkel sich von uns zurück und ließen mich mit meinen Visionen und Gedanken allein. Die Lage war verworren, anscheinend war sie noch nie so ernst gewesen. Auch Marcus Agrippa, bei dem ich mir Rat holte, wußte mich nicht zu belehren; offensichtlich  – führte er aus – sei das Land von fremden Truppen besetzt. Er, Marcus Agrippa, habe bereits den Verdacht geäußert, daß es sich bei Adenauer um einen germanischen Stammesfürsten handle, der den Kampf seines unterjochten Volkes aus dem Untergrund heraus betreibe; andererseits habe er noch nie davon gehört, daß es Germanen gefalle, Rosen anzubauen und ihren Garten zu bestellen. Derartige Handlungen stünden eher den Römern zu, doch könne er versichern, daß an diesem Namen nichts Römisches zu entdecken sei. Fest stehe jedenfalls, daß das Land sich in einem ungewissen Zustand befinde; anscheinend fehle es doch an allen lebensnotwendigen Behörden, gehe es drunter und drüber, sei man sich nicht einmal einig, wen man an die Spitze wählen wolle, ja herrsche selbst Unfrieden darüber, wie die politische Führung einmal zu gestalten sei; er, Marcus Agrippa, habe Erfahrung genug, wie man solche Notlagen meistere; ob aber gerade Adenauer, dieser aus Klöstern und Gärten auf geheimnisvolle Weise ins öffentliche Licht Zurückgekehrte, darum wisse, könne man mit Fug und Recht bezweifeln. Beneiden könne man mich um meine Zukunft nicht, die weltgeschichtliche Lage zur Stunde meiner Geburt habe etwas geradezu Katastrophales, er müsse bis in die dunkelsten Stunden der römischen Geschichte, beinahe bis zu den Anfängen zurückdenken, um sich an Vergleichbares zu erinnern.

Diesen staatsmännischen Worten konnte ich wenig hinzufügen. Doch ließ mich das Gespräch meiner Onkel nicht los. Ohne Zweifel: sie hatten von mir und dem Bruder gesprochen. Das Gute, das Böse; der eine, der andere Teil – und über all diesen Kämpfen verhandelte, thronte und herrschte der Alte. Fremde Götter und Völker mochten sich vielleicht unerlaubt in unseren schwierigen Geburtsfall eingeschaltet haben. Adenauer würde unsere Freiheit, die ich vor allem als meine eigene Freiheit verstand, verteidigen. Denn soviel stand immerhin fest: Mit diesem aufdringlich schreienden, sich so unanständig vorlaut und kindsköpfisch betragenden Bruder wollte ich unter keinen Umständen wiedervereinigt werden. Das Gute sollte vom Bösen getrennt, der Thronerbe sollte erhalten bleiben. Mochte Adenauer, der Gott unserer Spaltung, die mir widerlich erscheinenden Drohgebärden an der mittleren Grenze unseres Kinderbettes nur zur Kenntnis nehmen! Mochte er die scheinheilig geführte Angriffsschlacht des Grobschlächtigen gegen die weise Zurückhaltung des Klügeren nur betrachten! Den Finger mochte er aus seinem göttlichen, hoch über den Rheinebenen gelegenen Terrain auf dieses Unwesen richten, damit man uns auch in Zukunft auseinanderhielt, den einen für immer vom anderen schied.

Ich war stolz. Im Himmel der göttlichen-fernen Verhandler wurde soeben über unser Schicksal entschieden. Adenauer hatte sich bereit erklärt, es in die Hand zu nehmen; er mochte mit mir, dem Kopflastigen, zufrieden sein. So beschäftigt war er, so ausgefüllt war seine Zeit, daß er mich nicht einmal besuchen konnte! Doch verzieh ich es ihm gern. Sorgte er sich nicht statt dessen ununterbrochen um mich, trachtete er nicht vor allem danach, mir den Weg zu ebnen und meinen ewigen Frieden zu sichern?

Ich kuschelte mich in meine Decken, ich schlummerte ein, und im naherückenden Traum sah ich sein durchfurchtes, altersentrücktes Gesicht, die breitgezogene Stirn, den ungeheuer gestreckten Hinterkopf. Nachdenklich durchstreifte er seinen hoch gelegenen Garten, lächelte vor sich hin, richtete die Pflanzen. Ich hatte eine zaghafte Verbindung zu ihm aufgenommen, träumend folgte ich seinen Schritten und Taten …

2

Das Kölner Ereignis

Nach Abzug der Verwandten, deren Unterhaltungen mir wenigstens Stoff für meine tastenden Gedanken geliefert hatten, begannen die gleichförmigen, kaum erträglichen Krankenhaustage, deren Geschehen mein Bruder, ohne auf mich Rücksicht zu nehmen, beinahe allein diktierte. In tiefster Nacht – ich selbst lag noch sinnend still und ging den Ereignissen des Tages nach – begann er zu schreien. Von einem Moment auf den anderen war er hellwach; er riß die Augen auf, warf den Kopf unwirsch zur Seite, polterte mit den Händen und verlangte nach Nahrung. Anfangs hatte ich dieses unwürdige Spektakel selbst mit einigem Interesse beobachtet, hoffte ich doch, in solchen Augenblicken einen längeren Blick auf die Mutter werfen zu können. Viel zu kurz hatte ich sie in den ersten Tagen nach meiner Geburt gesehen. Sie erschien entkräftet, ihre Augen glänzten fiebrig; abgespannt und schwach hatte sie uns eher mit sorgenvoller als mit freudiger Miene betrachtet. Ich verstand sie gut. Wahrscheinlich wäre es ihr lieber gewesen, wenn sie nur mit mir zu tun gehabt hätte. Sie stahl sich heimlich, nur für wenige Minuten in unser Zimmer, schaute sich ängstlich um und hatte in mir ihren ersten Halt. Denn ich wachte. Tagaus, tagein spannte ich mich auf diese kurzen Zeiten, in denen ich ihr Fühlen zu verstehen und zu erforschen suchte. Aufmerksam öffnete ich die Augen, zwinkerte ihr zu, versuchte, sie in erste Spiele zu ziehen. Freute sie sich? Erkannte sie, welche Mühe ich mir gab, ihr zu gefallen?

Ich hatte Grund, daran zu zweifeln. Ihr Blick war unsicher, nur wie ein Schemen tauchte sie auf; sie sprach kaum, flüsterte nur, rückte unsere Decken zurecht und verschwand, indem sie die Tür des Säuglingszimmers leise hinter sich zuzog.

So war sie auch in der Nacht nicht zu erreichen. Meinen Bruder schien das wenig zu beirren. Kaum erschienen die übermüdeten Pflegerinnen, verstärkte er das Gebrüll; aufwendig kreuzte er mit den Armen in der Luft, speichelte Mund und Nase ein, raffte die Flasche zu sich heran und saugte, als gelte es das Leben. Er schmatzte auf, fand die begehrte, leicht süßliche Öffnung wieder, fingerte einen Augenblick an ihr herum, schloß süchtig die Augen und kostete weiter von dem klebrigen Brei. Allmählich wurde er matter, der kleine Kopf nickte nach hinten, langsam schlief er ein.

Das Jenseits der Träume kannte andere Vergnügen. Köln, hieß es da, sei als schönste Stadt bekannt, die es je gab im deutschen Land. Ich glaubte es gern, hatte doch selbst Petrarca mir gegenüber die Schönheit der Stadt in prunkenden Worten gerühmt; quanta civilitas in terra barbarica hatte er ausgerufen, um mir meine übelsten Befürchtungen zu nehmen. Vor allem die Frauen der Stadt hatten Petrarcas Gefallen gefunden; er forderte, man müsse sie porträtieren, um solchen Anblick der Nachwelt zu erhalten. Nicht einmal in Italien finde man ein so schmuckes Benehmen, solche Grazie. Dii boni! – war es ihm entfahren, als er einer größeren Schar am Ufer des Rheins begegnet war; er mischte sich unter sie, begleitete sie ein wenig des Weges, fragte nach den Blumen, mit denen sie sich geschmückt, und stand am Ufer, als sie Hände und Arme im Strom wuschen. Hätte ich einem Mann mißtrauen sollen, den die Römer zu ihrem Ehrenbürger gemacht hatten, einem Poeten, der auf dem kapitolinischen Hügel den Lorbeer empfangen, der in Ferrara, Mantua, Parma, Mailand wie Venedig zu den herausragenden Geistern seiner Zeit gezählt hatte? Hätte ich Argwohn empfinden sollen, als er von meinen philosophischen Freunden mit offener Sympathie empfangen und – seiner scharf urteilenden Gespräche über die Weltverachtung wegen – laut und lange gelobt wurde, um später, als er von der verderblichen Unwissenheit der Menschen sprach, selbst unter den Orphikern Zustimmung und Beifall zu finden? Ich genoß die festlichen Tage in seiner Begleitung, wenn ich auch viele seiner Reden und manche seiner Gedichte nicht verstand. Es galt weniger zu lernen als zu schauen; die Träume eröffneten mir das Reich der Ahnen, in dem die Gesetze des irdisch-gegenwärtigen Lebens nicht galten. Hielt man sich dort an die Stunden des Grießbreis, teilte man nach Sekunden und Minuten aus, so galt die Zeit in der träumerischen Ferne des Jenseits, die mich mit reichen Eindrücken versorgte, nichts. Niemand wurde nach Stunde und Tag gefragt; jeder hatte in diesem Reich dasselbe Bürgerrecht.

Petrarca hatte sich nur für kurze Zeit in Köln aufgehalten, und auch jener einzige Piccolomini, den manche bereits als Papst Pius II. begrüßten, verschwand bald wieder aus meinen Blicken, nicht ohne mir nachgerufen zu haben, wo ich denn in ganz Europa eine prachtvollere Stadt finden wolle als das durch die Heiligen Drei Könige verschönerte Köln, mit seinen glänzenden Kirchen, Türmen und mit Blei gedeckten Häusern, seinen reichen Einwohnern, seinem schönen Strom und seinen fruchtbaren Gefilden? Mußte ich daher nicht glauben, künftiger Bürger einer Stadt zu sein, mit der es kaum eine andere aufnehmen konnte?

Diesem Glauben verfiel ich. Weckte man uns auch in der Frühe – nicht einmal der erste Sonnenstrahl hatte das Zimmer durchstreift –, ich ließ es nach solchen Träumen meist willig geschehen. Ich fiel, wie ich es gerne nannte, aus allen Wolken, während mein erdenschwerer Bruder sich tapsig aus seinen Decken herauswühlte. Nichts ahnte der Kleine! Triefäugig sammelte er seine Kräfte, um sein kleines Flaschenglück erneut zu genießen! Wie ärmlich mochten seine Säuglingsträume aussehen, in denen sich Lavaströme von Grießbrei in unserem Zimmer türmten, bestäubt vielleicht von einer dünnen Schicht von Kinderpuder und weich getunktem Zwieback. Viermal am Tag verrichtete er seine Notdurft, stank durch und durch, daß es einen erbarmen konnte. Ich nahm zu mir, was ich brauchte, und was man an Überflüssigem in mich hineinstopfte, gab ich voller Zorn zurück. Konnte man meiner Gedanken und Stimmungen schon nicht habhaft werden, so sollte die Natur für mich Zeugnis ablegen und andeuten, wie es um mich stand.

Manchmal jedoch wurde die Tageszeit mir lang, und ich erinnerte mich der unbeschwerten Zeiten, die ich im Mutterleib zugebracht hatte. Kein Bruder hatte mich dort gestört, die primitiven Vorgänge der Nahrungsaufnahme und Nahrungsausscheidung hatten sich von selbst ergeben. Eine gewisse Sehnsucht ließ mich daher oft daran denken, ein nicht unbedeutender Teil meines Inneren sei in dieser mütterlichen Höhle verblieben, wo er, ganz den Träumen und ihren Gesetzen unterworfen, in Frieden lebe. Wie aber war ich überhaupt in diese Höhle gelangt? Hatte die Mutter allein es zustandegebracht? Aber wie? Woraus war ich geworden? Aus einem Stück Fleisch, das sie versehentlich verschluckt hatte? Aus einem Brei, von dem sie Berge gelöffelt? Und was hatte mein noch unsichtbarer Vater damit zu tun?

Daß sein Name und sein Aussehn noch immer nicht feststanden, beunruhigte mich. Doch hoffte ich Gewißheit zu erhalten, sobald wir das Säuglingszimmer verlassen hatten. Vorerst freute mich der Gedanke, in einer so prachtvollen und nach allen Zeugnissen wohl außergewöhnlichen Stadt geboren worden zu sein. So entwarf ich ihr Bild als das eines himmlischen Jerusalems, dessen goldbedachte Turmwarten in der Sonne glänzten. In der Nähe des Rheins drängten sich Gruppen von Händlern und Packträgern, ein großes Floß mit Hunderten von Ruderern trieb gerade vorbei; die Männer am Ufer trugen Jacken und Hosen aus feinem Baumwollsamt, die silbernen Schnallen der Schuhe blinkten, wenn sie zum Spiel ihre Taler warfen. Nicht weit davon kontrollierten Zollbeamte die Waren, während sich ein paar Fuhrleute um die nächste Ladung stritten. Etwas weiter entfernt hatten holländische Schiffe festgemacht, stattliche Fahrzeuge mit schlanken, hohen Masten und über Deck gebauten weiträumigen Kajüten. Fische, Käse und Spirituosen wurden ausgeladen. Durch mehr als dreißig Tore konnte man in das Innere der Stadt gelangen; Könige hatten auf diese Weise ihren Einzug gehalten, und ich wollte ihnen nicht nachstehen. Zwischen Hütten taten sich die Eingänge zu den Weingärten und Gemüsefeldern auf, ich ließ sie hinter mir und erreichte die in der Rheingasse gelegenen Edelhöfe der stolzen, jahrhundertealten Geschlechter, die Zunfthäuser, schließlich die kaum noch überschaubaren Kirchen, deren hochaufragende Bauten jeden Fremden für immer überraschten. Darunter der Dom. Dicht an seinen aufstrebenden Bau drängten sich die Hütten der Verkäufer, wo mit Rosenkränzen und Heiligenbildern gehandelt wurde; daneben die Wohnungen der Domherren und die des Bischofs selbst. Bettelfrauen umlagerten die Pforten der Häuser, vierspännige Equipagen rasselten über das Pflaster, Bänkelsänger drängten zum Markt, und englische Reiter in bunten Kostümen zogen an den kleinen Menagerie-Buden entlang. Eben läutete die Mittagsglocke, und in manchen Häusern betete man das Ave …, als die Tür unseres Säuglingszimmers sich öffnete und der diensttuende Oberarzt zur Visite eintrat.

Wir wurden aus den Betten gehoben und vorgezeigt. Mein Bruder schlief wie üblich; ich schaute ruhig vor mich hin, konnte ich doch vor dem Blick des weiß gekeideten, freundlichen Mannes gut bestehen. Man zeigte auf mich: einen wie mich habe man bisher noch nicht erlebt. Niemand begreife, was in diesem Kind vorgehe; kaum daß es dazu gebracht werden könne, eine Miene zu verziehen. Kein Schreien, kein Weinen, kein Brüllen. Auffällig, daß es so viele Stunden wach liege, daß es – anders als die anderen – mit seinen Blicken den Bewegungen der Schwestern folge; ungezählte Male habe es Anstalten gemacht, die Nahrung zu verweigern. Zwar nehme es zuletzt dann doch etwas zu sich, doch sei die Menge nicht der Rede wert. Ein Sonderfall.

Den gut gestimmten Arzt wunderte es nicht. Knapp ging er über die Klagelieder hinweg; am besten, man sorge dafür, daß die Mutter mit ihren zwei Sprößlingen möglichst bald das Krankenhaus verlasse. Dann werde man weiter sehen.

Gut gelaunt, quittierte ich seine klugen Worte mit einem Gähnen. Sollten sie sehen, wie mich diese Versorgungsanstalt langweilte, sollten sie nur zur Kenntnis nehmen, daß ich bereit war, das himmlische Jerusalem für mich zu erobern! Warum zögerte man? Wollte man warten, bis mein Bruder sich durch seinen Grießbreiberg hindurchgefressen hatte? Schonte man meine Mutter, die sich noch immer nur spärlich und beinahe verschämt zeigte?

Nach zwei weiteren Tagen kummervollen Wartens wurde ich von allen Überlegungen erlöst. Zum letzten Mal öffnete sich die Tür, die Mutter stand in einem dunklen Mantel vor uns. Wir wurden umgezogen, ein Kinderwagen stand bereit. Da jedoch der Platz nicht reichte, uns beide in diesem schmalen Gefährt unterzubringen, bettete man uns so, daß mein Kopf neben den zappelnden Füßen des Bruders zu liegen kam, während er, zum ersten Mal ein wenig aufmerksamer und gespannter, seinen flachen Schädel eng an meine Füße preßte, als habe er so ein geeignetes Ruhekissen gefunden. Wir wurden verabschiedet; begleitet von den guten Wünschen der Schwestern, verließen wir das Krankenhaus. Die ersten Wochen lagen hinter uns, erregt wartete ich auf den Einzug in die gelobte Stadt …

Ich traute meinen Augen nicht. Waren wir auf einem anderen Erdteil gelandet? Träumte ich noch? Schuttberge türmten sich zu beiden Seiten der sonst menschenleeren Straße; die Häuser waren in sich zusammengesackt, Steinhalden reichten bis an unseren Wagen heran. Üppiges Unkraut wucherte überall. Hier und da streckte ein Baum seine verdorrten, zersplitterten Äste in den grauen Himmel. Es war still, der Wind trieb kleine Staubwolken aus den Fassadengerippen der Ruinen. Einige Frauen waren damit beschäftigt, Steine aufeinanderzuschichten. Manchmal Birkenkreuze auf den Steinbergen; ein Kind blickte uns unbeweglich an, setzte sich. Zwei Frauen in Schwarz kamen sprachlos vorbei. Männer in abgetragenen Mänteln. Schwere Aktentaschen. Ein Fahrrad, dann und wann. Wieder Frauen in Schwarz. Zwei, drei Baracken zur Rechten, die Gardinen flatterten aus den Fensterlöchern. Immer neue Staubwolken. Aufgerissene Häuserfronten. Ein herabgeschmettertes Dachgestühl, Kinder, die barfuß die Straße überquerten. Mann mit Rucksack. Eine Bretterbude mit Schildern. Fette flüssige Seife. Austernpaste, Eiweißpaste. Kunsthonig, Rübenkraut. Scheuersand, Lederfett. Ein kleiner Stand mit Heißgetränken. Der erste Tisch mit zwei Gartenstühlen. Frau mit Schürze. Ein Ofenrohr, aus dem der Rauch abzog. Interzonale Vermittlungen. Die Blitzanzeige in einem Tage. Wäschestücke an leise klirrenden Drähten. Kind, unbeweglich vor einem kleinen Feuer. Alte Männer mit Schaufeln, im Schutt stochernd. Kopftücher. Ein Besen.

Ich ertrug es nicht länger, schloß die Augen, nahm die Tritte des Bruders wie eine willkommene Strafe hin. Wochenlang hatte ich mich in meinen Träumen gewiegt. Das himmlische Jerusalem! Die Wüste war, verglichen mit diesen Mauselöchern, Elendsquartieren und Trümmerbergen, heiliges Land: Ich war unter die Barbaren geraten!

Plötzlich erinnerte ich mich an die warnenden Worte des Feldherrn Marcus Agrippa. Die Germanen liebten es, in erdbestrichenen Hütten zu hausen; Kälte und Hunger hatten sie zu ertragen gelernt. Sie zählten nicht nach Tagen, sondern nach Nächten, in denen sie aus ihren Behausungen hervorquollen, um den Mond anzubeten. Was sie liebten, bebrüllten sie; was sie haßten, wurde beschwiegen. Wortarm und mundfaul liebten sie die Stille. Was sich ihnen entgegenstellte, fand keine Gnade und wurde in mehrere Teile gehauen. Alles Schöne war ihnen ein Greuel, Schmuck ertrugen sie nur an den Köpfen des Großviehs. Geld kannten sie nicht; sie tauschten und nahmen, was ihnen der karge Boden bot. Wußten sie nicht weiter, befragten sie die Stimmen der Vögel. Pferde galten ihnen am meisten, die schweren Waffen erprobten sie täglich. Stand ihnen eine Mauer im Wege, schlugen sie sie ein; gefielen ihnen die Häuser fremder Stämme nicht, steckten sie diese in Brand. Wenn ein Krieg längere Zeit ausblieb, suchten sie einen anzuzetteln. Untätigkeit ertrugen sie nicht. Was sie erwarben, erwarben sie durch Blut. Ihr dumpfer Blick liebte die Einöde. Ihren geringen Reichtum versteckten oder vergruben sie. Für den Handel waren sie zu faul; die Frauen kleideten sie beinahe wie die Männer. Die Kinder sahen sie gerne nackt und schmutzig; überhaupt galt ihnen Nacktheit als Abhärtung. Liebe kannten sie nicht; Familienfeindschaften verfolgten sie bis ins letzte Glied. Im Übermaß zu trinken war ihnen eine der wenigen Freuden; manche dehnten sie über Tage hin aus …

Stundenlang gab ich kein Lebenszeichen. Zum ersten Mal zog ich mich auch von den Traumbildern zurück. Trügerisch hatten sie mir ein falsches Bild der Welt vorgemalt; dies war nicht die Stadt, in der man mit Freunden über die Glückseligkeit disputieren konnte. Von aufwendigen Festen hatte man hier keinen Begriff. Die nüchternen Worte des Marcus Agrippa hatten den Zustand am ehesten getroffen; doch ich schämte mich, ihm seinen Triumph zu gönnen.

So regte ich mich erst, als der Lärm um mich herum zu aufdringlich wurde. Vorsichtig schlug ich die Augen auf. Theo hatte mich auf dem Arm und trug mich durchs Zimmer. »Na also«, rief er laut, »unser Prinz kommt zu sich.« Ich drehte den Kopf. Ich befand mich in einem kleinen, spärlich eingerichteten Zimmer. Meine Mutter saß fröstelnd auf einem Klappbett, und der große, eilige Mensch, den sie »Theo« nannte, tanzte vor ihr herum. Am Fenster saßen zwei, die das Schauspiel anscheinend mit Vergnügen verfolgten: eine Frau mit Schürze, Kartoffeln schälend, ein Mann, der einen Blick in die Wiege warf, in der mein quicklebendiger Bruder seine Sättigung erwartete. Theo aber tanzte weiter mit mir; singend durchquerte er den Raum, nahm einen Schluck aus einer Flasche, prostete den anderen zu. Sie feierten! Sie ließen sich gehen, sie verschwendeten ihre Zeit! So sah es also in ihren Hütten und Höhlen aus. Eine Glühbirne baumelte von der Decke; zwei kleine Hocker waren notdürfig geflickt. In einem Ofen brannte ein Feuer, ein paar Holzscheite waren bereit. Draußen lag die Welt in Schutt und Asche, doch hier lachten sie ausgelassen, als gebe es einen Grund dazu.

Theo sprach in großen Worten von einer Zeit, die nun endgültig der Vergangenheit angehöre. Das Organisieren, tönte er, habe ein Ende; wieviele Stunden seines Lebens sei er in den vergangenen Jahren wohl für ein paar Pfund Kartoffeln unterwegs gewesen? Im Vorgebirge habe er einige gute Quellen aufgetan, und die Bauern hätten Eier, Butter, Speck und Schinken herausgerückt, wenn er mit seinen nagelneuen Gummistiefeln auf die Höfe gekommen sei. Gummistiefel, erster Qualität! Die habe er auf dem Schwarzmarkt gegen einige Schachteln Zigaretten eingetauscht, und die wiederum habe er von den britischen Soldaten erhalten, die er in den Trümmern der Stadt fotografiert habe. Vor dem Dom, auf dem Markt, mit einem Hitlerbild als Kulisse, mit Mädchen im Arm, lachend, als seien sie auf Urlaubsreise. Mit denen habe er sich verstanden.

Häufig sei er als Dolmetscher unterwegs gewesen; einmal habe er sogar die Frau eines britischen Generals begleiten dürfen. Die sei scharf auf Silber gewesen, die habe diesen gierigen Silberblick gehabt und alles Blitzende eingesackt. Bestecke, Kannen, Zuckerdosen! Drei Stangen Zigaretten habe er an jenem Abend für seine Dienste bekommen, den ganzen Tag sei er mit der Frau auf den Schwarzmärkten unterwegs gewesen.

Und wie erfinderisch die Menschen gewesen seien! Der halbe Schwarzmarkt habe nur von Erfindungen gelebt, von Filzschuhen aus Wehrmachtsbeständen, von Gießkannen aus Gasmaskenbüchsen; der ganze Abfall des Dritten Reiches sei neu montiert und feilgeboten worden. Und was habe man am Ende damit anfangen können? Nicht einmal ein paar Briketts habe man auf direktem Wege dafür erhalten. Die habe er ebenso wie die Zuckerrüben von den Waggons klauen müssen, und dann habe er sie in seinem Rucksack hierher in die Wohnung geschleppt, wo sie – piffpaff – im Ofen verschwunden seien, ohne die Stube auch nur einmal ordentlich zu erwärmen.