9,99 €
Mascha Kalékos Rezepte fürs Leben Dieses Bändchen versammelt Mascha Kalékos lebenskluge Gedanken zu den großen menschlichen Themen. Ihr eigenes von Schicksalsschlägen geprägtes Leben lässt die Autorin aus einem enormen Fundus schöpfen. Treffsicher und realistisch, ironisch und gewitzt schreibt die große Lyrikerin gegen den Alltag an: Eine wunderbare Lektüre, die amüsiert, Mut macht und zum Nachdenken einlädt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 35
Mascha Kaléko
Sei klug und halte dich an Wunder
Gedanken über das Leben
Herausgegeben von Gisela Zoch-Westphal und Eva-Maria Prokop
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.
Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.
Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muß, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.
Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
geht es um dich oder ihn.
Den eignen Schatten nimm
zum Weggefährten.
Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
unter dem Dach im Einstweilen.
Zerreiß deine Pläne. Sei klug
und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
im großen Plan.
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Ausgesetzt
In einer Barke von Nacht
Trieb ich
Und trieb an ein Ufer.
An Wolken lehnte ich gegen den Regen.
An Sandhügel gegen den wütenden Wind.
Auf nichts war Verlaß.
Nur auf Wunder.
Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht,
Trank von dem Wasser das dürsten macht.
Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen,
Fror ich mich durch die finsteren Jahre.
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.
Dir will ich meines Liebsten Augen geben
Und seiner Seele flammend reines Glühn.
Ein Träumer wirst du sein und dennoch kühn
Verschloßne Tore aus den Angeln heben.
Wirst ausziehn, das gelobte Glück zu schmieden.
Dein Weg sei frei. Denn aller Weisheit Schluß
Bleibt doch zuletzt, daß jedermann hienieden
All seine Fehler selbst begehen muß.
Ich kann vor keinem Abgrund dich bewahren,
Hoch in die Wolken hängte Gott den Kranz.
Nur eines nimm von dem, was ich erfahren:
Wer du auch seist, nur eines: sei es ganz.
Du bist, vergiß es nicht, von jenem Baume,
Der ewig zweigte und nie Wurzel schlug.
Der Freiheit Fackel leuchtet uns im Traume,
Bewahr den Tropfen Öl im alten Krug.
Avitar
Du bist jetzt ein Jahr alt geworden. Dein Vater hat dieses kleine Buch gekauft, und wir wollen beide dann und wann hineinschreiben für Dich. Wenn Du später, viel später einmal, alles lesen wirst, werden diese Jahre vor Dir auftauchen mit ihrem Schimmer vom Vergangenen. Und Du wirst wie durch einen schmalen Türspalt hineingucken in die Jahre, die Deinem Bewußtsein noch verschlossen waren. Vielleicht wirst Du Dich wundern, vielleicht wirst Du Dich freuen. […] Dein Vater ist in der Synagoge, er dirigiert dort sehr ungern den Chor, aber er muß Brot verdienen, Avitarele, Brot für Dich – für uns drei. Einmal, sagt er, geschieht ein Wunder. Wie gut, daß Du noch klein bist, mein Avitarele, vielleicht erlebst Du das Wunder noch. Vielleicht herrscht Liebe und Gerechtigkeit in der Welt, wenn Du ein Mann sein wirst.
Einer ist da, der mich denkt,
der mich atmet, der mich lenkt,
der mich schafft und meine Welt,
der mich trägt und der mich hält.
Wer ist dieser Irgendwer?
Ist er ich? Und bin ich Er?
Die Jahre ziehn vorbei, du weißt nicht wie,
Du wohnst in ihnen nur zur Untermiete
Und spielst dein Los auf ihrer Lotterie,
Nimmst alles hin, den Treffer und die Niete.
Am Kreuzweg fragte er die Sphinx:
Geh ich nach rechts, geh ich nach links?
Sie lächelte: »Du wählst die Bahn,
Die dir bestimmt ward in dem Plan.
Links braust der Sturm, rechts heult der Wind:
Du findest heim ins Labyrinth.«
»Ich hüpfe«, sprach der Gummiball,
»ganz wie es mir beliebt,
und schließe draus, daß es so was
wie ›freien Willen‹ gibt.«
»Mal hüpf ich hoch, mal hüpf ich tief,
nach Lust und nach Bedarf.«
So sprach der Ball, nicht ahnend, daß
des Knaben Hand ihn warf.
Nun aber, da der Teppich meines Lebens
Flach aufgerollt ist fast bis an sein Ende
Zeigt sich ein Muster, das ihm ferne Hände