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Der schlimmste Albtraum einer jeden Mutter: die Entführung ihres Kindes
Melissa Eldredge ist als Kind durch die Hölle gegangen. Sie und ihr Bruder Michael wurden entführt und sind nur knapp mit dem Leben davongekommen, als ihre Mutter alles riskierte, um die beiden zu retten. Nun wiederholt sich die Geschichte: Kurz vor Melissas Hochzeitstag verschwindet ihre zweijährige Stieftochter Riley spurlos. Wurde sie ebenfalls entführt, und hat der Täter etwas mit dem Albtraum von damals zu tun? Melissa und Michael müssen sich ihren schlimmsten Ängsten stellen, um die kleine Riley zu finden. Jede Sekunde zählt.
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Seitenzahl: 353
DASBUCH
Die Familiengeschichte der Eldredges ist von Tragödien geprägt: Vor Jahrzehnten hat Nancy ihre beiden ersten Kinder verloren, als diese entführt und ermordet wurden. Nancy selbst wurde für deren Ermordung verantwortlich gemacht. Dank eines Formfehlers musste sie nicht ins Gefängnis, aber die Medien begannen eine regelrechte Hexenjagd auf sie.
Zwar konnte sich Nancy mit viel Mut und Durchhaltevermögen ein neues Leben aufbauen: Sie lernte ihren wunderbaren zweiten Mann kennen und bekam mit ihm zwei bezaubernde Kinder, Melissa und Michael. Doch dann wiederholte sich das Grauen: Auch Melissa und Michael wurden entführt. Wie durch ein Wunder konnte Nancy ihre Kinder diesmal retten – wenn sie seitdem auch ein schweres Trauma mit sich herumtragen, was sich besonders Melissa nicht eingestehen will.
Nun möchte Melissa die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen und mit ihrem Verlobten Charlie nach vorne schauen. Da wiederholt sich der Albtraum ein drittes Mal: Charlies zweijährige Tochter Riley wird entführt. Die Eldredges müssen sich gemeinsam ihren Dämonen stellen, um die Kleine zu retten.
DIEAUTORINNEN
Mary Higgins Clark (1927–2020), geboren in New York, lebte und arbeitete in Saddle River, New Jersey. Sie zählte zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Ihre große Stärke waren ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Mit ihren Büchern führte Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den begehrten »Edgar Award«. Sie starb am 31. Januar 2020 im Kreis ihrer Familie.
Alafair Burke ist Dozentin für Strafrecht an der Hofstra Law School. Sie war lange als Deputy District Attorney tätig. Ihr Beruf inspirierte sie dazu, Kriminalromane zu schreiben, u. a. die New-York-Times-Bestsellerserie um Ellie Hatcher. Sie ist die Tochter von James Lee Burke und lebt in New York. Für Dennis Lehane gehört sie zu den »besten jungen Krimischriftstellerinnen«.
MARY HIGGINS CLARK
ALAFAIR BURKE
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet
Die Originalausgabe WHEREARETHECHILDRENNOW?
erschien erstmals 2023 bei Simon & Schuster, New York.
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Deutsche Erstausgabe 05/2023
Copyright © 2023 by Nora Durkin Enterprises, Inc.
All rights reserved. Published by arrangement with
the original publisher, Simon & Schuster Inc.
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarker Str. 28, 81673 München
Redaktion: Claudia Alt
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
unter Verwendung von shutterstock/Capture PB
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-30613-7V001
www.heyne.de
Für William, Louis, Emma, Katherine, Alexander und Stella, die geliebten Ururenkel der Queen of Suspense
Durch die Ritzen der Fensterrahmen zog ein feuchter abendlicher Windhauch. Noch vor wenigen Jahren wäre das in ihrem ehemaligen Kinderzimmer undenkbar gewesen. Ihre Mutter hatte ein Auge auf solche Unzulänglichkeiten, vor allem, wenn sie das Wohlbefinden der Gäste unter ihrem Dach beeinträchtigten. Und ihr Vater, der beste Immobilienmakler auf Cape Cod, hatte sich im Lauf der Jahre im Dienst an seinen Kunden zu einem fachkundigen Handwerker entwickelt. Aber nicht nur die Dichtung der Fensterrahmen hatte in jüngster Zeit Risse bekommen, sondern die gesamte Familie Eldredge.
Um endlich schlafen zu können, stand Melissa vom Bett auf, schlüpfte in ihre Pantoffel und schlich zum Fenster. Sie wollte niemanden wecken. Nachdem sie die Vorhänge vorgezogen hatte, fand sie ganz oben im Schrank eine Extradecke, breitete sie übers Bett und speicherte auf ihrem Handy eine Erinnerungsnotiz, vor ihrer Rückkehr nach New York noch einen Handwerker damit zu beauftragen, sich mal das ganze Haus anzusehen. Nur für den Fall, dass sie ihre Mutter doch davon überzeugen konnte, es zu verkaufen.
Als sie wieder ins Bett schlüpfte und das Handy auf dem Nachtkästchen ablegte, traf eine neue Nachricht ein. Bist du noch wach?
Sie musste lächeln. Es freute sie, dass sich Charlie während der vier Tage, die sie hier war, regelmäßig gemeldet hatte. Grad noch so, antwortete sie.
Sie waren beide beruflich viel unterwegs, aber er meldete sich jedes Mal, wenn er morgens aufstand und abends ins Bett ging. Na, gab’s wieder Knatsch?
Er spielte auf den »albernen Zwist unter Geschwistern« an, wie ihre Mutter das am Vortag abgetan hatte. Ihr Bruder Mike hatte einen Saisonjob und war zum ersten Mal seit der Beerdigung zu dieser Familienzusammenkunft auf Cape Cod in die Staaten zurückgekehrt. Heute nur Friede, Freude, Eierkuchen. Wir waren zusammen am Grab.
Der alte Landfriedhof an der Straße zur Kirche Our Lady of the Cape war auch auf dem Gemälde abgebildet, das im Wohnzimmer über dem Klavier hing, eines der zahlreichen Bilder an den cremefarbenen Wänden im Haus. Als ihre Mutter vierzig Jahre zuvor die düsteren Grabsteinreihen gemalt hatte, hatte sie sicherlich keinen Gedanken daran verschwendet, hier einmal ihren Ehemann zu bestatten.
Sie hielt kurz inne und musste daran denken, wie Mike, als sie am Nachmittag am Grab ihres Vaters gestanden hatten, erst die Hand ihrer Mutter gehalten hatte, dann ihre. Sie waren immer noch eine Familie, egal, was passierte. Familie ist Familie, schrieb sie noch. Sie hatte nie ein negatives Wort über ihre Familie fallen lassen, bis sie mit der Trauerarbeit begonnen hatte. Jedes Mal, wenn während der Therapie das Thema auf die Eldredges kam – und darauf, was in der Vergangenheit geschehen war –, verstummte sie. Aber ihr wurde gesagt, dass ein wesentlicher Teil der Therapie daraus bestehe, über die eigene Kindheit zu reden. So hatte sie manchmal ein schlechtes Gewissen und wusste nicht recht, ob sie während der Therapie nicht zu oft von den kleinen Problemen in der Familie sprach und alles Positive außen vor ließ. Heute am Grab aber hatte sie die gelegentlichen Reibereien vergessen und war wieder einmal dankbar gewesen für das wunderbare Leben, das ihre Eltern ihr ermöglicht hatten.
Sie sah die Pünktchen auf dem Display, die anzeigten, dass Charlie eine Antwort verfasste. Apropos Familie, hab ich dir in letzter Zeit mal gesagt, dass ich es kaum erwarten kann, dich zu heiraten? Nur noch zwei Monate.
Erst zwei Wochen zuvor hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, den sie sofort angenommen hatte. Es war die Idee ihrer Mutter gewesen, am ersten Todestag ihres Vaters zu heiraten, auch wenn das mit einer sehr kurzen Verlobungszeit einherging. Die Trauung würde auch sehr klein ausfallen – nur Braut und Bräutigam, dazu die unmittelbare Familie und einige Freunde.
Lächelnd tippte sie ihre Antwort, so wie sie immer lächelte, wenn sie an ihre Zukunft mit ihm dachte. Ich wollte es dir eigentlich erst morgen sagen, aber ich bin heute an einem ganz reizenden kleinen Weingut vorbeigekommen. Ich weiß, wir haben gesagt, im Rathaus, aber vielleicht …? Sie drückte auf Senden und hängte einige Fotos an, die sie auf dem Rückweg vom Friedhof gemacht hatte, als sie dort kurz angehalten hatten, um mit ein paar Worten ihres Vaters zu gedenken.
Nur Sekunden später klingelte ihr Handy. Ein FaceTime-Anruf von Charlie. Sie nahm an. »Guten Abend!«, begrüßte sie ihn freudig, als sein Gesicht auf dem Display erschien. Er hatte kurz geschnittene dunkle Haare und hellblaue Augen. Dazu hatte er sich heute noch ein paar Tage alte Bartstoppel auf dem kantigen Kiefer stehen lassen.
»Zu viel Getippe«, sagte er. »Wenn wir schon über die Hochzeit reden, will ich wenigstens meine Braut vor mir sehen.«
»Du hast dir die Fotos des Weinguts angeschaut?«
»Ja. Absolut perfekt. Und die Aussicht ist unglaublich.«
»Aber wir wollten doch alles so einfach wie möglich halten und nur aufs Rathaus gehen.«
»Du wolltest das alles so haben.«
Es war noch nicht lange her, dass sie eine große Hochzeit mit einem Empfang in einer angesagten New Yorker Location vor sich gesehen hatte – vielleicht dem Loeb Boathouse im Central Park oder dem Rainbow Room mit Blick aufs Rockefeller Center. Aber wenn sie davon geträumt hatte, dann hatte sie sich immer vorgestellt, dass ihr Vater sie durch den Mittelgang führte – und ein anderer Mann als Charlie sie am Altar erwartete. Es erschien ihr nicht fair, ihre Brautfantasien auf eine andere Beziehung zu übertragen. Dennoch, vielleicht gab es ja etwas, das zwischen einer Märchenhochzeit und dem Rathaus in der City von New York lag. Eine kleine Feier im Freien, auf einem Weingut auf dem Cape, das wäre doch genau das Richtige für Charlie und sie.
»Aber wir haben doch allen schon das Datum mitgeteilt. Und gesagt, dass es in der Stadt stattfindet.«
Er ließ sein perfektes Lächeln aufblitzen. »Allen? Alle sind in diesem Fall … sechs Leute – die dich alle von Herzen lieben und, falls es nötig sein sollte, auch zum Mond fliegen würden, damit sie an deinem besonderen Tag dabei sein können. Unserem besonderen Tag.«
Als er die sechs Gäste erwähnte, hoffte Melissa, dass er auch seine Schwester mit dazuzählte, allerdings gehörte Rachel Miller sicherlich nicht zu denen, die Melissa »von Herzen liebten«. Widerwillig hatte sie sich bereit erklärt, Melissa kennenzulernen, bislang hatten sie sich aber nur zweimal getroffen. Angeblich war sie wütend gewesen, als Charlie ihr von seinem Heiratsantrag erzählte, und hatte gemeint, ihr Bruder würde sich viel zu schnell in eine neue Beziehung stürzen. »Vielleicht kommt Rachel dann ja auch mit«, sagte Melissa.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir werden heiraten, so oder so, und es wird an diesem wundervollen Ort stattfinden, den du aufgetan hast. Lass es uns buchen.«
»Wirklich?«
»Sicher. Schick mir den Namen des Weinguts, und ich rufe morgen gleich an.« Damit, wusste sie, war die Entscheidung gefallen. Unter den tausend Dingen, die sie an Charlie bewunderte, war, dass er sich immer sofort um alles kümmerte, ständig nahm er ihr unzählige Dinge ab, sodass sie den Kopf für anderes frei hatte. »Oh, hier will jemand Hallo sagen.«
Die Kamera an Charlies Handy wurde nach unten gedreht, bis sie ein pausbäckiges Gesicht sah, das zu ihr aufblickte. Rileys feine blonde Haare waren ganz zerzaust. Im Hintergrund sah Melissa Kartons auf dem Küchenfußboden gestapelt. Sie hatten gerade damit begonnen, die Sachen in seiner Wohnung in der Upper West Side zu verpacken, da er mit Riley bei ihr einziehen würde.
»Hallo, Missa!« Es klang fast wie Missy, ihr Spitzname, bis sie in der ersten Klasse von heute auf morgen verkündet hatte, dass sie von nun an Melissa genannt werden wolle. Riley lächelte so angestrengt, dass sie dazu fast die Augen zusammenkniff. »Wann kommst du?« Hinter der Handykamera, außerhalb des Bildes, sagte Charlie zu Riley, sie solle ihr eine Kusshand zuwerfen. Das kleine Mädchen legte seine Patschehand an die rosaroten Lippen und pustete ganz fest. Für eine nicht mal Dreijährige machte sie das sehr gut.
»Bald, Liebes. In zwei Tagen komm ich wieder nach New York.«
Ihre zukünftige Stieftochter hielt zwei Finger hoch. »Zwei! Genau wie ich.«
»Nur dass es zwei Tage sind, nicht zwei Jahre.«
»Weiß ich.« Sie wandte sich von der Kamera ab und stapfte davon.
»Kein leichtes Publikum«, sagte Melissa, als Charlie wieder auf dem Display erschien.
»Fast, als hätte sie die Aufmerksamkeitsspanne einer Zweijährigen«, antwortete er und gluckste kopfschüttelnd. »Ganz zu schweigen davon, dass du mit ihrem neuen Peppa-Wutz-Spielhaus konkurrierst.«
»Wie hat sie dich dazu gebracht, dass du sie so lange aufbleiben lässt?«
»Sie ist nach dem Essen gleich ins Bett, vor einiger Zeit aber wiedergekommen, weil sie angeblich was gehört hat. Ich dachte mir, ich lass sie noch so lange spielen, bis ich mit der Arbeit fertig bin.«
»Wir sprechen uns morgen wieder?«
»Klar«, sagte er. »Und an allen Morgen danach.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, beantwortete sie noch widerwillig die drei Mails eines hartnäckigen Anwalts, der die Bedeutung einer Abwesenheitsnotiz nicht zu verstehen schien, bevor sie das Licht auf dem Nachtkästchen endgültig ausschaltete. Als sie die Augen schloss, sah sie sich neben Charlie stehen: Sie trägt das weiße, knöchellange, rückenfreie Seidenkleid mit Nackenband, das sie sich vergangene Woche bei Bloomingdale’s gekauft hat. Er trägt den hellbraunen Leinenanzug, der, wie sie ihm gesagt hat, für eine Hochzeit im Sommer perfekt ist, selbst wenn sie nur im Rathaus stattfindet. Den Ich-erkläre-euch-zu-Mann-und-Frau-Kuss tauschen sie unter der mit funkelnden weißen Lichterketten geschmückten Teak-Pergola. Riley läuft auf sie zu, in ihren Haaren hat sie Rosen, und ihr pinkfarbenes Tüllkleid wippt fröhlich bei jedem ihrer Schritte.
Auf dem Rasen des Weinguts entdeckt das Mädchen eine Schaukel. Sie klettert auf den Sitz und passt auf, dass sich ihr Kleid nicht in den Ketten verfängt. »Schieb mich an!« Sie kichert und kreischt und zieht die Nase kraus, wenn sie lacht. »Höher, Missa, höher!« Sie schaukelt so hoch, dass sie fast in den Himmel fliegt und zwischen den rosa-weißen Wolken verschwindet. Ihre Freudenschreie werden leiser, als die Schaukel allmählich ausschwingt. »Bitte, Missa – nicht aufhören.« Obwohl sie noch dreimal vergeblich mit den Füßen ausschlägt, steht die Schaukel fast still. Suchend dreht sie sich um, und in diesem Moment fährt Riley ein scharfer Schmerz in den kleinen Handrücken. Sie sieht dorthin, wo sie die Schmerzen spürt, und entdeckt einen roten Handschuh, der an der Kette festhängt. Auf dem Handschuh ist ein lächelndes Kätzchen aufgestickt. Warum trägt sie im Sommer einen Handschuh? Bevor sie die Frage beantworten kann, fällt sie vornüber – sie ist so klein, plötzlich aber so schwer – und wird von jemandem aufgefangen. Von jemandem.
In ihrem Traum wacht sie zum Geräusch eines Reißverschlusses auf. Es ist ihre eigene Jacke, die geöffnet wird. In der Nase hat sie den Geruch von Babypuder und Schweiß. Sie spürt, wie ihr der Rollkragenpullover umständlich über den Kopf gezogen wird, und mit ihm ihr Unterhemd. Sie bewegt sich und schlägt die Augen auf. »Mommy, Mommy …«
Als Melissa in ihrem Jugendbett hochfuhr, wusste sie nicht mehr, ob der Schrei, der ihr noch in den Ohren nachhallte, wirklich oder nur ein Teil ihres Albtraums war. Im Haus war es still, nur die Meeresbrandung war in der Ferne zu hören. Ihr Nacken war schweißfeucht, und ganz kurz glaubte sie, schwach Talkumpuder riechen zu können.
Das Mädchen auf der Schaukel war nicht Riley. Es war die dreijährige Missy. Es war der bislang lebhafteste Traum. Nach vierzig Jahren, nach all ihren Bemühungen, ihren Fortschritten hin zu einem glücklichen, auf die Zukunft gerichteten Leben begann Melissa sich endlich zu erinnern. Nein, flehte sie im Stillen. Es soll aufhören. Ich will es nicht wissen. Ich will nicht, dass ich das bin.
Sie war in kalten Schweiß gebadet. Der Wecker zeigte 2.30 Uhr. Es begann von Neuem. Die Träume. Sie wurden schlimmer.
Nancy kam die Treppe herunter und schloss die goldenen Perlenohrringe, die ihrem Ensemble den letzten Schliff verleihen sollten. Sie trug ein schlichtes, aber keineswegs matronenhaftes Seiden-Etuikleid in leuchtendem Königsblau, das Ray immer als ihre charakteristische Farbe beschrieben hatte und das noch dazu ihre blauen Augen betonte. Das leicht metallische Schimmern der Verzierungen am Ausschnitt verlieh ihrem sonst üblichen dezenten Auftreten etwas Festliches.
Im Erdgeschoss saß Melissa in einem flauschigen weißen Morgenmantel am Küchentisch, trug Lockenwickler in der Größe von Soda-Dosen im Haar, trank Kaffee und hatte die noch schlafende Riley auf dem Schoß. Sie saß auf dem Stuhl direkt am Fenster, dem Platz, den sie aus irgendeinem Grund als Kind zu ihrem »Lieblingsplatz« erkoren hatte, nachdem sie für den Hochstuhl zu groß geworden war. Sie setzte ihre Tasse ab und stieß, als sie ihre Mutter sah, einen übertriebenen Laut der Überraschung aus. »Schau dich an! Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Die Brautmutter sollte eigentlich nicht die schärfste Frau auf der Hochzeit sein.«
Nancy rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. »Das kannst du dir sparen. Außerdem solltest du vor unserem kleinen Engel nicht so reden.« Nancy drückte Riley einen Kuss auf den warmen, nach Babyshampoo riechenden Kopf.
Verschlafen sah Riley zu ihr auf. »Hallo, Grand-Nan. Du siehst schön aus.« Nancy hoffte, dass Rileys Bezeichnung für sie – Grand-Nan – sich niemals ändern würde.
Sie meint scharf, sprach Melissa lautlos die Worte, als Riley nicht zu ihr sah.
Auch Melissa sah wunderbar aus, und das lag nicht nur an ihrem bereits aufgetragenen Make-up. Sie strahlte vor Glück. »Hattest du eine erholsame Nacht?« Bei ihren letzten beiden Besuchen auf dem Cape hatte ihre Tochter, die immer müde ausgesehen hatte, erklärt, dass sie unter Schlafproblemen leide. Manchmal machte sich Nancy Sorgen, dass ihre ehrgeizige Tochter mehr arbeitete, als ihr guttat.
»Wie ein Baby. Danke.«
Nach all den Jahren hatte es Nancy endlich geschafft, ihre Gedanken auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Vierzig Jahre zuvor hätte sie sich völlig in ihren Erinnerungen verloren. Aber sie bemühte sich, jeden Tag in der Gegenwart zu leben … und nicht zurückzublicken oder die Zukunft vorherzusagen. Endlich funktionierte das auch, zumindest meistens. Sie war jetzt zweiundsiebzig, und mehr als die Hälfte ihres Lebens war sie so vom Glück gesegnet gewesen, wie man es sich nur wünschen konnte. Wenn dunkle Erinnerungen an die Vergangenheit hochkamen, wurde sie von ihnen entweder aus heiterem Himmel überrumpelt, oder sie stellten sich – wie heute – bei Ereignissen ein, die Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Leben aufwiesen.
Eine Hochzeit. Die Hochzeit ihrer Tochter. Ein neuer Schwiegersohn, der Melissa über alles liebte, und ein bezauberndes kleines Mädchen, das Melissa lieben und mit aufziehen konnte. Zeit zum Feiern. Und dennoch …
Die Vergangenheit war nie vorbei. Eine Hochzeit. Ihre Gedanken waren nicht bei Melissas großem Tag, noch nicht einmal bei ihrer eigenen Hochzeit mit dem geliebten Ray, sondern bei einer anderen Trauung, die ihr Leben für immer verändert hatte. Nancy kam sich nicht oft wie eine ältere Frau vor, trotzdem, dass sie bereits mit achtzehn, im ersten Collegejahr, geheiratet hatte, erschien ihr heutzutage völlig unmöglich – vom Albtraum, der darauf folgte, ganz zu schweigen. Sie hatte unbedingt Weiß tragen wollen bei jener Hochzeit, die so überstürzt nach dem Tod ihrer geliebten Mutter angesetzt worden war. Damals hatte sie nur ein einziges weißes Kleid besessen – ein Strickkleid. Es hatte genügen müssen, sie hatte ja keine besonderen Hochzeitspläne, aber dann hatte sie den unerklärlichen Fleck am Ärmel entdeckt. Einen Fleck aus Schmierfett. Hätte sie schon damals diesen Fleck mit dem Autounfall ihrer Mutter in Verbindung gebracht und die richtigen Schlüsse gezogen, hätte sie Carl Harmon nie geheiratet und hätte dann nie um Peter und Lisa trauern müssen, damals nicht und nicht jetzt, nach so langer Zeit.
Ihre Gedanken wurden von polternden Schritten auf der Treppe unterbrochen. Sie drehte sich um. Vor ihr stand ihr Sohn Mike in einem perfekt geschnittenen marineblauen Anzug und einer Seidenkrawatte mit kleinen Segelbooten darauf. Er war sichtlich stolz auf seinen sportlichen Sprint die Treppe hinunter. »Als würde ich radfahren!«, sagte er und streckte beide Arme nach oben wie ein Turner nach einer perfekten Landung.
Das Haus war ein richtiges altes Cape-Haus mit so steilen Treppen, dass sie fast senkrecht anmuteten. Ray hatte immer gesagt, nach der Art ihrer Treppen zu schließen, mussten die alten Siedler von Bergziegen abgestammt haben.
»Wow, Mom, du siehst umwerfend aus.«
»Du kannst dich auch durchaus sehen lassen.«
»Sehr schick«, warf Melissa ein. »Aber wirklich, es wäre nicht nötig gewesen, gleich einen neuen Anzug zu kaufen. Hochzeiten sollten für die Gäste nicht mit Aufwand verbunden sein.«
»Ich hatte schon einen Anzug, Schwesterlein. Sogar zwei. Ich bin Skipper, kein Hippie.«
Vierzig Jahre zuvor war sie überzeugt gewesen, ihre Kinder in- und auswendig zu kennen. Der so ordnungsliebende Michael hatte nicht nur immer brav alle elterlichen Anweisungen befolgt, sondern auch allen anderen Kindern eingebläut, sich genauso daran zu halten. Missy, seine kleine Schwester, schaffte es dagegen ständig, mit einem Loch in der Hose nach Hause zu kommen, oder betrauerte den Verlust irgendeines Lieblingskuscheltiers, das sie mal wieder auf ein Abenteuer fortgeschleppt und dabei verloren hatte.
Im Rückblick konnte Nancy nach wie vor kaum fassen, wie falsch sie damit gelegen hatte. Ihr rebellisches kleines Schmuddelkind Missy war jetzt Melissa, Überfliegerin im Jurastudium, die es zur Staatsanwältin geschafft hatte und sich jetzt entschieden für eine Reform des Strafrechtssystems aussprach. Erst vergangenen Abend hatten sie nicht nur auf das glückliche Paar angestoßen, sondern auch auf die Nachricht, dass es Melissas Podcast in die Top-100-Liste auf iTunes geschafft hatte. Und der früher so ernste Michael hatte nur drei Semester am College ausgehalten, bevor er sich in die Karibik davongemacht hatte, um mal »ein paar Jahre abzuhängen«. Jetzt war er Skipper auf Sint Maarten, wo ihn jeder Mike oder Mikey nannte.
Entsprechend unterschiedlich sahen Mike und Melissa auch aus. Die Alabasterhaut und die rosigen Wangen seiner Schwester betonten noch, wie braun gebrannt und muskulös Mike war. Und während seine ehemals blonden Haare immer dunkler geworden waren, hatte Melissa immer noch ihre rotblonden Locken, die sie schon als Kind gehabt hatte – genau wie Nancy, bevor sie nach Cape Cod gezogen war und sich sowohl einen neuen Namen als auch ein neues Aussehen zugelegt hatte. Mittlerweile war Nancy weder rothaarig noch brünett. Ihr perfekt geschnittener, silberfarbener Bubikopf sah laut ihrem Friseur richtig »hoheitsvoll« aus.
Mike zog sein Handy aus der vorderen Hosentasche und machte einen Schnappschuss von Melissa, die schützend die Hand hob, als wolle sie einen Paparazzi abwehren.
»Neeeein. Ich sehe lächerlich aus!«
»Das letzte Foto von dir als Single. Und die Lockenwickler sind einfach zu süß.« Er hielt ihr das Handy hin, damit sie das Bild betrachten konnte. »Du solltest das deinen Abertausend Followern in den sozialen Medien posten. Die werden hin und weg sein.«
Nancy stellte sich auf eine weitere geschwisterliche Kabbelei ein. Würde Melissa den Kommentar ihres Bruders als unterschwellige Kritik an ihrer zunehmenden Popularität auffassen? War das überhaupt Mikes Absicht? Nancy wollte nicht für eine Seite Partei ergreifen und wünschte sich, sie würden sich so lieben, wie sie es als Kinder getan hatten.
»Weißt du was?«, sagte Melissa. »Vielleicht mach ich das sogar! Danke. Aber erst sollte ich mir was anziehen. Schließlich wird heute geheiratet!«
»Jaaa, du und Daddy«, kam es kichernd von Riley, als sie von Melissas Schoß glitt. »Er ist im Garten. Darf ich zu ihm raus?« Charlie hatte die vergangenen zwei Nächte nicht unbedingt im Garten verbracht, sondern im Gästehaus, damit er die Braut vor der Hochzeit nicht zu Gesicht bekam. Ray und Nancy hatten das zusätzliche Gebäude auf dem Grundstück errichtet, als Melissa auf dem College war. Sie meinten, sie bräuchten mehr Platz, wenn die Kinder heirateten und eigene Kinder hatten. Das war jetzt endlich der Fall – zumindest bei Melissa.
»Klar«, sagte Melissa und umarmte noch einmal ihre baldige Stieftochter, bevor sie aufstand und ihr die Hintertür öffnete. »Sag deinem Dad, dass ich die Minuten zähle.«
»Es wäre schön, wenn Mommy hier wäre.«
Nancy sah, wie ihre Tochter zusammenzuckte, so wie immer, wenn Riley ihre Mutter erwähnte. Charlies erste Frau Linda war bei einem tragischen Unfall in Europa ums Leben gekommen, als sie dort zum ersten und einzigen Mal nach der Geburt des Babys Urlaub machten. Riley war noch zu jung, um den Zusammenhang zu verstehen, der zwischen dem Tod ihrer Mutter und Melissas neuer Rolle in ihrem Leben bestand.
Sanft strich Melissa Riley über den Kopf. »Ich weiß, Liebes. Es wäre für uns alle schön, wenn sie hier wäre.«
»Ich hab sie gefragt, aber sie kann nicht kommen.«
Erst nachdem Riley nach draußen gelaufen war, erklärte Melissa: »Neil sagt, es sei völlig normal, dass Kinder sich Gespräche mit ihren verstorbenen Eltern einbilden. Manchmal träumen sie auch von ihnen. Damit bewahren sie sie in der Erinnerung.«
Neil Keeney hatte zu den Kindern aus der Nachbarschaft gehört, mit denen Mike und Melissa nach wie vor befreundet waren. Mittlerweile war er ein renommierter Psychiater in New York. Wenn er sagte, dass man sich keine Sorgen zu machen brauchte, glaubte Nancy ihm. Trotzdem entging ihr nicht, wie sehr sich Melissa wünschte, sie könnte dem Kind einen Teil seines Schmerzes abnehmen.
»Nun, wer jedenfalls heute da sein sollte, das wäre die Schwester deines Mannes«, sagte Nancy spitz. Melissa hatte Rachel persönlich darum gebeten, ihrem Bruder und ihrer Nichte zuliebe zu kommen, wenn sie schon der Ehe nicht ihren Segen geben wollte.
Melissa, schon auf dem Weg zur Treppe, winkte nur ab. »Lass mich in Ruhe mit ihr. Ich werde noch sehr lange Teil ihrer Familie sein, irgendwann wird sie schon zur Besinnung kommen. Wir sind fest entschlossen, uns von ihr nicht den Tag verderben zu lassen.«
Nancys Blick folgte Riley, bis sie die Glasschiebetür des Gästehauses erreichte. Solange sie lebte, würde sie die Kinder in ihrer Umgebung mindestens so sorgfältig im Auge behalten, als wäre sie beim Secret Service. Das würde sie nicht mehr loswerden. Insgeheim musste sie lächeln, als Charlie, der noch dabei war, sich die Krawatte zu binden, die Tür zurückschob und seine Tochter begrüßte. Er winkte Nancy zu, bevor er sich Riley auf die Hüfte setzte. Er war ein guter Mensch – freundlich, verständnisvoll, treu. Wie ihr Mann Ray.
Während Melissa die Treppe hinaufging und Mike im Wohnzimmer den Sportsender ESPN einschaltete, genoss Nancy das Gefühl, die ganze Familie im Haus um sich zu haben – inklusive zweier neuer Mitglieder. Sie konnte sich nach wie vor an die Ruhe, an das Gefühl des Willkommenseins erinnern, das der Ort ausstrahlte, als sie ihn zum ersten Mal sah. Damals war sie Mitte zwanzig gewesen und hatte ganz neu anfangen wollen. Ray war der Makler, der sie bei der Suche nach einem Mietobjekt unterstützt hatte. Cape Cod sei ein guter Ort, wenn man für sich sein wollte, hatte er gesagt. Man könne gar nicht einsam sein, wenn man am Strand spazieren ging oder den Sonnenuntergang beobachtete oder einfach nur am Morgen aus dem Fenster sah.
Als Ray ihr das Haus zeigte, hatte sie sofort gewusst, dass sie bleiben würde. Der Wohn- und Essbereich war aus der im Zentrum des Hauses gelegenen alten Stube hervorgegangen. Sie liebte den Schaukelstuhl am offenen Kamin und den Tisch vor dem Fenster, sodass man beim Essen einen Blick über den Hafen und die Bucht hatte. Nach ihrer Heirat hatte Ray dafür gesorgt, dass sie es kaufen konnten – er hatte gewusst, dass sie alles an dem Haus mochte.
Es war nun auf den Tag genau ein Jahr her, dass er, als sie aufwachte, kalt neben ihr gelegen hatte. Laut ihrem Arzt hatte er wahrscheinlich gar nichts gespürt. Seine letzten Worte hatten »ich liebe dich so sehr« gelautet, als er sich mit ihr zu ihrer letzten gemeinsamen Nacht ins Bett gelegt hatte. Die Erinnerungen, die sie in diesem Haus geschaffen hatten, gehörten ihnen gemeinsam.
Niemand war in der Nähe, um es zu hören, als sie laut zu ihrem geliebten Haus sagte: »Ach, wie sehr werde ich dich vermissen, altes Mädchen.«
Riley war vielleicht nicht die Einzige, die mit Geistern redete.
Manchmal fuhr Jayden Kennedy morgens mit dem Fahrrad über die überdachte Brücke und anschließend am Housatonic River entlang zum einzigen Coffeeshop in diesem kleinen Nest in Connecticut, in dem sämtliche Morgenzeitungen auslagen. An anderen Tagen setzte er sich in sein flottes Elektroauto und stattete dem Diner in Sharon einen Besuch ab, wo er zu den besten Blaubeerpfannkuchen, die er jemals gegessen hatte, die Zeitungen überflog. The New York Times, das Wall Street Journal und die New York Post bildeten sein journalistisches Dreigespann. Ebenso vielfältig war sein Konsum an Fernsehnachrichten und der Popkultur. Er war der festen Überzeugung, dass man sich nur dann einer objektiven Wahrheit annähern konnte, wenn man so viel wie möglich las, sich so viel wie möglich anhörte und so viele Ansichten wie möglich zu verstehen versuchte.
Der heutige Morgen war ein Blaubeerpfannkuchen-Tag – keine Zoomkonferenzen mit dem Ausland, kein Auf und Ab der Märkte, die er mit der Präzision einer Quarzuhr vorherzusagen versuchte. Dazu hatte er am Vortag eine Doppelyogasitzung absolviert, er musste sich also heute nicht schon wieder auspowern. Der Sonntag gehörte dem Müßiggang.
Für manche Leute allerdings – solche, vor denen Jayden nach West Cornwall geflohen war – bedeutete »Müßiggang« etwas ganz anderes: Eigentumswohnungen in Wolkenkratzern, Privatjets, maßgeschneiderte Designeranzüge. Das alles hatte Jayden hinter sich gelassen, als er zwei Jahre zuvor seinen Job an der Wall Street gekündigt hatte und aufs Land gezogen war. Jetzt lebte er fast autark und erzeugte mit seinen Solarpaneelen genügend Strom für das Haus und das Ladegerät fürs Auto. Ein Propantank mittlerer Größe stand für den Notfall bereit, falls die solarbetriebene Sockelleistenheizung und der Holzherd einmal ausfielen.
Jaydens Bedürfnisse waren bescheiden: hin und wieder eine Auszeit von den Computermonitoren, Podcasts über wahre Kriminalfälle, nach denen er fast ein bisschen süchtig geworden war, gutes Essen und eine gute, altmodische Zeitung. Er seufzte vernehmlich, während er dem ihm vollkommen absurd erscheinenden Kommentar auf der Meinungsseite dennoch etwas Positives abzuringen versuchte. Dem Zeitungspapier haftete ein leicht staubiger, ins Bittere gehender Geruch an. Als er zur nächsten Seite umblätterte, blieb ein kreidiges Gefühl an den Fingerspitzen zurück.
Je nach Sichtweise passte Jayden genau ins Klischee seiner Generation. Er mied Bargeld zugunsten von Apple Pay. Sein Leben fand zum größten Teil vor dem Computer statt. Er hatte Solarpaneele und ein Elektroauto. Und machte Yoga. Er konnte sich die Haare sogar zu einem Bun binden, wenn er keine Zeit für den Friseur hatte. Vor allem war da aber – wie seine Eltern nicht müde wurden zu betonen – die Entscheidung, trotz der Viertelmillion Dollar Schulden wegen der Studiengebühren an einer Elite-Uni seinen Job mit dem sechsstelligen Einstiegsgehalt sausen zu lassen, weil ihm diese Art zu leben nicht »richtig« erschien.
Sein gegenwärtiges Leben in Connecticut, in dem er sich höchstens Pfannkuchen, Schinken und Zeitungen aus richtigem Papier leistete, erschien ihm absolut perfekt. Seine Freundin Julie war ebenfalls aus der Stadt hierhergezogen, hatte ihre Stelle als Persönliche Assistentin in einer »Hausfrauen«-Sendung im Fernsehen hingeschmissen und arbeitete jetzt in einem kleinen spleenigen Antiquitätenladen in Millerton. Ihr Einkommen war bescheiden, aber regelmäßig, dazu wohnte sie im Gästehaus eines älteren Ehepaars, das von ihr kaum mehr als eine symbolische Miete verlangte, und dass sie sich in den Wochen und Monaten, in denen sie auf Reisen waren, um ihr Haus kümmerte.
Jaydens eigenes Leben abseits der ausgetretenen Pfade verlief etwas holpriger. Der Großteil seiner Ersparnisse war für die Anzahlung des Hauses draufgegangen, dazu hatte er das größtmögliche Darlehen aufgenommen, das er bekommen konnte, solange die Zinsen niedrig waren und er noch sein Wall-Street-Einkommen als Sicherheit für den Kredit gehabt hatte. Hinzu kamen die Kosten, die fällig wurden, um das Haus energieeffizient zu machen. Und die Leasingraten für das Elektroauto. Und natürlich die Raten zum Abbezahlen der Schulden aus den Studiengebühren. Sein Einkommen aus dem Daytrading und als Consultant für »nachhaltige und ethisch verantwortungsbewusste Geldanlagen«, als der er von einer wachsenden Zahl von Geschäftskunden in Anspruch genommen wurde, war ganz anständig, reichte aber eben nicht für alles.
Seine insgeheim stets vorhandene Angst drohte gerade wieder mal das Glücksgefühl zu verdrängen, das er bei Zeitung und Pfannkuchen empfand, als sein Handy eine neue Nachricht anzeigte. Laut Display stammte sie von der App Domiluxe. Der Gründer des Dotcom-Unternehmens war in Yale eine Jahrgangsstufe unter Jayden gewesen. Nach den öffentlichen Verlautbarungen, die den von vielen erwarteten Börsengang der Firma begleiteten, spreche Domiluxe »als Online-Marktplatz für exklusive Urlaubsimmobilien anspruchsvollste Mieter und Vermieter an – und möchte Fünf-Sterne-Luxus mit der Sicherheit und Anonymität auf Geheimdienstniveau verbinden«. Trotz der blumigen Phrasen unterschied es sich nicht von den üblichen Seiten für Ferienwohnanlagen, abgesehen von drei zusätzlichen Merkmalen: einem »ästhetischen Berater«, der die Fotos der Immobilie absegnen musste, sehr viel höheren Gebühren, einer höheren Kaution und höheren Mietpreisen, und, am wichtigsten, dem Versprechen vollkommener Anonymität. Sowohl die Mieter als auch die Vermieter hatten die Möglichkeit, ihre wirklichen Namen zurückzuhalten, daneben – ein wahrer »Game Changer«, wie das im Markt genannt wurde – akzeptierte Domiluxe Bitcoin und andere Digitalwährungen. So flugs Jayden die vielen legitimen Gründe aufzählen konnte, warum Kunden einen Dienst wie Domiluxe in Anspruch nehmen wollten, so sicher war er sich auch, dass viele ihn nutzten, um sich Steuern und anderer finanzieller Verpflichtungen zu entledigen. Ebenfalls vermutete er, dass so mancher Kunde die Ausgaben für einen Luxusurlaub vor seinen nächsten Angehörigen verbergen wollte – wie zum Beispiel der Ehefrau, die nicht dazu eingeladen wurde.
Er tippte aufs Display und rief die neue Nachricht auf. Sie kam von »Helen«, ein Name, der vielleicht stimmte, vielleicht auch nicht. Er hatte mit ihr bereits einige Nachrichten ausgetauscht und erfahren, dass sich Helen ihrer Ankunfts- und Abreisedaten noch nicht sicher war, sich aber einen »entspannten und HUNDERTPROZENTIG vertraulichen Aufenthalt in schöner Landschaft, fern von allem Trubel« wünschte. Die Großschreibung bei der Art der Vertraulichkeit ließ Jayden mutmaßen, dass es sich bei »Helen« wahrscheinlich um einen Mann handelte, der sich davonstahl, um die Zeit mit jemandem zu genießen, mit dem er sonst in der Öffentlichkeit nicht gesehen werden wollte. Jayden hielt nicht viel von Untreue, aber er musste nun mal seine Rechnungen bezahlen, und die üblichen Websites für Ferienwohnungen hatten nicht genug eingebracht, damit er über die Runden kam.
Die neueste Nachricht von Helen bestätigte, dass sie nach wie vor am Haus interessiert war, allerdings wollte sie die genaue Adresse, damit sie sich alles auf einer Satellitenkarte ansehen konnte, bevor sie eine Zusage machte.
Jayden war versucht, seinem Unifreund eine Nachricht zu schicken und ihm zu sagen, dass er eine offensichtliche Lücke bei der »Sicherheit und Anonymität auf Geheimdienstniveau« entdeckt habe, stattdessen gab er kurzerhand seine Adresse ein. Nachdem die Nachricht verschickt war, bat er seine Lieblingskellnerin Clarissa um die Rechnung, dann schickte er Julie eine Nachricht und fragte an, ob sie mit ihm am Abend eine weitere Folge ihrer neuesten Lieblingsserie sehen wolle und immer noch »absolut überzeugt« sei, dass er bei ihr unterkommen könne, solange er sein Haus vermietete.
Hundertpro, schrieb sie sofort zurück. Es ist wie Campen. Sie fügte ein Zelt-Emoji an, gefolgt von drei Herzen. Er wollte nicht, dass sie dachte, er wäre immer auf diese Art von Hilfe angewiesen, aber mit dem »vielleicht ganzen Monat«, den Helen in ihrer ursprünglichen Nachricht hatte anklingen lassen, könnte er genug verdienen, um sein Darlehen für fast ein Jahr zu bedienen.
Auf dem Weg zu seinem Elektroauto, die Zeitungen unter den Arm geklemmt, klingelte sein Handy erneut. Wieder Helen. Hab mir das Grundstück via Satellitenfotos angesehen. Was ist das für ein metallisch aussehendes Gebilde hinten im Garten?
O Mann, dachte er. Jetzt verliere ich die goldene Gans auch noch wegen dieser klapprigen alten Schaukel am Waldrand. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, sie abzubauen. Zum Glück hatte der »ästhetische Berater« keine Fotos vom Gelände hinter dem Haus und der unmittelbaren Umgebung verlangt, bevor er dem Anwesen seine Zustimmung erteilt hatte.
Jayden warf die Zeitungen auf den Beifahrersitz und tippte die Antwort in sein Handy. Es liegt an die fünfzig Meter vom Haupthaus entfernt. Wenn es stört, kann ich es abnehmen. Es ist eine Schaukel. Und auch nicht für Erwachsene … ich hab sie ausprobiert – LOL. Wirklich nur für Kinder.
Als er losfuhr, überlegte er, ob seine Antwort nicht zu flapsig ausgefallen war. Aber es folgte gleich die nächste Nachricht von Helen.
Perfekt.
Er wollte schon um eine nähere Erklärung bitten, als die nächste Nachricht eintraf. Ich meinte, es gibt keinen Grund, irgendwas zu verändern. Ihr Haus ist perfekt für meine Zwecke. Melde mich bald wieder mit dem Termin.
Jayden wusste mittlerweile, dass er seiner Intuition trauen konnte, und die sagte ihm, dass das mit Helen klappen würde. Es war nur eine Frage der Zeit.
Mike Eldredge öffnete die Fahrertür des SUV seiner Mutter. Aus irgendeinem Grund nagte diese Unruhe an ihm. Was war bloß los? Es war mehr als nur sein übliches Unbehagen, das er in Gegenwart seiner Schwester empfand – die nach wie vor ausblendete, was sie als Kinder zusammen erlebt hatten und was sie beide bis auf den heutigen Tag prägte.
Positiv überrascht hatte er erfahren, dass Melissa auf Anraten ihrer Freundin Katie im letzten Jahr einen Therapeuten gesucht hatte, um mit ihrem Schmerz über den Tod ihres Vaters zurechtzukommen. Ein guter Therapeut hätte Melissa dazu gebracht, über ihre Kindheit zu sprechen. Und wie hätte sie über ihre Kindheit reden sollen, ohne sich endlich der Wahrheit über Carl Harmon zu stellen, einen Namen, den sie nach wie vor nicht in den Mund nehmen konnte und bei dem sie das Zimmer verließ, wenn Mike es wagte, ihn laut auszusprechen? Als er den Fehler begangen hatte, Melissa gegenüber die Therapie zu erwähnen, hatte sie erwidert: »Mir wäre es lieber, Mom hätte dir nichts gesagt.« Für Mike das Zeichen, dass sie sich nie richtig darauf eingelassen hatte. Wahrscheinlich hatte sie nur ein paar Sitzungen nehmen wollen, bis sie sich einreden konnte, mit ihr wäre wieder alles in Ordnung, und Mike hätte nie vom Ende der Therapie erfahren sollen, in der sie nie zum Kern des Wesentlichen vorgestoßen war.
Drei Monate später hatte seine Mutter wieder Neuigkeiten für Mike: Melissa sei immer noch in Therapie, statt sich allerdings ihren wahren, unter einer zunehmend perfekten Oberfläche verborgenen Gefühlen zu stellen, hatte sie einen Freund gefunden. Er war Witwer und alleinerziehender Vater – anscheinend ein Geologe. Und sie sprachen bereits von Heirat.
Das nun erklärte dieses nagende Gefühl. Es war eine ungute Vorahnung. Du kannst dich fürs Glück entscheiden, sagte seine Schwester gern. Er hatte geargwöhnt, dass sie aus den falschen Gründen zur Therapie ging. Statt wirklich um ihren Vater zu trauern, behandelte sie ihren Schmerz nur als etwas, das sie ebenfalls kontrollieren konnte. Wenn sie nur das richtige Programm fand oder die notwendigen Einzelschritte vollzog, konnte sie wieder »glücklich« sein – sorglos, unbeschwert.
Für Mike hatte das nichts mit Glücklichsein zu tun. Glücklichsein, war er überzeugt, erforderte Ehrlichkeit. Glücklichsein konnte auch kompliziert und sogar schmerzhaft sein. Wenn man nie Schmerz erfuhr, wie sollte man dann dessen Abwesenheit wertzuschätzen wissen? Wenn man nie Angst hatte, wie sollte man dann wissen, was Trost war? Aber Melissa wollte weiter in ihrer vollkommen kontrollierten Melissa-Blase verharren und alle ungewollten Emotionen als »Drama« abtun. Heiratete sie deshalb einen Mann, den sie erst seit zehn Monaten kannte – als Bestätigung dafür, dass sie immer noch glücklich war?
»Erde an Michael.« Erschrocken blickte Mike auf. Seine Mutter war bereits ausgestiegen und wartete, dass er ihr folgte.
Als er ausstieg, sah er Melissa über den Rasen zu zwei Leuten gehen, die er als Neil Keeney und dessen Frau Amanda erkannte. Er hörte noch, wie sich Amanda begeistert über Melissas Kleid ausließ.
»Na, das sieht mir aber nach einer Mik-eil-Wiedervereinigung aus«, sagte seine Mutter. »Ich geh mal rein und sorge dafür, dass für die Zeremonie alles bereit ist. Begrüß du ruhig deine Freunde.«
Als Jugendlicher hatte Neil Keeney die junge Missy kaum beachtet, Mike aber war sein bester Freund gewesen. So unzertrennlich waren die beiden, dass Neils Mutter Ellen die ersten drei Buchstaben von Mikes Namen und die letzten drei von Neils Namen zu »Mik-eil« zusammengezogen hatte.
Als Melissa dann aber nach New York an die Columbia University ging, hatte Neil, der auf dem Albert Einstein College of Medicine Psychiatrie studierte, ganz in ihrer Nähe gewohnt. Zurück in die Gegenwart: Jetzt gehörten Neil und seine Frau zu Melissas engsten Freunden, hatten Mike aber bislang kein einziges Mal zu sich und in ihr paradiesisches Haus in der Karibik eingeladen.
Er hatte noch die Worte seiner Schwester im Ohr, nachdem er sie am Vortag gefragt hatte, ob sie sich wegen der Hochzeit wirklich sicher sei: Weißt du, manchmal glaube ich, du bist bloß neidisch, Mike. Konzentrier dich mehr auf dein Leben und lass mich in Ruhe. Vielleicht hatte sie damit nicht so unrecht.
Ein kurzes peinliches Schweigen legte sich über die Gruppe, als er sich zu seiner Schwester und Neil und Amanda gesellte – oder bildete er sich das nur ein?
»Hallo, schön, dich zu sehen, Mann. Todschick siehst du aus.« Neil hielt ihm zur Begrüßung die Faust entgegen, während ihm Amanda einen Kuss auf die Wange gab.
Bei ihrem Aussehen hätte Amanda locker auf die Titelseite eines Beauty-Magazins gepasst, in Wirklichkeit war sie jedoch Polizistin bei der New Yorker Polizei. »Immer so braun gebrannt«, sagte sie. »Ich bin richtig neidisch.«
In ihren Highheels überragte Amanda Neil um gut zehn Zentimeter. Mike erinnerte sich noch gut daran, wie Neil sich an die Klimmzugstangen im Park gehängt hatte, weil er hoffte, dadurch größer zu werden. Seine Mutter hatte ihn immer daran erinnert, dass sein Vater und seine Brüder und sein Onkel auch alle groß waren. Warte es nur ab.
»Ihr seid immer herzlich eingeladen, zu mir auf die Insel zu kommen«, sagte Mike. »Im Moment bin ich Skipper auf einem Vierzehn-Meter-Katamaran. Der schneidet durchs Wasser wie durch Butter.«
»Klingt himmlisch«, sagte Amanda. »Vielleicht diesen Winter? Ich hab viel Urlaub in meinem Dienst.«
Neil nickte und murmelte ein mal sehen, was sich eher anhörte wie klar, wir werden definitiv nicht kommen. Dann wechselte er das Thema. »Unsere kleine Missy heiratet. Ist das zu fassen?«
»Tja …« Mike suchte nach der passenden Erwiderung. Er wollte nicht lügen, er wollte aber auch nicht für eine Szene sorgen, wenn seine Schwester heiratete – was anscheinend außer ihm niemand für einen Fehler hielt. »Ja, meine kleine Schwester macht Nägel mit Köpfen. Und ohne dich, Neil, wäre sie jetzt vielleicht gar nicht hier. Hättest du ihn damals nicht erkannt, diesen Carl …«
Er spürte drei missbilligende Augenpaare auf sich, und Melissa stöhnte auf. »Muss das sein, Mike? Im Ernst?«
Aber es stimmt doch, wollte Mike antworten. Als Mike und Melissa noch vermisst wurden, hatte der damals siebenjährige Neil Carl Harmon von einem Foto in der Lokalzeitung erkannt. Obwohl Harmon zu diesem Zeitpunkt als verstorben galt, bestand Neil darauf, dass ihm dieser Mann einen Dollar gezahlt hatte, damit er ihm die Post vom Postamt holte. Diese Information hatte die Polizei zu dem Haus geführt, in dem Harmon die beiden Kinder nach der Entführung festhielt – das Haus, in dem Harmon Mike eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hatte und ihn auf dem Bett ersticken lassen wollte, während er sich mit Melissa auf den Dachboden flüchtete.
»Mann«, sagte Neil kopfschüttelnd. »Doch nicht ausgerechnet heute. Lass doch die Vergangenheit ruhen.«
Mike rang sich eine Entschuldigung ab. Anscheinend stand Neil – und das als Psychiater – auf Melissas Seite, wenn es darum ging, die Vergangenheit auszublenden.
Mike hatte vielleicht keine so hübschen Uni-Abschlüsse wie die, mit denen die beiden ihre Praxis oder Kanzlei dekorierten, aber er hatte genug erlebt, um zu wissen, dass es nicht in der Macht des Menschen lag, zu entscheiden, wo die Vergangenheit auftauchte. Die Vergangenheit hatte ihre eigenen Pläne. Und in den meisten Fällen fand sie einen Weg ins Hier und Jetzt.
Es kommt aufs richtige Timing an. Das hatte Melissas beste Freundin Katie gesagt, als Melissa ihr von Charlies Heiratsantrag erzählte – und dass sie ihn angenommen habe. Als Melissa nach dem Tod ihres Vaters in eine, wie sie es jetzt sah, kleinere Depression schlitterte, schlug Neil eine Therapie vor, worauf Katie mehrere Therapeuten recherchierte, die sich auf Trauerarbeit spezialisiert hatten. So hatten sich Melissa und Charlie kennengelernt. Der Verlust eines Elternteils, wie in ihrem Fall, war im normalen Lauf des Lebens durchaus zu erwarten, aber Charlie war als alleinerziehender Vater zurückgeblieben. Und jetzt waren sie hier.