Sherlock Holmes - Neue Fälle 28: Der Träumer - William Meikle - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 28: Der Träumer E-Book

William Meikle

0,0

Beschreibung

Kostbare Bilder, Schmuck und andere wertvolle Gegenstände verschwinden in London auf unerklärliche Weise. Nur wird am Tatort jedes Mal ein scheinbar verwirrter Mann beobachtet.Der Meisterdetektiv Sherlock Holmes erkennt in den Vorfällen ein mathematisches Muster: die Fibonacci-Sequenz. Wenig später wird sein Bruder Mycroft auf höchst merkwürdige Weise entführt. Es gibt einen Zusammenhang, und der führt direkt zu Professor Moriarty.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 189

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVSSHERLOCK HOLMES

In dieser Reihe bisher erschienen:

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson

3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt

3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle

3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn

3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler

3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter

3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel

3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3024 – Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers von Michael Buttler

3025 – Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3026 – Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad von Thomas Tippner

3027 – Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger von Michael Buttler

3028 – Der Träumer von William Meikle

3029 – Die Dolche der Kali von Marc Freund

3030 – Das Rätsel des Diskos von Phaistos von Wolfgang Schüler

William Meikle

SHERLOCK HOLMESDer Träumer

Basierend auf den Charakteren vonSir Arthur Conan Doyle

Aus dem Amerikanischen vonDr. Frank Roßnagel

William Meikle ist ein schottischer Schriftsteller, der heute auf ­Neufundland lebt. Er hat zwanzig Genre-Romane geschrieben und mehr als dreihundert Kurzgeschichten in dreizehn Ländern veröffentlicht. Wenn er gerade nicht schreibt, trinkt er Bier, spielt Gitarre und träumt von Reichtum und Ruhm. Umgeben von Walen, Kahlkopfgeiern und Eisbergen.

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: iStock.com/neyro2008Satz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-227-1Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Kapitel 1

Ich habe meinen Freund Sherlock Holmes selten so durcheinander gesehen wie an jenem Morgen im September letzten Jahres. Ich selbst war auch nicht in allerbester Stimmung, nachdem ich eine Nacht ruhelosen Schlafes verbracht hatte, der von alten Kämpfen und alten Fällen heimgesucht worden war – ich hatte einen riesigen Hund im Dunkeln gesehen, hatte Kordit und Pulver in meinem Mund gespürt und die Schreie der Sterbenden gehört. Ich war mehr als bereit für ein herzhaftes Frühstück, eine große Kanne Tee und die Lektüre der Morgenzeitung, um meinen Kopf von der vorigen Nacht zu befreien.

Die ersten Böen des Herbstes waren gekommen, und Mrs Hudson hatte ein Feuer entzünden lassen. Trotz der Kälte hatte sich Holmes noch nicht seiner Schlafkleidung entledigt. Er war gewandet in einen ziemlich auffallenden gemusterten Morgenmantel und trug seine üblichen Hausschuhe, um seine Füße am Feuer zu wärmen. Er saß in seinem Lieblingsstuhl und las The Thunderer. Alle paar Minuten hielt er inne und schnitt, mit großer Anmut, mit der Schere, die er für genau diesen Zweck immer bereit hatte, einen Artikel aus der Zeitung, bevor er die Seite aus der Zeitung herausriss, sie zusammenknüllte und ins Kaminfeuer warf. Diesen Morgen kam ich nicht zu dem Vergnügen, die Zeitung zu lesen, denn es schienen nur noch ein paar Seiten übrig, und Holmes hatte bereits einen beträchtlichen Stapel von Ausschnitten neben sich liegen.

„Noch mehr Verbrechen für Ihre Akten, Holmes?“, fragte ich.

„Raub, Mord, Betrug und Erpressung – die ganze Palette der modernen Großstadt“, erwiderte Holmes, nicht ohne einen gehörigen Ekel. „Lestrade braucht auf jeden Fall meine Hilfe, Watson. Warum zum Teufel fragt er nicht danach?“

„Das ist London, Holmes“, sagte ich. „Wir haben das Glück, in der großartigsten Stadt der Welt zu leben. Ich finde es wenig bemerkenswert, dass es hier eine gewisse Menge an krimineller Aktivität gibt.“

Er zeigte auf den Stuhl neben seinem vor dem Kamin. „Irritieren Sie mich nicht, Watson. Das Ausmaß krimineller Aktivitäten, über die in den letzten paar Wochen berichtet wurde, ist schlimmer als in den letzten paar Jahren.“ Holmes blätterte durch einen Stapel von Ausschnitten und las mir ein paar willkürlich ausgewählte vor. „Ein großer Bankraub in der Stadtmitte, zwei Morde in Belgravia, ein Diamantenraub in Hatton Garden, ein Skandal um Prostituierte, ein unbedeutendes Mitglied der königlichen Familie wurde um ein paar Kunstwerke gebracht und ein Kapitän, der unter mysteriösen Umständen am St. Catherine’s Quay verschwand. Und das sind nur ein paar Beispiele – nur die, die die Presse veröffentlichen wollte. Meine Quellen haben mir gesagt, dass es noch mehr Aktivitäten gibt – viel mehr –, als von den Behörden oder den Journalisten bemerkt würde.“

„Und trotzdem wundern Sie sich, dass Lestrade Sie nicht kontaktiert hat? Der arme Kerl muss verrückt sein vor Angst.“

„Umso mehr Grund für ihn, mich um Hilfe zu bitten“, erwiderte Holmes. Er schwieg, während er sich eine neue Pfeife anzündete und den Tabak so fest hineinstopfte, als könne er damit einen Teil seines Ärgers von sich nehmen.

„Sie könnten auch Scotland Yard Ihre Hilfe anbieten“, sagte ich, spürte aber sofort, dass ich nur knapp um eine Beleidigung herumgekommen war. Holmes‘ ganze Erwiderung waren ein Heben seiner Augenbrauen und ein kaltes, dünnes Lächeln. Ich verstand sofort – ­Sherlock ­Holmes bat nicht Scotland Yard um die Krumen von deren Tischen. Aber für mich war es offenkundig, dass der jüngste Mangel an Arbeit Holmes zusehends an die Nerven ging. Unser letzter gemeinsamer Fall war mitten im Sommer gewesen – die Wiederbeschaffung von Juwelen, die einer Baronin gehörten und als gestohlen gemeldet, aber nur vergessen worden waren in der Spielzeugkiste eines Kindes. Das war nicht ansatzweise die Denkübung für Holmes‘ Gehirn gewesen, die er brauchte. Wenigstens hatte ich meine Übungen und meine Gänge zum Krankenhaus, die mich beschäftigten, aber Holmes hatte seit beinahe drei Wochen seine Wohnung nicht verlassen. Die geistigen Anstrengungen, denen er sich unterwarf, verlangten eine fast ständige Stimulanz, sonst führten sie unweigerlich zur Stagnation, wie Holmes diesen Zustand nannte, einen Zustand, den ich als sein Arzt nur als Form von tiefer Depression beschreiben konnte. Eine solche Depression drohte Holmes bisweilen heimzusuchen. So weit war es noch nicht; vermutlich war es auch noch eine ganze Weile dahin – aber ich erkannte bereits die Alarmzeichen. Ich beschloss, mich in nächster Zeit auf die Suche nach Holmes‘ Geheimvorrat an Kokain zu machen, bevor mein Freund dessen Sirenengesang nachgeben konnte. Holmes beschäftigte sich wieder mit dem, was vom Thunderer übrig geblieben war. Jedes Verbrechen, das er entdeckte, entlockte meinem alten Freund einen weiteren Seufzer der Enttäuschung. Ich versuchte, eine Unterhaltung zu beginnen, erhob mich und ging zu ihm. Ich nahm die neuesten Ausschnitte von der Lehne seines Sessels. Eigentlich hoffte ich nur, etwas zu entdecken, worüber wir unvoreingenommen reden konnten, aber ein Name in einer der Spalten fesselte sofort meine Aufmerksamkeit – Lord Jennings.

„Nun, Holmes“, sagte ich und wedelte mit dem Ausschnitt vor seinem Gesicht hin und her. „Ich kenne diesen Kerl – oder zumindest kenne ich seinen Sohn. Ich habe mit ihm in der Armee geboxt – er hatte einen feinen linken Haken, aber sein Glaskinn ließ ihn immer im Stich. Hier steht, dass sein Vater Ärger hat und dass der Yard verdutzt ist. Was meinen Sie – sollen wir ihm einen Besuch abstatten? Ich kenne das Haus gut und kann Sie dort einführen. Wir können in einer Stunde dort sein.“

Ich rechnete damit, dass Holmes meinen Versuch durchschauen würde, ihn auf Trab zu bringen, und erwartete seine Ablehnung, als er zu meiner großen Überraschung aufsprang und in sein Zimmer eilte. „In diesem Fall: Wohlan, Macduff!“, sagte er und lächelte breit. „In zehn Minuten bin ich bereit.“

Vielleicht war seine Stagnation doch noch nicht so weit fortgeschritten, wie ich befürchtet hatte.

Es gelang uns beinahe unmittelbar darauf, eine Kutsche zu bekommen; und kurz darauf waren wir auf dem Weg Richtung Süden. Holmes wirkte bleich und müde, aber der bloße Gedanke an einen möglichen Fall hatte ihn wenigstens aus der Baker Street gelockt. Was mich betraf, so verflüchtigten sich die Träume der vorigen Nacht, obwohl ich daran glaube, dass ich niemals vergessen werde, was ich in Schlacht und Krieg gesehen habe, wie weit mich Zeit und Raum auch davon trennen mögen. Ich war noch immer tief in meine Gedanken versunken, als die Kutsche plötzlich in einer ruhigen Straße in den südlichen Bezirken von Kensington anhielt. Ich kannte die Gegend als Ort, an dem sich reiche Männer niederließen, wenn sie nicht im Ausland weilten oder große Anwesen auf dem Land besaßen – ein Schlupf­winkel in der Stadt, der sich eignete für Theater und Gesellschaften, aber dennoch weit genug entfernt war von der Stadt, damit man sich eine gewisse Privatsphäre schaffen konnte. Einige der Anwesen – wie auch ihre Besitzer – hatten gewiss schon üppigere Tage gesehen, aber das Haus der Jennings gehörte noch zu den besser erhaltenen Anwesen in dem hohen Halbkreis gepflegter Sandsteinhäuser.

Unsere Kutsche setzte uns an einem breiten Gehsteig am Fuß einer Treppenflucht ab, die zu einer beeindruckenden Eichentür hinaufführte, die selbst an einem Schloss noch selbstverständlich erschienen wäre. Ein Butler – ein stämmiger Kerl mit der platten Nase und den Blumenkohlohren eines Schlägers – reagierte auf unser Klopfen und ließ uns ein. Holmes blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete das Schloss und die Türangeln, bevor er mir ins Haus folgte.

Jennings hatte den Großteil seines Vermögens im Norden mit Landwirtschaft verdient – als solchen hielt man ihn im Oberhaus für eher gewöhnlich. Ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Ächtung schien den Mann nie gekümmert zu haben, und ich hatte seinen Sohn als sehr sympathisch erlebt bei den Gelegenheiten, an denen wir uns getroffen hatten. Es war schon einige Jahre her, seit ich den Vater das letzte Mal gesehen hatte, aber falls ich die Befürchtung hatte, er würde sich nicht an mich erinnern, wurde sie von einer überaus herzlichen Begrüßung für gegenstandslos erklärt.

„Captain Watson, leibhaftig“, sagte Jennings mit seinem irischen Akzent, der noch immer stark war, trotz der vielen Jahre, die er fern von der Heimat lebte. Er saß in einem großen Ledersessel so dicht am Feuer wie möglich und hatte eine große Decke auf seinem Schoß und seinen Beinen. Er wirkte kleiner und faltiger, als ich ihn in Erinnerung hatte. Die Jahre waren nicht gut zu ihm gewesen, und mit den Augen des Arztes erkannte ich, dass er nicht mehr viele Jahre zu leben hatte. Aber sein Händedruck war noch immer kräftig, und er bot uns zwei Stühle gegenüber von ihm an. „Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen?“

Ich stellte ihm Holmes vor, und der Lord zog eine Augenbraue hoch. „Natürlich kenne ich Sie, Sir, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Sehr geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Aber beantworten Sie mir zuerst diese Frage: Sind Sie hier auf Veranlassung von Scotland Yard?“

„Ich befürchte, nein …“, begann ich, wurde aber unterbrochen.

„Gut“, sagte Jennings beinahe mit einem seligen Lächeln. „Diese Stümper finden ihren Hintern mit beiden Händen nicht. Aber mit Sherlock Holmes in dem Fall, habe ich wenigstens die Hoffnung, meine Bilder wiederzubekommen.“

„Erzählen Sie mir, was passiert ist!“, sagte Holmes, der plötzlich ganz ruhig und aufmerksam war. Ich kannte diese Anzeichen – ein neuer Fall hatte bereits begonnen.

Es gab eine kurze Unterbrechung, als Jennings seinen Butler bat, uns etwas zu trinken zu bringen. Sein Whisky war erstklassig, wie ich es von einem Mann seines Ranges erwartet hatte. Ich fühlte mich ganz entspannt, als ich mir eine Pfeife anzündete und Jennings‘ Erzählung lauschte.

„Sie hätten alles bekommen können, was sie gewollt hätten“, sagte der alte Mann, nachdem er einen Schluck von seinem Scotch genommen hatte, der einen halb so alten Mann umgeworfen hätte. „Sie waren so schnell drin und wieder draußen, dass wir fast nicht bemerkt hätten, dass sie überhaupt hier waren. Die Nacht am letzten Donnerstag war sehr ruhig; es ging kaum ein Wind, und wegen meiner Arthritis konnte ich nur sehr wenig bis gar nicht schlafen. Und dennoch gelang es ihnen, ohne meine Aufmerksamkeit zu erregen. Und sie wussten genau, was sie wollten – sie stahlen nur die beiden Miniaturen von Raeburn, und noch dazu ganz großartige. Sie bringen mehr als tausend Guineen das Stück, oder ich will Holländer sein. Vielleicht wurden sie sogar auf den Wunsch eines anderen Sammlers gestohlen, denn, wie ich bereits sagte, sind es besonders schöne Stücke der Arbeit dieses Künstlers. Aber das ist nicht der Grund, warum ich sie zurückhaben möchte, nein muss. Meine verstorbene Frau hat sie mir in Edinburgh gekauft, in unseren Flitter­wochen. Sie sind eine Erinnerung an sie, und ich kann es mir nicht leisten, sie nicht mehr zu haben.“

Der alte Mann sah aus, als wolle er anfangen, zu weinen. Um seine Verlegenheit zu verbergen, versuchte er, einen langen Zigarillo aus einem Etui in seiner Brust­tasche anzuzünden. Aber seine zitternden Hände verrieten ihn ebenso wie auch seine Tränen. Er dankte mir ­überschwänglich, als ich zu ihm ging und seinen Zigarillo für ihn anzündete. Er inhalierte den Rauch tief und stieß ihn nicht wieder aus, so als werde der gesamte Rauch unmittelbar von seinem Körper aufgenommen. Ich überlegte kurz, ihn darüber aufzuklären, dass eine solche Gewohnheit ihn töten werde, aber sein Blick verriet mir, dass er das bereits sehr gut wusste.

Holmes wartete, bis er sicher sein konnte, dass es dem alten Herrn wieder besser ging, bevor er ihm Fragen stellte. „Waren keine Fenster offen? Wenn ich mich recht erinnere, war es eine warme Nacht.“

„Nein“, antwortete Jennings. Er hatte seine Fassung wiedergewonnen, obwohl seine Augen noch immer rot umrändert und betrübt waren. Ich war mir sicher, dass wir nicht viel Zeit hatten, bevor er sich hinlegen und ausruhen musste. „Mein Blut wird immer dünner, und Hector hat strenge Anweisungen, nachts alle Fenster und Türen zu schließen.“

„Hector ist Ihr Butler?“, fragte Holmes. „Der Mann, der uns hereinbat?“

„Ja! Aber denken Sie nicht, er könne etwas damit zu tun haben. Dieser Mann ist schon viele Jahre bei mir, und ich könnte mir keinen treueren Bediensteten – und Freund – vorstellen. Er war der Einzige, der mich am Leben erhielt, als meine Janet verstarb. Und er war am Boden zerstört, als er am Freitagmorgen den Diebstahl bemerkte. Er nimmt alles sehr persönlich.“

„Darf ich daraus folgern, dass es keinerlei Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen gab?“

„Nicht nur das – die Türen und Fenster waren noch immer alle verschlossen, vorne und hinten. Alles war wie sonst – es gab nur die beiden Plätze oberhalb des Kaminsimses, an denen die Miniaturen seit der Beerdigung gehangen hatten.“

Ich hob den Kopf – und tatsächlich befanden sich zwei hellere Stellen auf der Tapete, wo die Bilder gehangen hatten. Holmes stand auf und inspizierte alles sehr genau; besonders viel Aufmerksamkeit widmete er dem Kaminsims und dem Fußboden um das Kamingitter herum, die er auf Händen und Füßen fast fünf ganze Minuten untersuchte. „Sie tragen Schuhe der Größe 42, und Ihr Butler dürfte 44 oder sogar 45 haben“, sagte Holmes zu Jennings, als er wieder aufstand. Und das war keine Frage. „Der Einbrecher benutzte – wie es scheint – Größe 41 und ist damit nur leicht aufgetreten. Er brachte Dreck an seinen Sohlen mit sich herein – aus den Gärten gegenüber, wenn ich mich nicht sehr irre. Viel ist es nicht, aber der Abdruck ist klar zu erkennen. Und er musste sich strecken, um die Bilder abzuhängen – es gibt feinste Textilspuren auf dem Kaminsims, wo seine Jacke sich am Stein gerieben hatte. Wenn man diese Dinge betrachtet, bin ich mir ziemlich sicher, dass der Mann, den wir suchen, kaum größer ist als 1,65 Meter, keine kräftige Statur besitzt und billige Schuhe trägt. Die Sohle am linken Schuh ist mehr abgelaufen als am rechten; er könnte also leicht hinken oder das rechte Bein bevorzugen – sagen Sie mir, kennen Sie jemanden, auf den diese Beschreibung passt?“

Seine Lordschaft saß nur da, mit offenem Mund, und starrte Holmes mit einem Ausdruck an, den ich schon so oft gesehen hatte: zu perplex, um antworten zu können. Glücklicherweise besaß jemand aus seinem Haushalt genug Geistesgegenwart, um zu reagieren. Von der Tür erklang ein diskretes Husten. Der Butler Hector – obwohl ich kaum jemanden gesehen hatte, auf den diese Beschreibung weniger treffen würde – bemühte sich um Holmes‘ Aufmerksamkeit. „Ich denke, ich könnte Ihnen helfen, Sir“, sagte er. „Auch wenn es schon am Dienstag war, als ich den Mann gesehen hatte, den Sie eben beschrieben haben, und ihn bis jetzt einfach wieder vergessen hatte. Ich musste ihn von der Schwelle jagen – einen kleinen Kerl, ungefähr 1,65, mit einem ausgeprägten Hinken – ich sah, wie er davoneilte.“

„Können Sie sich noch an etwas anderes an ihm erinnern?“, fragte Holmes. „Auch eine Kleinigkeit könnte mir helfen.“

„Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern“, sagte der kräftige Mann. „Es war ein anstrengender Tag; wir kehrten gerade erst von unserem Landsitz zurück, und ich musste die Kleidung des Herrn auspacken. Ich war unten in der Waschküche und sortierte die schmutzigsten Stücke aus. Da sah ich ihn auf der Türschwelle, als ich aus der Waschküche kam. Er beachtete mich nicht, bis ich auf ihn zuging und ihn bat, sich davonzumachen. Selbst dann schien er mich kaum wahrzunehmen.“

„Seine Kleidung?“, fragte Holmes leise, so als wolle er die Erinnerungen des Butlers nicht stören.

„Er trug einen langen braunen Überzieher und einen Hut, der ziemlich verbogen war, als wäre er zu lange dem Regen ausgesetzt gewesen. Und er hatte sich einige Tage nicht rasiert. Er hatte blaue Augen, daran kann ich mich gut erinnern, blaue und wilde Augen. Als hätte er getrunken, obwohl er nicht danach roch. Und er murmelte seltsame Dinge vor sich hin, als führte er eine Unterhaltung mit einem unsichtbaren Freund. Es war ziemlich wirres Zeug, befürchte ich. Er redete über sein krankes Bein und dass ihm sterbenselend sei. Und den Namen einer Frau: Irene; er rief immer wieder nach Irene. Tut mir leid, wenn ich nichts mehr weiß, Sir, aber ich dachte, er sei einfach einer von den üblichen Landstreichern, nicht wahr? Wir haben immer wieder welche hier, die denken, hier sei niemand und sie könnten einfach einbrechen.“

Holmes schien einige Sekunden in Gedanken versunken, dann klopfte er dem Butler auf die Schulter. „Sie haben mehr als genug geholfen. Vielen Dank!“ Holmes ging zu seinem Stuhl zurück und lächelte. Er wandte sich wieder an Jennings. „Nun, Sir. Ich denke, ich kann Ihnen tatsächlich helfen. War etwas Besonderes an diesen Miniaturen? Können Sie sich zum Beispiel an ihr Thema erinnern?“

Jennings hatte seine Fassung wiedergewonnen, seiner Reaktion nach zu urteilen, nachdem er Holmes bei der Arbeit gesehen hatte – ein weiterer großer Schluck Whisky hatte ihm dabei geholfen. „Sie gehörten zu Raeburns besten Arbeiten, sagt man – zwei kleine Porträts in einfachen silbernen Rahmen. Beides waren Schotten, das kann ich Ihnen sagen“, erwiderte er. „Und hatten etwas mit Wissenschaft zu tun – der eine hatte ein Fernrohr in der Hand, der andere saß lesend an seinem Schreibtisch. Darüber hinaus war die Herkunft der Bilder ziemlich unklar, jedenfalls nach Aussage der Versicherung. Das ist Bartletts, am Strand – vielleicht können die noch ein bisschen Licht in die Details bringen, die Sie brauchen.“

„Das können sie vielleicht wirklich“, sagte Holmes leise, aber seine Aufmerksamkeit war schon auf andere Dinge gerichtet.

Kapitel 2

Als wir wieder in der Kutsche nach Hause saßen, versuchte ich, Holmes ein paar Informationen zu entlocken, was seine ersten Pläne anging, aber er war so verstockt wie immer.

„Wir haben Tatsachen, Watson, aber noch nicht genug davon. Sie kennen meine Methoden mittlerweile gut genug, dass ich mich nicht mit müßigen Spekulationen befasse. Aber warten Sie, vielleicht haben wir mehr Klarheit, bevor der Tag zu Ende ist.“

Ich erwartete, dass wir auf direktem Weg zur Baker Street zurückkehren würden, aber Holmes hatte andere Ideen. Er ließ die Kutsche nach Osten fahren, durch das Stadtzentrum, durch den Oxford Circus, dann an Holborn vorbei und in Richtung Außenbezirke. Unser erster Halt war bei einem Juwelier in Hatton Garden. Es gab mehr als ein Dutzend solcher Geschäfte auf engem Raum. Die meisten wurden von Einwanderern vom Kontinent geleitet, die Beziehungen hatten zu den Märkten in Holland und Deutschland. Holmes und ich waren schon einige Male hier gewesen, aber den Laden, in den ­Holmes mich jetzt führte, hatte ich noch nie gesehen. Er war groß und hatte teure Vitrinen mit goldenen Taschen­uhren und Diamantringen, die ich mir mit meinem derzeitigen schmalen Einkommen niemals leisten konnte. Der alte Mann hinter der stark gesicherten Ladentheke hatte einen beneidenswerten weißen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, und während wir eintraten, zog und zupfte er daran herum. Seine Augenbrauen waren beinahe so buschig wie sein Bart, und sie hoben und senkten sich beunruhigt, während ihm Holmes den Zweck unseres Besuchs erklärte. Zuerst weigerte er sich, zu reden – als bedeutete das, zuzugeben, es habe einen Überfall gegeben, schon ein Eingeständnis der eigenen Schwäche und eine Einladung, eine solche Tat zu wiederholen.

Bald gelangte Holmes, wie es seine Gewohnheit ist, zum Kern der Angelegenheit. „Ich bin zuversichtlich, dass ich Ihnen die gestohlenen Gegenstände wiederbeschaffen kann“, sagte er ruhig. „Aber damit mir das gelingt, müssen Sie mir erzählen, was passiert ist.“