So gut kennen wir uns auch nicht - Karin Hartewig - E-Book

So gut kennen wir uns auch nicht E-Book

Karin Hartewig

0,0

Beschreibung

Der Band versammelt kurze Geschichten, die es in sich haben. Erzählt werden scheinbar alltäglich-harmlose Episoden von Stillstand und Scham, Obsession und Sehnsucht, von riskanten Konstellationen der Zweisamkeit, skurrilen Konversationen, von Gespenstern der Vergangenheit und anderen Alpträumen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 62

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Der Band versammelt kurze Geschichten, die es in sich haben. Erzählt werden scheinbar alltäglich-harmlose Episoden von Stillstand und Scham, Obsession und Sehnsucht, von riskanten Konstellationen der Zweisamkeit, skurrilen Konversationen unter Freunden, von Gespenstern der Vergangenheit und anderen Alpträumen.

Über die Autorin

Karin Hartewig, Dr. phil. (Jg. 1959), ist freiberufliche Historikerin und Autorin von Sachbüchern, Essays, Belletristik und Lyrik.

Inhalt

Früher

Frauentag

Sprechende Steine

Designerkind

Strandgut

Die letzte Reise

Puppenspieler

In den Sternen. Eine Parodie in zwölf Stationen

Ein X für ein U

Gespenster von gestern

Schlecht geträumt

Noch schlechter geträumt

Die Roulette-Reise

Früher

Mit angewinkelten Beinen lag Ella auf dem alten Sofa, das einmal dunkelbraun gewesen war. Schon lange war der Cordsamt ausgebleicht und hatte einen Stich ins Grünliche bekommen. Es war einer dieser Nachmittage, die nicht enden wollten. Sie war allein. Der Fernseher lief mit Lautstärke 28. Zum Glück hatten sich die Nachbarn noch nicht beschwert. Vielleicht war um diese Zeit keiner zu Hause. Ella hatte es sich bequem gemacht. Sie trug Pullover und Jogginghose. Auf der Seite liegend sah sie schläfrig denen zu, die ihre Probleme in aller Öffentlichkeit ausbreiteten. Echte Menschen, die man früher nie im Fernsehen gesehen hatte, bevölkerten um diese Tageszeit ihr Wohnzimmer.

Die besten Geschichten schreibe immer noch das Leben selbst, sagte die Moderatorin mit gebleckten Zähnen in die Kamera. Man müsse über alles sprechen, sagte ihr Partner mit melancholischem Dackelblick. Fürchterliche Geschichten seien das von Leuten aus der Unterschicht, die auf diese Weise endlich von der Straße gekommen seien und für einen Tag ein Studiodach über dem Kopf hätten, sagte Cornelia verächtlich, wenn Ella am Telefon erzählte, was sie gerade so treibe. Sendematerial, deren Armut man an den schlechten Zähnen, den Frisuren und den Synthetik-Pullovern sehen könne, deren Sprachlosigkeit man ahne, bevor sie einen Ton von sich gegeben hätten.

Aber Ella war süchtig nach diesen Talk-Shows. Paare, Nebenbuhlerinnen und Rivalen, Töchter und Mütter, Mütter und Söhne, Geschwister stritten miteinander und versöhnten sich wieder. Es wurde laut, Tränen flossen. Alle wirkten so lebendig. Obwohl sie nicht immer verstand, worum es bei diesen Dramen wirklich ging.

Zwischendurch kamen die Quizsendungen. Manchmal wusste Ella die Antworten schneller als die Kandidaten. Dann stellte sie sich vor, wie es wäre, soviel Geld zu gewinnen, und was sie damit anfangen würde. Ein neues Sofa kaufen vielleicht, ganz sicher aber eine Reise an die Nordsee machen.

Dass an diesem Nachmittag, wie an anderen Nachmittagen, in ihrem Wohnzimmer laut geredet wurde, beruhigte Ella. Sie fiel in einen tiefen Schlaf. Erst als der Sekundenzeiger kurz vor Beginn der Fünfuhr-Nachrichten auf dem riesigen Bildschirm geräuschvoll vorrückte, wachte sie auf. Es dämmerte bereits. Sie versuchte sich aufzurichten, doch sie sank wieder zurück in die Kissen. Einen Moment lang blieb sie so. Es war gar nicht mal so lange her, da war ihr das Aufstehen noch ganz leicht gefallen.

Nun fiel ihr wieder ein, dass sie sich auf die Seite rollen und die Unterschenkel über die Sofakante fallen lassen musste. Endlich saß sie aufrecht. Sie tastete nach ihren Holzpantinen mit den dünnen Lederriemen, die schon an mehreren Stellen eingerissen waren. Dabei stellte sie sich das strenge Gesicht ihrer Tochter vor und hörte sie sagen, sie werde sich noch einmal totschlagen in diesen Schlappen, die keinen Halt böten, und wann sie endlich gedenke, sich neue Hausschuhe zu kaufen. Aber Cornelia konnte nicht wissen, dass Ella so gut wie nie mehr in die Stadt kam. Zur Bushaltestelle war es für sie inzwischen viel zu weit.

Unvermittelt drückte sie sich mit beiden Armen aus dem durchgesessenen Polster heraus. Ihre steifen Knie zitterten. Im letzten Augenblick, bevor der Oberkörper wieder auf das Sofa sinken konnte, schob sie entschlossen das Becken nach vorn und kam in dem schmalen Zwischenraum vor dem niedrigen Couchtisch zum Stehen. Bis zum Tischende balancierte sie mit kleinen schlurfenden Seitwärtsschritten und leicht vom Körper gestreckten Armen. Von da waren es nur noch ein paar Schritte bis zur Tür.

Im Halbdunkel des Korridors stolperte sie über einen Schuh. Aus Angst zu stürzen, griff sie in die Mäntel an der Garderobe. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Doch jetzt hatte sich eine Schlinge um ihren Fuß gelegt. Das Telefon fiel mit einem Scheppern zu Boden. Ella stöhnte. Als sie sich bückte, fluchte sie über die Rückenschmerzen und dachte an den Rat ihres Arztes, Bewegungen dieser Art möglichst zu vermeiden. Sie stellte den Apparat zurück und hielt den Hörer ans Ohr. Die Leitung war tot. Immer wieder legte sie den Hörer auf die Gabel und nahm wieder ab. Doch das Telefon blieb stumm. Noch jedes Mal, wenn sie über das Kabel gestolpert und das Telefon zu Boden gefallen war, hatte es irgendwann wieder funktioniert. Cornelia wollte schon lange ein Schnurloses anschaffen. Dann sei das Problem endlich gelöst, hatte sie ungeduldig bei ihrem letzten Besuch gesagt. Der war schon Monate her. Aber Ella wollte kein anderes. Sie war an dieses gewöhnt.

Sie fröstelte und beschloss, ein heißes Bad zu nehmen. Unsicher bog sie nach links. Vom Teppichboden des Flurs schlurfte sie über die Türschwelle auf die Fliesen des Badezimmers. Ella hatte schon lang nicht mehr gebadet. Den schwarzen Stöpsel in den Ausguss zu drücken, fiel ihr schwer. Sie ließ das Wasser in einem breiten Strahl, der kleine herabstürzende Wirbel bildete, aus dem verkalkten Hahn rauschen und träufelte etwas von dem aprikosenfarbenen Schaumbad, das sie zu irgendeinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte, in das Badewasser. Tresor! Sie schaltete das Radio auf dem Fensterbrett ein, legte Pullover, Jogginghose und Unterwäsche auf der Waschmaschine ab und stieg vorsichtig in die Wanne. Sie fasste den Haltegriff und den Wannenrand und ging langsam in die Knie. Sobald ihr Köper in den duftenden Schaum eintauchte, beugte sie sich nach vorne und ließ sich ins Wasser gleiten. Langsam streckte sie ihre Beine aus und bog den Oberkörper zurück. So leicht fühlte sie sich im Wasser, dass sie sich traute, den Griff loszulassen. Dann drückte sie ihre Füße gegen die Wanne und hob fast übermütig abwechselnd ein Bein in die Höhe. Die Wärme umfing ihren Körper, das Radio spielte Glenn Miller, und der Moderator ölte ihr mit seiner Samtstimme die Ohren ein. Ella schlief ein.

Inzwischen tönte aus dem Radio das Wunschkonzert für die reifere Jugend. Bekannte und beliebte Melodien, unterbrochen von guten Wünschen für einen beschaulichen Lebensabend jenseits der 70, Glück im Kreise der Lieben, langes Leben, Zufriedenheit, Gesundheit! Aber manchmal ahnte man, dass die Jubilare im Altersheim und die Gratulanten weit entfernt in einer anderen Stadt lebten. Das Badewasser war inzwischen nur noch lauwarm. Und Operettenmusik hatte Ella noch nie leiden können.

Nun aber heraus aus der Wanne! Ella winkelte die Knie an, fasste Griff und Wannenrand und versuchte, sich aufzurichten. Doch ihre Füße gehorchten ihr nicht. Sie fanden keinen Halt auf dem glatten Boden und rutschten weg. Auch ein zweiter