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Sammelband von sieben bereits veröffentlichten Erzählungen.. Sie sind heiter-besinnliche Geschichten mit historischem Hintergrund, die aus vier Jahrhunderten humorvoll, einfühlsam und unterhaltend vom Leben im Bergischen Land erzählen. Sie sind in Lindlar oder seiner näheren Umgebung angesiedelt und beziehen sich sowohl auf historische Ereignisse als auch auf das alltägliche Leben der Menschen in der Zeit.
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Seitenzahl: 656
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1762 Ein wehrhafter Pastor und ein Pleitebaron
KINDERREICH UND ARM AN GROSCHEN
1795 Das Vermächtnis des Johann Peter Ommerborn
DER VERRÄTER
1865 Eine Feuerwehrspritze für das Sülztal
ALTE SCHEUNEN BRENNEN GUT
1890 Wenn Schützen feiern
KNALL-FALL-SCHÜTZENKÖNIG
1900 Wie die Spaghetti ins Felsenthal kamen
STEINE, SCHOTTER UND SPAGHETTI
1912 Als der Kaiser kam
EIN BÖLLER FÜR DEN KAISER
1920 Eine starke Frau für den Gemeinderat
KARTOFFELN, WURST UND WHISKY
…mit jedem Wort zolle ich meinen Ahnen den gebührenden Respekt und die Anerkennung für das, was sie geleistet und geschaffen haben.
Eine Geschichte um einen wehrhaften Pfarrer, einen streitsüchtigen Baron und viele liebenswerte bergische Menschen.
1 Tagelöhner, Steinhauer und andere
2 Der neue Pfarrer kommt
3 Der Streit eskaliert
4 Lasst uns fröhlich feiern!
4 Das Pastorat
5 Die Werber
6 Der Verdacht
7 Die Scheffen
8 Ehrlich währt am längsten
9 Die „Schlacht“ am Steimelskopf
10 Das Patronatsfest
Die Erzählung „Kinderreich und arm an Groschen“ ist ein Zeitbild. Ihr liegen die Ereignisse der Zeit um 1765 zugrunde, in der ein heftiger Streit zwischen dem Pastor Potthoff und dem Schlossherren von Heiligenhoven, dem Reichsfreiherr von Brück ausgetragen wurde. Beide verkörpern typische Vertreter der Zeit des Aufgeklärten Absolutismus. Ihr Streit gipfelte in Händeln zwischen den Schützen und den Knechten des Freiherren, als der Pastor die Felder des Barons abernten ließ, um so an das Entgelt für das Lehen zu gelangen, welches der ihm vorenthielt.
Die Verstrickung der „kleinen Leute“ orientiert sich an alten Chroniken, die Personen selber sind fìktiv. Jedoch wird der Leser in sehr enge Berührung mit dem Tagelöhner Schüll, aber auch anderen kommen, deren Charakterisierung zu überraschenden Lösungen führt, genau wie die tatsächlich historisch belegte, dass sich ein Pastor einem Adeligen überlegen zeigte.
Ausgelaugt von der Tagesarbeit ließ Schüll sich auf den Stuhl vor der Wirtschaft „Auf dem Matt“ fallen wie ein nasser Sack. Auf dem Matt bezeichnete die Begrenzung der Zuflucht zur Kirche, so wissen wir, dass wir uns direkt unter dem mächtigen, aus heimischen Grauwackensteinen erbauten Turm der Pfarrkirche befinden.
„Gott helf euch!“ begrüßte die Wirtin Agnes Peffekoven freundlich den Ankömmling, der ebenso mit einem, allerdings gepressten „Gott dank euch!“ antwortete.
So wissen wir, daß wir uns im Bergischen Land befinden, wo eine derartige Begrüßung auch um das Jahr 1760 durchaus üblich war, vornehmlich wenn man sich bei der Arbeit antraf. Doch auch nun nach Feierabend schien Gottes Hilfe vonnöten, denn Schüll stöhnte: „Verdellt, mir tut der Rücken weh. So ein Arbeitstag bleibt einem nicht in den Kleidern hängen.“
Schüll war auf den Namen Julius getauft, aber im Bergischen war er der Schüll.
„Du bist sicher froh, Feierabend zu haben“. Die Wirtin saß immer noch auf der Bank unter dem Fenster vor dem Fachwerkhaus und hielt eine Hose auf den Knien, auf die sie mit langem Faden einen Flicken aufsetzte.
Schüll antwortete mit einer Gegenfrage: „Was soll an der Arbeit gut sein, wenn die Reichen sie den Armen überlassen?“ „Und dann die Hitze heute.“
„Es war so heiß auf dem Feld, die Krähen haben nach Luft geschnappt – trotzdem, was glaubst du, wie froh wir waren, das Getreide trocken einzufahren?“
In der Ferne war schon eine Zeit lang Donnergrollen zu hören und die schwüle Luft trieb einem Schweißperlen auf die Stirn. „Dafür geht es gleich los mit dem Gewitter.“
„Das Wetter zieht das Sülztal hoch. Wir werden nicht viel abbekommen“, meinte der Gast.
Er hatte sein Leben lang draußen im Freien gearbeitet und kannte die Besonderheiten des heimischen Wetters.
Tatsächlich konnte der Brungerstberg wie eine Barriere die Unwetter fernhalten, wobei die dann dem Lauf der Sülz folgten, mitunter hin- und herlaufend zwischen Osten und Westen, pendelnd wie ein eingeschlossenes wildes Tier.
Wenn sich aber auch über dem Lennefetal die Wolken zu schwarzen Ungetümen häuften, Blitz, Donner und kübelweise Wasser zu entladen, musste man auch im Dorf besser Fenster und Türen schließen.
Die Wirtin hoffte, dass Schüll Recht behielte, denn wenn das Wetter fort bliebe, würden sich sicher ein paar Gäste in ihrer kleinen Kneipe einfinden, den Tagesschweiß wieder durch einen Krug Bier zu ersetzen.
„Warst du wieder auf Heiligenhoven?“ fragte sie, was sich eigentlich erübrigte, wusste sie doch, dass er als Tagelöhner für den Freiherrn von Brück auf Heiligenhoven arbeitete.
„Auf dem Kippelshof haben wir heute das Korn eingefahren. Da ist man schon das erste Mal müde, wenn man früh morgens nach langem Fußmarsch dort ankommt.
„Der Baron kann dich auch überall gebrauchen.“
„Wenn er mich braucht, dann kann er mich brauchen. Aber sonst schickt er mich zum Teufel und ich stehe da ohne Tagelohn.“
Er stand auf und griff in seine Hosentasche, kehrte sie nach außen und brachte ein Geldstück zutage.
„Dafür kannst du mir einen Schnaps einschenken. Heute war durstiges Wetter.“
„Deinen Tagelohn halte besser fest gepackt“, meinte die Wirtin ermahnend.
Schüll entnahm der anderen Hosentasche ein kariertes Taschentuch und schüttete ein paar Münzen daraus auf den Tisch. „Die paar Groschen reichen kaum zum Leben. Schau dir das an. Man kann sich plagen und mühen wie man will, es nutzt nichts. Manchmal bin ich es leid. Bei mir zu Hause fiepen die Mäuse vor Hunger.“
„Ein Mensch ohne Geld sieht schlechter aus als eine Kuh ohne Schwanz“, meinte Agnes, und es schien ihr Ernst zu sein, denn sie verzog keine Mine dabei.
„Wenn man nicht hat, was man gerne hätte, dann muss man das gerne haben, was man hat“, reagierte Schüll tiefsinnig. Während die Wirtin ins Haus ging, verweilte der Gast sinnend auf seinem Platz und ließ den Tag noch einmal vorbeiziehen. Um vier Uhr am Morgen war er nach dem ersten Hahnenschrei leise aufgestanden, bedacht, seine Frau oder die Kinder nicht zu wecken. In der kleinen Küche hatte er sich angekleidet, zwischendurch einen Becher Ziegenmilch getrunken, einen Kanten Schwarzbrot abgeschnitten und in die Jackentasche gesteckt. Dann war er vor die Tür auf den Hof getreten. Mit der rechten Hand bewegte er den Pumpenschwengel und fing mit der linken etwas Wasser auf, um sich Gesicht und Nacken zu befeuchten. Dann war er strammen Schrittes die Dorfstraße entlang gegangen, den halbstündigen Fußmarsch zur Arbeit vor sich. Am Vogelsdreck war ihm der Rudolf begegnet, der auch schon auf dem Weg zur Arbeit im Steinbruch unterwegs war. Ein Hund bellte aufmerksam, die meisten hielten sich ruhig, denn sie erkannten ihn am Schritt. Dann hatte ihn ein Schmerz am linken Fuß gequält, weil er den Fußlappen in den groben Schuhen nicht richtig festgezogen hatte. So setzte er sich am Wegekreuz hinter der Lohmühle auf einen Stein, um sich seines Schuhes zu entledigen und die lästigen Falten im Fußlappen zu richten. Obwohl er wertwolle Zeit dadurch verloren hatte, konnte er nun frei weiterziehen und das Schwarzbrot, das er im Gehen kaute, schmeckte auf einmal viel besser.
Am Johanneskapellchen hörte er von unterhalb vom Schloß her Pferdehufe, deren metallischer Klang auf dem Schlosshof-pflaster ihn noch bis in das Gebüsch hinter den hohen Eiben verfolgte, in das sein Fußpfad ihn eintauchte wie in einen grünen Dom. Seine Ärmel waren bald naß vom Tau der Blätter, an denen er vorbeistreifte.
Er liebte diese Tageszeit, morgens war die Welt noch in Ordnung. Man hatte den Tag vor sich und konnte sich vornehmen, das zu tun, was man konnte und so gut man es konnte, und dem Herrgott nicht die Zeit zu stehlen durch Faulheit und Müßiggang.
Die Wirtin stellte ein Pinnchen Schnaps auf den Tisch.
„An deiner Stelle ginge ich besser nach Haus. Deine Frau und deine Kinder warten auf dich und werden sich freuen, dich zu sehen.“
„Das weiss ich auch. In meiner kleinen Hütte wird es manchmal etwas eng mit all den Kindern. Wenn bei uns die Sonne rein kommt, müssen wir alle beieinander hinaus“, scherzte der Tagelöhner.
„Arm an Geld, doch reich an Kindern, das kommt öfters zusammen“, meinte die Wirtin mit ernsthafter Mine.
Schüll war anscheinend guten Sinnes, denn er sagte wie selbstverständlich ohne mit der Wimper zu zucken: „Nun sind es schon zweiundeinhalbdutzend, die gefüttert werden wollen. Agnes stutzte und begann im Kopf nachzurechnen, was das wohl bedeutete.
„Lasse deine verrückten Sprüche! Das wären ja 30 Kinder.“ „Das rechnest du falsch. Zwei und ein halb dutzend habe ich gesagt – das sind acht, und das ist auch satt und genug.“
Er entnahm seinem Tagelohn eine Münze, klackte sie auf den Tisch und forderte die Wirtin auf: „Bringst du mir nun noch einen oder willst du mich austrocknen?“
„Einen, - dann ist Schluss für dich bei mir für heute; ich weiss, dass du das versprochen hast.“
„Auch ein Heiliger verspricht in einer schwachen Stunde schon mal etwas, das er dann doch nicht halten kann.“ Schüll war so schnell nicht in Verlegenheit zu bringen.
Die Wirtin begrüßte den ankommenden Schuster Wilhelm, genannt Wellem mit freundlichem „Gott helf Euch“ und ging in das Haus, um ein weiteres Glas und die Schnapsflasche zu holen.
Wilhelms Hand war dick verbunden; das forderte natürlich Schülls Neugierde heraus und es entspann sich ein launiger Dialog:
„ Hast du dir mit dem Schusterhammer selber auf die Finger gekloppt?
„ Wie kommst du da drauf?“
„ Das ist eine schlechte Stelle für einen Schuster, der doch immer mit dem Hammer und dem Fuckeisen arbeiten muss.“
„ Als ich vorige Nacht etwas spät nach Hause gegangen bin, hat mir doch so ein Saufkopf auf die Hand getreten.“
„ Fehlte dir denn was?“
„ Nein, im Gegenteil,- ich hatte einen zu viel- war hingefallen und lag auf der Strasse.“
„ Hattest du denn nichts gebrochen?“
„ Doch“, entgegnete Wellem mit ernster Mine, „ aber erst, nach dem ich zu Haus angekommen war, ging das los.“
Schüll hatte bisher nicht wirklich erfahren, was mit des Schumachers Hand geschehen war und es sollte auch an dem Tag ein Geheimnis bleiben, denn Wellems Frau Seefchen, Josefa natürlich, ging eiligen Schrittes an den Männern vorbei. „Bleib nicht kleben, Wellem, gleich gibt es etwas zu essen! Ich hole nur eben noch etwas Ziegenmilch beim Nachbarn.“ Wellem konnte es sich nicht verkneifen, seine Frau zurecht zu weisen: „ Aber doch sicher nicht in der schmutzigen Schürze!“ Seefchen bestätigte lachend: „Natürlich nicht, ich habe doch den Milchkrug hier dabei!“
Fröhlich schwenkte sie den braunen Tontopf und verschwand im Nachbarhaus.
Agnes war wieder da und schüttete Schüll den gewünschten Klaren ins Glas.
Wellem wehrte ab. „Ihr habt es gehört, ich muss wieder heim, das Essen wartet auf mich.“
„Daran kann man erkennen, wer bei euch die Hose an hat,“ lästerte Schüll, doch Wellem wollte davon nichts wissen, sondern schob seine Eile auf seinen übergrossen Hunger.
Er besann sich jedoch und forderte einen Schnaps, bevor seine Frau zurück kehrte. Gedankenverloren schüttete die Wirtin ihm diesen ein und sagte, während sie zu der aufsteigenden Wolkenwand am Himmel über dem Fronhof aufschaute: „Das sieht nach Regen aus.“
„Eigentlich hatte ich einen Schnaps bestellt“, meinte Wellem trocken. Er kippte das Glas in einem Schwung mit der linken Hand hinunter. Dann versuchte er umständlich sich die Nase zu putzen, nach dem er mit Mühe ein Sacktuch aus der Hosentasche gefischt hatte.
„Was nimmst du für deinen Schnupfen?“ meinte Schüll mitfühlend.
„Nichts“, lachte Wellem, „den gebe ich umsonst ab.“
Seefchen war mit ihrem halb gefüllten Milchkrug heran gekommen. Ihre schmutzige Schürze hielt sie zusammen geknuddelt in der anderen Hand und ging zu ihrem Mann hin. „Er ist so krank wie ein Huhn, will essen, aber nichts tun.“ Dabei schubste sie ihren Mann an, mit ihr heim zu gehen. „Schreibe es an!“ rief der der Wirtin zu, doch die protestierte: „Eigentlich wollte ich das ja nicht mehr machen.“
„Dann ist es auch gut, wenn du es im Kopf behalten kannst.“
Die Wirtin rief einen kleinen Jungen heran, der auf der Strasse schüchtern barfüssig vorüber ging. Er kam zögernd auf das Haus zu. Agnes bückte sich zu ihm hinunter und reichte ihm ihre Hand: „Komm mal mit, ich habe etwas für dich!“
Sie griff vom Tisch unter dem Fenster einen Tuchbeutel, in dem sie Brotreste zu verwahren pflegte. Dem entnahm sie zwei Brotendstücke und reichte sie dem Kleinen.
„Sieh mal hier das leckere Brot. Das magst du doch so gerne,“ sagte sie mit einem fürsorglichen Ton in der Stimme. Der Kleine schaute vertrauensvoll zu ihr hoch und entgegenete:“ Am liebsten mag ich Puffelskuchen!“
„Das kann ich mir denken“, sagte die Wirtin und entnahm dem Beutel eine weitere Brotkruste. „Und nimm das deinem Brüderchen mit.“
„Ich habe aber zwei Brüderchen und ein Schwesterchen;- aber die sind alle kleiner als ich und meine Schwester schreit immer und hat noch keine Zähne.“
„Richtig,- und du bist schon groß,- am Samstag begraben wir den Ohm Jakob. Dann kommst du zu mir. Dann habe ich vom Reukaffee leckere Krusten vom Streuselkuchen, die schmecken noch besser, das kennst du doch schon.“
Dankbar blickte der kleine Junge in ihre Augen, die einen seltsamen Gegensatz von Fröhlichkeit und Trauer im Verhältnis zwischen ihnen offenbarten.
„Dann wünsche ich mir, dass der Ohm Hermann auch bald stirbt.“
Einen Augenblick war Stille in der Runde.
Die wurde jedoch plötzlich unterbrochen, als der Steinhauer Adolphus dazu trat. Ohne zu grüssen polterte er lauthals los und bestellte einen Klaren. Gleich hinterher berichtigte er sich: „Bring mir auch ein Bier dazu, dann brauche ich den Schnaps nicht so trocken runter zu würgen.“
Schüll saß immer noch auf seinem Platz. Von heim gehen war nicht mehr die Rede. Zu unterhaltsam war es inzwischen geworden und er mischte sich sogleich ein:
„Da sieht man, wo die Groschen sitzen. Der eine hat den Beutel, der andere das Geld. Unser einer kaut auf dem Zahnfleisch.“
Adolphus hatte wohl verstanden. „So dumm ist niemand, dass er nicht klagen kann. Aber, bestell dir ein Bier auf meine Rechnung.“
„Das ist eine Art an dir, die ich gerne mag. Weisst du, um Geld habe ich mir noch nie Sorgen gemacht.“
„Das soll ich glauben?“
Doch die Erklärung war jeder gerne bereit zu glauben.„Warum soll ich mir Sorgen um etwas machen, was ich nicht habe.“ Adolphus war stolz auf seinen Beruf als Steinmetz, der ihm offensichtlich auch einiges an Lohn einbrachte. Deshalb mahnte er Schüll, wie er das als gut gemeint schon öfters getan hatte: „Ein Kerl wie du könnte auch besser auf dem Brungerst im Steinbruch arbeiten, als dem Freiherrn in den Hintern zu kriechen.“
Entrüstet wehrte Schüll ab:“ Über Jahr und Tag kannst du darüber mit mir nicht reden.“
Der Steinhauer gab keine Ruhe die Vorzüge seiner Tätigkeit ins rechte Licht zu rücken. „Im Sommer kannst du bei uns im Steinbruch gutes Geld verdienen.“
„Da arbeite ich lieber auf Heiligenhoven beim Baron von Brück. Auch im Herbst und Winter findet sich da meistens noch etwas zu tun und manchmal sogar unter Dach und Fach im Trockenen.“
Adolphus musste zugeben, dass das ein Argument war,das zog. „Ich weiss, was du meinst. Ich denke nun schon mit Schrecken daran, wenn es wieder regnet und sogar friert- dann ist im Steinbruch nichts los.“
Die Wirtin mischte sich ein, während sie sich die Schweissperlen von der Stirn strich:„Das dauert noch. Bis dahin läuft noch viel Wasser den Köttelsbach hinunter.“
Schüll liebte es, launige Sprüche von sich zu geben. Für viele Gelegenheiten hatte er welche parat und wusste sie immer wieder anzubringen.
„Mit dem Wetter ist das so eine Sache. Du kennst den Spruch: Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist.“
Adolphus machte eine wegwerfende Handbewegung. Anscheinend hatte er bereits bei ähnlicher Gelegenheit den Spruch schon einmal vorher gehört: „Das ist Gequatsche von gestern. Ich kenne da etwas viel besseres!“
Schüll war erstaunt, dass ihn jemand übertrumpfen wollte und forderte ihn auf, seine Klugheit kund zu tun. Dazu war Adolphus natürlich allzugern bereit.
„Kräht der Hahn auf dem Huhn, hat das mit dem Wetter nichts zu tun.“
Je nach Temperament lachten oder griemelten die Anwesenden.Agnes wandte sich ab;in Männergesellschaft tat man besser daran, so zu tun als habe man nichts gehört, wenn anzügliche Reden die Runde machten.
Dem Tagelöhner Schüll war eine Neuigkeit eingefallen, die sicher von Interesse war. „In dem Zusammenhang fällt mir ein: auf dem Kippelshof hat der Baron einen neuen Zuchtbullen angeschafft. Extra von Much haben sie das Tier holen müssen.“
Die Erwähnung des Ortes Much war für die Wirtin ein Stichwort, das sie veranlasste, auch etwas zum Thema zu sagen. „Was? In Much hat der Baron den Bullen gekauft? Das hätte er besser bleiben lassen.“
Eigentlich ungewollt waren ihr die letzten Worte heraus gerutscht. Dass sie sich zu weit vor gewagt hatte, merkte sie an Adolphs prompter Reaktion: „Was verstehst du denn davon?“ Da nutzte ihr auch nicht ein nichtssagendes: „Eigentlich kaum etwas, - weniger als jeder andere so allgemein weiss.“
Adolph bestand darauf, ihm Rede und Antwort zu stehen: „Nun heraus mit der Sprache, Agnes. Da steckt doch etwas besonderes dahinter.“
Ihr Blick ging zu Boden und ihr Gesicht lief plötzlich peinlich rot an, als sie gestand: „Mein Jupp, mein Ehemann, Gott hab ihn selig, war auch aus Much.“
Sie war froh, dass niemand sonst auf den Dialog einging, sondern Schüll sogar wieder zu seinem Lieblingsthema zurück fand: „Um darauf zurück zu kommen – beim Baron auf Heiligenhoven gibt es nicht viel Geld als Lohn. Dafür kriege ich aber manches vom Feld und aus dem Garten, und manchmal auch etwas aus der Räucherkammer.“
„Wenn du so viel vom Essen redest, - dann kannst du über Appetit sicher nicht klagen?“
„Da sagst du etwas. Meine Frau meint schon mal: Schüll, du hast einen Magen wie eine Hundehütte. Wenn du die Töpfe und Schüsseln nicht so leeren würdest, könnten wir uns ein Verkel halten.“
Adolph verzog keine Mine. Er schien zum Streit aufgelegt zu sein, denn er warf so ganz nebenbei ein: „Was du von Heiligenhoven mitbringst, brauchst du nicht aus dem Garten des Pastors zu klauen.“
Sprengstoff lag in der Luft. Schülls Kopf wechselte die Farbe zu rot hin und er entgegnete grob: „Das ist dummes Gequatsche, was du da von dir gibst! Wer Hunger hat, isst den Apfel mit dem Dreck dran!“
Er besann sich jedoch und fand doch noch die Kurve zu einer humorvollen Ausrede: „Du glaubst gar nicht, wie gut ein ehrlich geklauter Kappeskopf schmeckt. Der Pastor erklärt dauernd was von der Nächstenliebe und man soll dem mitgeben, der nichts hat. Aber ich kann ihn doch nicht in Verlegenheit bringen und dauernd fragen.“
In Wirklichkeit war das so oder so ein entschuldbares Delikt, sich aus des Pastors Garten das zu holen, was man brauchte. Das konnte man auch so Adolphs abschließender Bemerkung entnehmen: „Das geht mich ja eigentlich nichts an, Schüll, wer satt hat, kann gut vom Fasten predigen.“
Unmittelbar wechselte er zu einem anderen Thema, welches im Dorf seit Jahren für Klatsch und Tratsch, für Ärger und Heiterkeit, Frohsinn und Verdruss sorgte.
„Sage mir mal ehrlich, wie es möglich ist, dass du mit dem Baron von Brück so gut zurecht kommst. Man hört immer wieder sagen, wie grob er mit seinen Leuten umspringen soll.“ Agnes mischte sich ein: „Er hat Benimm und Anstand mit dem Schaumlöffel gefressen!“
Rudolf gesellte sich zu der Gruppe und ließ sich umständlich auf einem etwas wackligen Stuhl am Tisch nieder, während er sofort in das Gespräch einstieg. Er gestikulierte gerne bei seinem Reden und unterstrich mit allerlei Armbewegungen die Wichtigkeit seiner Worte eindringlich.
„Specht ruhig weiter. Ich kann mir denken vom wem ihr gerade sprecht.Dazu kann ich auch ein Wörtchen beitragen: der von Brück geht mit dem Geld um, wie die Sau mit dem Stroh!“ „ Er hat nun mal eben die Groschen dafür und braucht keinem nach den Augen zu schauen.“ Das war Schüll, der seinen Brotherren zu verteidigen versuchte.
1767 verkaufte Freiherr von Waldenburg genannt Schenckeren seinen ganzen Besitz zu Mittelheiligenhoven an den Schultheissen Johann Josef von Brück und 2 Jahre später auch noch Unterheiligenhofen. Damit besaß der Schultheiß zum guten Schluss sowohl den Fronhof, als auch alle drei Rittergüter mit ihren Hofgerichten zu Heiligenhoven. Dazu kamen Steinbrüche, vor allem ein „Marmorbruch“ in Altenrath, diverse Höfe und Mühlen.
„Auf Pitterstag kann er im Geld wühlen; dann ist Miet- und Zinszahltag im Februar auf St.Peters Namenstag.“
„Dann geht es ihm gut, aber da sind eine Menge andere, denen es hart ankommt, weil sie berappen müssen.“
„Der v.Brück hat zwei Hände -. eine zum Nehmen und eine zum Behalten.“
„Er ist mir lieb und wert.- Am liebsten ist er mir am Allerwertesten.“
Rudolf, der in Ruhe seine Pfeife rauchte, warf mit dunkler Stimme ein: „Ist er tot, riecht er genau wie andere auch.“
Solche Redeweise gefiel der Wirtin Agnes nicht und sie wies ihn zurecht: „Das ist keine Art, so zu reden, auch nicht, wenn du Totengräber bist.“
Der Tagelöhner Schüll kannte sich von den Anwesenden durch seine Arbeit noch am besten auf Heiligenhoven aus. Zusätzlich glaubte er es seinem Herren schuldig zu sein, auch die guten Seiten zu beleuchten. Im übrigen hatte es ihm die schöne Dame besonders angetan.
So ging er dazwischen. Seine Stimme klang voller Achtung und seine Augen leuchteten: „Die Einzige, auf die der Baron hört, ist seine Frau, eine echte Baronesse oder noch mehr. Sie ist wunderschön und heißt Sophia Franziska de Daniels.“
Mit ihr hatte v.Brück einen Sohn, Josef v.Brück, der später den Konkurs von Heiligenhoven abgewickelt hat. Die Baronesse verstarb einen Tag später als der Baron im Jahr 1784. Über die Ursache ihres Todes gibt es keine Angaben in der Chronik.
Schönheit und Liebe scherte den Rudolph in diesem Moment anscheinend überhaupt nicht, denn respektlos warf er ein: „Weiss der Teufel, wie so ein ekliger Kerl an so eine schöne Frau gekommen ist?“
„Wie bist du denn an deine gekommen?“
„Das hätte ich lieber lassen sollen.“
„Nun sag doch nicht so etwas. Verglichen mit dem Fang, den dein Minchen mit dir gemacht hat, hast du doch mehr Glück als Verstand gehabt.“
Adolphus wollte nicht an dem Wortgeplänkel teilnehmen und sagte: „Es geschehen aber auch noch Zeichen und Wunder zwischen Mann und Frau.“
„Sag bloß, du sprichst aus eigener Erfahrung.“
„Natürlich nicht, aber ihr habt doch sicher alle schon mal was von dem Johann Philip Ernst Franz Josef von und zu Hees gehört.“
„Wie viele Männer sind das denn?“
„Das ist nur einer; der hat so viele Vornamen. Der sitzt auf Schloss Georghausen und hat doch tatsächlich ein Bauernmädchen aus Hohbusch geheiratet.“
„Davon habe ich auch gehört. So eine grosse Liebe findet sich selten. Zuerst hat sich der Freiherr in die Stimme des Mädchens verliebt, als sie in der Frühmesse in Hohkeppel so schön gesungen hat und ist in Liebe zu ihr entbrannt.“
Agnes´ Augen leuchteten. Das war etwas für ihr romantisches Herz. „Und jetzt haben sie tatsächlich geheiratet.“
Am 23.Dezember 1774 wurde Johann Philipp Ernst Franz Joseph von und zu Hees in der Kirche zu Hohkeppel mit Anna Maria Reudenbach aus Hohbusch, Tochter eines Ackerers getraut.
Die Verbindung zwischen Schloss Georghausen und den Lindlarern war nie so eng wie mit Heiligenhoven, bedingt durch die geographische Lage, aber auch die Verflechtung der Liegenschaften und Lehen, dazu die Konflikte zwischen kirchlichen und weltlichen Interessen.
Adolphus hatte alle Fragen bereitwillig beantwortet. Er kannte die Einzelheiten von seiner Frau, die ihm bei jeder Gelegenheit von dem feinen Herren erzählte und ihm unter die Nase rieb, wie gut es doch das brave Bauernmädchen aus Hohbusch getroffen hatte. Er war nicht so dumm, ihr Reden als „Weibergeschwätz“ abzutun. Er war in sich gegangen und auch etwas aufmerksamer zu seiner Frau geworden. Er gestand sich ein, dass ihr Beieinandersein davon gehörig profitiert hatte. Seine Gedankengänge wurden abrupt unterbrochen durch die grelle Stimme von Minchen, Rudolphs Frau, die im Vorübergehen rief: „Das würde mich wundern, wenn du einmal nicht hier zu finden wärst, Rudolph. Zu Haus pfeift der Wind durch die Ritzen und es regnet durch das Dach. Aber der Herr sitzt in der Wirtschaft! Komm mir bloß nicht wieder besoffen heim,- dann kannst du was erleben!“
Und fort war sie, hocherhobenen Hauptes und mit wehendem Rock.
udolph behielt die Ruhe. „Das war mein Vögelchen, was da gesungen hat.“
Alle Köpfe wendeten sich Wellems Haus zu, aus dem Krach und Schreien herüberschallte. Die Tür flog auf, Jüppchen stürmte heraus und nahm die beiden Stufen in einem Sprung. Niemand kann sich vorstellen, wie schnell er laufen konnte, wenn sein Vater Wellem mit der Jusche hinter ihm her war. Die Jusche war ein Haselnuss-
stöckchen mit, im wahren Sinne des Wortes, durchschlagender Wirkung.
Wellem war zwar ausser Atem, als er hinter seinem Söhnchen auf die Straße eilte,doch die Leute in der Gastwirtschaft hörten ihn rufen: „Bleib stehen, du Tunichtgut! Die Schüssel hast du willmütig zerbrochen, das werde ich dir austreiben! Komm her!“
Der Junge machte keine Anstalten seinem Vater zu gehorchen und hielt sich in respektvollem Abstand. Seefchen, die Mutter stand mittlerweile hinter ihrem Mann und versuchte ihn zu beruhigen.
„Lass ihn doch, Wellem; die Schüssel hatte doch schon einen Sprung!“
Da kam sie schlecht bei Wellem an. Jetzt, da die Angelegenheit sozusagen öffentlich war, ging es ihm ums Prinzip.
„Nichts da,- der Bengel hat zu hören!“ schrie er hartnäckig.
Seine Frau fasste ihn am Ärmel und versuchte ihn vorsichtig zum Haus hin zu ziehen. „Komm, Wellem, mache hier draußen doch nicht so einen Krach.“
Doch er war nicht zu besänftigen und riss sich los.
„Er kriegt Prügel, weil er sie verdient hat!“ Das sollten alle hören, zu seiner eigenen Rechtfertigung.
Wellem wusste aus Erfahrung, dass er, was Schnelligkeit belangte, in dem Spiel den kürzeren zog. Trotzdem versuchte er noch einmal einen energischen Schritt nach vorne, worauf hin Josef natürlich wachsam zurück sprang, die Distanz zwischen ihm und seinem Vater im sicheren Bereich zu halten. „Sag schon mal, wohin du die Schläge haben willst, auf die Hose oder auf den blanken Hintern!“
Im Nu hatte Jüppchen seine Hose ausgezogen und stand im Hemd da. Dann warf er sie seinem Vater vor die Füsse und rief: „Klopft lieber auf die Hose, Vater!“
Wellem war derartig verdutzt, dass er nur hilflos sagen konnte: „Das gibt es doch nicht. So ein Lausebengel.“
Die Männer in der Wirtschaft lachten lauthals.
„Dein Kleiner ist aber nicht auf den Kopf gefallen,“ rief Rudolph zu Wellem hinüber.
„Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd“, meinte Seefchen. Kopfschüttelnd, von seiner Frau liebevoll geleitet, verließ Wellem den Schauplatz und murmelte: „ Die Männer denken, sie wüssten etwas, aber die Frauen wissen es besser!“
Im selben Augenblick öffnete sich die Tür und Seefchen trat wieder auf die Strasse. Wahrscheinlich wollte sie den häuslichen Frieden erhalten und sich lieber bei der Arbeit abreagieren, denn sie hatte einen Reisigbesen in der Hand. Anscheinend war sie noch „geladen“, denn sie setzte ihren Besen voller energischem Schwung in Bewegung, so dass der Staub hoch wirbelte und sich gleichmässig an anderer Stelle wieder verteilte.
Rudolph war ein paar Schritte auf sie zu gegangen und sprach sie an: „Sag mal, Seefchen, bist du die Strasse am kehren oder machst du dich zum Abflug fertig?“
Er tat so, als ob er sich einen Besen zwischen die Beine klemmte, um darauf zu reiten. Seefchen war nicht auf den Mund gefallen und gab in grober Münze zurück.
„Manchmal hat man nicht genug Lumpen um grosse Lästermäuler zu stopfen!“
„Ich dachte, du könntest einen Spass vertragen.“
Eigentlich hätte der Totengräber und Handlanger Rudolph wissen müssen, dass Frauen und vornehmlich Seefchen das letzte Wort haben wollte, denn für sie war der Dialog noch nicht beendet.
„Wenn es auf die Kosten anderer geht, bist du grosszügig mit dem Witze machen.“
Sie ging zum Gegenangriff über: „ Erzähle lieber mal, warum du deinen Finger so in die Höhe hälst!“
Rudolph trug einen kleinen Verband um den Zeigefinger der linken Hand und es war ihm bisher gelungen den Finger so zu verstecken, dass ihn niemand darauf angesprochen hatte. Es war ihm peilich den wahren Hergang seiner Verletzung preis zu geben und eine passende Ausrede wollte ihm partout nicht einfallen. Er hatte sich beim Niedersetzen auf dem Plumpsklo mit der linken Hand an der Wand abgestützt und an der rauhen Bretterwand einen Holzsplitter in den Finger geratscht. Bis jetzt hatte er sich um die Schilderung, die spöttische Bemerkungen geradezu provozierte, herum drücken können, doch nun musste er antworten. So beschränkte er seine Antwort auf das Nötigste: „Da ist ein Holzsplitter drin,- der tut immer noch weh.“
Seefchen sah „Land in Sicht“, um ihm seine Anzüglichkeiten von vorhin heim zu zahlen. Sie sagte mit ernsthaften Tonfall: „Einen Holzsplitter, sagst du? Dagegen weiss ich ein probates Mittel.“
„Das könnte ich jetzt gut gebrauchen.“
Seefchens Augenblick des Triumphes war gekommen. Sie ließ den Besen ruhen und stellte sich bewusst in Positur: „ Das kann dir niemals mehr passieren, wenn du dich nicht mehr am Kopf kratzt!“
Sie packte ihren Reisigbesen und verschwand so schnell sie konnte ins Haus, den verdutzten Rudolph zurück lassend, dem Spott der anderen, die von den Wirtshaustischen das Ganze belauscht hatten, ausgesetzt.
Er ging auf die Wirtin zu und bezahlte die verlangte Summe.
Dann stockte er und drehte sich ihr wieder zu:
„Da fällt mir ein, beim letzten mal hast du dich bei mir verrechnet.“
Agnes wurde hellhörig und sah in Gedanken schon Forderungen auf sich zukommen.
„Das hättest du eher sagen müssen, jetzt ist es zu spät.“
In ruhigem Ton, wie man es von Rudolph gewöhnt war entgegnete er: „ Ganz wie du meinst. Dann behalte ich den Groschen eben.“
Wellem und Adolph nutzten Rudolphs Weggehen für ihren eigenen Aufbruch. Schüll war nun wieder einziger Gast in der Wirtschaft an der Kirche „Auf dem Matt“.
Unentschlossen lehnte er sich auf dem unbequemen Stuhl gegen die Leistenrücklehne. Die Hitze des Tages, die harte Arbeit und die spendierten Getränke hatten ihre Spuren an ihm hinterlassen. So richtig sicher auf den Beinen stehen konnte er nicht mehr.
„Probieren könnte man ja mal,“ dachte er bei sich und versuchte aufzustehen. In diesem Augenblick kam Hannes heran.
Er war Schüll ´s zweiundzwanzig jähriger Sohn, der als Steinmetz im Steinbruch hoch über dem Dorf arbeitete und noch zu Hause wohnte.
„Vater, ihr sollt heim kommen,“ sagte er ruhig und freundlich. Er benutzte die Anrede in der 3.Person, wie es in der Zeit hier und da noch üblich war, vorwiegend in der Öffentlichkeit um seinen Respekt auszudrücken.
Schülls Zunge war etwas schwer als er antwortete: „Sage deiner Mutter, sie soll die Kinder schon mal alleine ins Bett schicken und nicht vergessen, den Hühnerstall zu verriegeln.“ „Aber unser Lisbethchen ist vom Küchentisch gefallen.“
Das konnte Schüll gerade noch begreifen, denn er sprang auf und rief, sich die Haare raufend: „O Gott! Ist dem Kind etwas passiert?“
„Es hat nach einmal gut gegangen; es ist in den Waschtrog gefallen.“
Erleichtert setzte sich Schüll wieder hin. Er hatte seinen Humor wieder gefunden: „ Da kann ich es auch nicht rausholen. Du weisst doch, ich kann nicht schwimmen.“
Schüll war es gewöhnt, jeden Abend von aufgeschlagenen Knien, von abgeschnittenen Zöpfen oder sogar gebrochenen Gliedmassen zu hören, was bei sieben Kindern zwischen 5 und 22 Jahren kein Wunder bedeutete. Irgend etwas war immer für ihn zu tun; hier musste er einen Streit schlichten und dort die Nachbarn wegen eines Lausejungenstreiches beruhigen.
Mit einem kleinen Unterton redete Hannes weiter auf seinen Vater ein: „Ihr hattet versprochen, nicht mehr so viel zu trinken.“
„Ich trinke doch gar nichts“, entgegenete Schüll, doch sein Gehabe und seine schwere Zunge straften ihn Lügen.
So ergänzte er schnell: „Der Adolph hat einen ausgegeben und das konnte ich doch nicht zurück weisen. Das kannst du doch verstehen?“ Damit hatte er den „Schwarzen Peter“ von sich abgewiesen und er schaute seinen Sohn an. „ Wieso hilfst du eigentlich deiner Mutter nicht?“
Normalerweise war Hannes bereit alle möglichen Arbeiten im Haus zu übernehmen. Das war schon immer so gewesen, doch nun widersprach er seinem Vater vorsichtig: „Wisst ihr, Vater, ich hätte dringend nötig zuerst noch eine andere Arbeit zu machen.“
Schüll war stolz auf seinen Sohn und bereit ihm alle möglichen Zugeständnisse zu machen.
„Ich kann mir schon denken, was du „nötig“ nennst. Da steckt doch sicher ein Mädchenrock dahinter?“
Mit Augenzwinkern bestätigte Hannes: „Das könnte wahr sein, Vater; aber ein Rock mit einem besonders lieben und netten Mädchen drin.“
„Nimm dich in Acht vor den Frauen, Hannes. Sie haben dich am Wickel, ehe du dich versiehst.“ Das war die Stimme des Steinhauers Franz, die hinter Hannes erklang. Zur Wirtin gewendet bestellte er einen Schnaps.
Viel anderes hatte sie auch kaum anzubieten.
Hannes ließ sich nicht gerne von der Seite anquatschen, wie der Steinhauer es gemacht hatte, zudem schien er auch noch gelauscht zu haben. Trotzdem antwortete er mit der wohl plausibelsten Erklärung, die man sich denken kann, wenn man verliebt ist: „ Die Elisabeth hat so schöne Augen.“
Sein Vater Schüll war anscheinend aus den Jahren heraus und erinnerte sich auch nicht mehr an seine Zeit, sonst hätte er seinen Einwand unterlassen.
„Deshalb willst du doch nicht gleich das ganze Mädchen nehmen?“
Franz legte noch einen drauf: „Denke dran, Hannes, wegen einem Schluck Milch musst du nicht die Kuh kaufen.“
Jetzt war Hannes mit seiner Freundlichkeit am Ende. Gut, er hatte auch Liebschaften gehabt- kurz und heftig und nicht von langer Dauer. Doch diesmal schien es ihm anders; er war wirklich verliebt in Elisabeth, über beide Ohren.
„So einen Unfug habe ich schon öfter gehört. Doch solch ein Blödsinn hat mich noch nie interessiert“, sagte er unwirsch.
Franz merkte, dass er zu weit gegangen war und lenkte ein: „ Es war ja nicht böse gemeint und nur so daher gesagt. Welche Elisabeth meinst du denn, von der du dauernd sprichst.?“
„Sie ist die Tochter vom Schöffen Weschenbach.“
„Mein lieber Junge, willst du da nicht etwas zu hoch hinaus? Ich meine, wenn du da nicht auf dem Holzweg bist.“ Franz schüttelte den Kopf und legte nachdenklich den Finger an die rechte Wange, wie er das zu tun pflegte, wenn er sich unsicher fühlte.
„Ich verstehe mich gut mit der Elisabeth. Daran wirst du auch nichts ändern, Franz.“
„Das glaube ich dir, Hannes. Es kann ja sein, dass das Mädchen zu dir hält. Aber den Wiesenbach, den kenne ich. Ob du dem gefällst und willkommen bist, würde mich sehr wundern.“
Nun meldete sich Schüll zurück. Er hatte sich etwas gefangen und machte nicht mehr den Eindruck, zu tief ins Glas geschaut zu haben, obwohl einem sein Blick noch etwas starr erschien. „Mein Hannes kann es mit jedem aufnehmen!“
„Dein Junge ist ein netter Bursche, Schüll, da hast du recht. Er hat nur nicht genug an den Füßen für den Wiesenbach. Der Scheffe sucht einen Schwiegersohn mit Geld.“
Schüll war das Gerede um den Umgang seines Sohnes mit der Tochter des Scheffen leid und er sagte gönnerhaft: „
Geh´ nur ruhig, Hannes. Lasse das Mädchen nicht warten und dich durch uns nicht aufhalten. Deine Mutter kommt zu Haus auch alleine zurecht.“
Das war für Hannes das Signal zum Aufbruch. Er grüßte und verschwand im Nu, so dass Franz nur noch hinter ihm her grüssen konnte.
Stolz schaute Schüll ihm nach.
Man sollte meinen, der Tagelöhner Schüll würde nach dem Besuch und dem Reden seines Sohnes Hannes den Heimweg antreten. Aber weit gefehlt. Er kramte in seiner Hosentasche herum und legte dann ein Geldstück auf den Tisch. Dabei drückte er es fest auf eine Kante und ließ es auf die Tischplatte klacken. Die Wirtin kannte das Geräusch und wusste, dass ein weiteres Gläschen Schnaps fällig war. Schüll hatte sowieso die Angewohnheit nie etwas aufkommen zu lassen sondern jedes bestellte Getränk sofort zu bezahlen. Ob das mit seiner Entlohnung als Tagelöhner zu tun hatt, bei der ja auch geleistete Arbeit und Entlohnung Zug um Zug geschah, war schwer zu sagen. Franz sinnierte bei leerem Glas vor sich hin. Schüll hatte die Sprache wieder gefunden.
„Meinen Jungen kannst du laufen lassen.“
„Er ist ein grosser, stattlicher Kerl geworden. Wenn du den in der Mitte durchbrichst, kannst du gut und gerne zwei Kommunionskinder davon machen.“
„Mit seinen 22 Jahren hat es es schon weiter gebracht, als sein eigener Vater in seinem ganzen Leben.“
„Er arbeitet doch im Steinbruch?“ fragte Franz, obwohl er das natürlich genau wusste. Er wollte lediglich den Schüll heraus fordern, zu erzählen.
„Ja, er arbeitet im Steinruch. Aber er ist ein richtiger Steinmetz und nicht nur ein Steinhauer. Das Sakramentshäuschen an der Kirche, das wir im letzten jahr eingeweiht haben, hat er ganz alleine aus dem Stein gehauen.“
„Das hätte ich nicht gedacht.- Dann versteht er sein Handwerk wirklich meisterlich.“
„Das sagst du richtig, Franz. Er kann mit Steinen umgehen, wie kein anderer. Sie fallen so auseinander, genau wie er es haben will, wenn er nur mit dem Hammer drauf schlägt. Wenn er den Meißel ansetzt, kommen Buchstaben oder Wörter aus dem Stein heraus. Man hat das Gefühl, sie waren im Stein verborgen und kommen wie von Geisterhand ans Tageslicht, genau wie die Blumen oder Engel auf den Grabsteinen, die er für die Gräber auf dem Kirchhof schlägt.“
An dieser Stelle sei noch etwas über die Scheffen gesagt. Sie waren die aufgrund ihres Vermögens vom Landesherren, dem Herzog von Berg über den Amtmann in Steinbach bestimmten und eingesetzten Gemeindevertreter. Amtmann war Reichsfreiherr von Brück. Die Scheffen fungierten auch als Schöffen bei den Hofgerichten, bei denen der Freiherr als Schultheiß vorsaß. Scheffen gab es mit und ohne Siegel, wobei letztere Beurkundungen und Testamente bezeugten und besiegelten.
Auf der Pollerhofstraße hatte Hermann Küpper seine Tischlerwerkstatt. Sauber aufgereiht hingen verschiedene Hobel in einem Holzgestell an der Wand, daneben Feilen, Raspeln und scharfe Krummeisen über einer Hobelbank. Seit seine Frau gestorben war, hatte sich Hermann daran gewöhnt, selber für Ordnung zu sorgen. Er hatte heraus gefunden, daß dies ihm mit einem Minimum an Arbeit zum größtmöglichen Erfolg verhalf.
Hermann hatte die Spannsäge aus der Hand gelegt, sich die blaue Arbeitsschürze ausgezogen und auf den Weg zum „Matt“ gemacht.
Als er vor der Wirtschaft ankam, staunte er nicht schlecht, weil Franz ihn unvermittelt ansprach:
„N´abend Richard. Was hast du dich verändert.“
Entrüstet sagte der Schreiner Hermann: „Du bist verrückt. Ich heiße doch nicht Richard.“
„Was Richard heißt du auch nicht mehr?“
Bevor er Hermann noch mehr verwirren konnte, stoppte Agnes ihn: „Nun gib doch das Foppen dran, Franz.“
Hermann bestellte einen Klaren.
Franz hatte wieder den Mund vorne und warf dazwischen: „Es gibt nichts Besseres als einen Klaren.“
Hermann gedachte, ihm den Mund zu stopfen. Er hatte gerne das letzte Wort. „Das will ich nicht sagen. Zwei sind noch besser.“
Anscheinend war der Alkohol dem Franz zu Kopf gestiegen, denn er war wie aufgedreht und redete wieder dazwischen: „Das hab ich euch ja noch gar nicht erzählt. Gestern habe ich einen Geldbeutel gefunden. Mit einem Haufen Geld drin.“ Sarkastisch meinte Schüll dazu: „Der Teufel macht immer auf den dicksten Haufen. Wo Geld ist, kommt meistens noch mehr dazu.“
Die Wirtin hatte natürlich mitgehört und trat zu Franz an den Tisch. Sie stützte die Arme in die Hüften und sagte bestimmt: „Dann kannst du ja auch den Taler herausrücken, den du mir schon lange schuldest.“
Franz holte tief Luft, schüttelte den Kopf und hob dann abwehrend die rechte Hand: „Nun mal langsam Agnes. Lass mich doch in Ruhe einmal zu Ende erzählen – was ich geträumt habe.“
Vom Frohnhof her schallten Hammerschläge herüber. Man war dabei, daß Pastorat so gut es ging zu reparieren, bevor der neue Pastor Potthoff hier einziehen konnte.
Fast zehn Jahre hatte Pastor Müller das unter Pfarrer Langendorff heruntergekommene Anwesen, so gut es ging, bewohnbar gehalten. Johann Hubert Müller war in Köln geboren und hatte das Amt als Pfarrer in Lindlar von Pastor Johann Langendorff 1752 übernommen, der zugunsten seines Neffen darauf verzichtet hatte.
Im Streit um die Verpflichtung des Herrn von Brück für die Instandhaltung des Pastorats war Müller den Händeln mit dem Adeligen genauso nicht gewachsen, wie vorher Langendorff. Hermann reagierte als Erster auf die Geräusche vom Frohnhof her.
„Am Sonntag kommt der neue Pastor. Da haben sie es eilig, noch schnell das Pastorat zu reparieren.“
Agnes hatte dazu eine Meinung: „Du sagst es. Das wurde auch Zeit. Der Vikar Heidenkönig kriegt kein Bein auf die Erde. Er hat die Schulkinder und die Kirche am Hals. Das ist auf die Dauer kaum zu bewältigen.“
Das war ein Thema, das eine Menge Zündstoff beinhaltete. Johann Heinrich Heidenkönig war in Lindlar getauft und erhielt bereits mit 21 Jahren als Theologiestudent durch den Amtmann von Steinbach, den Grafen von Nesselrode, die Vikariebedienung zuerkannt, wogegen die Scheffen und Meistbeerbten des Kirchspiels sich vergebens zur Wehr setzten. 1754 wurde Heidenkönig auf den Titel seines Patrimoniums zum Priester geweiht und versah in Lindlar sein Amt als Frühmesser und Schulvikar. Erst seit 1794 ist ein weltlicher Lehrer belegt, nämlich der Schullehrer Alfer. Das Schulklassenzimmer der einklassigen Schule war bereits seit 1783 von der Vikarie getrennt und seit 1789 in einem eigenen Gebäude auf dem Kirchplatz.
„Der Vikarius Heidenkönig hat anscheinend Zeit zuviel, sonst würde er nicht seine Predigten so in die Länge ziehen.“
„Mit einer langen Wurst und einer kurzen Predigt kann man den Lindlarern am meisten Freude machen.“
„Wir stehen uns die Beine in den Bauch. Die dreizehn Bänke für die Herrschaften vom Schloß stehen immer leer und jeden Sonntag fallen ein paar alte Frauen in Ohnmacht vom anstrengenden Stehen.“
„Der Dechant hat ihm schon Strafe angedroht und in der Schule hat er ihm auch das Gehalt gekürzt, weil er zu lasch in der Christenlehre ist und sich von den Kindern auf der Nase herum tanzen läßt.“
Franz griff den Faden wieder auf: „Ich bin mal gespannt, was wir vom neuen Pastor zu erwarten haben.“
Und man erwartete viel. Denn viel lag im Argen. Die Stimmung in der kleinen Wirtschaft war auf dem Nullpunkt, als Schüll einwarf: „Der muß nicht nur gut mit dem Mund sein, sondern auch wirtschaften können und dem Baron von Heiligenhoven Paroli bieten.“
„Der Pastor Langendorff – Gott hab ihn selig – war zu gut. Er meinte, er könnte etwas gegen die Not in Lindlar tun. Doch die ist wie ein Loch ohne Boden.“
„Er hat alles weggegeben und seinen eigenen Kram verkommen lassen. Im Pastorat pfeift der Wind durch die Ritzen.“
„Das ist Sache vom Baron dafür zu sorgen, daß das Pastorat in Ordnung gehalten wird.
„Von dem hat der Langendorff sich doch dauernd übers Ohr hauen lassen. Nicht einmal den Zehnten wollte der Brück berappen, bis sie sich letztendlich auf 18 Reichstaler im Jahr geeinigt haben.
„Hinter denen mußte der Pastor aber auch noch herlaufen.“ „Als Schultheiß vom Amt Steinbach sitzt der Freiherr von Brück so oder so am längeren Hebel. Da kann er gut prozessieren.“
„Wenn´s ums Bezahlen geht, sind die Herren alle schwerhörig und der von Brück besonders. Bei dem legt sogar der Hahn Eier.“
„Aber unser Herrgott läßt auch die größten Bäume nicht in den Himmel wachsen.“
„So lange er die Scheffen auf seiner Seite hat, kann ihm nichts passieren. Eine Krähe pickt der anderen kein Auge aus.“ „Scheffe kann man bloß werden, wenn man reich ist, viel Land und Boden geerbt hat. Dann hast du das Sagen bei allem, was mit dem Dorf zu tun hat und was Geld und Ansehen bringt.“
„Darum geben sich die Herren Scheffen auf Heiligenhoven auch die Türklinke in die Hand.“
„Die dicksten Fliegen sitzen immer um den Schmalztopf herum.“
„Das ist Unrecht in der Welt, daß es Leute gibt, die Stroh im Kopf haben und dann auch noch Geld wie Heu dazu.“
So gingen die Reden zwischen den Anwesenden hin und her. Sie zeigten, wie der Alltag auch für die einfachen Leute kompliziert und vom Leben der großen Herren beeinflußt wurde.
Plötzlich startete Hermann wieder einen persönlichen Dialog, indem er Franz ansprach: „Hör mal Franz. Du hast doch dem Hemm ein Ferkel verkauft.“
„Warum fragst du?“
„Der schimpft auf dich wie ein Rohrspatz und wird bestimmt noch ein paar Worte mit dir zu bereden haben.“
„Ich wüßte nicht warum.“
„Der Hemm hat gesagt, das Ferkel schleift ein Bein nach und hinkt.“
„Lass ihn ruhig kommen. Ich weiß nicht, was der sich vorgestellt hat. Ich habe ihm das Ferkel doch nicht zum Tanzen verkauft.“
Die anderen lauschten dem launigen Geplänkel, denn Hermann, der Schreiner, gab keine Ruhe, den Franz zu attackieren.
„Du bist doch von Böhl, Franz?“
„Das weißt du doch. Warum fragst du so dumm?“
„Vor ein paar Tagen bin ich bei dir am Haus vorbei gegangen und dein Hund hat mich angebellt.“
„Deswegen hab´ ich ihn ja.“
„Also eine Schönheit ist der Hund ja wirklich nicht. Er sieht aus wie eine Mischung aus einem Böhler und einem Affen.“
Man sah, wie es im Kopf von Franz arbeitete. Es lag ihm nicht, sich wirklich zu streiten. Er ging auch nicht davon aus, daß Hermann ernsthaft Streit suchte. Trotzdem kochte es in ihm. Doch das Schlimmste war, dass ihm nichts Passendes zur Entgegnung einfallen wollte. Und wie das so ist, wenn man verbal im Nachteil ist, platzte er innerlich fast und ein richtiger Krach stand kurz bevor.
So wiederholte er zuerst einmal, um Zeit zu gewinnen. „Eine Mischung aus einem Böhler und einem Affen, sagst du?“ Dann hatte er die Idee und der Stau löste sich auf einmal auf: „Dann sind wir ja beide an dem Hund verwandt.“
Weder die anderen Anwesenden noch Hermann konnten so schnell dahinter kommen, was Franz wohl meinte und der Schreiner fragte: „Wie meinst du das denn, Franz?“
„Nun ja, ich bin dann über die Böhler Linie mit dem Hund verwandt und du über die – andere.“
Er hatte seinen Trumpf ausgespielt. Schallendes Gelächter setzte ein. Schüll klopfte sich vor Vergnügen auf die Schenkel und Agnes lachte so, dass ihr Busen auf und ab wippte. Sie griff sich die leeren Gläser und meinte: „Da hast du endlich mal deinen Meister gefunden., Hermann.“
Schüll stand auf und es schien, dass er nun tatsächlich sein Zuhause ansteuern wollte.
„Jetzt ist es doch später geworden, als ich wollte. In Hohkeppel haben sie neuerdings eine Uhr am Kirchturm. So etwas wäre bei uns auch nicht schlecht.“
Agenes lachte: „Ob das so gut für wäre, möchte ich bezweifeln. Dann hätte mancher eine Ausrede weniger, wenn er später nach Hause kommt.“
„Meinst du, es läge für die Lindlarer an der Kirchtursmuhr, um zu wissen, was die Uhr geschlagen hat?“ rief Franz noch dem Schüll hinterher.
„Da hast du auch wieder recht, Franz. Bis Morgen dann, macht´s gut!“
Zu wissen, was die Uhr geschlagen hatte, dazu hat dann Pastor Potthoff in den nächsten Jahren gesorgt.
Pastoratsneubau, Abtragung und Neubau des Kirchturms, Kirchenerweiterung um die Seitenschiffe und nicht weniger als 6 Prozesse gegen den Freiherrn von Brück auf Schloss Heiligenhoven, als da waren: 1. wegen der Kosten für den Pfarrhausbau, 2. wegen des dem Pastor und Vikar vorenthaltenem Neujahrshafers, 3. wegen der Armenspende an der Antoniuskapelle in Waldbruch, 4. wegen der durch v.Brück veranlassten Wegnahme einer Einbaumkiste mit Kirchen-büchern aus der Lindlarer Kirche, 5. wegen des Zehnten von Oberheiligenhoven und 6. wegen des Zehnten von Mittel- und Unterheiligenhoven.
Die vier erstgenannten Prozesse wurden schnell zu Gunsten des Pfarrers entschieden. Die Zehntprozesse dauerten über einige Jahre und endeten zwei Monate vor dem Tod des Schultheißen in einem außergerichtlichen Vergleich zwischen Potthoff und dem Sohn Joseph von Brück. Darin erkannte v.Brück alle Urteile an und zahlte als Vergütung der bisher verweigerten Zehnten 1800 Reichsthaler an die Pfarre. Der Freiherr eröffnete den Konkurs seiner Güter.
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Der neue Pfarrer kommt
Der grosse Tag war heran gekommen, der Tag der Einführung des neuen Pastors. Das Dorf hatte Schmuck angelegt, so weit das bei der Armut möglich war. Die Strasse vor den meisten Häusern war gefegt, jedenfalls bei denen um die Kirche herum. Auch der Unrat, der vom Regen immer wieder an den gleichen Ecken angespült wurde, war weg geräumt worden, so dass sich dem Betrachter ein ungewohntes Bild bot. Ganz Fromme hatten ein paar Büsche Grünzeug aufgestellt oder in Mauerritzen gesteckt, um die Feierlichkeit des bevorstehenden Ereignisses zu unterstreichen. Ein paar Kirchenwimpel, die der Küster hatte aufstellen lassen, brachten etwas Farbe in das Ganze.
Besonders ins Auge fiel ein viereckiger Baldachin, der auf gedrechselten Holzbeinen zwischen Fronhof und Kirche aufgebaut war, davor ein Holzpodest, auf dem im Moment der Küster Zweipfennig stand, ein Schriftstück in der einen und einen riesigen Schlüssel in der anderen Hand.
Einige Männer hatten sich auf den Stühlen und der Bank vor der Wirtschaft von Agnes nieder gelassen. Eine Menge Volk stand rings herum, lärmend und schwadronierend, einige alte Frauen beteten murmelnd den Rosenkranz, dazwischen lachten oder quängelten ein paar kleine Kinder an den Händen ihrer Mütter. Die größeren waren mit dem Schulvikar Heidenkönig bei der Prozession, die den Dechanten mit dem neuen Pfarrer am Pastorat abholten.
Der Küster stand auf dem besagten Podest vor dem Baldachin an der Kirche und ruderte mit den Armen in der Luft herum, um auf sich aufmerksam zu machen, aber niemand nahm Notiz von ihm, bis jemand in der Menge lauthals rief: „Verdammt noch mal! Jesus, Maria, Josef- nun seid doch mal still! Unser Küster Zweipfennig will was sagen!“
Der Geräuschpegel sank sofort und die Stimme des schmächtigen Küsters setzte sich langsam durch: „Nun hört gut zu! Hier habe ich den Schlüssel von der Kirche!“
Er reckte den übergrossen, aus Holz geschnitzten und golden angemalten Schlüssel in die Höhe. Alles reckte die Hälse.
„Den werde ich dem neuen Pastor Potthoff übergeben, der gleich mit dem Dechant hier ankommt.“
„Wann kommt er denn endlich!“ rief einer von der Wirtschaft herüber.
„So viel Zeit wirst du dir wohl nehmen können, Rudolph.“ Er hatte den Zwischenrufer erkannt, der mürrisch brummte: „ Mir geht der Frühschoppen flöten!“
Offensichtlich hielt Rudolph nicht viel von dem Spiel um den „Neuen“. Die Meinungen waren nach den Erfahrungen mit den beiden Vorgängern geteilt und man erwartete bei der Machtfülle in den Händen des Freiherrn von Brück keine Änderungen.
Dem Küster ging es um den ordentlichen Ablauf der Zeremonie an der Kirche. Deshalb wies er die Leute barsch an: „Macht mal alle hier in der Mitte Platz, damit auch die Messdiener durchkommen!“
Jeden Augenblick konnte die Prozession vom Wiedenhof her erscheinen. Man hörte schon das Klingeln der Messdiener und der Vikar hatte ein Kirchenlied angestimmt, das mehr oder weniger harmonisch dem Zug voraus flog.
Plötzlich erschienen vom Tünnes Pütz her, also von der Seite zum Baldachin hin, zwei Männer. Sie kamen schnellen Schrittes heran und waren unschwer als Knechte vom Schloss zu erkennen, einer einen Knüppel wild schwingend, der andere in grüner Jägerkleidung mit einer Flinte bewaffnet, die er im Anschlag vor sich hielt. Sie gingen direkt auf den Küster zu, der nicht schnell genug von seinem Podest herunter steigen konnte. Der Mann mit dem Knüppel, Fuss d.h. der Rothaarige genannt, packte den Küster Zweipfennig am Arm, um ihn am Weglaufen zu hindern.
„Beib ruhig hier, Küster, wir brauchen dich noch!“ rief er laut, weil alle es hören sollten.
Im Angesicht der versammelten Menschenmenge versuchte er sich los zu reissen, was irgendwie lächerlich wirkte, betrachtete man sich den schmächtigen Küster und den Knecht Fuss, ein Bär von einem Mann, der den Gottesmann jetzt am Kragen seines Paletot hoch hielt, so dass er zappelnd versuchte, mit den Beinen wieder den Boden zu greifen.
„Tue, was ich dir sage oder deine letzte Stunde hat geschlagen!“
Mit grimmigem Gesicht versuchte der Knecht seine Rede zu untermauern und sprach dabei so laut, damit jeder es hören konnte.
Des Küsters Stimme dagegen klang etwas piepsig, doch er fasste seinen ganzen Mut zusammen und versuchte trotz der anscheinend ausweglosen Situation Humor zu bewahren.
„Es ist doch nicht einmal elf Uhr. Guck mal, wo die Sonne steht!“
„Das Scherzen wird dir noch vergehen, verlass´ dich drauf!“
„Wir kommen von der Burg Heiligenhoven. Unser Herr ist der Reichsfreiherr von Brück und der hat uns geschickt!“ rief der Jäger.
„Wer sich still hält, dem passiert nichts!“ brüllte der Fuss, den Küster noch immer am Kragen haltend. Der Jäger ging auf ihn zu und entriss ihm den Schlüssel.
Inzwischen war das Singen und Schellen der vom Wiedenhof heran ziehenden Prozession lauter geworden und die Augen der Menge wendeten sich von den Ereignissen am Baldachin ab, um aber gleich wieder daran erinnert zu werden. Alle zuckten zusammen und spitze Schreie klangen auf, als der Jäger einen Schuss in die Luft feuerte, so bald der neue Pastor und der Dechant in den Kreis der wartenden Leute getreten waren.
Die Situation musste eigentlich den Ankommenden ziemlich klar sein, doch einigermassen furchtlos oder um Zeit zu gewinnen hob der Pastor die rechte Hand zum Segen: „In nomine pater et filius et spiritus sanctus!“
„Amen!“ klang es murmelnd aus der Menge.
Der Jäger Pitter stellte sich in Positur. Er hatte ein grosses Blatt aufgerollt, das aussah wie eine Urkunde. Wahrscheinlich war dieser Eindruck beabsichtigt, um dem Sprecher den Anschein der Autorität zu verleihen, in dessen Auftrag er hier seine Worte verkündete.
„Unser Herr, der Reichsfreiherr von Brück hat über euch alle zu sagen, weil dem gnädigen Herren Heiligenhoven gehört und er der Schultheiß des Amtes Steinbach ist. Ihm gehört ebenso der Fronhof, den er vom Severinusstift in Köln gekauft hat. Dadurch hat er auch das Patronatsrecht über die Lindlarer Kirche und kann den zum Pastor einsetzen, den er möchte. Nun wisst ihr, warum die Kirche heute verschlossen bleibt. Ihr könnt jetzt alle nach Haus gehen!“
Er machte eine Handbewegung, wie man Hühner verscheucht und rollte dann das Papier wieder zusammen.
Der Dechant war einen Schritt vor getreten. Er reckte seinen Kopf in die Höhe, um grösser zu erscheinen.
Die Menge war mucksmäuschenstill, als er mit einigermaßen fester Stimme verlautete: „Wir protestieren gegen dero Einlassungen auf das Heftigste. Der Pfarrer Maximilian Rudolph Potthoff hat das Placitum unseres gnädigen, von Gottes Gnaden Herzog von Berg. Somit ist er rechtens Pfarrer von Sankt Severinus und wird dato von mir ordiniert.“
Auf dem Gesicht des Knechtes Fuss erschien ein geringschätziger Ausdruck und er warf mit ebensolcher Gebärde ihm seine Gegenrede vor die Füße: „Ihr könnt so geschwollen reden, wie ihr wollt. Die Kirche bleibt verschlossen! Was unser Herr auf Heiligenhoven sagt, das gilt hier!“
Es war eine Pattsituation entstanden und Pastor und Dechant schienen sich zu beraten, denn sie hatten die Köpfe zusammen gesteckt und flüsterten miteinander. Die Leute redeten alle aufgeregt durcheinander, doch Rudolph ließ die Luft raus, die sich in der Menge angestaut hatte.
Drohend trat er auf den Jäger Pitter zu: „Wer hier das Sagen hat, das ist noch offen. Da sind wir auch noch dazwischen!“ Instinktiv wich Pitter einen Schritt zurück. Das hätte er besser unterlassen, denn das konnte man als Zeichen der Schwäche deuten.
„Bist du des Teufels, du Saukopf! Wie kannst du schießen, wenn hier Leute stehen!“ rief Seefchen und raffte ihre Schürze so, als wolle sie ihn gleich darin einpacken.
Jeder weiß, dass auch der tapferste Mann vor einem keifenden Weib zurück schreckt, mehr noch, als vor einer Horde brüllender Affen. So auch hier. Pitter wich zurück und Rudolph fasste Mut.
„Sollen wir ihnen zeigen, wie wir so etwas regeln und sie zum Dorf raus jagen?“
Doch wie das so ist, konnte er nicht so recht überzeugen.
„Geh du voran,- ich komme hinterher“, meinte Franz kleinlaut und Wellem redete ihm zu:
„Lass das lieber sein, Rudolph, die Sache hat Flöhe am Schwanz“
Rudolph´s Blut war in Rage geraten und er fühlte sich als Wortführer: „Ihr Angsthasen! Wenn wir gemeinsam draufschlagen, bringen wir sie ans Laufen!“
Pitter hatte sich gefangen. Er stand jetzt mit dem Knecht Fuss Rücken an Rücken, so dass sie sich im Notfall wehren konnten. Dabei hielt er seine Flinte fest in den Händen und rief: „An eurer Stelle würde ich mich still verhalten. Wenn mein Püster los geht hat hier gleich einer noch ein Loch dabei, wo vorher nur eins gewesen ist!“
Rudolph tat genau das Richtige in dieser Situation. Er verlagerte die Autorität, die er als Anführer augenscheinlich nicht erringen konnte, an den, dem sie seines Erachtens in diesem Kreis zustand. Deshalb sprach er zum Dechanten gewendet: „Ein Wort von ihnen, Herr Dechant, und wir machen Platz hier und jagen sie in die Flucht.“
Doch da traf er auf einen Menschen, der von Natur, aber ebenso von Amts wegen friedfertig war. Er hob abwehrend die Hände: „Um Gottes Willen, das gibt ja Mord und Totschlag und ist viel zu gefährlich.“
Dann drehte er sich zögernd zum Pfarrer hin: „Oder was meinen sie, Confrater?“
Wieder hatte sich die Autorität des Handelns verlagert. Die Anwesenden erhielten nun einen Anschauungsunterricht über den Charakter des Pastors Maximilian Potthoff, dem sie in Zukunft noch 42 Jahre allerhand Überraschungen verdanken würden, denn so lange hat er in dem kleinen bergischen Dorf Lindlar gewirkt.
Er traf genau den rechten Ton.
„Ich glaube, wenn wir jetzt kneifen, haben wir ein für allemal klein beigegeben und der Freiherr von Brück macht mit uns, was er will.“
Franz war nicht mehr zu halten. „Leute!“ rief er begeistert, „der Pastor spricht uns aus dem Herzen. Der ist der Richtige für uns hier im Dorf!“
Er wendete sich an den Pfarrer: „Hochwürden, sagen sie, was wir tun sollen! Wir ziehen alle zusammen an einem Strang.“ Adolph sprach das erlösende Wort und ersparte es dem Pastor, selber das Zeichen zum Angriff zu geben.
„Wer lange fragt, weiss nicht, was er will. Schlagt drauf!“
Die Menge schrie und ehe sich alle versahen waren die zu stürmenden Objekte verschwunden. Pitter und Fuss hatten Fersengeld gegeben und rannten blitzschnell den Kirchhügel hinab am „Tünnes Pütz“ vorbei, den Weg zurück, den sie gekommen waren.
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Wenn es ums Feiern geht, dann sind die Lindlarer dabei. Spaßeshalber sagt man, in Lindlar wird bei Reukaffee nach der Beerdigung mehr gelacht, als mancherorts beim Karneval. Das war anscheinend immer schon so. Arm waren sie ja, jedoch nie mutlos, irgendeine Mischung aus rheinischer Frohnatur und bergischer Dickköpfigkeit machte immer schon ihr Naturell aus.
Auch Pastor Potthoff kannte schnell den Nerv, an dem er seine Schäfchen packen konnte: wir feiern ein Fest.
Es war mal wieder so weit. Seite der Übernahme des Pfarramtes hatte sich einiges getan. Als erstes wurde mit dem Bau des Pfarrhauses neben dem Wiedenhof begonnen. Die Männer waren verpflichtet Hand- und Spanndienste zu leisten. Wer bezahlte, war zuerst noch nicht klar. Zunächst einmal strengte der neue Pfarrer einen Prozess gegen den Freiherrn von Brück vom Schloss Heiligenhoven an, dass der für das neue Pfarrhaus aufzukommen habe. Den Vorgängern hatte der Freiherr die Zahlung stets verweigert, doch nun fiel der Urteilsspruch des Kurfürstlichen Gerichtes gegen den Freiherrn und Schultheißen.
Der Pastor und seine Anhänger frohlockten. Noch mehr freuten sich die einfachen Leute, in dem Pastor einen Fürsprecher beim Landesherrn zu haben, denn bald gewann er auch für sie den Prozess um die Armenspende im Januar an der Antoniuskapelle in Waldbruch, das sogenannte „Tünnesferken“. v.Brück meinte sich um die Ausgabe von Kartoffeln, Mehl, Gemüse und Fleisch an Bedürftige drücken zu können. Doch mit dem Erwerb der Antoniuskapelle hatte er auch eine alte Stiftung übernommen und damit die Verpflichtung aus deren Zinsen die Armenspende zu finanzieren und das Geld nicht selber einzustreichen.
Jetzt war dem Pastor wieder ein besonderer „Sieg“ über den adeligen Herrn geglückt. Wahrscheinlich lediglich um seinem Erbfeind eins auszuwischen hatte der Baron eine uralte Eichenkiste aus der Pfarrkirche ins Schloss Heiligenhoven schaffen lassen. Er hatte die Abwesenheit von Potthoff, der in deutz am Dekanatskapitel teilnahm, genutzt und sie einfach von seinen Knechten abtransportieren lassen. Sie enthielt Literalien aus dem Kirchenarchiv, hatte also eigentlich keinerlei Wert für den Baron, ausser eben der Genugtuung, den Pastor ärgern zu können.
Doch auf landesherrlichen Befehl kam die Kiste in die Kirche zurück. Unter dem Hohngelächter vieler Kirchspielleute luden die Schlossknechte die schwere Eichenkiste von einer Pferdekarre und schleppten sie in den Kirchturm. Demonstrativ hielten die zuschauenden Männer ihre Hände in den Hosentaschen, ohne einen Handschlag zu helfen. Das hatte dem pastor gut gefallen und so hatte er beschlossen ein ganzes Fäßchen klaren Schnaps zu spendieren. Das ganze Dorf sollte seinen Sieg feiern.
Der Kirchplatz war also wieder einmal Schauplatz und Agnes, die Wirtin der Wirtschaft „Auf dem Matt“ hatte alle Hände voll zu tun, denn die strategische Lage, praktisch direkt unter dem Kirchturm, ergab das nun mal so.
„Passt auf, das ist schwer! Das Fässchen mit dem Klaren könnt ihr hier auf den Schemel stellen,“ rief sie den beiden Männern zu, die sich redlich mühten den Transport des Schnapses vom Handwagen auf den neuen Standort direkt neben der Eingangstür zur Wirtschaft zu bewerkstelligen. Rudolph und Adolph standen noch einen Moment, sich ihr Werk anzuschauen.
„Ein ganzes Fass mit dem guten Zeug,- da hat der Pastor sich aber nicht lumpen lassen beim Spendieren.“
„ Er will die Leute auf seiner Seite halten, ist doch klar.“
„Die Männer mag er ja mit dem Schnaps bei der Srtange halten, doch die Frauensleute stößt er damit vor den Kopf.“