Sein Garten Eden - Paul Harding - E-Book

Sein Garten Eden E-Book

Paul Harding

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Beschreibung

Der gefeierte, neue Roman von Pulitzer-Preisträger Paul Harding. »Ein Hohelied der Liebe … so berührend, dass man weinen könnte.« The New York Times

Apple Island, im Jahr 1793: Der Schwarze Benjamin Honey, ein ehemaliger Sklave, und seine irische Frau Patience lassen sich auf einer kleinen Insel vor der Küste von Maine nieder. Für Benjamin ist es das Paradies. Hier legt er einen Obstgarten an mit den Samen unterschiedlicher Apfelsorten, die er in zwölf Jutesäckchen mitgebracht hat. Mehr als ein Jahrhundert später leben die Nachkommen der Honeys noch immer auf der Insel, zusammen mit einer exzentrischen Gruppe von Nachbarn. Arm, isoliert, aber geschützt vor den Anfeindungen, die sie auf dem Festland erwarten würden. Dann taucht im Sommer 1912 Matthew Diamond auf, ein pensionierter Lehrer, der mit missionarischem Eifer die Kinder auf Apple Island unterrichtet. Ein Mann mit guten Absichten, dessen Idealismus aber nie ganz frei von Vorurteilen ist. Seine Anwesenheit erregt die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden und löst eine Lawine unheilvoller Ereignisse aus.

»Ein herzzerreißend schönes Buch, das auf einer wahren Geschichte basiert und von einer einzigartigen Inselgemeinschaft erzählt, die ums Überleben kämpft. Harding erzählt von den Hoffnungen, Träumen und der Widerstandsfähigkeit derjenigen, die nicht dazugehören in einer Welt, die gnadenlos intolerant ist gegenüber allem Andersartigen.« Jury Booker Prize

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Zum Buch

Apple Island, im Jahr 1793: Der Schwarze Benjamin Honey, ein ehemaliger Sklave, und seine irische Frau Patience lassen sich auf einer kleinen Insel vor der Küste von Maine nieder. Für Benjamin ist es das Paradies. Hier legt er einen Obstgarten an mit den Samen unterschiedlicher Apfelsorten, die er in zwölf Jutesäckchen mitgebracht hat. Mehr als ein Jahrhundert später leben die Nachkommen der Honeys noch immer auf der Insel, zusammen mit einer exzentrischen Gruppe von Nachbarn. Arm, isoliert, aber geschützt vor den Anfeindungen, die sie auf dem Festland erwarten würden. Dann taucht im Sommer 1912 Matthew Diamond auf, ein pensionierter Lehrer, der mit missionarischem Eifer die Kinder auf Apple Island unterrichtet. Ein Mann mit guten Absichten, dessen Idealismus aber nie ganz frei von Vorurteilen ist. Seine Anwesenheit erregt die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden und löst eine Lawine unheilvoller Ereignisse aus.

»Ein herzzerreißend schönes Buch, das auf einer wahren Geschichte basiert und von einer einzigartigen Inselgemeinschaft handelt, die ums Überleben kämpft. Harding erzählt von den Hoffnungen, Träumen und der Resilienz derjenigen, die nicht dazugehören in einer Welt, die gnadenlos intolerant ist gegenüber allem Andersartigen.« Jury Booker Prize

Zum Autor

Paul Harding wurde 1967 in Wenham, Massachusetts, geboren. Er studierte Englische Literatur, war Schlagzeuger in einer Rockband und machte den Master of Fine Arts am berühmten Iowa Writers’ Workshop. Für seinen ersten Roman Tinkers wurde er u. a. mit dem Pulitzer-Preis und dem PEN/Robert W. Bingham Prize ausgezeichnet. Sein Garten Eden war 2023 sowohl für den Booker Prize als auch für den National Book Award nominiert. Harding unterrichtet Creative Writing an der Stony Brook University und lebt mit seiner Familie auf Long Island.

Silvia Morawetz übersetzt Literatur aus dem Englischen, u. a. von Janice Galloway, James Kelman, Hilary Mantel, Joyce Carol Oates, Ali Smith und Anne Sexton.

Paul Harding

Sein Garten Eden

Roman

Deutsch von Silvia Morawetz

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »This Other Eden« bei Hutchinson Heinemann, einem Imprint von Penguin Random House UK, London.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 Luchterhand Literaturverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt nach einem Entwurf von Penguin Random House UK,

Covermotive: Getty Images; Alamy; Trevillion

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19546-5V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Für meine wunderbare Mutter, die lesen unwiderstehlich machte

Malaga Island … war das Zuhause einer Gemeinschaft von Fischern verschiedenster Abstammung, die hier von Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1912 lebten, als der Staat Maine 47 Bewohner aus ihren Häusern vertrieb und die Gebeine ihrer auf dem Eiland beerdigten Toten ausgrub und wegbrachte. Acht Bewohner der Insel wurden in die vom Staat Maine unterhaltene Schule für Geistesschwache eingewiesen. »Das Beste wäre, die Hütten mitsamt dem ganzen Unrat niederzubrennen«, sagte der damalige Gouverneur Frederick Plaisted seinerzeit zu einem Reporter …

[Im Jahre 2020] verabschiedete das Parlament von Maine eine Entschließung, in der es sein »tiefes Bedauern« zum Ausdruck brachte.

Maine Coast Heritage Trust

Benjamin Honey, Amerikaner, Bantu, Igbo – als Sklave geboren, mit fünfzehn befreit oder geflohen, das wusste nur er –, Schiffszimmerer, Obstbauer in spe, kam 1793 auf die Insel, mit ihm seine Frau Patience, geborene Raferty, ein Mädchen aus Galway. Er brachte eine Tasche voller Werkzeug mit – Geschenke eines dankbaren Captains, den er vor dem Ertrinken oder Ausgeraubtwerden auf einem Schiff bewahrte, auf dem er eine Meuterei angezettelt und den Captain ermordet hatte, je nachdem, wen man fragte – und eine wasserdichte Holzkiste, in der sich zwölf Jutesäckchen befanden. Jedes Säckchen enthielt Samen für eine spezielle Apfelsorte. Die Samen hatte Honey während seiner Jahre als Feldarbeiter und später als Seemann zusammengetragen. Er erinnerte sich, dass er als Kind in einem Obstgarten gewesen war, allerdings nicht, wo und wann, ob mit seiner Mutter oder mit einer Frau, deren Gesicht mit der Zeit zu dem wurde, was er als seine Mutter ansah, und er erinnerte sich an den Geruch der Bäume und ihrer Früchte. Die Erinnerung wurde zur Vision des Gartens, in den er zurückkehren wollte. Es war – kein Geheimnis – das Paradies. Die Jahre vergingen, und er fügte seiner Sammlung weitere Samen hinzu. Abends vor dem Einschlafen sagte er ihre Namen auf. Ashmeads Kernel, Flower of Kent, Duchess of Oldenburg und Warners Königsapfel. Ballyfatten, Catshead.

Die Insel – keine 100 Meter vom Festland entfernt, am Eingang einer Bucht gelegen, knapp 42 Morgen groß, von Ost nach West gut 150 Meter breit, von Nord nach Süd gut 350 Meter lang – war zum Zeitpunkt von Benjamin und Patience Honeys Ankunft unbewohnt, die einzige Spur menschlicher Anwesenheit eine verlassene Muschelbank der Penobscot, und als sie sich eingerichtet hatten, legte er seine Apfelsamen aus.

Nicht ein Samen keimte. Benjamin wurde so wütend über sein Ungeschick, dass er im Jahr darauf, wann immer er Zeit hatte, zum Festland hinüberfuhr und die Obstgärten und ihre Besitzer in dem Landstrich hinter den sechs oder sieben Häusern der Ortschaft, die direkt gegenüber der Insel lag und Foxden hieß, abklapperte und seine handwerklichen Fähigkeiten als Zimmermann gegen Samen und Ratschläge, wie man die Bäume am besten zog und wie man ihre Früchte veredelte, eintauschte.

Benjamin und Patience und ihre Söhne und Töchter und Enkelsöhne und Enkeltöchter und Urgroßkinder verließen im Laufe der Zeit die Insel immer seltener, auch wenn es im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert für einen Schwarzen Mann noch weniger gefährlich war, über Land zu ziehen, als es das später sein sollte. Jeder körperlich gesunde Erwachsene, der Frieden hielt und zum Erhalt des Lebens beitrug, wurde akzeptiert. So jedenfalls erzählten es sich seine Nachkommen. Benjamin zog also umher und fand Farmen, auf denen er beim Bau einer Scheune helfen oder Schindeln spalten oder ein Stück Land für Getreide roden konnte, und brachte Samen nach Hause mit, die sich regten und Wurzeln schlugen und jene Früchte hervorbrachten, die auch im Paradies seiner Erinnerung wuchsen.

Roxbury Russets, Rhode Island Greenings, Woodpeckers und Newton Pippins. Benjamin Honey versorgte einen Obstgarten mit zweiunddreißig Apfelbäumen, die seit dem Spätsommer 1814, ein Jahrzehnt nachdem er sie angepflanzt hatte, die ersten Früchte trugen. Pippins waren perfekt für Kuchen, Woodpeckers für Cidre. Die Kinder bissen als Mutprobe in saure Greenings und lachten sich gegenseitig aus, wenn ihnen Wasser in die Augen stieg und Münder sich zusammenzogen. Russets schmeckten frisch vom Baum am besten.

Wenn die Luft kühler wurde und das Licht der über dem Meer untergehenden Sonne schimmerte, Konturen schärfer hervortraten und das Grün und Purpur der strahlenden Tageshelle zu Katakomben umschatteter Früchte und Äste und Blätter abdunkelte, inspizierte Benjamin Honey seinen Obstgarten. Ihm war, als wäre seine Mutter irgendwo zwischen den Bäumen. Vielleicht trat sie ja in einem weißen Sonntagskleid, das den Wechsel von Licht und Farben aufnahm, hinter einem Baum hervor und lächelte ihm zu. Er atmete den Duft tief ein, salzig wie alles auf der Insel, und biss in den Apfel in seiner Hand.

Am ersten Frühlingstag des Jahres 1911 döste Esther Honey, Urgroßkind von Benjamin und Patience, in ihrem Schaukelstuhl vor dem Holzofen in ihrer Hütte auf Apple Island. Dichter Schnee fiel vom Himmel. Wind fegte über die Insel und schlug mit Riesenpranken an die Fenster, trat gewaltig mit der Ferse gegen die Tür und türmte den Schnee an der Nordseite der Hütte bis zum Dach auf. Die Insel ein Granitstein in den eisigen Untiefen des Atlantiks, die Wolken so tief, dass sie mit der Unterseite über die Spitze der Penobscot-Kiefer oben an der Klippe strichen.

Esther schlummerte, auf dem Schoß ihre Enkeltochter Charlotte, die sich an den hageren Leib der alten Frau schmiegte, in ein Stück Decke aus Hudson-Bay-Wolle gehüllt, das vor langer Zeit einmal geviertelt und unter ihren frierenden Vorfahren aufgeteilt worden war; darüber war noch ein hundert Jahre alter, aus noch älteren Resten bestehender Quilt gebreitet. Das Mädchen empfing kaum Wärme von seiner knochigen Großmutter, und die alte Frau hatte keinen Bedarf für die Wärme, die ihr Enkelkind spendete, konnte sie, schmächtig, wie sie war, gar nicht aufnehmen und hatte sich schon lange an das Minimum Wärme gewöhnt, das ein Körper zum Weiterleben benötigte. Dennoch war jede der anderen ein Trost.

Esthers Sohn Eha – Charlottes Vater – erhob sich von seinem Schemel und warf nacheinander vier aus dem letzten Dutzend Holzschindeln in die Glut im Ofen. Aus unerfindlichen Gründen hatte die Frauenhilfsvereinigung im vorigen Sommer eine Palette Schindeln auf die Insel geschickt. Gebraucht wurden sie nicht. Eha und Zachary Gotthelf Proverbs waren hervorragende Zimmerleute und machten Zedernschindeln, die viel schöner waren als diese. Doch wie immer seit inzwischen vier Jahren trafen im Sommer Nahrungsmittel und andere Waren von dem Verein ein. Teile dieser Lieferungen waren den Bewohnern von Apple Island ein Rätsel, die Schindeln zum Beispiel oder einmal ein Pferdesattel für eine Insel, die nur von einer Handvoll Menschen und drei Hunden bewohnt war. Mit den Lebensmitteln und den Waren kam auch Matthew Diamond, ein alleinstehender pensionierter Lehrer, der alle Jahre im Juni unter der Gönnerschaft des Enon College für Theologie und Mission von irgendwo in Massachusetts anreiste und sein Sommerhaus – keine hundert Meter über das Wasser entfernt und bei klarer Sicht von der Insel zu erkennen – in dem Dorf Foxden auf dem Festland bezog und allmorgendlich mit dem Boot nach Apple Island ruderte, wo er predigte, hier in einem Küchengarten und dort bei einem undichten Dach zur Hand ging und Unterricht in der aus einem Raum bestehenden Schule abhielt, die er, Eha Honey und Zachary Gotthelf Proverbs gebaut hatten.

Sowieso wertlos, der Zundel, sagte Eha und machte die Ofentür hinter der letzten Schindel zu.

Tabitha Honey, Ehas andere Tochter, zehn Jahre alt, zwei älter als ihre Schwester Charlotte, rutschte auf dem Hinterteil über den kalten Boden näher an den Ofen heran. Sie trug zwei Paar Strümpfe übereinander, drei alte Kleider, einen gespendeten Wollmantel, den der Verein geschickt hatte, und das eine Paar Schuhe, das sie besaß, Jungenstiefel, von ihrem großen Bruder Ethan an sie weitergereicht, als sie ihm zu klein geworden waren. Ihr waren sie zu groß, und sie hatte sie an den Zehen und Fersen mit trockenem Gras ausgestopft, das wie Barthaare aus den rissigen Sohlen spießte. Tabitha hatte sich ein anderes Stück der Hudson-Wolldecke über Kopf und Schultern gelegt.

Komm her, Victor, sagt sie zu dem Kater, der sich hinter dem Ofen zusammengerollt hatte. Ts, ts, komm her, Vic. Sie wollte den Kater auf den Schoß nehmen und sich an ihm wärmen. Victor hob den Kopf und sah das Mädchen an. Senkte den Kopf wieder und schloss halb die Augen.

Ich hoffe, du fängst Feuer, du dicker Taugenichts, sagte Tabitha.

Ethan Honey, fünfzehn, Ehas ältestes Kind, saß auf einer Holzkiste am anderen Ende des Raumes, in der kältesten Ecke, und zeichnete mit einem Stück Holzkohle seine Großmutter und seine kleine Schwester auf einem alten Exemplar der Lokalzeitung, das Matthew Diamond ihm letzten Herbst an dem Tag gegeben hatte, bevor er sein Sommerhaus zusperrte und nach Massachusetts zurückkehrte. Die Nase des Jungen war rot, seine Lippen blau. Seine Finger und Hände waren blau-weiß gesprenkelt, als verklumpe das Blut unter der Haut zu Eis. Ethan war auf seine Großmutter und seine Schwester konzentriert, und ihre verschlungenen Körper wurden immer deutlicher auf der Titelseite des Foxden Herald sichtbar, als schwebten sie oberhalb der Artikel über das zehnte Jubiläum des alljährlichen Kadettenballs, sechs des Landes verwiesene Chinesen, einen verschollenen Dreimastschoner und Reklame für Feigensirup, Gießereien, Mützen und schwarzen Kleiderstoff.

Erzähl uns von der Flut, Großmama, sagte Tabitha, die immer noch nach dem Kater schielte.

Charlotte hob den Kopf von der Brust ihrer Großmutter und sagte: Ja, erzähl es uns noch mal, Großmutter!

Ethan blickte von seiner Zeichnung auf und zu Großmutter und Schwester hinüber. Er schwieg, wollte aber ebenso sehr wie seine Schwestern, dass seine Großmutter die Geschichte von dem Wirbelsturm erzählte, der um ein Haar die Insel versenkt und um ein Haar seine ganze Familie fortgeschwemmt hätte.

Eha ging vom Ofen in die Ethans Zeichenplatz gegenüberliegende Ecke, neigte einen Korb, der auf einem Brett stand, zu sich hin und sah hinein.

Ich mach uns die Kartoffeln, ein bisschen Stockfisch ist auch noch da. Und eine Kanne Milch.

Ihr wollt das von der Flut hören? Von der alten Flut?, sagte Esther Honey.

Ja, Großmutter, bitte!

Bitte, Großmutter, erzähl!

Na ja, diese alte Flut, das ist inzwischen fast hundert Jahre her, sagte sie. Das war 1815.

Ein Orkan traf die Insel im September 1815, zweiundzwanzig Jahre nachdem Benjamin und Patience Honey die Siedlung begründet hatten, die mittlerweile aus fast dreißig, in fünf oder sechs Häusern lebenden Personen bestand, darunter die ersten Proverbs und Larks, Leute aus Angola und Kap Verde, andere kamen aus Edinburgh. Patience, ursprünglich aus dem irischen Galway stammend, lernte Benjamin in Nova Scotia kennen und zog mit ihm und drei Penobscot-Frauen weiter, Schwestern, die ihre Eltern verloren hatten, als sie noch klein waren. Eine Meereswoge, sieben Meter hoch, zwängte sich in die Bucht und nahm Häuser und Schiffe mit. Als die Wasserwand aufschlug, riss sie die Hälfte der Bäume und sämtliche Häuser der Insel weg und verschlang alles, mitsamt zwei Honeys, drei Proverbs, einer Penobscot-Schwester, drei Hunden, sechs Katzen und einer Ziege namens Enoch. Der Orkan brauste so laut, dass Patience Honey zuerst glaubte, sie wäre taub geworden, zumindest bis sie die berghohe Woge hörte, die wie eine Lawine auf sie zurollte und Häuser und Schiffe und Bäume und Menschen und Kühe und Pferde in sich trug, die umherwirbelten und schrien und barsten und muhten und wieherten und zerschellten. Da wusste Patience, jetzt war alles verloren, dies war der Tag des höchsten Gerichts, das Siegel Gottes wurde gebrochen, und hatte der Besen der Auslöschung sie erst einmal alle fortgekehrt, würden hier nur noch so wenige Bäume stehen, dass ein kleines Kind sie zusammenzählen konnte, und ihre Leute würden rarer sein als Gold. Aber nicht alle tot. Nicht jeder. Patience wusste es. Ein paar Honeys würden überdauern, ein paar Proverbs überleben. Ein, zwei Larks kämen vielleicht durch. Aus Gründen, die sie im Nachhinein nicht erklären konnte, schnappte sie sich die Flagge, eigenhändig zusammengenäht aus Flicken der Stars and Stripes, der portugiesischen Krone und der goldenen irischen Harfe in Frauengestalt, die so sehr an eine Galionsfigur gemahnte und bei der ihr Mann immer an die am Bug des Schiffes denken musste, auf dem er als Seemann gearbeitet hatte – es war vor der Küste gesunken, wodurch er überhaupt erst auf die Insel kam –, und aus den zerschlissenen und verblichenen Stoffresten mit den aufgestickten Bantu-Dreiecken und den Rauten und Kreisen, die er überallhin mitnahm und die, zeigte er ihr, Männer und Frauen und Ehe darstellten und Sonnenaufgang und Sonnenuntergang und die, sagte er immer, einst seinem Urgroßvater gehört hatten, obwohl sie im Grunde ihres Herzens nicht glaubte, dass das stimmen konnte. Jetzt wand sie sich die Flagge wie einen Schal um den Hals, fasste Benjamin bei der Hand und zog ihn aus ihrer Hütte nach draußen in den Wirbelwind. Eine Vorahnung, schwor sie, denn sie und ihr Mann waren kaum zur Tür hinaus, da riss ihr Haus sich von den Pfählen los und taumelte hinter ihnen davon, zerfiel zu Stroh wie ein vom Schober fallender Ballen Heu und stürzte in den Ozean. Nun, da sie im Freien stand, mitten in dem Tumult, versagten ihr die Beine. Sie war sich sicher, das war der Jüngste Tag und was geschehen musste, würde geschehen; davonzulaufen war sinnlos, wenn der Herr schon den Arm ausgestreckt hatte.

Der Baum, der Baum!, schrie Benjamin ihr durch das Sturmgebraus zu. Und zeigte auf den höchsten Baum der Insel, die Penobscot-Kiefer oben auf der Klippe. Benjamin zeigte hin und neigte den Kopf zu seiner Frau und zeigte hin.

Auf den Baum!

Der Wind klebte ihm das Hemd an den Körper, der Regen peitschte ihm ins Gesicht, strömte daran herab und lief ihm aus den Haaren, und ein Blitz zerteilte den Himmel, und ein Donner fuhr auf Erde und Meer nieder, und Benjamin schrie noch einmal durch das Sturmgeschrei: Der Baum! Und Patience dachte an ihre erwachsenen Kinder und an ihre Enkelkinder und schrie ihrem Mann zu: Die Kinder! Und Benjamin sah an seiner Frau vorbei, und da waren ihre Kinder und ihre Enkelkinder, kämpften sich durchnässt vornübergebeugt durch Wind und peitschenden Regen, der Ozean bäumte sich jetzt bis zu den Fenstern der alten Hütte der Sharks auf und ergoss sich durch die geborstenen Scheiben ins Innere, und die höchsten anbrandenden Wogen donnerten fast bis dahin, wo keine zwei Minuten zuvor noch sein eigenes Haus gestanden hatte, und saugten die gesamte Erdschicht bis auf den blanken Felsen ab und in den schwarzen und grauen und bedrohlichen jadegrünen Atlantik hinein, und Benjamin schrie: Geh zum Baum! Er selbst rannte zu seinen erwachsenen Kindern und seinen kleinen Enkelkindern, riss zwei klatschnasse Kleine von ihren Müttern weg und rannte, unter jeden Arm eins geklemmt, zu dem Baum. Und der Wind heulte und wirbelte umher, und sie stemmten sich ihm entgegen, mal fast bis an die Klippe getragen, mal fast wieder von ihr fortgetragen. Am Baum angelangt, stieg einer von Benjamins und Patiences Söhnen, ich glaube, sie sagte immer, es wäre Thomas gewesen, auf Benjamins Schultern, und die anderen Söhne und Töchter stiegen an den beiden Männern hinauf nach oben und bekamen die niedrigsten Äste des alten Baumes zu fassen, und als sie so sicheren, wie es in dem Getöse möglich war, Halt gefunden hatten, warfen die anderen die durchnässten Kinder eins nach dem anderen zu ihnen hoch. Als Patience in den Baum geklettert und Thomas ihr von Benjamins Schultern gefolgt war, erklomm Benjamin selbst den Stamm wie den Mast eines Schiffes und schrie noch einmal: So weit rauf, wie ihr könnt! Und sämtliche Honeys in dem alten Baum kletterten mit aller Kraft, die Kinder weinend und schreiend, die Männer und Frauen weinend und schreiend, bis die ganze klitschnasse Sippe sich in einer zitternden und keuchenden Traube im Wipfel des schwankenden, sich biegenden mächtigen alten Baums, der wie eine Peitsche im Wind hin und her sprang, aneinander und an den Stamm klammerte. In dem Augenblick hörten sie alle in dem Getöse ein noch lauteres Donnergrollen, von dem die ganze Insel unter ihnen erbebte und das ihre Auslöschung verkündete. Patience Honey, die sich mit einem Arm einen Enkel so fest an die Seite drückte, wie sie konnte, und sich mit dem anderen Arm an den Baum klammerte, schaute nach Süden, in die Bucht hinaus, und dort sah sie den aufgetürmten Ozean, all die Bäume und Häuser, die gellend schreienden Menschen, die Karren, Schaluppen und Schoner, die in seinem salzigen Wasser umhergewirbelt wurden, und einen alten Schiffskapitän namens Burnham, der in seiner dicken blauen Wolljacke auf dem Kamm des Tohuwabohus ein Dinghy ruderte, eine Pfeife rauchte, den Pfeifenkopf zum Schutz vor dem Wasser nach unten gedreht, und vor schierer Freude über dieses ekstatische letzte Aufbäumen schrie. Und alles zusammen, gewaltiges Wassermassiv und Verderben, hielt direkt auf die Honeys in ihrem Baum zu, der wie ein Zweiglein, ein Zahnstocher, ein nasser Grashalm dem Ozeangebirge und der Zerstörung trotzte. Ich fand es hinterher richtig unheimlich, sagte Patience immer, regelrecht beängstigend, dass ihr Inneres ihr vorkam wie in Sand verwandelt, so still war es gewesen, wie ein tiefes Einatmen, direkt bevor der Orkan die Insel traf, atemberaubend schnell, aber in fast völliger Stille, und wie wunderschön es war, all die Menschen und Bäume, Schiffe und Pferde zu sehen, die, sich überschlagend, in den Wellen vorbeizogen. Still war es genau genommen nicht, eher so laut, dass es fürs Hören zu viel war. Ich hab es keine Sekunde lang gehört, weil es zu laut war, als dass meine Ohren es hören konnten.

Das Wasser traf zuerst auf die Südküste der Insel und verschlang sie in einem Zug. Dann traf es auf den schartigen Felsrücken, der in der Mitte der Insel nach Norden verlief und stürzte singend wie ein Sägeblatt darüber hinweg. Als es auf den Hang der Steilküste aufschlug, wurde es vor den Augen der Inselbewohner im Baum über den Horizont versprengt, stand in der Luft wie ein apokalyptisches Gesims, das, wie Patience hinterher immer sagte, in dem kurzen Augenblick, bevor es wieder in sich zusammenfiel und weiterfegte, so aussah, wie das sich teilende Meer für die armen Israeliten ausgesehen haben musste. Ich war richtig fasziniert davon, da oben in dem Baum, an den ich mich so fest klammerte, dass die Rinde mir in die Arme schnitt, davon hab ich die Narben. Das Kleine presste ich so fest an mich, dass ich dachte, ich bräche ihm die Knochen, durchweicht bis aufs Mark und schreiend, denn ich hielt es mit aller Kraft, doch als dieser Turm aus Ozean und Vernichtung vor mir zusammenfiel, sah ich für den Bruchteil einer Sekunde, tief innen, eine breite, trockene Allee, die mitten durchs Meer führte, darauf eine Schar von Schäfern und Schafen und alten Frauen auf Eseln, ein Gewimmel von Kindern, die ins Heu geschmiegt auf klapprigen Karren schliefen. Auf beiden Seiten türmte sich der geteilte Ozean, ein reiner, glatter Monolith. Und im Wasser zog eine kunterbunte Kavalkade aus Ägyptern und Pferden und Streitwagen vorüber, wälzte sich Hals über Kopfschmuck, Fessel über Schienbein, Speichen über Steg dahin. Die Männer trugen großteils Leinentuniken, einige aber Leopardenfelle und Federn und einen kunstvollen Kopfputz. Einige waren mit Lederriemen an ihre Wagen gebunden und hielten Langbogen in den Händen. Pfeile und Speere wirbelten zwischen den Männern und Pferden und Wagen hindurch. Sie hatten die schwarz umrandeten starren Augen weit geöffnet, waren zweifellos aber alle ertrunken. Und ich wusste, wie es war, als Gott das Meer teilte. Ich wusste, dass Moses ganz vorn ging, an der Spitze des Zuges. Nicht Moses, wie wir ihn uns vorstellen, sondern der Mann persönlich. Der Mann Moses, genau der. Als Gott den Ozean auftat. Dann schoben die Wassermassen Trümmer und Geröll wieder zusammen und rauschten über den Rest der Insel. Das Wasser schäumte und stieg und stieg an der mit den Honeys beladenen Penobscot-Kiefer in die Höhe.

Patience schaute durch die Äste und Zweige nach unten und sah, dass das schwellende Wasser ihren Kindern und Enkelkindern bis über die Füße stieg, ihnen die Röcke blähte, ihnen über die Taille stieg bis hinauf zu den entblößten Hälsen und dann in ihre spuckenden Münder, sie sah, dass ihr Haar sich vollsaugte im wogenden Wasser, und sie sah, dass das Wasser auch Benjamin überspülte und dass ihre Tochter Charity Honey vom Baum fortgerissen wurde und in den Trümmern davontaumelte, ihren kleinen Sohn David fest an sich gedrückt; und das Wasser reichte nun auch Patience bis zu den Füßen, und tief unten im Rumpf des Baumes brach etwas auf, er gab nach und neigte sich zur Seite, und das schnelle tosende Wasser erreichte ihre Taille. Dann richtete der Baum sich wieder auf. Und auch wenn das Wasser nicht mehr so gierig nach ihr griff wie am Anfang, stieg es doch weiter bis zu ihrem Schlüsselbein, und Patience sagte immer, sie hätte unter sich gerade noch Benjamins Haupt im Wasser gesehen, heiter, beinahe, beinahe gelassen, kleine Luftbläschen stiegen von seinem Haar auf. Und da, das Wasser reichte ihr gerade bis zur Gurgel, fiel Patience die alte Flagge ein, die sie für Benjamin aus Resten von anderen Flaggen, Lumpen und schmuddeligen Flicken anderer Nationen genäht hatte, nicht lange nachdem sie geheiratet und sich auf ihrer jetzt untergehenden Insel niedergelassen hatten, und die sie noch um den Hals gebunden hatte. Genau in dem Augenblick, sagte sie später immer, nahm ich mir vor, unsere kleine Flagge, wenn für uns alle jetzt das Letzte Gericht kommt, bis zum letzten Augenblick zu schwenken. Ich hob den Kleinen also noch weiter hoch und klemmte ihn fester, als ich es mich sonst getraut hätte, zwischen den Baum und meine Brust, und bekam die Flagge mit der freien Hand irgendwie vom Hals ab, hielt sie so hoch, wie ich konnte, und der Wind fuhr hinein, blähte das Tuch, entriss es mir förmlich, ich hatte die Flagge aber noch in der Hand, und da flatterte sie. Dann stieg das Wasser bis über den Kopf des Kleinen, der nicht mehr wimmerte, nur schaute, zwischen meinen Körper und den Baum gekeilt, verblüfft über das Pandämonium, stumm und mit großen Augen gurgelnd ging er unter, und das Wasser stieg mir bis zum Mund und bedeckte mein Gesicht und schwappte über meinen Kopf, doch ich hielt diese alberne Flagge immer noch so hoch, wie ich konnte, und das Wasser stieg mir bis an den Ellbogen des hinaufgereckten Arms, das Wasser stieg mir bis zum Unterarm, bis zum Handgelenk, es ragte also nur noch meine Hand mit der zerfledderten zusammengestückelten Flagge aus der Flut heraus, und das Wasser stieg mir bis zu den Fingern, und gerade als meine Hand zu verschwinden und diese Flagge und wir Honeys alle miteinander von der Katastrophe verschlungen zu werden drohten, hörte das Wasser plötzlich auf zu steigen.

Die Flutwelle traf das Innere der Bucht, ergoss sich aufs Festland, kippte die zuvorderst mitgeführten Trümmer auf einen Lagerplatz namens Little Shell Cove, auf dem Camper hundert Jahre später noch Krimskrams aus der Katastrophe fanden, der Kessel des Zorns schlug um und wich zurück, und auf ihrem Rückzug zum Horizont schmatzte die riesige Welle noch die Menschen, Tiere, Fliegenschränke, Bänke und Segelbötchen weg, die beim ersten Mal nicht in ihrem Schlund verschwunden waren.

Der Wasser stieg nicht höher und hielt inne. Es war, als befänden sich meine Hand und die triefende Flagge im Zentrum eines gewaltigen Strudels, der sich die Insel einverleibte, doch dann ließ das Wirbeln nach, flaute ab und kam zum Stillstand.

Patience Honey klammerte sich unter Wasser an die Penobscot-Kiefer, das schlaffe Kleine in ihren Armen schlief an ihrer Brust im Schoß des Meeres. Patience sah an der Kiefer hinab in das dunkle Wirrwarr. Unter ihr klammerten Körper sich an den Baum. Benjamin. Shekhinah Goodfellow, ihre Cousine und beste Freundin. Noch weiter unten schien die Insel sich zu regen. Sie begann um den Baum zu rotieren wie ein dunkles steinernes Rad um eine hölzerne Achse. Sie war ein Wal – drehte Kreise, schnupperte an Patience und den anderen Flüchtlingen, Neuankömmlinge in seinem Reich, bis er einen riesigen alten weißen Hai erblickte, der durch das Schulhaus zog und auf ertrunkene Kinder und alte Jungfern fischte. Der Wal setzte seinem prähistorischen Erzfeind nach, und die Ungeheuer jagten aus den Untiefen der frisch untergegangenen Welt davon in den echten Abgrund.

Ich konnte den Atem nicht mehr anhalten, wollte gerade aufgeben und mir den Atlantik in die Lunge strömen lassen, die Meerwassersuppe hinunterschlucken wie ein Henkersmahl, da zog sich der Strudel von meiner Hand und der Flagge zurück, und das Wasser begann zu sinken. Mein Arm wuchs aus dem Wasser, danach mein Kopf und mein Körper, genau wie die Penobscot-Kiefer, die sich erhob wie der nicht versunkene Mast eines zerschellten Schiffs. Das Schiff – ich meine, die Insel – und ich tauchten aus dem Wasser auf und erhoben uns darüber, der Wind schlug mir ins Gesicht, und ich schnappte nach Luft und ließ den Baum fahren.

Patience ruckelte sich aus dem Schlamm und dem Sand, in dem sie bäuchlings am Fuß des Baumes lag, das Kleine unter sich unkenntlich, nicht einmal als Junge oder Mädchen identifizierbar, nur als erschöpftes, schleimumhülltes nacktes in das Erdreich gepresstes Tierchen. Sie schob ihm den Zeigefinger in den Hals, wollte seine Kehle von der Erde befreien. Die Nase des Säuglings war ebenfalls verstopft, und sie deckte das ganze Gesicht mit ihrem Mund ab, saugte so fest, wie sie sich traute, und der Schlammstöpsel löste sich und flog in ihren Mund. Sie spie ihn zur Seite und achtete auf das Kind. Der Kleine rülpste eine Kelle voll Meerwasser heraus, schlug die Augen auf, die nicht sehen zu können schienen, öffnete den Mund und lag für einen Augenblick versteinert da, völlig reglos. Dann gab er einen bellenden Laut von sich und gluckste, holte Luft und schrie los. Er schrie und schrie, und Patience rieb ihm mit dem Daumen Schmiere aus Augen und Ohren und sah zu ihrem Mann hin.

Benjamin lag, mit dem Gesicht nach oben, in den Schlamm und Schutt gepresst und starrte in die Wolken, die zischend und blinkend über sie hinwegzogen. Patience wusste, was er dachte. Seine Hoffnung und sein Mut versickerten im Ozean und mit ihnen ihre verlorenen Kinder und Enkelkinder und seine Apfelbäume, die Bäume, mit denen er sich so lange gemüht hatte, weil sie ihn an den einzigen Ort erinnerten, wo er als kleiner Junge mit seiner Mutter gewesen war. Kummer überkam sie, sie geriet in Panik und weinte hysterisch, rappelte sich auf und hielt Ausschau, wer sonst noch da war, das Kind brüllte nach wie vor. Sie sah ihren Mann an – der aus dem Nichts gekommen war und sie aus dem Nichts weggebracht hatte, um zusammen ein Etwas zu suchen –, den Mann, den sie liebte, seit ihr Blick das erste Mal auf ihn gefallen war, und sie wusste, sie musste ihn vom Rand des Abgrunds ziehen.

Es ist immer noch Apple Island!, schrie sie, rief schluchzend den Namen über Wind und wimmerndes Kind hinweg und durch ihr eigenes Wimmern, das nun tief aus ihrem Herzen emporstieg, sich in Stößen entlud, als sie in allen Richtungen nach ihren Kindern und deren Kindern suchte.

Es ist Apple Island Es ist Apple Island!

Benjamin Honey sah seine Frau an, die es ihm, wild und so wahr, zurief. Doch sie irrte sich. Der Obstgarten, so schön anzusehen, war eine Torheit; sein Garten Eden, eine vage Erinnerung, kaum wiederhergestellt, da trugen ein bisschen Wind und Regen ihn schon davon.

Esther war am Ende der Geschichte von der Flut angelangt. Beim Erzählen merkte sie, sagte sie immer ich hielt das Kleine, ich bekam keine Luft mehr, was die gesamte Zuhörerschaft erschreckte und erschauern ließ, weil es ihre gemeinsame Urmutter beschwor. Und so stand den letzten Honeys – in dritter, vierter und fünfter Generation Destillate aus angolanischen Vätern und schottischen Großvätern, irischen Müttern und kongolesischen Großmüttern, kapverdischen Onkeln und Penobscot-Tanten, aus Cousins und Cousinen, die aus Dingle und Montserrat und Glasgow gekommen waren –, der Schicksalsschlag, der die Insel getroffen hatte, vor Augen; bei stampfendem Wind und wirbelndem Schnee, mit knurrenden Mägen, die Zehen und Finger zu schwarzen Eiszapfen gefroren, um den auskühlenden Holzofen gedrängt. Die Mädchen waren eingeschlafen, Ethan hatte das Zeichnen unterbrochen. Auch Eha war still geworden, ruhig, nachdenklich, von Erregung und heiliger Scheu ergriffen durch die Geschichte, die sie so gut kannten wie die aus der Bibel. Noch besser sogar.

Noah hatte seine Arche. Die Honeys hatten Apple Island.

Nach einem weiteren Moment der Stille sagte Eha: Abendessen, und Großmama Esther weckte die auf ihrem Schoß schlafende Charlotte, und Ethan wecke Tabitha, die sich auf dem Boden ausgestreckt hatte, und die Honeys aßen um den inzwischen auskühlenden Holzofen, und draußen pfiffen und wirbelten Wind und Schnee.

Esther las einen Vers aus der Heiligen Schrift. Aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tische ihres Herrn fallen.

Jedes Kind erhielt zur Feier des anbrechenden Frühjahrs einen Streifen Stockfisch, eine halbe Kartoffel und zwei geröstete Kastanien, die letzten aus dem Herbst des Vorjahrs. Eha zog den in der Wange verstauten Tabakpfropf heraus, legte ihn sich behutsam aufs Knie und aß seine halbe Kartoffel in zwei Bissen. Er schloss die Augen, seufzte zwei Töne aus dem Gesangbuch und beförderte den Priem in seinen Mund zurück. Großmama aß nichts. Sie rauchte ihre Pfeife und trank ihren Tee, schwarz wie Öl, stinkend wie Teer, aus einer angeschlagenen Porzellantasse ohne Henkel.

Der erste Sonnenuntergang des Frühlings legte sich über Apple Island. Von Abend zu Abend war es länger hell geblieben, der Sturm sorgte jedoch für frühes Dunkel. Nach seiner Lobsterfalle konnte Eha noch nach dem Sturm schauen. Die Kinder konnten bei Ebbe, um Mitternacht, Muscheln sammeln, Lotte hielt im Dunkeln die Laterne und sang Geisterlieder, Ethan und Tabby gruben im eiskalten Sand.

Wie sein Vater und seine Großmutter hatte Ethan schon mit fünfzehn die Gewohnheiten aller Bewohner der Insel angenommen, die morgens, mittags und abends rauchten oder Tabak kauten oder beides und dickflüssigen schwarzen Tee tranken, um dem sich meldenden Hunger, der echt war, ein Schnippchen zu schlagen. Dieser Hunger zehrte alle aus, die Familie scharte sich um den Herd und senkte die Köpfe, und das karge Abendessen machte es fast noch schlimmer.

Zwei andere Familien – die McDermotts und die Larks – lebten Seite an Seite mit den Honeys auf Apple Island, genauso wie Annie Parker, die alleinstehend war, und Zachary Gotthelf Proverbs, der auch allein lebte, meist im Innern eines hohlen Baumes, obwohl er sich vor Jahren eine Hütte gebaut hatte. Die drei Familien lebten in Sichtweite voneinander entfernt am nördlichen Ende der Insel, in Häusern, die auf zerkleinerten Muscheln standen, direkt oberhalb des Strands. Annie Parker und Zachary Gotthelf lebten am südlichen Ende der Insel, Annie auf der Westseite, Zachary im Osten. Wenn es Abend wurde und der Frühling im Gefolge wirbelnder Schneestürme zaghaft seinen Anfang nahm, verschanzten sich die Bewohner von Apple Island in ihren Häusern und harrten besserer Zeiten.

Die Larks, keine Viertelmeile von den anderen Familien am nördlichen Ende der Insel entfernt, hätten ebenso gut auf dem Mond kampieren können. Theophilus und Candace Lark wurden Cousin und Cousine genannt, die anderen Erwachsenen auf Apple Island wussten jedoch, dass sie höchstwahrscheinlich Halbbruder und -schwester und wohl schlicht und einfach Bruder und Schwester waren. Sie waren die letzten Larks und die Einzigen auf der Insel, in deren Familie die Vielfalt äußerlicher Merkmale, das Erbe von afrikanischen Vätern und irischen Müttern, Penobscot-Großmüttern und schwedischen Großvätern, ausgedünnt war. An ihr Ende gekommen mit den verhärmten, bleichen Cousins und Cousinen, womöglich Geschwistern, die farbloses Haar und farblose Augen hatten und die, als ihre Eltern im Winter 1899 im Abstand von zwei Tagen gestorben waren, vor Einsamkeit und Trauer ihre Familie zusammen weiterführten, neun Kinder bekamen, von denen vier noch am Leben waren, die durchweg die blassen, farblosen Züge ihrer Eltern und deren schwache Konstitution geerbt hatten und die einer wie der andere noch ein bisschen schlechter hörten, noch ein bisschen kurzsichtiger waren, noch ein bisschen stärker an Asthma litten und überhaupt lichtempfindlicher waren als ihre Eltern, und das in solchem Maße, dass die Lark-Kinder, mit Ausnahme von Millie, die im Sommer werktags drei Stunden die Schule besuchte, nachtaktiv und selten vor Sonnenuntergang auf den Beinen waren.

Wie alle anderen bekamen Theophilus und Candace es hin, sich und ihre Kinder vor dem Verhungern zu bewahren. Theo war ein passabler Fischer und Näher, der auf Kabeljau und Flunder fischte und die Wäsche ausbesserte, die Iris und Violet, die McDermott-Schwestern, auf dem Festland annahmen. Die Lark-Kinder waren weitgehend sich selbst überlassen. Winters kugelten sie zusammen auf dem Fußboden wie ein Wurf Jungtiere, oft genug mit einem, zwei oder alle drei Inselhunden, halben Streunern, in einem Nest aus Lumpen und Heu, Fetzen alten Zeitungspapiers, Segeltuch oder der von der Frauenhilfsvereinigung geschickten Decke. In Sommernächten streiften die Kinder einzeln oder paarweise, als Trio oder ganzes Quartett in den Kleidern aus Mehlsäcken, die sie, Junge wie Mädchen, trugen, über die Insel, auf der dunklen Erde im Mondlicht leuchtend, allem Anschein nach ziellos; sie strichen durch Wald und Flur wie Geister, wie Apple Islands verlorene Kinder. Wenn Eha Honey spätabends nach dem Muschelfischen bei Flut auf die Kinder stieß, kreisten sie ihn wortlos ein, und er, der damit gerechnet hatte, gab jedem eine kleine Venusmuschel oder eine Strand- oder eine Spitzschnecke. Manchmal gab er ihnen Austern aus seinem Drahtkorb, die er mit seinem beinernen Takelmesser vorsichtig öffnete, um die Flüssigkeit im Innern nicht zu verschütten. Die Mädchen bohrten den Zeigefinger in das krisselige geschichtete Fleisch und schoben es auf der glatten Innenseite der Schale umher. Die Jungen schlürften aus den Schalen wie aus Teetassen.

Auch Theophilus Lark hatte als Fischer etwas getaugt, doch als die Frauenhilfsvereinigung dazu überging, Lebensmittel und Küchengerät zu schicken – ein, zwei Schüsseln hier, einen Holzlöffel da und ein Sieb dort (das Sieb verschwand noch am Tage seiner Ankunft, stibitzt von den Kindern, die damit Sand und Tang und Muscheln und Kleintiere aus Gezeitentümpeln schöpften und sich ansahen, wie dünne Wasserfäden durch die Löcher rannen) –, verbrachte er immer mehr Zeit an Land, werkelte in der Hütte und jammerte über die viele Hausarbeit. Er verlegte sich ohne Weiteres auf das Säubern der Pfannen und Töpfe, die er mit seinem Putzlumpen wienerte und auf den Birnenkisten aufreihte, auf denen sie manchmal den Fisch wuschen. Er trug ein fadenscheiniges kariertes Baumwollkleid und eine alte schmutz- und ölverschmierte Schürze, die er sorgsam einmal umschlug und so feierlich in der Taille band, als lege er einen Freimaurerschurz an. Das Kleid hatte seiner Mutter gehört, die Schürze seinem Großvater. Theophilus’ Großvater war Angestellter in einem Laden auf dem Festland gewesen, in einer Kleinstadt, deren Name dem Enkel entfallen war. Theophilus’ und Candaces Mutter hatte ihnen einmal erzählt, ihr Großvater habe jede Kundin, die den Laden betrat, bereits an der Tür begrüßt, noch ehe sie die Tür hinter sich geschlossen hatte – in genau derselben Schürze, die ich jetzt anhabe –, und habe gesagt: Womit kann ich dienen, Ma’am? Jedes Mal, einfach so: Womit kann ich dienen, Ma’am?

Theophilus hantierte also in der Hütte und gluckte über dem Pulk schlafender Kinder wie eine Rotkehlchenmutter, trug das Kleid und die Ladenbetreiberschürze, und ging ein Inselbewohner vorbei, unterbrach er sein zielloses Werkeln oder erhob sich von dem Stuhl vor der Tür, kam zum Rand des unbefestigten Hofs, wischte sich die Hände an einem alten roten Lappen ab, den er vorn aus der Schürzentasche zog, nickte dem Passanten zu und sagte: Womit kann ich dienen, Mr Diamond? Womit kann ich dienen, Eha Honey? Die Kinder fragte er: Womit kann ich dienen, meine Stockfischlein? Womit kann ich dienen, meine kleinen Austern?

Candace Lark mochte Hausarbeit seit jeher nicht und verstand sich auch nicht darauf. Etwas eigentümlich Vernachlässigtes umgab die Hütte der Larks, wenn sie das häusliche Kommando hatte. Vieles davon war den Kindern geschuldet, die acht Jahre lang eins nach dem anderen kamen, die fünf, die nicht mehr am Leben waren, mitgerechnet. Doch selbst in Anbetracht von Mutterschaft, kärglichen Mitteln und der Notwendigkeit, zu Hause zu bleiben, wenn Theophilus fischen war, tat sich Candace mit den Kindern und der Haushaltung schwer.

Anfangs war sie erleichtert, dass sie nicht mehr vor aller Augen den Haushalt zu führen brauchte. Dann wurde ihr langweilig. Theophilus pfriemelte an Pfannen und Töpfen herum, die Kinder schliefen den Großteil des Tages und gingen die ganze Nacht über nach Lust und Laune ein und aus, und das Getue ihres Bruders um Schüsseln, Löffel und Krug wurde ihr allmählich lästig. Es war, als spiele er Ladenbesitzer. Sie hielt den Mund, weil er es gut meinte und sie ihn liebte, doch wenn sie dabei zusah, wie er vor sich hin summend das Innere des Krugs mit seinem Putzlumpen auswischte, ihn ins Licht hob, hineinspähte und -pustete, als wolle er noch das letzte Stäubchen entfernen, den Krug noch einmal auswischte und hochhob und wiederum hineinsah, wollte sie das Ding an sich reißen, auf einem Felsen zerschmettern und schreien: Der verfluchte blöde Krug ist sauber!

Ergo begann sie zu fischen.

Eines Morgens, Theophilus saß draußen und schob seinen Lumpen um die Holzschüssel, trat Candace aus der Hütte, seine undichten Watstiefel an den Füßen, seine Pilkrute, Haken und Vorfächer in der Hand.

Ich geh fischen, sagte sie. Theophilus nickte.

Sieht ganz danach aus, sagte er. Soll ich …

Nein. Liegt das Boot in Stromrichtung?

Yep.

Bis Sonnenuntergang.

Candace verbrachte den Tag auf dem Wasser, lernte in dem wackeligen schmalen Boot das Gleichgewicht zu halten und die Leine auf und ab zu bewegen, zu jiggen, ohne genau zu wissen, worauf. Sie benutzte Köderreste, die Theophilus in einem Eimer aufbewahre, der so grauenhaft roch, als sie die Abdeckung herunterhob, dass es sie würgte und sie beinahe aufgegeben hätte. Doch sie wandte sich ab und holte tief Luft, wischte die Tränen