Überholt und eingeholt - Karin Hartewig - E-Book

Überholt und eingeholt E-Book

Karin Hartewig

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Beschreibung

Der Band versammelt politische Publizistik für den Sender Deutschlandradio, der nach der Wende 1994 aus dem ehemaligen RIAS-Berlin, dem Deutschlandfunk und dem ostdeutschen Deutschlandsender Kultur hervorgegangen ist. Den Leser erwarten Notizen zur Zeitgeschichte, dazu Besprechungen über Bücher. Zwei Kalenderblätter zu Jahrestagen für den Bayerischen Rundfunk runden die Sammlung ab. Überholt und eingeholt ist somit auch ein Buch über das Radio, das älteste Medium der Ruhestörung in Zimmerlautstärke. Es gilt das gesprochene Wort!

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Seitenzahl: 52

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Über dieses Buch:

Der Band versammelt politische Publizistik für den Sender „Deutschlandradio“, der nach der Wende 1994 aus dem ehemaligen „RIAS-Berlin“, dem „Deutschlandfunk“ und dem ostdeutschen „Deutschlandsender Kultur“ hervorgegangen ist.

Den Leser erwarten Notizen zur Zeitgeschichte, dazu Besprechungen über Bücher. Zwei Kalenderblätter zu Jahrestagen für den „Bayerischen Rundfunk“ runden die Sammlung ab.

„Überholt und eingeholt“ ist somit auch ein Buch über das Radio, das älteste Medium der Ruhestörung in Zimmerlautstärke. Es gilt das gesprochene Wort!

Über die Autorin

Karin Hartewig, Dr. phil. (Jg. 1959), ist freiberufliche Historikerin und Autorin von Sachbüchern, Essays, Belletristik und Lyrik.

Inhalt

Politisches Feuilleton

Panzer, Blumen und Genossen

Der 17. Juni 1953 als Propagandastück und Kitschvorlage in der DDR

Wir wär’n so gern dabei gewesen...

Die Niederschlagung des Prager Frühlings und die Scharfmacher aus der DDR

1968 in Westberlin

Die Revolte, von der DDR aus betrachtet

Endlich im Westen angekommen?

Der lange Abschied der deutschen Linken vom Antizionismus

Schlag nach bei der Stasi! Ein Zwischenruf

Wenigstens hatten alle Arbeit

Die versteckte Arbeitslosigkeit in der DDR

Wenn jede Stimme zählt

Die letzten DDR-Wahlen alten Typs im Mai 1989. Eine Erinnerung im Superwahljahr 2009

Die weichgespülte Diktatur

Wie die DDR auch im Westen immer schöner wurde

Nationale Selbstbesinnung ohne Ende

Ein ironischer Zwischenruf gegen all die zu erwartende Geschichtsseeligkeit

Notizen aus gegebenem Anlass

Stets zu Diensten [Zum 40. Todestag des BND-Chefs Reinhard Gehlens]

Proteste gegen den Wahlbetrug

Die letzten DDR-Wahlen am 7. Mai 1989

Rezensionen fürs Radio

Das Lächeln der Henker

Stasi-Stadt. Die MfS-Zentrale in Berlin Lichtenberg

Schule des Sehens

Politisches Feuilleton
Panzer, Blumen und Genossen

Der 17. Juni 1953 als Propagandastück und Kitschvorlage in der DDR

Drei Monate nach Stalins Tod entlud sich im Juni 1953 die ökonomische und politische Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung in einem Volksaufstand. Er entzündete sich an der Erhöhung der Arbeitsnormen, die das ZK der SED im Mai des Jahres beschlossen hatte. Der gewerkschaftliche Protest radikalisierte sich alsbald in politischen Forderungen nach freien Wahlen und der Öffnung der DDR-Gefängnisse. Wie ein Flächenbrand entwickelte sich aus Arbeitsniederlegungen ein Volksaufstand, der die ganze DDR erfasste. Mehr als eine halbe Million Menschen beteiligten sich landesweit an den Protesten.

Der Aufstand stürzte die SED und die Staatssicherheit in Ratlosigkeit und Panik. Und er zeigte allen, wer letztlich die Macht hatte: In 167 von 217 Städten und Kreisen verhängten die sowjetischen Kommandanten den Ausnahmezustand. Unter tätiger Mithilfe der Volkspolizei schlug die Besatzungsmacht die waffenlose Erhebung blutig nieder. Man schätzt, dass in jenen Tagen etwa 10.000 Personen als „Rädelsführer“ und „Provokateure“ verhaftet wurden. Und es waren etwa 125 Tote zu beklagen.

Die Ereignisse des 17. Juni 1953 führten der freien Welt schlagartig vor Augen, dass es in jenem fadenscheinigen Teilstaat ohne Legitimität nicht nur die „Machthaber in Pankow“ und ein unterdrücktes Volk gab. Spontan und machtvoll artikulierten sich die Hoffnung auf Freiheit und der Wille zur Einheit.

Die Hamburger Illustrierte Stern machte den Volksaufstand zum heroischen Aufmacher. Das Cover zeigt den Zug der Hennigsdorfer Metallarbeiter, als sie das Brandenburger Tor Richtung Osten durchschreiten. Die Männer skandieren selbstbewusst Parolen und schwenken Deutschlandfahnen. Am historischen Ort der Jubelfeiern, Siegesparaden, Revolution und Gegenrevolution, dort, wo im Osten der innere Bezirk der Macht begann, stellen die Demonstranten die Machtfrage.

Allein das Bild der Jugendlichen, die am selben Tag in der Leipziger Straße in hilfloser Wut sowjetische Panzer mit Steinen bewarfen, konnte es im westdeutschen Bildgedächtnis mit dem Menschenzug aufnehmen. Die Welt am Sonntag und die New York Times veröffentlichten es sofort. Weil der Fotograf direkt hinter den Werfern stand, sehen wir die Szene wie sie. Es ist bereits Mittag. Im Zentrum der geteilten Stadt, am Potsdamer Platz, ist die Spannung mit Händen zu greifen, die Luft brennt: Grenzschilder liegen am Boden, eine Kontrollbude geht in Flammen auf. Da kommen die Panzer. Mit einem Ruck schert Nr. 93 aus. Sein Geschützt ist direkt auf die Demonstranten gerichtet. Alle weichen zurück, doch zwei greifen nach losen Steinen. Dann fallen die ersten Schüsse. Für alle Zeitgenossen war bereits offensichtlich, dass hier David gegen Goliath mit dem Mut der Verzweiflung auf verlorenem Posten kämpfte. Beide Fotos – der Zug der Demonstranten und die Steinewerfer - sollten im Westen zu Ikonen des Volksaufstandes werden.

Ganz anders präsentierten die Medien im Osten die Ereignisse. Bereits über Monate hatten sie die Baubrigaden an der Berliner Stalinallee gelobt. Ausgerechnet die Vorzeigearbeiter der prestigeträchtigsten Großbaustelle der Republik waren nun aber die ersten, die streikten und während des Aufstandes eine führende Rolle spielten. Doch Proletarier, die sich gegen ihre Regierung stellten, fielen im Osten unter Bilderverbot. Gewerkschaftliche oder gar politische Forderungen wurden vollständig ausgeblendet.

Sorgsam zensiert von der Staatssicherheit, zeigte man stattdessen mit Vorliebe das Chaos: Der Aufruhr, das waren Vandalismus und Sachbeschädigung – Schwelbrände, zerborstenes Glas, lodernde Feuer der Zerstörung und Gewalt gegen Funktionäre. Rauschwaden dringen aus dem Columbia-Haus am Potsdamer Platz. Die Dienststelle der Volkspolizei ist verwüstet. Der weinrote BMW eines hohen Militärs der Staatssicherheit ist von Demonstranten zum Halten gezwungen worden. Er brennt völlig aus. Gerade die Fotos sollten es beweisen: Klassenbewusste Arbeiter können dies unmöglich angerichtet haben. Also müssen es gedungene Elemente und Provokateure aus dem Westen gewesen sein!

Zeitgleich zur Verhaftungswelle der Aufständischen setzte man sogleich positive Gegenbilder in Umlauf: Gegen die Macht der Destruktivkräfte und die hässlichen Visagen des entfesselten Mobs wurden die Porträts loyaler Arbeiter aufgeboten, die sich gar nicht erst am Protestmarsch beteiligt hatten. Eilig trommelte die SED ihre Funktionäre zur Gegendemonstration am 26. Juni zusammen. Im Dienst der Partei marschierten diese Massen in Formation. Nichts Bedrohliches ging von ihnen aus. Sie trugen die Konterfeis ihrer Führer und die Parolen des Vertrauens vor sich her. Von Rotarmisten beklatscht, sang die Avantgarde der Arbeiterklasse bei strömendem Regen sozialistische Lieder.