Tinkers - Paul Harding - E-Book

Tinkers E-Book

Paul Harding

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Beschreibung

Ein Roman voll poetischer Kraft und Zärtlichkeit

Der Uhrmacher George Washington Crosby liegt, umgeben von seiner Familie, in seinem Haus in dem Städtchen Enon im Sterben. Paul Hardings Roman begleitet ihn durch seine letzten Tage, reist aber auch zurück durch die Zeit und spürt den Erinnerungen nach, beschwört die Landschaft von Maine herauf, Georges ärmliche Kindheit, das Leben seines Vaters Howard, der noch als »Tinker«, als Kesselflicker und fahrender Händler, mit dem Maultierkarren über Land zog.

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Seitenzahl: 239

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Paul Harding

Tinkers

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Silvia Morawetz

Luchterhand

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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Tinkers bei Bellevue Literary Press, New York.

 

Die Übersetzerin dankt Uhrmachermeister Bernd König, Celle, sehr herzlich für seine fachliche Beratung.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Copyright © der Originalausgabe 2009 Paul Harding

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-07491-3V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

Für Meg, Samuel und Benjamin

1

Acht Tage bevor er starb, begann George Washington Crosby zu halluzinieren. Von dem Krankenhausbett aus, das gemietet und mitten in seinem Wohnzimmer aufgestellt war, sah er Risse im Verputz der Zimmerdecke, und Insekten krabbelten dort ein und aus. Die Fensterscheiben, einst dicht verfugt und verkittet, hingen lose in den Rahmen. Die nächste steife Brise würde sie alle aushebeln und auf seine versammelte Familie niedergehen lassen, die bei ihm saß, auf der Couch und dem Zweisitzer und den Küchenstühlen, die seine Frau noch hereingetragen hatte, damit alle untergebracht waren. Die gläserne Sturzflut würde alle aus dem Zimmer jagen, seine Enkel aus Kansas und Atlanta und Seattle, seine Schwester aus Florida, und er triebe in seinem Bett auf einem tiefen Graben aus Glasscherben. Pollen und Spatzen, Regen und die dreisten Eichhörnchen, die er sein halbes Leben lang von den Vogelhäuschen fernzuhalten versucht hatte, würden ins Haus einfallen.

Er hatte das Haus selbst gebaut: das Fundament gegossen, das Holzgerüst aufgerichtet, die Rohre angeschlossen, die Elektroleitungen gelegt, die Wände verputzt und die Räume gestrichen. Einmal – er stand gerade auf dem offenen Fundament und schweißte den letzten Anschluss an den Warmwasserkessel – schlug der Blitz ein. Er wurde an die gegenüberliegende Wand geschleudert. George stand auf und schweißte die Naht fertig. Bei ihm blieben Risse im Verputz keine Risse, verstopfte Rohre wurden wieder freigemacht, blätternde Schindeln wurden abgeschliffen und mit einem frischen Anstrich versehen.

Ihr müsst Gips besorgen, sagte er, auf die Kissen in seinem Bett gestützt, das sich sonderbar und kalt ausnahm zwischen den Perserteppichen, den Kolonialmöbeln und den Dutzenden alten Uhren. Ihr müsst Gips kaufen. Herrgott, Gips und Draht und ein paar Haken. Ungefähr fünf Dollar, mehr kostet das nicht.

Ja, Großvater, sagten sie.

Ja, Vater. Ein leichter Windstoß kam durch das offene Fenster hinter ihm herein und pustete erschöpfte Köpfe durch. Bocciakugeln klackten draußen auf der Wiese.

 

Um die Mittagszeit war er allein, während die Familie in der Küche das Essen zubereitete. Die Risse in der Decke wurden zu klaffenden Spalten. Die arretierten Räder seines Betts sanken in breite Ritzen, die sich in den Eichendielen unter dem Teppich auftaten. Der Boden würde jeden Moment nachgeben. Ihm würde sich der sowieso nutzlose Magen umdrehen, als führe er auf der Handwerksmesse in Topsfield Karussell, und mit einem halsbrecherischen Satz würden er und das Bett im Keller landen, auf den zertrümmerten Überbleibseln seiner Werkstatt. Als wäre der Einsturz bereits geschehen, stellte George sich vor, was er dann sähe: die Wohnzimmerdecke, nun zwei Stockwerke hoch, einen scharfkantigen Schacht aus zersplitterten Dielenbrettern, verbogene Kupferrohre und Elektrodrähte, die wie durchtrennte Adern aus dem Mauerwerk hingen und inmitten der plötzlichen Zerstörung auf ihn zeigten. Stimmengemurmel drang aus der Küche.

George drehte den Kopf in der Hoffnung, außerhalb seines Blickfelds säße vielleicht jemand, einen Pappteller mit Kartoffelsalat und Roastbeef-Röllchen auf dem Schoß und einen Plastikbecher mit Ginger Ale in der Hand. Aber die Zerstörung hielt an. Hatte er denn nicht aufgeschrien? Die Frauenstimmen in der Küche und die Männerstimmen hinter dem Haus murmelten ungerührt weiter. Er lag auf seinem Trümmerhaufen und sah nach oben.

Der erste Stock stürzte auf ihn herab, die unfertige Wandverkleidung aus Kiefer und die im Nichts endenden Leitungen (die mit Deckeln versehenen Rohre nie an das Waschbecken und die Toilette angeschlossen, die er da oben einmal hatte einbauen wollen) und die Kleiderständer mit den alten Jacken und die Kisten mit den vergessenen Brettspielen und Puzzles und dem kaputten Spielzeug und den Tüten voller Familienfotos – manche so alt, dass sie auf Zinnplatten belichtet waren –, das alles landete krachend im Keller, und er konnte nicht einmal die Hand heben und sein Gesicht schützen.

Aber er war schon beinahe ein Geist, fast aus nichts gemacht, und so fielen Holz und Metall und Bündel bunt bedruckter Pappe und Papier (SECHS FELDER VORRÜCKEN BIS ZUR EASY STREET!, Urgroßmutter Noddin, Umschlagtuch um die Schulter, steif und finster in die Kamera blickend, lächerlich mit diesem Hut, der wie der Hügel eines Seemannsgrabes aussah, beladen mit Blumen und Schleier), die ihm sonst die Knochen zerschmettert hätten, nur wie Filmrequisiten auf ihn und kippten wieder weg, er oder sie Faksimiles früherer, wirklicher Dinge.

Da lag er zwischen den Fotos vom Uni-Abschluss und alten Tweedjacketts und verrostetem Werkzeug und Zeitungsausschnitten über seine Beförderung zum Leiter der Abteilung Technisches Zeichnen an der hiesigen High School, dann über seine Ernennung zum Studienberater und dann über seine Pensionierung und sein späteres Leben als Verkäufer und Restaurator alter Uhren. Die zerstörten Messingwerke der Uhren, an denen er gearbeitet hatte, waren überall in dem Durcheinander verstreut. George sah drei Stockwerke hinauf zu den freiliegenden Stützbalken des Dachs und den silbernen Rückseiten der Dämmung, die dazwischen angebracht war. Einer seiner Enkel (welcher?) hatte die Fasermatten schon vor Jahren angetackert, und jetzt hatten sich zwei oder drei Bahnen gelöst und hingen heraus wie flauschige rosa Zungen.

Das Dach stürzte ein, und eine neue Lawine aus Holz und Nägeln, Dachpappe und Schindeln und Isolierung polterte herunter. Da war der Himmel, voller plattgedrückter Wolken, die wie eine Flotte aus Ambossen durch das Blau zogen. George hatte das feuchte, wunde Gefühl eines Kranken, der sich im Freien aufhält. Die Wolken kamen zum Stehen, hielten kurz inne und donnerten auf seinen Kopf.

Das Himmelsblau selbst kam hinterher, sickerte aus der Höhe in den vollgestopften Betonsockel. Als Nächstes fielen die Sterne, klimperten rings um ihn herum, als hätte der Himmel seinen Schmuck abgeschüttelt. Und schließlich riss sich die schwarze Wüstenei selbst los und breitete sich über den ganzen Haufen, deckte Georges wirre Vernichtung zu.

Fast siebzig Jahre bevor George starb, fuhr sein Vater Howard Aaron Crosby mit einem Karren über Land. Es war ein Holzkarren. Es war eine Kommode, auf zwei Achsen und Räder mit Holzspeichen montiert. Sie hatte Dutzende von Schubfächern, alle mit einem versenkten Messingring versehen und nur mit gekrümmtem Zeigefinger aufzuziehen. Sie enthielten Bürsten und Holzöl, Zahnpulver und Nylonstrümpfe, Rasierseife und Rasierklingen. Es gab Schubfächer mit Schuhwichse und Schnürsenkeln, Besenstielen und Schrubberköpfen. Es gab ein Geheimfach, in dem bewahrte er vier Flaschen Gin auf. Seine Runde führte meist über abgelegene Landstraßen, unbefestigte Wege durch dichte Wälder zu versteckten Lichtungen, wo zwischen Sägemehl und Baumstümpfen ein Blockhaus lag und eine Frau in einem schmucklosen Kleid, das Haar so straff zurückgebunden, dass es aussah, als lächelte sie (was sie nicht tat), mit gespannter Flinte vor einer schiefen Tür stand. Ach, Sie sind’s, Howard. Ja, ich glaub, ich brauch einen von Ihren Blecheimern. Im Sommer hatte er den Heidekrautduft in der Nase, sang someone’s rocking my dreamboat und beobachtete die Monarchfalter (Wandergesell, Feuerflügler; in seiner Vorstellung war er ein halber Dichter), die von Mexiko heraufgekommen waren. Das Frühjahr und der Herbst waren seine einträglichsten Zeiten; der Herbst, weil die fernab im Wald Hausenden sich für den Winter eindeckten (er lud die Waren vom Karren auf flammendrote Ahornblätter), das Frühjahr, weil sie ihre Vorräte aufgebraucht hatten, oft schon Wochen bevor die Straßen wieder passierbar waren und er seine ersten Runden machen konnte. Wie Schlafwandler taumelten sie dann zu seinem Karren: mit Glanz in den Augen und ausgehungert. Manchmal brachte er Bestellungen für einen Sarg aus dem Wald mit – ein Kind, eine Frau, in Sackleinen gewickelt, steifgefroren im Holzschuppen.

Er flickte alles. Töpfe, Kessel, Schmiedeeisernes. Lötmetall geschmolzen und die Löcher ausgegossen. Quecksilberflickwerk. Ab und zu einen verbeulten Topf wieder glattgehämmert, das Klingeln des Blechs hell und singend, winzig unter dem Dach des borealen Waldes. Tinker, Kesselflicker, Kupferschmied, hauptsächlich aber Besen- und Bürstenhöker.

 

George konnte das Fundament für ein Haus ausschachten und mit Beton ausgießen. Er konnte das Holz sägen und das Gerüst zusammennageln. Konnte die elektrischen und die Wasserleitungen verlegen. Konnte die Trockenmauer einsetzen. Konnte die Böden legen und das Dach decken. Konnte die Backsteintreppe bauen. Konnte die Fenster verfugen und die Fensterrahmen streichen. Aber einen Ball werfen oder eine Meile gehen, das konnte er nicht; er hasste Sport und tat, nachdem er mit sechzig vorzeitig in den Ruhestand gegangen war, aus freien Stücken nichts mehr, was seinen Herzschlag hätte beschleunigen können – sich durch dichtes Gebüsch schlagen, um an eine gute Stelle für Forellen zu kommen, war das Äußerste. Bewegungsmangel war vielleicht auch der Grund, warum seine Beine bei der ersten Bestrahlung, die er gegen den Krebs in seinem Unterleib bekam, anschwollen wie zwei tote Seehunde am Strand und dann so hart wurden wie Holz. Bevor er bettlägerig wurde, ging er, als wäre er ein Kriegsversehrter aus den Zeiten vor der modernen Prothetik, stark schwankend, als hätte man ihm zwei Hartholzbeine, die Schenkel mit Eisenscharnieren verbunden, an den Leib geschnallt. Wenn seine Frau nachts im Bett durch den Schlafanzug hindurch seine Beine berührte, fielen ihr Eiche oder Ahorn ein, und sie musste gegen die Vorstellung ankämpfen, dass sie in seine Werkstatt hinunterstieg, Sandpapier und Beize holte, ihm die Beine abschmirgelte und sie mit einem Pinsel bestrich, als gehörten sie zu einem Möbelstück. Einmal prustete sie, als sie das Lachen gerade unterdrücken wollte, laut heraus bei dem Gedanken: Mein Mann, der Tisch. Hinterher war ihr so elend, dass sie weinte.

 

Die Sturheit mancher Frauen, mit denen Howard auf seinen täglichen Runden über Land zu tun hatte, kultivierte in ihm, wie er glaubte oder geglaubt hätte, hätte er je wissentlich darüber nachgedacht, eine unerschütterliche Besonnenheit und Geduld. Ersetzte beispielsweise die Seifenfabrik ihr altes Waschmittel durch eine neue Rezeptur und veränderte etwas an der Verpackung der Seife, musste Howard Debatten über sich ergehen lassen, bei denen er schneller eingelenkt hätte, wären seine Widersacher nicht zahlende Kunden gewesen.

 

Wo ist die Seife?

Das ist die Seife.

Die Schachtel ist anders.

Ja, sie haben sie verändert.

Was war denn verkehrt an der alten?

Nichts.

Warum haben sie sie dann verändert?

Weil die Seife besser ist.

Die Seife ist anders?

Besser.

War nichts verkehrt an der alten.

Natürlich nicht, aber die hier ist besser.

War nichts verkehrt an der alten Seife. Wie kann die da besser sein?

Die reinigt eben besser.

Hat vorher prima gereinigt.

Die hier reinigt besser – und schneller.

Ach, ich nehm eine Schachtel von der normalen Seife.

Das ist jetzt die normale Seife.

Ich kann meine normale Seife nicht haben?

Das ist die normale Seife, ich garantiere es.

Ich will aber keine neue Seife ausprobieren.

Die ist nicht neu.

Wenn Sie es sagen, Mr. Crosby. Wenn Sie es sagen.

Ma’am, ich brauche noch einen Penny.

Noch einen Penny? Wofür?

Die Seife ist einen Penny teurer, weil sie jetzt besser ist.

Ich muss einen Penny mehr zahlen für eine andere Seife in einer blauen Schachtel? Ich nehm eine Schachtel von meiner normalen Seife.

 

Bei einer Haushaltsauflösung kaufte George eine defekte Uhr. Der Besitzer gab ihm den Reprint eines Reparaturhandbuchs aus dem achtzehnten Jahrhundert kostenlos dazu. George begann im Bauch alter Uhren herumzustochern. Als Ingenieur waren ihm Übersetzungen, Kolben und Antriebe, die Physik und die Festigkeit von Werkstoffen vertraut. Als Yankee in North Shore, dem Landstrich nördlich von Boston, in dem die Leute Pferde hielten, wusste er, wo das alte Geld steckte und von Sägewerken, Schieferbrüchen, Börsenkursen und Fuchsjagden träumte. Bankenchefs, stellte er fest, ließen es sich etwas kosten, wenn ihre störrischen Erbstücke auch weiter die Zeit maßen. Den verschlissenen Zahn eines Anschlagrads konnte er von Hand reparieren. Die Uhr mit dem Zifferblatt nach unten hinlegen. Die Schrauben lösen, vielleicht auch nur aus dem Zedern- oder Walnussgehäuse herausziehen, sollten die Gewindegänge längst zu Holzstaub zerfallen sein, beim Abwischen der Kaminaufsätze verschwunden. Die Rückseite des Uhrengehäuses abheben wie den Deckel von einer Schatzkiste. Die langarmige Juwelierlampe heranziehen, so dicht, dass das Licht direkt über die Schulter fällt. Das dunkle Messing in Augenschein nehmen. Die Triebe von Schmutz und Öl verklebt vorfinden. Die blauen, grünen und lila Wellen sehen, die gehämmertes, verbogenes, gelötetes Metall aufweist. Den Zeigefinger in die Uhr stecken, am Ankerrad pfriemeln (wie vollkommen stimmig doch die Bezeichnungen für die einzelnen Teile waren – Hemmung: der letzte Teil im Mechanismus, die Stelle, an der die Kraft freigesetzt, weitergegeben wird, welche die Zeit regelt). Näher mit der Nase herangehen; das Metall riecht nach Tannin. Die ins Uhrwerk eingeätzten Namen lesen: Ezra Floxham – 1794. Geo. E. Tiggs – 1832. Thos. Flatchbard – 1912. Die nachgedunkelten Werke aus dem Gehäuse heben. Sie in Ammoniak tauchen. Sie mit brennender Nase und wässrigen Augen wieder herausheben und unter Tränen sehen, wie sie glänzen und funkeln. Die Zähne abfeilen. Die Lager zusammenstauchen. Die Federn aufziehen. Die Uhr fertigmachen. Den eigenen Namen hinzusetzen.

Tinker. Flicker. Kling-klang. Klopf, klopf, klopf. Plingplingplingpling. Da war das Klingen von Töpfen und Blecheimern. Da war außerdem das Geklingel in Howard Crosbys Ohren, ein schriller Ton, der in einiger Entfernung anhob und sich näherte, bis er ihm ins Gehör drang und sich darin festsetzte. Howard dröhnte der Kopf, als wäre er der Klöppel in einer Glocke. Die Kälte sprang ihm auf die Zehenspitzen und kurvte auf den Wellen des Geklingels durch seinen Leib, bis ihm die Zähne klapperten und die Knie nachgaben und er die Arme um sich legen musste, damit er nicht in Stücke ging. Das war seine Aura, ein kalter Hof aus chemischer Elektrizität, der ihn wie ein Heiligenschein umkreiste, kurz bevor ein Grand mal ihn fällte. Howard hatte Epilepsie. Seine Frau Kathleen, ehemals Kathleen Black von den Quebecer Blacks, aber aus einem verarmten abseitigen Zweig der Familie, schob Tische und Stühle beiseite und bugsierte ihn auf den leeren Küchenfußboden. Sie wickelte einen trockenen Kiefernzweig in ein Geschirrtuch, damit er etwas zum Draufbeißen hatte und sich nicht an seiner Zunge verschluckte oder ein Stück abbiss. Kam der Anfall schnell, zwängte sie ihm den blanken Stock zwischen die Zähne, und er hatte beim Erwachen lauter Holzsplitter und den Geschmack von Saft im Mund, und sein Kopf fühlte sich an wie ein Glaskrug voller alter Schlüssel und rostiger Schrauben.

Für den Zusammenbau der zerlegten Uhr wird die hintere Platine auf eine Unterlage aus weichem Material gelegt, vorzugsweise auf mehrmals gefaltetes dickes Sämischleder. Jedes Rad wird mit seiner Welle in das richtige Loch eingesetzt, beginnend mit dem großen Rad und der locker sitzenden Schnecke, jenem Wunder eines mit spiralförmiger Nut versehenen Kegelstumpfs, der ein Geschenk Herrn da Vincis an die Menschheit ist, und bis zum kleinsten voranschreitend, wobei die Zähne des einen Rads in das Trieb des nächsten eingreifen und so immer fort, bis das Schwungrad des Schlagwerks und das Hemmungsrad des Gehwerks an ihren angestammten Plätzen sitzen. Ein märchenhafter Apparat liegt nun vor dem Uhrmacher offen zutage; Räder greifen vorn und hinten ineinander wie eine träge Maschine im Traum. Die Zeit des Universums lässt sich so allerdings nicht anzeigen. Eine Vorrichtung, so krumm und schief und zart, könnte nur die unwirklichen Stunden ungebärdiger Gespenster messen. Die vordere Platine des Werks wird zur Hand genommen und zuerst auf die nach oben zeigenden Achsen der Zug- und Sperrfedern aufgesetzt, der größten und handlichsten Teile aus dem ganzen Gemengsel. Dies getan, hebt der Uhrmacher das labile Sandwich loser Eingeweide auf Augenhöhe und hält es einigermaßen beisammen, indem er beide Platinen aufeinanderdrückt und darauf achtgibt, dass er weder zu viel Druck ausübt (und derart die feineren, nicht in gerader Linie stehenden Wellen am oberen Ende beschädigt) noch zu wenig (und derart den schon halb wieder zusammengesetzten Mechanismus dazu provoziert, sich abermals in seine diversen Einzelteile aufzulösen, die sich oftmals ja gerade in die verborgensten Winkel der staubigen Uhrmacherwerkstatt flüchten und so Anlass zu viel lästerlichem Fluchen geben). Wenn die Uhr, so der geduldige Uhrmacher Erfolg hatte mit seinem Mühen und das große Rad mit dem Daumen anstupst, rattert und quietscht, statt mit messingner Logik zu surren und zu schnurren, muss die getane Arbeit rückgängig gemacht und mit kalter Vernunft neu in Angriff genommen werden, bis die Kobolde der Unordnung verscheucht sind. Bei Uhren mit nur einem Gehwerk ist die Wiederbelebung der Mechanik einfach. Kompliziertere Mechanismen, etwa solche, die zusätzlich die Darstellung des Mondes oder eines mit Obst jonglierenden Narren erlauben, erfordern fast unendlich viel Geschick und Beharrlichkeit. (Der Verfasser hat von einer Uhr gehört, angeblich in Ostböhmen zu besichtigen gewesen, deren Zifferblatt die Nachbildung einer großen Eiche aus Eisen und Messing zierte. Im Wechsel der Jahreszeiten in ihrem Heimatlande färbten sich an den Ästen des Baumes tausend winzige Kupferblätter, ein jedes auf eine haarfeine Spindel aufgefädelt, von Emailgrün bis zu Kupferrot. Vermittels verblüffender Vorrichtungen im Innern des Gehäuses – das in seiner Gestaltung einer der mythischen Säulen ähnelte, die nach altem Glauben die Erde trugen – lösten sich die Blätter schließlich von den Ästen, schwebten an ihren Fäden hinab und verstreuten sich über den unteren Teil des Zifferblatts. Falls es diesen Apparat wirklich gab, saß Herr Newton höchstselbst wohl unter keinem erstaunlicheren Baume.)

– aus: Der verständige Uhrmacher von Rev. Kenner Davenport, 1783

George Crosby erinnerte sich an viele Dinge, als er starb, die Reihenfolge jedoch konnte er nicht beeinflussen. Sein Leben zu betrachten, jene Inventur zu machen, wie sie ein Mann, so hatte er immer gedacht, am Ende vornahm, hieß, einer beweglichen Masse ansichtig zu werden, Steinchen eines Mosaiks, kreisend, wirbelnd, die zwar – und stets in erkennbaren Farbfeldern – bekannte Elemente, winzige Teilstücke, vertraute Abläufe wiedergaben, jetzt aber unabhängig von seinem Willen waren und ihm jedes Mal ein anderes Ich zeigten, wenn er zu einem abschließenden Urteil gelangen wollte.

 

Einhundertachtundsechzig Stunden bevor er starb, stieg er durchs Kellerfenster in die methodistische Kirche in West Cove ein und läutete am Halloweenabend die Glocke. Er wartete im Keller darauf, dass sein Vater ihm dafür was mit dem Ochsenziemer gab. Sein Vater lachte laut und klatschte sich auf die Schenkel, weil George sich die Hose am Hintern mit alten Saturday Evening Posts ausgestopft hatte. Er saß stumm beim Abendbrot, hatte Angst, seine Mutter anzusehen, denn es war schon elf, und sein Vater war noch nicht zu Hause, aber trotzdem mussten alle vor dem kalten Essen sitzen bleiben. Er heiratete. Zog weg. War Methodist, Kongregationalist und schließlich Unitarier. Er zeichnete Maschinen und unterrichtete technisches Zeichnen und hatte Herzanfälle und überlebte sie, raste mit seinen Freunden von der Ingenieurhochschule über den neuen Highway, bevor er eröffnet wurde, unterrichtete Mathematik, machte seinen Master in Pädagogik, war Studienberater an der High School, fuhr jeden Sommer mit seinen Pokerkumpels – Ärzten, Polizisten, Musiklehrern – zum Fliegenfischen in den Norden, kaufte bei einer Haushaltsauflösung eine defekte Uhr und den Reprint eines Reparaturhandbuchs aus dem achtzehnten Jahrhundert, ging in den Ruhestand, unternahm Gruppenreisen nach Asien, Europa und Afrika, reparierte dreißig Jahre lang Uhren, verwöhnte seine Enkelkinder, bekam Parkinson, bekam Diabetes, bekam Krebs und wurde in einem Krankenhausbett mitten in seinem eigenen Wohnzimmer aufgebahrt, genau an der Stelle, wo sonst der Esszimmertisch stand, den sie an Festtagen mit zwei ansteckbaren Platten verlängerten.

George gestattete sich nie, an seinen Vater zu denken. Gelegentlich aber, wenn er eine Uhr reparierte und sich eine neue Feder, die er in ihr Federhaus zu locken versuchte, von der Welle löste und riss und ihm in die Hände schnitt, manchmal das ganze Werk beschädigte, sah er im Geiste seinen Vater, wie er auf dem Boden lag, beim Strampeln gegen Stühle trat, Läufer zusammenschob, Lampen ins Schwanken brachte, mit dem Kopf auf die Dielen hämmerte, die Zähne in einen Stock oder in Georges Finger schlug.

Seine Mutter hatte bis zu ihrem Tod bei George und seiner Familie gelebt. Wenn es sich ergab, meist bei den Mahlzeiten, vielleicht weil ihr in ebendieser Situation ihr früherer Ehemann zuvorgekommen war, sie reingelegt hatte und sie mit ihrem Plan, ihn fortschaffen zu lassen, allein am Tisch zurückgeblieben war, beklagte sie sich, was für ein Hallodri sein Vater gewesen sei. Es konnte sein, dass sie sich Haferflocken in den Mund schaufelte und den Löffel unter enormem Klappern und Schmatzen aus den Klauen ihres Gebisses befreite und schließlich sagte: Dichter, ha! Ein Spatzenhirn war er, ein Schwätzer, ein verrückter Vogel, wie er bei seinen Anfällen immer herumflatterte und alles.

Aber George sah seiner Mutter ihren Groll nach. Jedes Mal, wenn er daran dachte, was sie mit ihren bitteren Klagen eindämmen wollte, kamen ihm die Tränen, und er hielt inne, sah auf von den Schlagzeilen der Morgenzeitung, beugte sich vor und küsste sie auf die mit Kampfer eingeriebene Stirn. Woraufhin sie polterte: Du brauchst mich gar nicht zu trösten! Dieser Mann ist der Schatten auf meinem Seelenfrieden. Der verdammte Narr! Das munterte George dann sogar wieder auf; ihre ständigen Litaneien beruhigten sie und erinnerten sie daran, dass dieses Leben vorbei war.

Als er auf seinem Sterbebett lag, wollte George seinen Vater noch einmal sehen. Wollte das Bild seines Vaters wachrufen. Jedes Mal, wenn er sich zu konzentrieren und, weit von der Gegenwart entfernt, noch tiefer zu schürfen versuchte, spülten ihn ein Schmerz, ein Geräusch, jemand, der ihn auf die Seite drehte und seine Laken wechselte, oder die Gifte, die aus seinen krebsverklebten Nieren in sein verklumpendes und dunkler werdendes Blut sickerten, wieder in seinen erschöpften Leib und seinen verworrenen Geist zurück.

 

Eines Nachmittags im Frühjahr vor seinem Tod, als Georges Krankheit sich konsolidierte, beschloss er, Erinnerungen und Anekdoten aus seinem Leben auf Tonband zu sprechen. Seine Frau war außer Haus, einkaufen, und so ging er mit dem Kassettenrecorder an seinen Arbeitstisch im Keller. Er öffnete die Tür zwischen Werkstatt und Werkzeugraum. Im Werkzeugraum stand ein Holzofen zwischen Ständerbohrmaschine und Drehbank. George knüllte ein paar alte Zeitungen zusammen und steckte sie in den Ofen, dazu drei Scheite Holz von dem halben Klafter, das er in der Ecke neben der Tür in der Trennwand lagerte. Er zündete ein Feuer an und rückte das Ofenrohr zurecht, hoffte, dass sich der betonkühle Keller ein bisschen erwärmte. Kehrte an seinen Tisch im anderen Kellerraum zurück. In das Bandgerät eingestöpselt war ein billiges Mikrofon, das auf dem Clip, der als Standfuß diente, nicht aufrecht blieb. Der Clip war so leicht, dass die Krümmung des vom Mikrofon zum Recorder verlaufenden Kabels ihn immer wieder umwarf. George versuchte das Kabel zu richten, aber das Mikrofon wollte partout nicht stehen bleiben, und so legte er es einfach oben auf den Recorder. Die Tasten des Bandgeräts waren schwergängig und verlangten ihm Kraft ab, bevor sie einrasteten. Sie waren mit kryptischen Abkürzungen beschriftet, und George musste erst ein bisschen herumprobieren, bevor er sicher war, dass er die richtige Kombination für die Aufzeichnung seiner Stimme gefunden hatte. In dem Gerät steckte ein Band mit einem verblassten rosa Etikett, darauf in Schreibmaschine die Worte Early Blues Compilation, Copyright Hal Broughton, Jaw Creek, Pennsylvania. Die Kassette, fiel George ein, hatten er und seine Frau mal bei irgendeinem der Elderhostel-Sommerkurse gekauft, die sie vor Jahren an verschiedenen Colleges besuchten. Als George zuerst die PLAY-Taste drückte, krähte eine Männerstimme, dünn und wie von ferne klingend, etwas über einen Höllenhund, der ihm auf den Fersen sei. So eine Klage, fand George, war eine gute Einführung in seine Rede, und er spulte deshalb das Band nicht zurück, sondern fing gleich mit seiner Aufnahme an. Die verschränkten Arme auf die Kante seiner Werkbank gestützt, beugte er sich nach vorn zum Mikro, so als beantworte er Fragen bei einer Vernehmung. Er begann förmlich: Mein Name ist George Washington Crosby. Geboren wurde ich 1915 in West Cove, Maine. 1936 bin ich nach Enon, Massachusetts, gezogen. Und so weiter. Als er sich nach diesen allgemeinen Daten ans Erzählen machen wollte, fielen ihm nur Schnickschnack und leicht obszöne Anekdoten ein, meist im Zusammenhang mit törichten Abenteuern, zu denen er sich nach zu viel Whiskey bei einem Angelausflug hatte hinreißen lassen; oft genug ging es darum, dass er mit einem Korb voller Fische, aber ohne Angelschein einem Wächter in die Arme gelaufen war, oder um eine Pistole, die ein Arzt in den Wald mitgebracht hatte: Wenn das eine Neunmillimeter ist, küsse ich dir noch hier draußen auf dem Eis den blanken kalten Arsch; oder um den Text eines Songs mit dem Titel »Komm zu dir, Mutter, ’s is besser, wenn du wach bist«. Und so weiter. Nach ein paar solchen Geschichten aber sprach er über seinen Vater und seine Mutter, über seinen Bruder Joe und seine Schwestern, über die Abendkurse, die er besucht hatte, um das College abzuschließen, und über das Vaterwerden. Er spach über blauen Schnee und Fässer voller Äpfel und über gefrorenes Holz, so spröde, dass es beim Spalten klirrte. Er sprach davon, wie es ist, wenn man zum ersten Mal Großvater wird und überlegt, was von einem bleibt, wenn man stirbt. Als das Band anderthalb Stunden später zu Ende war (nachdem er es umgedreht hatte, ohne groß darüber nachzudenken) und die RECORD-Taste geräuschvoll hochsprang, weinte er bitterlich und beklagte den Verlust dieser Welt aus Licht und Hoffnung. Tief bewegt zog er die Kassette aus dem Gerät, drehte sie um, schob sie wieder in das schmale Fach mit der Capstanwelle und den Führungsstiften und drückte PLAY, weil er dachte, die Stimmung reiner, unverstellter Trauer ließe sich vielleicht bewahren, wenn er sich seine Schilderung noch einmal anhörte. Seine Erinnerungen, hoffte er, nahmen sich womöglich aus wie die eines bewunderungswürdigen Fremden, eines Menschen, den er zwar nicht kannte, aber auf Anhieb verstand und innig liebte. Doch die Stimme, die er dann hörte, klang näselnd und gepresst und, schlimmer, nicht gerade sehr gebildet, so als sei ein Bauernlümmel aufgefordert worden, und das vielleicht sogar zum Spott, sich über heilige Dinge zu äußern, und als sei nicht das, was er zu sagen hatte, sondern die Tapsigkeit, die er dabei an den Tag legte, der Grund für sein Erscheinen vor irgendeinem schrecklichen himmlischen Gericht. Sechs Sekunden lang hörte er sich das Band an, bevor er es herausnahm und in das im Holzofen brennende Feuer warf.

 

Schneidegras und Wildblumen standen hoch am Grat der unbefestigten Wege und strichen über den Bauch von Howards Karren. Bären tatzten in den Büschen neben den Furchen nach Früchten.

Howard hatte ein Schmuckkästchen dabei, zusammengehalten mit Kunstlederriemen und das Kiefernholz dunkel auf Walnuss gebeizt. Darin lagen auf Velveton billige vergoldete Ohrringe und Kettenanhänger aus Halbedelsteinen. Dieses Schmuckkästchen klappte er für ausgemergelte Landfrauen auf, wenn ihre Männer außer Haus waren und Bäume fällten oder die abgelegenen Äcker mähten. Alle Jahre wieder zeigte er ihnen dasselbe halbe Dutzend Stücke auf seiner letzten Runde, wenn er dachte: Das ist die Zeit dafür – das Einwecken ist geschafft, der Holzstoß ist hoch, der Nordwind kommt, und es wird kalt, jeden Tag wird es zeitiger Abend, Dunkel und Eis drängen von Norden heran, legen sich auf das rohe Holz ihrer Hütten, auf die nur grob behauenen Dachsparren, die unter der Last des Dunkels und des Eises ächzen und manchmal brechen, schlafende Familien unter sich begraben, Dunkel und Eis und manchmal das Rot