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Als Rauschgiftermittler der Kriminalpolizei kann Ben sich auf seine Menschenkenntnis verlassen – dachte er zumindest. Umso größer ist für ihn der Schock darüber, dass seine neue Eroberung mit einem Bein im Knast steht. Eliáns Vergangenheit, die ihn bis heute verfolgt, ist jedoch nicht alles, was dafür sorgen könnte, einen Abgrund zwischen ihm und Ben zu reißen. Ebenso schwer wiegt Eliáns Angst, Ben könnte innerhalb seines Jobs etwas zustoßen, und Ben wiederum kommt nicht mit einem Mann klar, der ihn einengt. Für seine Arbeit braucht er einen klaren Kopf. Mehr noch, als er durch zunächst routinemäßig wirkende Ermittlungen auf einen Dealer stößt, dessen Machenschaften weit über die eines Kleinkriminellen hinausgehen. Mit einem Mal sieht Ben sich gezwungen, sich an das Landeskriminalamt zu wenden. In János lernt er einen Kollegen kennen, der seinen festen Platz im beruflichen wie privaten Leben längst gefunden zu haben scheint. Doch auch János trägt Narben der Vergangenheit mit sich. Anmerkung: Der Roman handelt nicht von einer Threesome-Beziehung. Eine Triggerwarnung entnehmen Sie bitte dem Vorwort, welches innerhalb der Leseprobe eingesehen werden kann. ~~~~~ Band 3 der Polizei-Romance-Reihe "Sheltered in blue". Alle Bände sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. ~~~~~ Bislang innerhalb der Reihe erschienen sind: »Sheltered in blue – Wenn Barrikaden brennen« (Erik & Nils) »Sheltered in blue – Wenn Erinnerungen lähmen« (Jan & Kadir) »Sheltered in blue – Wenn Vertrauen aus Verrat erwächst« (Elián, Ben & János) »Sheltered in blue – Wenn wir verletzen« (Domenico & Sascha) »Sheltered in blue – Wenn wir verzeihen« (Domenico & Sascha)
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Als Rauschgiftermittler der Kriminalpolizei kann Ben sich auf seine Menschenkenntnis verlassen – dachte er zumindest. Umso größer ist für ihn der Schock darüber, dass seine neue Eroberung mit einem Bein im Knast steht. Eliáns Vergangenheit, die ihn bis heute verfolgt, ist jedoch nicht alles, was dafür sorgen könnte, einen Abgrund zwischen ihm und Ben zu reißen. Ebenso schwer wiegt Eliáns Angst, Ben könnte innerhalb seines Jobs etwas zustoßen, und Ben wiederum kommt nicht mit einem Mann klar, der ihn einengt. Für seine Arbeit braucht er einen klaren Kopf. Mehr noch, als er durch zunächst routinemäßig wirkende Ermittlungen auf einen Dealer stößt, dessen Machenschaften weit über die eines Kleinkriminellen hinausgehen. Mit einem Mal sieht Ben sich gezwungen, sich an das Landeskriminalamt zu wenden. In János lernt er einen Kollegen kennen, der seinen festen Platz im beruflichen wie privaten Leben längst gefunden zu haben scheint. Doch auch János trägt Narben der Vergangenheit mit sich.
Anmerkung: Der Roman handelt nicht von einer Threesome-Beziehung.
Copyright © 2020 Svea Lundberg
Julia Fränkle-Cholewa
Zwerchweg 54
75305 Neuenbürg
www.svealundberg.net
Korrektorat: Bernd Frielingsdorf
Buchsatz: Annette Juretzki
Covergestaltung:
Minelle Chevalier/ www.mc-coverdesign.de
Bildrechte: depositphotos.com
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte sind vorbehalten.
Die in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Inhalt des Romans sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.
Mit »Wenn Vertrauen aus Verrat erwächst« geht meine Polizei-Reihe »Sheltered in blue« in die dritte Runde. Dieses Mal widme ich mich den Aufgabengebieten der Kriminalpolizei – genauer: der Kriminalinspektion für Organisiertes Verbrechen und Rauschgiftkriminalität – und des Landeskriminalamtes. Wie bereits für die beiden Vorgängerbände gilt auch für diesen, dass manche im Roman dargestellten Handlungen in Bezug auf Ermittlungsarbeiten eher vage bleiben. Damit trage ich dem Umstand Rechnung, dass nicht alle Arbeitsweisen innerhalb der Polizei dazu bestimmt sind, im Detail an die Öffentlichkeit getragen zu werden. Insbesondere in Bezug auf ›verdeckte Ermittlungen‹ ist es mir ein großes Anliegen, dem Motto meiner Polizei-Reihe gerecht zu werden: ›So nahe an der Realität wie möglich, so weit in der Fiktion wie nötig.‹
Ich wünsche euch hoffentlich gutes Lesevergnügen!
Bevor ihr startet, möchte ich noch eine Triggerwarnung aussprechen: Dieser Roman thematisiert unter anderem sexuelle Gewalt und psychische sowie physische Erniedrigungen (insbesondere gegenüber Frauen), erzwungene Prostitution und Menschenhandel sowie den Handel mit Betäubungsmitteln.
Für all jene, die täglich mit ihrem Leib und Leben für unser aller Sicherheit einstehen. Für ihre Familien und Freunde.
~~~~~
Die »thin blue line« – eine dünne blaue Linie auf schwarzem Grund – hat sich, ausgehend vom angelsächsischen Raum, weltweit als Zeichen der Verbundenheit zwischen Gesetzeshütern und Bevölkerung etabliert und hebt den Auftrag der Beamten im Dienst hervor, die Bevölkerung vor kriminellen Elementen zu bewahren. Vor dem schwarzen Hintergrund erinnert die »thin blue line« an all jene Kollegen, die im Dienst verletzt oder getötet wurden.
Ausgehend von diesem Symbol entstand der Reihen-Titel »Sheltered in blue«. Stets in der Hoffnung, die Beamten mögen unverletzt aus dem Dienst zurückkehren. In ihr Zuhause, zu ihren Familien und Freunden.
Bereits als er an diesem Morgen zu seiner Laufrunde aufbrach, ahnte er, dass an diesem Tag irgendetwas geschehen würde, das die Welt, in die er in den vergangenen Jahren eingetaucht war, aus den Angeln heben würde. Und er wusste, dass er darauf verdammt noch mal nicht vorbereitet war.
Seine eigenen Schritte hallten, wenn auch gedämpft vom Waldboden, bedeutungsschwer in seinen Ohren nach. Mehr noch, als sich das Geräusch der Schritte eines weiteren Mannes dazumischte.
Kristóf blieb nicht stehen, doch er lief deutlich langsamer, als er es für gewöhnlich tat. Wartete regelrecht darauf, eingeholt zu werden, auch wenn er sich nicht sicher war, ob Ilja tatsächlich derjenige sein würde, der die Welt ins Wanken brachte. Und damit seine mühsam zurechtgelegte Existenz.
Ilja brauchte 400 oder vielleicht sogar 500 Meter, bis er zu ihm aufgeschlossen hatte. Kristóf konnte hören, dass Ilja seine Schritte den seinen anpasste. Ob bewusst oder wie automatisch, vermochte er nicht zu sagen. Überhaupt war dieser Kerl ein Mysterium für ihn und Kristóf war sich selbst noch nicht im Klaren darüber, wie wichtig es für ihn war, Ilja zu durchschauen. Nicht für ihn persönlich, der Kerl bedeutete ihm nichts, außer dass er einen ganz hübschen Schwanz hatte und ...
Im Laufen biss er sich in die Innenseite der Wange. Das war nicht ganz richtig. Ilja hatte mehr zu bieten als das. Und vielleicht ... ganz vielleicht ... bedeutete er Kristóf auch etwas. Jedoch nicht das, was Ilja sich möglicherweise erhoffte. Aber vielleicht deutete Kristóf dessen Blicke auch falsch. Ein Mysterium eben. Eine Variable im Großen und Ganzen, die er noch nicht gänzlich zu deuten vermochte. Und jede Variable, die nicht durch eine exakte Bedeutung ersetzt werden konnte, war in der Lage, eine Gleichung in die falsche Richtung hin aufzulösen.
Die Schritte neben ihm verklangen abrupt.
»Kristóf!«
Wie aus Reflex verlangsamte er seine Schritte, blieb schließlich stehen. Drehte sich zu Ilja um, jedoch ohne auf ihn zuzugehen. Stattdessen wartete er darauf, dass Ilja den letzten Abstand überbrückte – wenigstens äußerlich. Denn richtig nahe würden sie sich niemals sein. Ganz egal, was in Iljas schönen Augen verborgen lag. Und dass Kristóf sich dessen so sicher war, hatte nicht mal unbedingt irgendetwas mit Moral zu tun.
»Warum?« Lediglich dieses eine Wort verließ Iljas Mund, brachte Kristóf dazu, die Lippen zu einem freudlosen Lächeln zu verziehen.
»Warum was?«
Er konnte sehen, wie viel innere Kraft es Ilja kostete, seine hilflos klingende Nachfrage zu präzisieren.
»Warum hast du ... Natalia ...?«
»Natalia was?« Kristóf ging einen Schritt auf ihn zu, sodass sie nun direkt voreinander standen. Sie waren sich schon näher gewesen. Viel näher. Aber eben nur körperlich. Und da war er wieder: Dieser Schimmer in Iljas Augen, der erahnen ließ, dass er sich nach mehr sehnte. Er blinzelte und diese Geste war es, die Kristóf dazu bewegte, es ihm wenigstens ein kleines bisschen leichter zu machen, auch wenn er ihm niemals seine wahren Beweggründe würde verraten können.
»Warum ich vorgeschlagen habe, du solltest sie einreiten?«
Ilja nickte stumm.
»Weißt du das wirklich nicht?«
Er schüttelte den Kopf. Nickte gleich darauf wieder. Schien einen inneren Kampf mit sich auszufechten. »Du wusstest, wie ... es enden würde? Dass es nicht ... dazu kommen würde, wenn wir ... wenn ich ... Wusstest, dass ... er nicht zusehen würde?« Seine Stimme klang dünn, beinahe flehend. Und Kristóf ertappte sich dabei, beinahe so etwas wie einen Funken Mitleid zu empfinden. Doch für einen wie Ilja würde es kein Mitleid geben. Er war nützlich für sie, keine Frage, aber Kristóf machte sich keine Illusion darüber, dass in erster Linie Furcht Iljas Motivation gewesen war zu tun, was er eben getan hatte. Ein Versuch, den eigenen Arsch zu retten.
»Ja.« Er peitschte das Wort hart über seine Lippen, schob damit die eigenen Gedanken beiseite.
Im nächsten Moment sank Ilja zitternd gegen ihn. Ohne ihn anzufassen. Lediglich seine Stirn ruhte an Kristófs Schulter, der nur mit Mühe dem Drang widerstand, einen Schritt zurückzutreten oder ihn von sich zu schieben. Stattdessen ließ er zu, dass Ilja das Gesicht an seinem verschwitzten Shirt barg. Der Grad war so schmal. Es wäre so leicht, sich zu verlieren.
»Kristóf ... Kris, ich ... war bei den Bullen.«
Ein Ruck lief durch Kristófs Körper. Mit innerer Gewalt gelang es ihm, es wie ein überraschtes oder vielleicht auch zorniges Zucken seines Arms wirken zu lassen. Es kostete ihn eiserne Beherrschung, weiterhin zuzulassen, dass Ilja an ihm lehnte.
Er hatte es gewusst! Ihn schockierte in diesem Moment nicht, was Ilja ihm erzählte, sondern dass er es überhaupt tat. Ausgerechnet ihm.
»Ich hab ... denen Sachen erzählt, die ... Ich könnte ... Sollte ... Aber ich ... Kann. Das. Nicht.«
Fassung bewahren. So tun, als sei all das kalkuliertes Risiko, auch wenn es das verdammt noch mal nicht war. Kristóf zwang sich, die Arme um Ilja zu legen, spürte dessen Beben. Wäre die Situation nicht so dramatisch und gefährlich für alle Beteiligten gewesen, hätte Kristóf vielleicht gelacht.
Dieser Kerl ... Ilja ... hatte offenbar ein solches Vertrauen zu ihm aufgebaut, dass er ausgerechnet vor ihm, vor Dimitris rechter Hand, diese Beichte ablegte. Statt hier an ihm zu lehnen, sollte er eine Scheißangst vor ihm haben. Und das nicht nur aus den Gründen, die Ilja sich sicherlich selbst zusammenreimen konnte.
Das Skurrile war lediglich, dass sich Kristófs in diesem Moment vermutlich eine ebensolche Angst bemächtigte. Denn dass Ilja sich ihm anvertraute, verrückte sämtliche Variablen. Mehr noch: Es könnte Kristófs mühsam erschaffene Welt tatsächlich aus den Angeln heben. Allerdings auf eine andere Weise, als er es für möglich gehalten hatte.
Ilja konnte es unmöglich ahnen. Er konnte nicht über Kristóf wissen, was Kristóf wiederum über ihn wusste. Seit Tagen schon.
Er taumelte mit seinen Worten am Abgrund und dennoch murmelte er rau in Iljas Haar: »Ich weiß.«
Abrupt hob Ilja den Kopf, ihre Blicke kreuzten sich, doch noch ehe sie sich festhalten konnten, trat Kristóf zurück.
»Geh, Ilja«, war alles, was er sagte, ehe er sich abwandte und den geschotterten Waldweg weiter entlanglief. Im Takt seiner Schritte pochte sein Herz ein ebenso schnelles Stakkato in seiner Brust. Und er betete innerlich, dass er sich mit seinen Worten nicht vor Ilja verraten hatte.
Rund ein Jahr später.
Auf die Gefahr hin, eine neue Mail vorzufinden, deren Bearbeitung keinen Aufschub zulässt, kontrolliere ich wie jedes Mal kurz vor meinem regulären Feierabend noch einmal das Postfach. Keine Nachrichten von der Staatsanwaltschaft oder der Kriminaltechnik. Dafür aber eine Mail von Erik Rieth, die ich sofort öffne.
›Hallo Ben, kommst du heute Abend mit? LG Erik‹
Kurz und knapp, nur das Wichtigste gefragt, dabei aber stets höflich – so ist Erik schon immer, seit ich ihn kenne. Wir waren auf der Polizeischule in derselben Klasse. Gott, wie lange ist das nun her? Rund zehn Jahre? Wir werden alt ...
Seit unserem Abschluss und dem gemeinsamen Jahr in der Bereitschaftspolizei haben sich unsere Wege bei der Polizei in gänzlich unterschiedliche Richtungen entwickelt. Erik ist bei der BFE geblieben und dort seit geraumer Zeit Truppführer. Ich selbst bin über einige Umwege im Streifendienst schließlich bei der Kripo gelandet – KI 4 Organisierte Kriminalität und Rauschgiftkriminalität. Doch auch wenn Erik und ich uns nur alle Schaltjahre mal sehen, haben wir uns nie ganz aus den Augen verloren, was letztlich wohl auch Abenden wie dem kommenden zu verdanken ist.
Eigentlich habe ich mich davor drücken wollen. Ich unternehme gerne mal Ausflüge im Kreise von Kollegen, besonders wenn Polizisten aus anderen Bundesländern dazustoßen. Aber obwohl – oder gerade weil – ich selbst in Bad Cannstatt wohne und das Stuttgarter Frühlingsfest damit quasi vor der Haustür habe, zieht es mich an diesem Abend sehr viel eher aufs Sofa denn in ein überfülltes Bierzelt. Wenn Erik allerdings auch dort sein wird ... Seufzend tippe ich meine Antwort.
›Herr Polizeihauptmeister Rieth, dienstliche Mails sind nicht dazu gedacht, abendliche Freizeitaktivitäten zu koordinieren. ;-) Ja, ich komme. Bis später.‹
Ich warte nicht ab, ob er sich noch einmal zurückmeldet. Möglicherweise ist er um diese Zeit gar nicht mehr in der BePo oder wenn, dann doch wenigstens nicht mehr am PC, sondern vielmehr auf dem Trainingsgelände oder unter der Dusche, den Feierabend einläuten.
Bei dem Gedanken daran, wie wir uns zu BePo-Zeiten nach einem harten Übungstag oder einem nicht minder harten Einsatz zum Feierabendbier in den Nasszellen getroffen haben, huscht ein fast wehmütiges Lächeln über meine Lippen. Ich liebe meinen Job bei K. Ermittlungsarbeiten im Bereich Rauschgift sind immer genau das gewesen, was ich beruflich habe machen wollen. Doch gerade im Vergleich zur Arbeit in einer geschlossenen Einheit ist das hier der absolute Schreibtischjob. Und manchmal vermisse ich dann doch ein wenig das Zusammensein mit den Jungs und Mädels von damals.
Ich werde jedoch einen Teufel tun und Erik von meinen Gedanken erzählen. Das würde nur wieder in einer Grundsatzdiskussion enden.
Auf dem Weg in die kleine Küche schräg gegenüber meinem Büro, summt mein Handy in der Hosentasche. Die benutzte Kaffeetasse landet ordnungsgemäß nicht einfach im Waschbecken, sondern in der Spülmaschine. Zurück im Büro krame ich mein Smartphone hervor.
›Dann eben privat aufs Handy ... ;-) Klasse, bis später!‹
Grinsend klappe ich meinen Dienstlaptop zu, aktiviere die Displaysperre am Handy und schnappe mir meine Jacke von der Stuhllehne.
~*~*~*~*~*~
Wie zu erwarten ist das Grandls Hofbräu Zelt an diesem Freitagabend bereits gegen 19 Uhr gut besucht. An einer Gruppe gackernder und mit Maßkrügen beladener Junggesellinnen und ihrer zukünftigen Braut vorbei schiebe ich mich in Richtung der Empore zu meiner Linken. Irgendwo dort oben müssen die drei Tische sein, die Holger Lauinger vom Kriminaldauerdienst für uns reserviert hat. Trotz Gedränge und obwohl ich gar nicht so genau weiß, wer am heutigen Abend alles dazustoßen wird – ich habe die Polizei-goes-Frühlingsfest-WhatsApp-Gruppe irgendwann auf stumm geschaltet –, finde ich die besagten Tische rasch. So wie viele Schwule behaupten, einen eingebauten Gaydar zu besitzen, sind die meisten Polizisten mit einem Erkennungsradar für Kollegen ausgestattet. Oder wenigstens kommt es mir so vor. Anders kann ich es mir zumindest nicht erklären, dass man treffsicher im Fitnessstudio immer mit den Typen ins Gespräch kommt, die selbst bei der Polizei sind. Oder dass man nach einem Umzug nach spätestens einer Woche exakt weiß, in welchem Haus oder wenigstens in welcher Straße der nächste Kollege wohnt.
An den Biertischen angelangt brülle ich ein »Hallo zusammen, ich bin Ben« in die Runde. Ich vermeide es absichtlich hinzuzufügen, woher ich komme und in welchem Bereich der Polizei ich arbeite. Die Nebentische müssen nicht unbedingt mitbekommen, dass sich hier Bullen privat treffen.
Von ringsum ernte ich Zurufe und erhobene Maßkrüge zur Begrüßung. Flüchtig lasse ich den Blick über die bereits anwesenden Kollegen schweifen, erblicke außer Holger und einer Kollegin von der KI 1 aber niemanden, mit dem ich schon mal näheren Kontakt hatte. Schließlich trifft mein Blick den eines noch recht jungen Kollegen. Er ist vielleicht Anfang 20, mit dunkelblonden Haaren und hübschem Gesicht, die Nase ist eine Nuance zu lang. Er sitzt auf der Bierbank direkt vor mir und lächelt zu mir hoch. Demonstrativ rutscht er ein wenig zur Seite, obwohl zwischen ihm und mir noch locker Platz für zwei weitere Menschen wäre. Ich folge der unausgesprochenen Einladung und lasse mich neben ihm nieder. Mit Handschlag begrüße ich den Kollegen, der uns gegenübersitzt: Lasse, aus Hamburg, Davidwache, wie ich innerhalb eines kurzen Wortwechsels erfahre. Spannend, mit dem muss ich mich nachher unbedingt ausführlicher unterhalten. Direkt an der Reeperbahn gelegen ist die Davidwache gewissermaßen der Brennpunkt Hamburgs und die Arbeit dort mit Sicherheit niemals eintönig.
Zunächst jedoch wende ich mich dem Kollegen neben mir zu, der mich interessiert mustert. Mein Polizeiradar funktioniert eindeutig zuverlässiger als mein Schwulenradar, aber ich bin mir ziemlich sicher.
»Sorry, jetzt noch mal: Ben, KI 4, hier in Stuttgart. Und du bist?«
Sein Grinsen wird bei meinen Worten noch ein wenig breiter. Süß sieht er aus. Sexy. Ein wenig frech. Selbstbewusst. Sein Händedruck ist angenehm fest.
»Hab ich’s mir doch gedacht, als ich dich gesehen hab. Ich bin Nils, Eriks Freund.«
Hoppla!
Ich ziehe meine Hand nicht ruckartig zurück, gehe jedoch innerlich sofort ein wenig auf Abstand. Wäre ja noch schöner, wenn ich aus Versehen ...
Zwei Hände treffen unvermittelt auf meine Schultern, drücken zu und lassen mich zusammenzucken.
»Na, Kommissar Koch, flirten Sie etwa mit meinem Freund?« Die Belustigung klingt deutlich aus Eriks Stimme, sodass ich mich nun ebenfalls grinsend auf der Bank sitzend ihm zuwende.
»Würde mir im Traum nicht einfallen. Hi, Erik!«
Wir schlagen ein und ich rutsche wie automatisch ein Stückchen zur Seite, um Erik zwischen Nils und mir Platz zu machen. Doch er winkt schmunzelnd ab, drückt seinem Freund zur Begrüßung einen festen Kuss auf den Mund, ehe er um den Biertisch herumgeht und sich stattdessen uns gegenüber neben dem Kollegen aus Hamburg niederlässt. Während die beiden ein paar Worte wechseln, wende ich mich wieder Nils zu. Irgendwie imponiert es mir, dass er und Erik sich einerseits so selbstverständlich in den Reihen der Kollegen als Paar zeigen, aber andererseits an einem Abend wie diesem nicht auf Teufel komm raus aneinanderkleben müssen.
Ein klein wenig Wehmut überfällt mich. Ich bin seit etwas über einem Jahr Single. Meine letzte Beziehung ist also keine gefühlte Ewigkeit her, und ich kann mich grundsätzlich auch nicht über zu wenige einschlägige Kontakte beklagen. Allerdings sind gelegentliche Sexdates zwar ganz nett und das Singledasein hat seine Vorteile, aber im Grunde meines Herzens bin ich wohl doch eher der Beziehungstyp. Und mit Anfang 30 auch nicht mehr in dem Alter, in dem ich mir noch die Hörner abstoßen müsste.
»Du bist auch bei der BFE, oder?«, frage ich an Nils gewandt, dem es tatsächlich ein kleines bisschen schwerzufallen scheint, den Blick von Erik abzuwenden. Die beiden sind optisch ein wirklich schönes Paar und keine Frage, Erik ist so ein Typ Mann, in den man sich ziemlich leicht verlieben könnte.
»Ja. Aus Gründen inzwischen in einem anderen Trupp als Erik.«
»Und das funktioniert gut?«
Über seinen Maßkrug hinweg blinzelt Nils mich fragend an. »Was meinst du?«
»Na ja ... die Kollegen, die Zeit ...«
»Die Kollegen sind kein Thema, die haben es eigentlich alle entspannt aufgefasst, dass wir ein Paar sind. Die Vorgesetzten auch. Zu Beginn unserer Beziehung gab’s ein paar Probleme, aber das hatte nichts damit zu tun, dass wir schwul sind. Oder bi. Wie auch immer ... Da ging’s mehr um Eriks Ex-Frau und meinen Ex-Freund ... Kompliziert! Weiß nicht, ob Erik dir die Story mal erzählt hat?«
Verneinend schüttle ich den Kopf und ordere rasch bei einer der Bedienungen, die für unsere Tische zuständig sind, ein Bier.
»Erik und ich haben echt wenig Kontakt«, erkläre ich an Nils gewandt. »Eigentlich schade.«
»Komm doch mal bei uns vorbei, zum Essen oder so«, schlägt Nils prompt vor und sammelt damit noch weitere Pluspunkte bei mir. Nichts ist nerviger als Typen, die ihren Freund von jedwedem anderen Kerl abschirmen und andauernd ihr Revier markieren müssen. Zumal Erik zwar ein toller Mann ist, aber noch nie etwas zwischen uns gelaufen ist. Zugegeben, vielleicht auch deshalb nicht, weil ich mir zu Zeiten unserer Ausbildung noch nicht so recht eingestehen wollte, dass ich auch auf Männer stehe. Als ich dann potenziell für einen wie Erik frei gewesen wäre, war er bereits mit Layla zusammen.
»Sehr gerne. Wenn wir es irgendwie schaffen, unsere Dienste unter einen Hut zu bekommen.«
Bei meinen Worten rollt Nils theatralisch die Augen. »Wem sagst du das. Also ja, um auf deine Frage zurückzukommen, die Zeit ist manchmal echt ein Problem. Da Erik und ich nicht mehr im selben Trupp sind, haben wir teilweise unterschiedliche Einsätze. Dann ist da ja noch Emilio.« Nils stockt kurz, sieht mich fragend an und ich nicke rasch, um zu verdeutlichen, dass ich von Eriks Sohn weiß. »Und eventuell wird’s ab Herbst noch schwieriger«, fährt er mit einem Seufzen fort. »Ich darf im Mai beim Test zum gehobenen Dienst mitschreiben. Falls es klappt, bin ich ab Herbst unter der Woche zum Studium in Villingen-Schwenningen. Dann können wir die Tage, an denen wir uns sehen, vermutlich an einer Hand abzählen.« Nils’ Blick wandert zu Erik und wird von diesem aufgefangen. Die Art, wie sie sich einen Moment lang ansehen, strahlt so viel Wärme aus, dass ich mich fast schon genötigt fühle, den Anflug von Neid im Maßkrug zu ersäufen.
»Aber tja«, fährt Nils mit einem leisen Seufzen fort, »ich würde gerne irgendwann aus der BFE raus und am liebsten zur Kripo. Also brauche ich das Studium.«
»Na ja, ab und an gibt’s auch Stellen für den mittleren Dienst«, wende ich ein, wobei ich sehr genau weiß, wie rar diese gesät sind. Ich selbst hatte das Glück, nach meiner Zeit in der Bereitschaftspolizei relativ schnell zum Studium zu kommen und danach direkt auf einen Posten bei K.
»Bist du nicht auch bei der Kripo?«, hakt Nils prompt nach, was ich mit einem Nicken bejahe, ehe ich einen weiteren Schluck von meiner Maß nehme.
»Welche Inspektion genau?«
»KI 4. Rauschgift.«
»Ah, cool. Genau das, was ich machen wollen würde. Oder jugendspezifische Kriminalität finde ich auch superspannend.«
»Hat alles seinen Reiz«, stimme ich ihm zu und setze nach einem kurzen Moment des Nachdenkens hinzu: »Lass es mich wissen, wenn’s konkret wird. Vielleicht kann ich ja ein gutes Wort für dich einlegen.«
Auf Nils’ Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, das bis in seine hellen Augen strahlt. Ich kann mir blendend vorstellen, wie er Erik damals aus den Socken gehauen hat und unter die Haut gegangen ist.
»Das wäre super. Aber noch ist ja nichts spruchreif. erst mal muss es mit der Zulassung fürs Studium klappen.«
»Ich drück die Daumen.«
»Danke.« Wir stoßen an und lauschen dann für einen Moment dem Gespräch zwischen Erik und dem Kollegen aus Hamburg. Lasse erzählt gerade von seinem Alltag auf der Davidwache und ich fordere ihn auf, ein bisschen lauter zu reden, was er dann auch tut. Allerdings nur so, dass Nils und ich, jedoch nicht die Leute an den Nachbartischen ihn verstehen können. Der Geräuschpegel im Zelt ist mittlerweile ohnehin so hoch, dass wir allesamt schreien müssten, um uns direkt als Polizisten zu outen.
Eine ganze Weile sind wir anschließend ins Gespräch vertieft, bis Lasse schließlich einen Tisch weiterzieht, um sich auch mit den anderen Kollegen bekannt zu machen. Außerdem ist inzwischen eine Kollegin zu der Truppe hinzugestoßen, die wiederum Nils von der Ausbildung kennt. Kurzerhand rutsche ich neben Erik auf die andere Bierbank. Wird Zeit, dass wir beide mal wieder in Ruhe quatschen können – wobei ›in Ruhe‹ in einem mittlerweile proppenvollen Bierzelt doch sehr relativ ist.
Ich komme allerdings gar nicht dazu, Erik nach seinem Sohn oder anderen privaten Dingen zu fragen, denn er stößt mich von der Seite an und neigt sich ein wenig weiter zu mir, um mir zuzuraunen: »Ist dir aufgefallen, dass du unter Beobachtung stehst?«
Ist es tatsächlich nicht, ich bin offensichtlich gerade überhaupt nicht im Dienstmodus. Um das Ganze nicht zu auffällig wirken zu lassen, schaue ich mich nicht suchend in der Menge um, sondern halte mich erst mal an Eriks Ausführungen. »Wer genau?«
»Jetzt am Tisch schräg hinter uns. Du saßt ihm vorhin die ganze Zeit quasi direkt gegenüber. Der Kerl, der ganz außen sitzt. Groß, sportlich, dunkle Haare. Sieht gut aus. Fast ein bisschen zu gut, wenn du mich fragst.«
Mir liegt schon die Frage auf der Zunge, wie man(n) denn bitte zu gut aussehen kann. Doch ich bilde mir lieber selbst eine Meinung und drehe mich halb um, als würde ich nach irgendeinem Bekannten Ausschau halten. Mein Blick fällt auf besagten Typen und ... wow, ja, ich verstehe auf Anhieb, was Erik meint.
Der Kerl sieht nicht nur einfach gut aus im Sinne von ›der hat was‹, sondern gut im Sinne von ›der Typ muss Model sein‹. Sein Gesicht ist nicht ebenmäßig glatt wie in Marmor gemeißelt, sondern kantig, aber doch symmetrisch. Scheint einen osteuropäischen Einschlag zu haben. Dunkle Augen blicken aufmerksam umher, treffen meine und halten meinen Blick für einen zu langen Moment, als dass es Zufall sein könnte. Dann sieht der Kerl weg und nippt an seinem Maßkrug, gibt mir damit Zeit, ihn weiter in Augenschein zu nehmen.
Das dunkle, etwas längere Haar trägt er zurückgestrichen. Allerdings nicht auf eine Art, die übermäßig schleimig wirkt, sondern ihm vielmehr einen eleganten Touch verleiht. Kinn und Kieferlinie ziert ein dunkler Bartschatten, lässt das Gesicht nur noch ein wenig kantiger, männlicher wirken, ohne ihm etwas von der Ebenmäßigkeit zu nehmen.
Als ich den Blick weiterschweifen lasse, fällt mir sofort wieder auf, weshalb ich das Stuttgarter Frühlingsfest eigentlich nicht besonders mag: Jeder Idiot – okay, fast jeder – rennt hier in Tracht herum. Meine Kollegen und ich eingeschlossen. Es ist so eine Art Gruppenzwang, ein unausgesprochenes und vollkommen hirnrissiges Gesetz. Hirnrissig, weil Stuttgart mit Tracht eigentlich ungefähr genauso viel zu tun hat wie München mit Döner: ursprünglich nichts. Und dennoch tun hier alle so, als seien wir auf der Wiesn.
Der schöne Unbekannte ebenso, nur kann ich diese eigentlich lächerliche Möchtegern-Tradition plötzlich nicht mehr kacke finden, weil er in Lederhose und hellblau-weiß kariertem Trachtenhemd einfach zum Anbeißen aussieht. Oder zum Ablecken. Je nachdem, worauf man so steht.
Abrupt – vielleicht ein wenig zu abrupt – wende ich mich ab und wieder Erik zu. »Ich weiß, was du meinst. Der ist irgendwie zu schön, um wahr zu sein.«
»Wohl eher zu schön, um treu zu sein«, witzelt Erik. »Aber hey, so für eine Nacht ...«
»Hmm. Weiß nicht.« Nachdenklich schwenke ich den beinahe zur Gänze geleerten Maßkrug in meiner Hand, starre in das darin rotierende Restchen Bier. »Hatte eigentlich nicht vor, jemanden abzuschleppen. Ich glaube, ich werd zu alt für One-Night-Stands.«
Er grinst neben mir, nickt aber gleichzeitig und setzt schließlich mit nachdenklicher Miene hinzu: »Aber wer weiß, vielleicht täuscht auch der äußere Eindruck und er wäre der Traummann zum Heiraten.«
Ich lache leise in meinen Maßkrug und kippe den letzten Schluck hinunter. »Wir werden es nie erfahren.«
»Als ob er dir nicht gefallen würde ...«
»Das hab ich nicht gesagt.« Ich zögere einen Moment, gestehe dann direkt an Erik gewandt und mit etwas gedämpfter Stimme: »Ich bin nicht so der Typ, der andere offensiv anquatscht.«
Prompt wandern Eriks Brauen in die Höhe. »Echt nicht? Hätte dich gar nicht so eingeschätzt. Immerhin gehören wir beide noch nicht zu der Generation, die es dank GayRomeo und diesem ganzen Kram verlernt haben, im realen Leben zu kommunizieren.«
Da hat Erik allerdings recht. Ich halte nicht besonders viel davon, mir den nächsten Fick per Klick aufs Handydisplay nach Hause zu bestellen. Aber ich bin eben auch nicht besonders gut darin, Kerle anzusprechen. Schon gar nicht, wenn ich dabei beobachtet werde. Und selbst wenn Erik sich in dezenter Zurückhaltung üben würde, so wären doch immer noch unsere anderen Kollegen um uns herum, die früher oder später Wind davon bekommen würde, sollte ich hier mitten im Grandls auf Flirtkurs gehen.
Dennoch werfe ich noch mal einen flüchtigen Blick über die Schulter. Überraschung, er schaut wieder direkt in meine Richtung, verzieht die Lippen zu einem Lächeln, das mit keinem anderen Wort als einladend beschrieben werden kann. Und trotzdem drehe ich mich wieder um, wenn auch nicht ohne sein Lächeln vorher zu erwidern.
Ich will gerade in die Runde fragen, ob noch jemand Getränkenachschub braucht, als Erik neben mir murmelt: »Er stellt sich nicht so an wie du.«
Scharf ziehe ich den Atem ein. Durchschaue Eriks Worte sofort und bin dennoch überrascht, als er plötzlich neben mir steht. Oder eher: neben der Bierbank. Zwischen uns ist ein wenig Platz, da ich fast bis zur Mitte der Bank zu Erik durchgerutscht bin. Scheint ihn jedoch nicht zu stören, denn er neigt sich einfach halb über den Biertisch in meine Richtung.
»Hey! Trinkst du noch was? Eventuell mit mir?«
Kurz zögere ich, zwinge mich dazu, nicht aus dem Augenwinkel zu den Kollegen zu schielen. »Klar, gerne«, bringe ich dann über die Lippen, glücklicherweise deutlich und ohne Zittern in der Stimme. Eine komplette Flirtkatastrophe bin ich dann doch nicht.
»Bier?« Mit einer Kopfbewegung deutet er auf den vor mir stehenden Maßkrug und ich frage mich unweigerlich, wie viele Leute in einem Zelt auf dem Frühlingsfest wohl etwas anderes als das trinken.
Auf mein Nicken hin wird sein Lächeln noch eine Spur breiter, sein nächster Blick geht zu dem Tisch, an dem er eben noch gesessen hat. Die meisten der Leute dort scheinen in seinem Alter zu sein, vielleicht Mitte 20.
»Kommst du für ein paar Minuten mit rüber oder ... wir können auch mal kurz rausgehen?«
Nun sind es meine Augenbrauen, die ich unweigerlich nach oben wandern spüre. Dass er es offensiv angeht, gefällt mir, und ich bin keiner, der kuscht. Ich hatte aber eigentlich nicht vor, meine Kollegen hier für einen wildfremden Typen sitzen zu lassen.
»Okay«, stimme ich dennoch zu und erhebe mich, »gehen wir ’ne Runde frische Luft schnappen.« Und an Erik gewandt füge ich hinzu: »Ich komm gleich wieder.«
Erik grinst nur wissend, wofür ich ihm gerne den Maßkrug auf den Kopf hauen würde. Ganz sacht natürlich und ohne dass Nils es sieht.
Weitgehend schweigend bahnen wir uns einen Weg durch die Menschenmengen, wobei ich meinen Blick das eine oder andere Mal tiefer schweifen lasse. Netter Arsch!
Die Eingänge zum Grandls wurden inzwischen geschlossen, was bedeutet, dass das Zelt so weit gefüllt ist, dass wenigstens zeitweise keine weiteren Gäste hineingelassen werden. Unter diesem Umstand erscheint mir die Idee, dem Mief vieler Menschen mit steigendem Alkoholpegel für ein paar Minuten zu entfliehen, gar nicht so übel.
Ich muss unweigerlich lächeln, als mein Begleiter draußen vor dem Zelt stehen bleibt und einmal demonstrativ ein- und ausatmet. Ich tue es ihm gleich, unsere Blicke treffen sich erneut.
»Okay, jetzt noch mal ohne diesen Geräuschpegel: Hi, ich bin Elián.«
Erst jetzt, da wir zwar immer noch Menschen um uns herum und Musik im Hintergrund haben, es aber dennoch etwas ruhiger ist, fällt mir auf, dass er mit leicht osteuropäischem Akzent spricht. Offensichtlich hat mich mein Eindruck seine Herkunft betreffend also nicht getäuscht.
»Ben«, gebe ich zurück und zwinge mich dazu, meinen Blick auf sein Gesicht geheftet zu lassen. Sein Arsch kann sich in der Lederhose definitiv sehen lassen und ich gestehe, ich würde mir auch seine Vorderseite ganz gerne mal genauer ansehen. »Freut mich.«
»Ja, echt? Ich war mir nicht so sicher, ob ich dich ansprechen soll.«
Dass er das so offen zugibt, imponiert mir. Mehr noch als die Tatsache, dass er auf mich zugekommen ist. Nun will ich es genauer wissen und hake nach: »Warum nicht?«
»Tja ...« In einer etwas unschlüssigen Geste fährt er sich durch das ohnehin schon zurückgestrichene Haar, bringt es damit ein klein wenig in Unordnung, was ihm aber durchaus steht. »Nicht sicher, ob einer von den Männern da drin zu dir gehört, nicht sicher, ob überhaupt potenziell ein Mann zu dir gehören könnte ... Oder einfach auf der Hut, weil es ja immer so eine Sache ist, einfach so in Gesprächsrunden reinzuplatzen. Such dir was aus.«
»Gehen wir ’ne Runde?«, schlage ich vor, nicht, weil ich Zeit schinden will, sondern weil es direkt vor dem Zelt stehend immer noch ungemütlich voll ist. Inzwischen ist es dunkel, vermutlich also neun oder sogar zehn Uhr durch. Die Menschenmassen drängen in die Zelte, insofern sie dort noch einen Platz bekommen. Zwischen den Fressbuden und Attraktionsständen ist es verhältnismäßig leer.
»Ja, gern.«
»Also, um deine Bedenken zu beseitigen: Ja, an Männern interessiert. Nein, keiner von denen da drin gehört zu mir. Sind alles Kollegen. Oder Kolleginnen.«
»Ah. Gut.« Von der Seite trifft mich ein fragender Blick und ich könnte mir für meine letzten Worte schon wieder auf die Zunge beißen, denn natürlich kommt unweigerlich die Frage, die kommen musste.
»Kollegen von?«
»Öffentlicher Dienst«, gebe ich meine Standardantwort, die mir noch am ehesten nicht zu weit von der Wahrheit entfernt scheint. »Nicht sonderlich spannend. Erzähl mir lieber, mit wem du hier bist?«
Ich mag es nicht, neuen Bekanntschaften gleich zu Beginn etwas vorzulügen, aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es besser ist, meinen tatsächlichen Beruf erst mal zu verschweigen. Denn im Normalfall zieht die Aussage »Ich bin Polizist« genau zwei mögliche Reaktionen nach sich. Leute, die nicht daran interessiert sind, mit mir ins Bett zu gehen, finden meinen Beruf unglaublich spannend und eröffnen das folgende Gespräch grundsätzlich mit Sätzen wie: »Ach, das ist ja ein glücklicher Zufall. Du willst sicher nicht dauernd über deinen Job sprechen, aber ich hätte da mal ’ne kurze Frage. Also, mein Nachbar ...«
Und von Leuten hingegen, die mich als potenziellen Sexpartner sehen, durfte ich mir schon allzu oft Sprüche anhören wie: »Uuuh, Polizist? Heiß! Ich stehe ja total auf Männer in Uniform. Von dir würde ich mich glatt verhaften lassen.« Das ist die harmlose Variante, die ich meist vom weiblichen Geschlecht zu hören bekomme. Die offensive, männliche geht so: »Ein Bulle? Geil! Zeigst du mir deinen Schlagstock, wenn ich unartig bin?«
Um alledem zu entgehen, erfinde ich dann eben kleine Notlügen, die ich entweder ohnehin nie aufklären muss, weil ich die besagten Menschen nie wiedersehe. Oder die ich sobald als möglich aufkläre, sollte sich abzeichnen, dass betreffende Person doch zu mehr als nur einer Bettgeschichte Potenzial hat.
»Mit Kommilitonen«, gibt Elián neben mir zur Antwort und lenkt meine Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. »Auch nicht besonders spannend«, setzt er mit einem Zwinkern hinzu. Ich fände es eigentlich durchaus interessant, was er studiert, aber um keine Nachfragen zu meinem eigenen Berufsleben zu provozieren, klammere ich das Thema lieber dankend aus.
An einem der Getränkestände kommt Elián seiner Einladung nach und besorgt uns beiden etwas zu trinken. Bier für mich und für ihn – ganz zu meiner Überraschung – eine Cola. Auf meinen fragenden Blick hin erklärt er, dass er fast nie Alkohol trinkt und übers Wochenende für eine Klausur lernen muss. Die Aussicht, vielleicht einen nüchternen Typen mit nach Hause zu nehmen, gefällt mir. Gleichzeitig bekomme ich beinahe ein schlechtes Gewissen, auch wenn ich noch weit davon entfernt bin, betrunken zu sein.
Nebeneinander schlendern wir weiter über das Frühlingsfest. Wir unterhalten uns weitgehend über Belangloses, dennoch kommt es mir nicht so vor, als hätten wir keine sinnvolleren Gesprächsthemen. Mit Elián zu quatschen fühlt sich ungezwungen an und sein Lachen kribbelt warm in meinem Nacken.
Unsere Gläser sind inzwischen geleert, doch wenn ich ehrlich bin, habe ich gerade wenig Lust, mich wieder in das Bierzelt hineinzuquetschen. Auch Elián macht keine Anstalten, aufs Grandls Hofbräu Zelt zuzugehen. Stattdessen streift sein Blick zum wiederholten Mal den Schießstand schräg gegenüber.
»Wollen wir?« Mit einem Kopfnicken deute ich in besagte Richtung. Auf Eliáns Lippen schleicht sich ein schiefes Schmunzeln.
»Okay. Aber ich bin echt schlecht im Schießen.«
Ich nicht – ganz im Gegenteil. Was mich unweigerlich zu der Überlegung führt, ob ich einfach ein paarmal danebenschießen soll. Aber erstens bin ich mir nicht mal sicher, ob ich das hinbekomme, und zweitens wäre es der alberne Gipfel des Versteckspiels.
Nachdem Elián die Getränke bezahlt hat, gebe ich zwei Runden Schießmarken aus. Gleich darauf bekommen wir beide vom Schießbudenbetreiber je ein Luftgewehr in die Hand gedrückt.
»Bei dir sieht das irgendwie professionell aus«, meint Elián, nachdem ich treffsicher einen Großteil der kleinen Metallhäschen erlegt habe, die auf einem Band an der Hinterwand des Standes entlanglaufen. Es mag am flackernden Blinklicht des Riesenrads in unserem Rücken liegen, doch ich bilde mir ein, bei seinen Worten würde ein Schatten über sein Gesicht huschen.
Ich suche noch nach einer Entgegnung, als uns glücklicherweise der Standbetreiber unterbricht, indem er mir erklärt, von welchem Plüschtierstapel ich mir eines aussuchen darf.
»Der Pinguin da sieht süß aus«, stellt Elián fest und deutet auf ein ziemlich pummeliges Plüschexemplar.
»Der hat einen schiefen Schnabel.«
»Er ist trotzdem süß.«
»Okay, okay.« Grinsend wende ich mich dem Schießstandtypen zu. »Den Pinguin da, bitte.«
Wenige Augenblicke später halte ich das Plüschtier in der Hand, folge Elián einige Schritte weit fort zu einem Stehtisch unter einem Schirm. Hinter mir das Riesenrad, hinter Elián nur die Rückwand eines Standes. In zwei Metern Entfernung strömen die Festbesucher vorbei, dennoch stehen wir hier erstaunlich ruhig.
Nachdenklich betrachte ich den Pinguin, ehe ich Elián ansehe. Die Riesenradleuchten malen weiche Schatten auf sein Gesicht, die dunklen Augen glänzen. Er lächelt leicht und sieht doch irgendwie ... Ich weiß es nicht. Es ist keine wirkliche Traurigkeit, die sich in seiner Miene spiegelt. Das Schimmern in seinem Blick signalisiert mir nicht, dass es ihm in diesem Moment schlecht geht, sondern vielmehr, dass es da etwas gibt, das weiter zurückliegt. Dass er verletzt wurde?
Ja, das ist es. Er sieht verletzt aus. Irgendwie zerrissen. Und ich weiß bereits in diesem Moment, dass kein Plüschtier daran etwas ändern kann. Dennoch halte ich ihm den Pinguin hin.
»Fändest du es lächerlich, wenn ich dir den schenke?«
Der Zug um seinen Mund wird augenblicklich noch eine Spur weicher. »Nein. Ich fände es ehrlich gesagt ziemlich ... süß.«
Ich muss beim letzten Wort lachen und auch Elián grinst schief. »Was? Es ist wirklich süß. Aber ...« Seine Finger streifen meine, als er mir den Pinguin aus der Hand nimmt. Kurz ruht sein Blick auf ihm, ehe er mich wieder direkt ansieht. Ich will schon nachhaken, was es mit dem Aber auf sich hat, doch Elián kommt mir mit einem geräuschvollen Luftholen zuvor. »Aber im Gegensatz zu dem Kerlchen hier finde ich dich nicht nur süß, sondern auch ziemlich sexy.«
Wow, Moment Nummer drei, in dem er mir mit seiner direkten Art imponiert. Nicht, weil er es sich grundsätzlich traut, so etwas auszusprechen, sondern weil seine Aussage in diesem Moment in keiner Weise plump wirkt. Lediglich ehrlich und ... ja, auch schmeichelnd.
»Danke«, ist daher das Einzige, das mir erst mal dazu einfällt. Elián jedoch scheint es zu reichen. Noch einen langen Moment hält er meinen Blick, ehe er mit dem Kinn schräg hinter mich deutet.
»Wollen wir noch zu dem Crêpes-Stand rüber?«
»Gerne.« Nach dem Bier und seinen Worten könnte ich jetzt tatsächlich etwas Süßes vertragen.
Elián entscheidet sich für einen Crêpe mit Apfelmus und Zimt, ich für einen mit Schokoriegelfüllung. Bislang habe ich die dünnen Pfannkuchen meist mit Nutella gegessen, aber diese Variante hier kommt meiner Leidenschaft für jegliche Sorten von Kinderschokolade zugute. Allerdings kann ich mich gar nicht so richtig auf den Geschmack konzentrieren, da ich ziemlich damit beschäftigt bin, Elián anzuschauen. Gerade wischt er sich mit dem Daumen ein kleines bisschen Apfelmus aus dem Mundwinkel. Entfacht damit unweigerlich den Wunsch in mir, eben jene Stelle zu küssen und abzulecken und anschließend seinen gesamten Mund in Besitz zu nehmen. Dass ihm mein Starren nicht zu entgehen scheint und er mich auch noch herausfordernd angrinst, macht die Sache nicht gerade besser.
Er blinzelt mir zu und fragt dann leise: »Verrätst du mir, was in deinem Kopf vorgeht?«
»Dass ich dich jetzt sofort und auf der Stelle küssen würde, wenn wir nicht wären, wo wir nun mal sind«, gebe ich prompt zur Antwort. Direkt kann ich auch, es dauert nur meist ein bisschen, bis man mich aus der Reserve gelockt hat.
Sein Lächeln vertieft sich noch ein wenig. »Was ist falsch an dem Ort, an dem wir sind?«
Wir stehen schräg hinter dem Crêpes-Stand. Elián lehnt rücklings an der Metallumrandung eines Karussells, auf dessen Pferdefiguren sich zu der späten Stunde jedoch keine Kinder mehr, sondern nur ein verliebtes Pärchen und drei angetrunkene Teeniemädels niedergelassen haben und kichernd ihre Runden drehen.
»Grundsätzlich nichts. Aber mir sind hier zu viele Menschen.« Nicht, dass ich ein Problem mit Menschenmassen hätte, sonst hätte ich definitiv den Beruf verfehlt. Aber ich bin nicht der Typ dafür, in der Öffentlichkeit allzu offensiv Zärtlichkeiten auszutauschen. Mit einem festen Partner schon eher als mit einem ... flüchtigen Bekannten.
»Okay.« Elián stößt sich vom Geländer ab und zerknüllt Serviette und Pappschälchen in seiner Hand, um beides in den Mülleimer hinter mir zu werfen. Dabei kommt er mir gefährlich nahe. Mühsam würge ich den letzten Bissen meines Crêpes hinunter, bin gefangen von seiner Nähe und diesem Glanz in seinen dunklen Augen.
»Dann lass uns irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist als hier.«
Beim nächsten Schlucken fühlt sich mein Hals trocken an und es scheint, als würde mein Herz irgendwo ganz dicht unter meiner Kehle schlagen. Ein verdammt großer Teil in mir will Elián sofort zustimmen. Will ihn mit zu mir nach Hause nehmen oder mit zu ihm gehen und all das tun, was seine Worte unterschwellig anbieten. Ein anderer und ebenfalls nicht ganz kleiner Teil in mir allerdings flüstert mir zu, dass Elián ganz eventuell tatsächlich das sein könnte, was Erik und ich vorhin noch so leichtfertig abgetan haben: ein Mann für mehr.
»Hör zu«, setze ich daher ein wenig stockend an, »ich würde echt gern, das kannst du mir glauben, aber ... noch lieber als einfach mit dir ins Bett gehen würde ich ... dich kennenlernen. Richtig kennenlernen, meine ich.«
In seiner Miene flackert Erstaunen auf. Im nächsten Moment ist da wieder dieses weiche Lächeln auf seinen Lippen, dieser Schimmer in seinen Augen, der es mir unmöglich macht, wegzuschauen. Da ist irgendetwas, tief vergraben in seinem Inneren, und ich weiß, dass es verdammt noch mal nicht nur mein Ermittlerinstinkt ist, der sich in diesem Moment einschaltet und herausfinden möchte, was es ist, das ihm noch immer weh genug tut, um sich in seinen Augen zu spiegeln.
Mit einem Blinzeln jedoch wischt er den Ausdruck fort, sein Lächeln bekommt eine gleichsam anzügliche wie amüsierte Facette. »Ich meinte nicht, ›lass uns irgendwohin gehen, wo wir vögeln können‹ – auch wenn die Vorstellung zugegebenermaßen ziemlich viel für sich hat.«
Mir wird unweigerlich heiß bei seinen Worten. Als hätten meine Augen ein Eigenleben entwickelt, wandert mein Blick an seinem Körper abwärts. Scheiße, bei Kerlen wie ihm könnte ich mich tatsächlich an dieses Trachtending gewöhnen. Mit einem leisen, seufzenden Laut auf den Lippen zwinge ich meine Aufmerksamkeit wieder höher und in sein Gesicht, was jedoch nur zur Folge hat, dass ich wieder auf seinen Mund starre.
»Du meinst also, wir sollten irgendwohin gehen, wo wir ungestört reden können?«
»Mhm.« Mit einem Schritt überbrückt er den Abstand zwischen uns, sodass er nah vor mir steht. Da wir in etwa gleich groß sind, können wir uns direkt in die Augen sehen.
»Reden und ... Mann, ich würd dich auch verdammt gerne küssen.« Das Geständnis kommt leise über seine Lippen, jedoch deutlich genug, um es über den Geräuschpegel der Fahrgeschäfte und Menschen zu verstehen. Himmel, wie könnte ich das auch überhören?
Binnen eines Herzschlages werfe ich meine Bedenken und guten Vorsätze sprichwörtlich über Bord. Neige mich vor und presse meine Lippen auf seine. Spüre, wie er verblüfft minimal zurückweicht, mir dann jedoch entgegenkommt. Während ich den Druck meiner Lippen ein wenig zurücknehme, da ich jetzt erst registriere, wie überfallartig mein Kuss wirken muss, verstärkt er den seinen. Bringt damit nun mich dazu, überrascht Luft einzusaugen, was er sofort ausnutzt: Seine Lippen bewegen sich an meinen, öffnen sich leicht. Mit der Zungenspitze gleitet er an meiner Oberlippe entlang, sucht sich sacht, aber dennoch zielsicher einen Weg.
In dem Moment, in dem sich unsere Zungen berühren, greife ich an den Kragen seines Hemdes, vergrabe die Finger darin und ziehe ihn noch ein Stückchen näher an mich. Ein Schauer kriecht angenehm prickelnd mein Rückgrat entlang, als er meine besitzergreifende Geste mit einem zustimmenden Grollen kommentiert. Unser Kuss wird drängender, verliert dabei jedoch kein Stück der noch sachte erkundenden Zartheit. Überhaupt hat Elián diese unglaublich zärtlichen Lippen, diese sanften Küsse, die mich ganz duselig im Kopf werden lassen. Mehr noch, als er eine Hand – kühl von der Nachtluft – an meine Wange legt, einmal mit dem Daumen darüber streichelt, die andere dabei in meinem Nacken und Haar vergräbt. Verflucht, ich kann mich nicht daran erinnern, schon jemals so sanft und begierig in einem geküsst worden zu sein. Und es ist mir in diesem Moment auch scheißegal, dass wir zwar schräg hinter dem Crêpes-Stand, aber nichtsdestotrotz wie auf dem Präsentierteller hier stehen. Vor allem die Leute auf dem Karussell dürften beste Aussicht auf uns haben. Dennoch schiebe ich mich ein Stückchen näher an Elián heran. So nahe, dass sich unsere Körper beinahe überall berühren. Im nächsten Moment löst er sich von mir. Langsam nur, unsere Lippen scheinen einander nicht freigeben zu wollen.
Noch einmal streift Elián meinen Mund flüchtig mit seinem, ehe er wispert: »Oh, Mann ...«
Wenig einfallsreich, aber es ist ziemlich genau das, was auch ich im Moment denke.
Immer noch nahe an seinen Lippen kann ich spüren, wie er wieder zu grinsen anfängt.
»Scheiß Lederhose.«
Leise lachend drücke ich ihm noch einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, ehe ich mich vollends von ihm löse und einen halben Schritt zurücktrete. Mein Blick huscht kurz nach unten, unter dem starren Leder zeigt sich ... nichts. Zumindest keine auffällige Wölbung. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher zu wissen, was los ist. Mir selbst geht es nicht anders.
»Jetzt würde ich dich definitiv irgendwohin mitnehmen ...«, lasse ich ihn wissen, ohne den Satz zu beenden. Das Blitzen in seinen Augen spricht Bände.
»Und ich würde verdammt noch mal mitkommen«, gibt er unumwunden zu, seine Miene wird dabei eine Nuance weicher. Er seufzt. »Aber Scheiße, ja, ich würde dich auch gerne kennenlernen und das nicht nur in der Horizontalen.«
Seine Worte entlocken nun mir ein Lächeln, in meiner Brust poltert mein Herz viel zu schnell und viel zu aufgeregt. Gleichzeitig jedoch kriecht die Kühle der Nacht langsam, aber sicher unter mein Hemd und an den Knien unter die Lederhose. Und dann sind da ja noch Erik und meine übrigen Kollegen ...
»Was hältst du davon, wenn wir uns bald noch mal treffen? Irgendwo, wo’s ruhiger ist?«
»Morgen?«, schlägt Elián prompt vor und bringt mich damit zum Lachen. »Wenn du Zeit hast ...«, schiebt er plötzlich ein wenig verlegen hinterher. Ich nicke, denn ja, tatsächlich habe ich übers Wochenende frei.
»Gerne, ja.«
»Soll ich dir meine Nummer geben? Dann kannst du dich melden, sobald du fit bist.«
»Das klingt, als wäre ich so besoffen, dass ich morgen früh ’nen Rausch ausschlafen müsste.«
Er stimmt in mein Lachen ein und ich muss zum wiederholten Mal an diesem Abend feststellen, dass er ein wirklich charmantes Lächeln hat.
»Nein, aber du wirst ja sicher noch eine Weile bleiben, oder?«
»Du nicht?«, hake ich verdutzt nach, während ich schon umständlich mein Handy aus der engen Lederhosentasche zu ziehen versuche. Zu meiner Überraschung schüttelt Elián den Kopf.
»Ich glaube, ich gehe nach Hause. Dann kannst du noch in Ruhe mit deinen Kollegen quatschen und musst nicht die ganze Zeit zu mir rüberstarren.«
Schnaubend versetze ich ihm einen Knuff gegen den Arm. »Du hast mich angeschaut. Hätte Erik mich nicht auf dich aufmerksam gemacht, hätte ich dich vielleicht nicht mal bemerkt.«
»Autsch.« Theatralisch presst er sich die flache Hand in Herzgegend auf die Brust, zwinkert mir jedoch im nächsten Moment zu und signalisiert somit, dass er meine Worte nicht auf die Goldwaage legt.
Kurzerhand reiche ich ihm mein Smartphone. Während er seine Nummer eintippt, huscht mir der Gedanke durch den Kopf, ob er wirklich einfach nach Hause fahren wird. Immerhin ist es nicht mal Mitternacht an einem Freitag.
»Wo wohnst du eigentlich?«
Abrupt sieht er von meinem Handy auf, reicht es mir und zögert dabei sichtlich mit einer Antwort.
»Studentenwohnheim.«
Das überrascht mich zwar, aber im Grunde ... ist es auch nicht besonders verwunderlich. Ich habe keine Ahnung, ob er neben dem Studium arbeitet, und das Wohnheim dürfte so oder so die kostengünstigste Variante sein.
»Okay«, gebe ich demnach schlicht zurück und wende kurz den Blick ab, um seine Nummer einzuspeichern. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie er neugierig auf das Display lugt.
»Und? Wie speicherst du mich ein?«
»Keine Ahnung.« Dieses Mal bin ich derjenige, der ihm zuzwinkert. »Vielleicht unter ›heiße Crêpe-Bekanntschaft‹?«
Er schnauft leise und ich halte das Handy so, dass er sehen kann, dass ich einfach nur seinen Namen eintippe.
»Du meldest dich?«
Seine erneute Nachfrage berührt mich. Zeigt, dass er ernsthaftes Interesse hat.
»Ganz sicher«, verspreche ich leise und trete näher an ihn heran, spüre im nächsten Moment seine Lippen auf meinen. Wieder so zärtlich und bestimmend in einem.
»Und du bist sicher, dass du jetzt schon nach Hause willst?«
»Ja, hatte ’ne anstrengende Woche.« Kurz zögert er, sein Blick bohrt sich auf kribbelige Weise in meinen. »Ich freu mich auf morgen.«
»Ich auch.« Am liebsten würde ich jetzt sofort mit ihm gehen, aber die Vernunft hält mich zurück. Und ein klein wenig auch der Gedanke an meine Kollegen drinnen im Bierzelt. Ich will nicht einer von diesen Typen sein, die ihre Leute für einen Fick sitzen lassen. Und ich will auch nicht, dass Elián einfach nur ein Abenteuer für eine Nacht ist, gestehe ich mir ein, als er mir zum Abschied einen letzten Kuss auf die Lippen drückt.
»Schön hast du’s hier«, meint Elián, während er sich in meinem Wohnzimmer umsieht. Indessen habe ich – mal wieder – nur Augen für ihn. Zugegeben, ich bin ohnehin jemand, der sich sekundenlang im Anblick eines Menschen – egal ob Mann oder Frau –, der mir gefällt, verlieren kann. Bei Elián tue ich es jedoch in besonderem Maße. Vielleicht weil ich damit beschäftigt bin, in seinem Gesicht irgendeine kleine Unebenheit zu suchen. Doch vergebens. Er ist wirklich beinahe ein wenig zu schön, eigentlich stehe ich auf Typen mit Ecken und Kanten – wenigstens optisch. Aalglatte Männer, die sowohl von Ferne als auch von Nahem wie Models aussehen, sprechen mich in aller Regel sexuell gesehen nicht an. Bei Elián ist das anders. Wenn ich ihn ansehe, will ich augenblicklich die Hände ausstrecken. Ihn anfassen und ausziehen. Herausfinden, ob sein Körper ebenso schön ist wie sein Gesicht, mich ebenso in den Bann zieht. Und gleichzeitig will ich all das nicht tun, weil ich lieber hier stehen und hören möchte, was er zu sagen hat.
Sein Blick ist mittlerweile an dem Konzertflügel hängen geblieben, der in der linken Ecke des Zimmers vor meinen Bücherregalen steht. Unmöglich, ihn zu übersehen, aber Elián scheint sich definitiv mehr für das gute Stück zu interessieren, als die meisten Gäste in meiner Wohnung es tun.
»Wow, sehr schön«, bemerkt er mit einem bewundernd warmen Unterton in der Stimme und lässt ganz vorsichtig die Fingerspitzen einer Hand über den glänzend schwarzen Korpus gleiten. Hatte ich mir jemals gewünscht, ein Flügel zu sein? Tja, einmal ist immer das erste Mal ...
»Steinway and Sons«, stellt er mit einem wissenden Blick fest, ohne das kleine geprägte Logo über dem Tastendeckel gesehen zu haben, »die sind doch schweineteuer, besonders dieses Modell. Wie lange hast du den schon?«
»Zwei, drei Jahre«, gebe ich zur Auskunft und trete einige Schritte näher an Elián und den Flügel heran. »War ein Erbstück von meinem Onkel. Seine Töchter wollten ihn nicht beziehungsweise hätten ihn vermutlich verkauft. Haben beide nichts mit Klaviermusik am Hut.«
»Und du? Spielst du?«
Ich zögere einen Moment, nicke dann jedoch. Ich hatte seit Kindertagen einige Jahre Unterricht, aber nie das Bestreben, mein Können zu vertiefen. »Manchmal, ja. Willst du was trinken?«
»Lieber würde ich dich spielen hören.«
Genau das wollte ich vermeiden! Ich bin wohl ganz passabel am Klavier – oder eben am Konzertflügel –, sitze jedoch sehr ungern vor Publikum. Das letzte Mal habe ich zur Hochzeit meines Bruders vor anderen Leuten gespielt, weil meine Schwägerin es sich gewünscht hat. Ich habe glücklicherweise keinen Ton verkackt, bin aber vor der Feier gefühlt tausend Tode gestorben.
Elián ist mein Zögern wohl nicht entgangen. Mit leicht schief gelegtem Kopf sieht er mich bittend an. Kann ich widerstehen? Natürlich nicht. Seufzend gehe ich an ihm vorbei und lasse mich auf dem Klavierhocker nieder, nicht ohne ihm einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Elián jedoch lächelt nur und bleibt ganz ruhig neben dem Flügel stehen. Wartet geduldig, bis ich mich kurz gesammelt habe. Mein Blick streift nur flüchtig die Noten, im Grunde kenne ich die meisten Stücke, die ich mehr oder minder regelmäßig spiele, auswendig.
Ich beginne zu hastig, die ersten Takte von Ludovico Einaudis ›Divenire‹ klingen gehetzt, dabei lebt gerade dieses Stück von seiner weichen Melancholie. Mein Blick flackert zu Elián und ich kann sehen, wie sich das Lächeln auf seinen Lippen trotz meines verpatzten Einstiegs vertieft. Dennoch zögere ich.
»Spiel weiter.« Er flüstert nur. »Ich liebe das Stück.«
Seine Worte lassen mein Herz poltern, doch meine Finger werden im selben Moment ruhiger. Ich finde den Takt, die Harmonie. Und in den nächsten Minuten erfüllen die nachdenklich süßen Klänge den Raum.
Klavier zu spielen kann sehr intim sein, und genau aus diesem Grund mag ich es nicht, vor Publikum zu musizieren. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würden die Leute ungefragt und zu tief in meine Privatsphäre eindringen, wenn sie mich dabei beobachten.