So still in meinen Armen - Mary Higgins Clark - E-Book

So still in meinen Armen E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Als sie seine Schritte hörte, war es zu spät

Zwanzig Jahre ist es her, dass die talentierte Jungschauspielerin Susan Dempsey abends zu einem Vorsprechen aufbricht – aber niemals ankommt. Am nächsten Tag wird sie ermordet im Park aufgefunden, meilenweit von ihrem Auto entfernt, mit nur noch einem Schuh an den Füßen. Der »Cinderella-Mord« schlägt hohe Wellen, weil zu den Verdächtigen einflussreiche Geschäftsleute und Hollywoodgrößen gehören. Aber er wird nie aufgeklärt. Bis sich Laurie Moran, die sich als TV-Produzentin auf Cold Cases spezialisiert hat, des Falls annimmt. Damit macht sie sich zur Zielscheibe des Täters, der alles zu tun bereit ist, um weiter unerkannt zu bleiben.

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Seitenzahl: 411

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Das Buch

Die TV-Produzentin Laurie Moran ist erleichtert, dass ihre neue Sendung Unter Verdacht vom Publikum begeistert aufgenommen wird. In dieser Serie stellt sie unaufgeklärte und spektakuläre Verbrechen aus der Vergangenheit vor.

Bereits zwanzig Jahre ist es her, dass in Hollywood eine aufstrebende junge Schauspielerin ermordet wurde, Susan Dempsey. Sie war zu einem abendlichen Vorsprechen aufgebrochen, aber nie dort angekommen. Ihre Leiche wurde in einem Park in den Hollywood Hills gefunden – mit nur noch einem Schuh an den Füßen. Der sogenannte Cinderella-Mord schlug auch deswegen hohe Wellen, weil zu den Verdächtigen einflussreiche Geschäftsleute und Hollywoodgrößen gehörten. Dennoch wurde er nie aufgeklärt.

Bis sich Laurie Moran des Falls annimmt. Gemeinsam mit ihrem Team bringt sie alle Beteiligten und Verdächtigen von damals vor der Kamera zusammen. Ein gefährliches Unterfangen: Nach einigen mysteriösen Vorfällen während der Dreharbeiten wird klar, dass man die Vergangenheit lieber ruhen lassen sollte.

Die Autorinnen

Mary Higgins Clark zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautoren weltweit. Mit ihren Büchern führt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den begehrten Edgar Award.

Alafair Burke war lange als Staatsanwältin tätig. Ihr Beruf inspirierte sie dazu, Kriminalromane zu schreiben, u. a. die New York Times-Bestsellerserie um Ellie Hatcher. Sie ist die Tochter von Erfolgsautor James Lee Burke und lebt in New York.

MARY

HIGGINS

CLARK

ALAFAIR BURKE

SO STILL

IN MEINEN

ARMEN

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE CINDERELLA MURDER bei Simon & Schuster, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

Copyright © 2014 by Mary Higgins Clark

All rights reserved. Published by arrangement

with the original publisher, Simon & Schuster Inc.

Copyright © 2016 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in derVerlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

nach einem Konzept von Martina Eisele,

unterVerwendung von shutterstock/bikeriderlondon

Redaktion: Claudia Alt

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-17774-4V001

www.heyne-verlag.de

Für Andrew und Taylor Clark,

die frisch Vermählten –

in Liebe

VORBEMERKUNG DER AUTORIN

Mein Verleger hatte eine, wie ich finde, ganz großartige Idee: Unter Mitwirkung einer Koautorin sollte eine Romanreihe entstehen, in der die Hauptfiguren aus In der Stunde deines Todes auftreten. Mit Alafair Burke, einer von mir schon lange bewunderten Krimiautorin, entstand somit So still in meinen Armen. In diesem und den folgenden Romanen versammeln sich Augenzeugen, Freunde und Angehörige eines Verbrechensopfers viele Jahre nach der nicht aufgeklärten Straftat, um im Rahmen einer Fernsehsendung neue Indizien zu finden, die während der ursprünglichen Ermittlungen übersehen wurden. Ich hoffe, die Geschichte wird Ihnen gefallen.

Mary Higgins Clark

1

Es war zwei Uhr morgens. Pünktlich wie immer, dachte Rosemary Dempsey, als sie die Augen aufschlug und sich zur Seite drehte. Immer, wenn etwas Wichtiges anstand, wachte sie mitten in der Nacht auf, grübelte und fürchtete, dass etwas schiefgehen könnte.

So war es schon immer gewesen, auch als sie noch klein gewesen war. Inzwischen war sie fünfundfünfzig, seit zweiunddreißig Jahren glücklich verheiratet und gesegnet mit einer Tochter, der hübschen, begabten neunzehnjährigen Susan. Trotzdem wälzte sie andauernd Probleme und machte sich Sorgen; eine Kassandra, wie sie im Buch stand, das war sie. Irgendetwas wird bestimmt schiefgehen.

Vielen Dank, Mom, dachte sie. Vielen Dank mal wieder – weil du immer so davon überzeugt warst, dass der gestürzte Geburtstagskuchen, den ich so gern für Daddy gemacht habe, misslingen würde. Dabei ist er mir nur ein einziges Mal danebengegangen, gleich beim ersten Mal, und da war ich acht Jahre alt. Aber alle anderen waren perfekt. Und wie stolz ich war. Und dann, ich war schon achtzehn, erzählst du mir, du habest jedes Mal zu seinem Geburtstag einen Ersatzkuchen gebacken. Ich war darüber so entsetzt, dass ich den frisch gebackenen Kuchen voller Wut in den Müll gestopft habe – die einzige Trotzreaktion, an die ich mich überhaupt erinnern kann.

Erst hast du darüber gelacht, dann wolltest du dich entschuldigen. »Rosie, du hast eben andere Stärken. Aber in der Küche, machen wir uns doch nichts vor, hast du nun mal zwei linke Hände.«

Und natürlich, dachte Rosemary, hast du immer etwas gefunden, um mir einzureden, ich hätte auch bei anderen Dingen zwei linke Hände. »Rosie, achte beim Bettenmachen doch darauf, dass die Decke auf beiden Seiten gleichmäßig straff gezogen ist. Das ist nicht so schwer, mach es gleich richtig.« »Rosie, achte doch darauf, dass du die Zeitschriften, wenn du sie gelesen hast, nicht einfach auf den Tisch wirfst, sondern wieder zu den anderen legst.«

Inzwischen weiß ich, dass ich eine Party geben oder einen Kuchen backen kann, und trotzdem bin ich davon überzeugt, dass irgendetwas schiefgehen wird.

Am heutigen Tag hatte sie allerdings einigen Grund, besorgt zu sein. Es war Jacks sechzigster Geburtstag, den er am Abend mit sechzig Freunden feiern wollte. Es gab Cocktails und ein Buffet, das von ihrem Caterer, der sie noch nie enttäuscht hatte, auf der Terrasse serviert würde. Auch die Wettervorhersage war fantastisch, Sonne und einundzwanzig Grad wurden erwartet.

Es war der 7. Mai im Silicon Valley. Die Blumen standen in voller Blüte. Ihr Traumhaus, das dritte seit ihrem Umzug nach San Mateo vor zweiunddreißig Jahren, war im Stil einer toskanischen Villa gebaut. Jedes Mal, wenn sie in die Anfahrt einbog, verliebte sie sich aufs Neue in das Haus.

Alles wird wunderbar klappen, redete sie sich ein. Und wie immer wird mein gestürzter Schoko-Geburtstagskuchen für Jack perfekt sein, unsere Freunde werden es sich gut gehen lassen, und jeder wird mir sagen, wie toll alles ist. »Deine Partys sind immer so wunderbar … das Essen ist so köstlich … das Haus so einmalig …« und so weiter. Aber innerlich, dachte sie, bin ich fix und fertig, ein einziges Nervenbündel.

Vorsichtig, um Jack nicht zu wecken, rutschte sie im Bett näher und schmiegte ihre Schulter ganz leicht an ihn. Nach seinem gleichmäßigen Atem zu schließen, schlief er tief und fest, wie meistens. Er hatte es sich auch redlich verdient, so hart, wie er immer arbeitete. Wie so oft, wenn sie von Angstattacken gepackt wurde, versuchte sie sich an die schönen Dinge in ihrem Leben zu erinnern, angefangen mit dem Tag auf dem Campus der Marquette University, an dem sie Jack kennengelernt hatte. Sie war noch im Grundstudium, er kurz vor seinem Abschluss in Jura. Es war buchstäblich Liebe auf den ersten Blick. Nach ihrem Studienabschluss hatten sie geheiratet. Jack, fasziniert von den neuesten technologischen Entwicklungen, sprach häufig von Robotern, der Telekommunikation, von Mikroprozessoren und Netzwerken. Ein Jahr später zogen sie nach Nordkalifornien.

Mir wäre es immer lieber gewesen, in Milwaukee zu bleiben, dachte Rosemary. Und auch jetzt noch würde ich auf der Stelle zurückkehren. Im Unterschied zu den meisten anderen liebe ich die kalten Winter. Aber der Umzug nach Kalifornien hat sich für uns auf jeden Fall gelohnt. Jack ist Patentanwalt und mittlerweile Leiter der Rechtsabteilung von Valley Tech, einem der Top-Forschungsunternehmen im ganzen Land. Und Susan wurde hier geboren. Zehn Jahre lang haben wir uns so sehr ein Kind gewünscht – und dann durften wir unsere Tochter endlich in den Armen halten.

Rosemary seufzte. Leider Gottes war Susan, ihr einziges Kind, eine Kalifornierin durch und durch. Allein für die Vorstellung, woandershin zu ziehen, hatte sie nur Spott übrig. Rosemary versuchte nicht weiter darüber nachzudenken, dass sich Susan im Jahr zuvor für das Studium an der UCLA entschieden hatte, einer tollen Uni, die allerdings ganze fünf Autostunden entfernt lag. Sie hätte einen Studienplatz an der sehr viel näheren Stanford University bekommen, hatte es aber trotzdem kaum erwarten können, sich in Los Angeles einzuschreiben – wahrscheinlich, weil ihr Freund Keith Ratner, dieser Nichtsnutz, ebenfalls dort studierte. Lieber Gott, dachte Rosemary, lass es bitte nicht zu, dass sie mit ihm auch noch durchbrennt.

Das letzte Mal sah sie um halb vier auf die Uhr, und das Letzte, was sie mit in den Schlaf nahm, war die alles überwältigende Angst, dass an diesem Tag wirklich etwas fürchterlich schiefgehen würde.

2

Sie wurde um acht Uhr wach, eine Stunde später als üblich. Mit einem Satz war sie aus dem Bett, warf sich einen Morgenmantel über und eilte nach unten.

Jack war noch in der Küche, er trug Sporthemd und Khakihosen und hatte einen getoasteten Bagel in der einen Hand, eine Tasse Kaffee in der anderen.

»Alles Gute zum Sechzigsten, mein Lieber«, begrüßte sie ihn. »Ich hab gar nicht gehört, dass du aufgestanden bist.«

Er lächelte, schluckte den letzten Rest des Bagels hinunter und stellte die Tasse ab. »Bekomme ich keinen Geburtstagskuss?«

»Sechzig, wenn du willst«, versprach Rosemary und wurde von ihm auch schon in den Arm genommen.

Jack war an die dreißig Zentimeter größer als Rosemary, was mit hohen Absätzen gar nicht so sehr auffiel. Aber wenn sie wie jetzt bloß Hausschuhe trug, war der Unterschied deutlich zu erkennen.

Und immer brachte er sie zum Lächeln. Jack war ein attraktiver Mann. Er hatte noch sein volles Haar, nur war es mittlerweile eher grau als blond; er war schlank und muskulös, und seine Sonnenbräune betonte die tiefblauen Augen.

In Aussehen und Temperament kam Susan sehr nach ihm. Sie war ebenfalls groß und gertenschlank, hatte lange blonde Haare, tiefblaue Augen und ein klassisches Profil. Ihre Auffassungsgabe stand seiner in nichts nach. Sie war technisch begabt und die beste Studentin im Computerlabor, aber ebenso talentiert im Schauspielunterricht.

Neben ihrem Mann kam sich Rosemary immer blass und unscheinbar vor. Auch dazu hatte sie noch die Stimme ihrer Mutter im Ohr. »Rosie, du solltest dir wirklich die Haare tönen lassen, so mausbraun, wie die sind.«

Doch trotz der Strähnchen, die sich Rosemary jetzt machen ließ, muteten ihr ihre Haare so »mausbraun« an wie eh und je.

Jack holte sich einen langen Kuss von ihr ab, bevor er sie losließ. »Schlag mich nicht«, sagte er, »aber ich hab mir überlegt, ich könnte vor der Party auf dem Golfplatz noch eine Runde spielen.«

»Das habe ich mir schon gedacht. Genieße es!«, antwortete Rosemary nur.

»Du hast nichts dagegen, wenn ich dich allein lasse? Ob du mitkommst, muss ich dich ja gar nicht erst fragen.«

Sie lachten beide. Er wusste ganz genau, dass sie sich den gesamten Tag mit den letzten Detailfragen zur Party befassen würde.

Rosemary griff zur Kaffeekanne. »Aber du kannst mit mir noch eine Tasse trinken.«

»Klar.« Er sah aus dem Fenster. »Ich bin froh um das schöne Wetter. Ich sähe es nicht so gern, wenn Susan auf der Fahrt hierher in ein Gewitter käme. Aber es ist für das gesamte Wochenende herrlicher Sonnenschein vorhergesagt.«

»Mir gefällt nur nicht, dass sie gleich morgen früh wieder zurückwill«, sagte Rosemary.

»Ich weiß. Aber sie ist eine gute Autofahrerin und außerdem noch jung, die Fahrt sollte für sie kein Problem sein. Nur erinnere mich daran, dass ich mit ihr noch über ihren Wagen rede. Er hat erst zwei Jahre auf dem Buckel, war für meinen Geschmack aber schon viel zu oft in der Werkstatt. Sie sollte sich einen anderen besorgen.« Jack nahm einen letzten Schluck vom Kaffee. »Okay, dann mach ich mich mal auf den Weg. Gegen vier sollte ich wieder zurück sein.« Er gab ihr noch einen schnellen Kuss auf die Stirn, dann war er auch schon durch die Tür.

Um fünfzehn Uhr trat Rosemary vom Küchentisch zurück. Sie war sehr mit sich zufrieden. Jacks Geburtstagskuchen war vollkommen, kein Brösel war beim Stürzen verloren gegangen. Auf die nach einem eigenen Rezept angefertigte Schokoglasur hatte sie sorgfältig »ALLES GUTE ZUM 60., JACK« geschrieben.

Alles ist bereit, dachte sie. Aber warum will es mir einfach nicht gelingen, mich zu entspannen?

3

Eine Dreiviertelstunde später, als sie eigentlich jeden Moment mit Jack rechnete, klingelte das Telefon. Es war Susan.

»Mom, ich hab mich nicht getraut, früher anzurufen. Ich kann heute nicht kommen.«

»O Susan, da wird dein Dad sehr enttäuscht sein!«

»Ich konnte mich nicht früher melden, weil ich es nicht mit Sicherheit wusste«, erzählte Susan aufgeregt und mit sich überschlagender Stimme. »Aber, Mom, stell dir vor, Frank Parker will sich heute Abend mit mir treffen. Es geht um eine Rolle in seinem neuen Film.« Etwas ruhiger fuhr sie fort: »Mom, du kannst dich noch an Bevor die Nacht anbricht erinnern, in dem ich kurz vor Weihnachten mitgespielt habe?«

»Wie sollte ich das vergessen?« Rosemary und Jack waren extra nach Los Angeles geflogen, um die Aufführung auf dem Campus mitzuerleben. »Du warst großartig.«

Susan lachte. »Du bist meine Mutter, du musst das sagen. Jedenfalls, Edwin Lange von der Casting-Agentur hat damals gesagt, dass er mich in seine Kartei aufnehmen würde.«

»Ja, und dann hast du nie wieder von ihm gehört.«

»Doch. Edwin hat die Vorstellung aufgezeichnet und sie Parker gezeigt. Und Frank Parker hat sich das Video angesehen und war sehr angetan. Jetzt hat er mich für die Hauptrolle in seinem neuen Film vorgesehen. Der Film spielt auf einem Campus, daher sucht er gezielt nach College-Studenten. Und jetzt will er sich mit mir treffen! Mom, ich will ja nichts verschreien, aber ich bin so glücklich. Es ist einfach zu schön, um wahr zu sein – ich bekomme eine Rolle, vielleicht sogar die Hauptrolle.«

»Beruhige dich, sonst kippst du noch aus den Schuhen«, sagte Rosemary. »Und dann ist es vorbei mit der Rolle.« Mit einem versonnenen Lächeln stellte sich Rosemary ihre Tochter vor, die vor Energie nur so sprühte und deren blaue Augen nur so funkelten.

Das Semester ist fast vorbei, dachte sie. Wenn sie bei diesem Film mitspielen könnte, wäre das für sie eine großartige Erfahrung. »Dad wird bestimmt Verständnis haben, Susan, aber vergiss nicht, ihn anzurufen.«

»Werde ich tun, Mom. In fünf Minuten treffe ich mich mit Edwin, dann gehen wir noch mal das Video durch und proben alles. Frank Parker will nämlich, dass ich ihm vorspreche. Ich weiß nicht, wie spät es wird. Vielleicht hört ihr im Partytrubel das Telefon nicht, dann wäre es doch vielleicht besser, wenn ich Dad gleich morgen früh anrufe, oder?«

»Das ist keine schlechte Idee. Die Party geht bis zehn, die meisten Gäste werden aber sicherlich länger bleiben.«

»Gib ihm einen Geburtstagskuss von mir.«

»Mach ich. Und leg dem Regisseur eine Vorstellung hin, dass es ihn umhaut.«

»Werde ich versuchen.«

»Ich liebe dich.«

»Ich dich auch, Mom.«

An die plötzliche Stille, die einsetzte, wenn die Verbindung zu einem Handy beendet wurde, hatte sich Rosemary nie gewöhnen können.

Als am nächsten Morgen das Telefon klingelte, fuhr Jack von seiner Zeitung hoch. »Das wird unsere Kleine sein … aber doch sehr früh für eine Studentin, noch dazu an einem Sonntag.«

Doch der Anruf kam nicht von Susan, sondern vom Los Angeles Police Department. Sie hatten schreckliche Neuigkeiten. Die Leiche einer jungen Frau sei im Morgengrauen im Laurel Canyon Park gefunden worden. Die betreffende Person schien erwürgt worden zu sein. Man wolle sie, die Eltern, nicht unnötig aufregen, aber fünf Meter von der Leiche entfernt habe man den Führerschein ihrer Tochter aufgelesen. Und die Tote hielt ein Handy umklammert. Die letzte Nummer, die darauf angerufen worden war, sei ihre gewesen.

4

Laurie Moran blieb auf dem Weg zu ihrem Büro im Rockefeller Center 15 stehen und bewunderte das gold-rote Blütenmeer in den Channel Gardens. Diese Gärten, benannt nach dem Ärmelkanal, weil sie das British Empire Building vom Maison Française trennten, erstrahlten in üppiger Farbenpracht. Die blühenden Tulpen konnten es natürlich nicht mit dem Weihnachtsbaum aufnehmen, der im Winter auf diesem Platz aufgestellt wurde, aber Laurie erleichterten sie den Abschied von ihrer liebsten Jahreszeit. Während sich viele New Yorker über die Touristenhorden beklagten, die während der Weihnachtsfeiertage in die Stadt einfielen, genoss Laurie vor allem die kalte Luft und die festliche Dekoration.

Vor dem Lego-Store fotografierte ein Vater seinen Sohn neben einem Riesendinosaurier. Ihr Sohn Timmy musste auch immer unbedingt in den Laden und die neuesten Sachen inspizieren, wenn er sie im Büro besuchte.

»Wie lange haben die gebraucht, bis sie ihn gebaut haben, Dad? Wie viele Steine braucht man dafür?« Der Junge sah zu seinem Vater auf, als verfüge dieser über alles Wissen der Welt. Laurie versetzte es einen Stich. Auch Timmy hatte Greg immer so angesehen, mit der exakt gleichen Erwartungshaltung. Sie sah, wie der Vater sie bemerkte, und wollte sich schon abwenden.

»Entschuldigen Sie, aber könnten Sie vielleicht ein Foto von uns machen?«

Die siebenunddreißig Jahre alte Laurie wusste, dass sie über eine freundliche Ausstrahlung verfügte. Sie war schlank, hatte honigfarbene Haare und haselnussbraune Augen und wurde gemeinhin als »gut aussehend« und »elegant« beschrieben. Die Haare hatte sie meistens zu einem einfachen schulterlangen Pferdeschwanz gebunden, mit Make-up gab sie sich nur selten ab. Sie war attraktiv, ohne einschüchternd zu wirken; der Typ Frau, den man nach dem Weg fragte oder, wie in diesem Fall, darum bat, ein Foto zu machen.

»Natürlich«, sagte sie.

Der Mann reichte ihr sein Handy. »Man kann mit dem Ding ja eine Menge anstellen, aber unsere Familienfotos sind alles nur noch Selfies. Wäre nett, wenn wir den anderen mal was zeigen könnten, was nicht aus einer Armlänge Entfernung aufgenommen wurde.« Er zog seinen Sohn zu sich, und Laurie trat einen Schritt zurück, um den gesamten Dinosaurier mit aufs Bild zu bringen.

»Und jetzt: Bitte lächeln!«, forderte sie die beiden auf.

Sie grinsten bis über beide Ohren. Vater und Sohn, dachte Laurie wehmütig.

Der Vater dankte ihr, als sie ihm das Handy zurückgab. »Ich hätte gar nicht gedacht, dass die New Yorker auch so nett sein können.«

»Ich kann Ihnen versichern, die meisten von uns sind ziemlich nett. Wenn Sie hier in New York nach dem Weg fragen, werden Ihnen neun von zehn gern weiterhelfen«, antwortete Laurie im Brustton der Überzeugung.

Sie verabschiedete sich von den beiden, dann überquerte sie die Straße und betrat die Räumlichkeiten der Fisher Blake Studios. Im vierundzwanzigsten Stock stieg sie aus dem Aufzug und eilte zu ihrem Büro.

Grace Garcia und Jerry Klein saßen schon an ihren Plätzen. Als Grace Laurie bemerkte, sprang sie auf.

»Hallo, Laurie.« Die sechsundzwanzigjährige Grace war Lauries Assistentin. Wie immer war sie stark, aber perfekt geschminkt. Ihre langen, pechschwarzen Haare hatte sie heute zu einem festen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug ein knallblaues Minikleid, dazu eine schwarze Strumpfhose und Stiletto-Stiefel, in denen Laurie sofort der Länge nach hingeknallt wäre.

Jerry, in einem für ihn typischen Cardigan-Pullover, erhob sich ebenfalls und folgte Laurie in ihr Büro. Trotz Graces hohen Absätzen überragte der schlaksige Jerry sie bei Weitem. Er war nur ein Jahr älter als Grace, gehörte aber seit dem College zum Unternehmen und hatte sich vom Praktikanten zu einem geschätzten Produktionsassistenten hochgearbeitet, bevor er vor Kurzem zum Regieassistenten befördert worden war. Ohne Grace und Jerry hätte Laurie ihre Sendung UnterVerdacht nie auf die Beine stellen können.

»Was ist los?«, fragte Laurie. »Ihr beide tut ja so, als würde im Büro eine Überraschungsparty auf mich warten.«

»So könnte man es sagen«, erwiderte Jerry. »Nur wartet sie nicht im Büro auf dich.«

»Sondern hier drin«, sagte Grace und reichte Laurie einen A4-Umschlag. Als Absender war ROSEMARY DEMPSEY, OAKLAND, KALIFORNIEN angegeben. Der Umschlag war aufgerissen. »Entschuldige, wir konnten es nicht erwarten.«

»Und?«

»Sie hat zugesagt!«, platzte Jerry heraus. »Rosemary Dempsey ist mit dabei, sie hat unterzeichnet. Glückwunsch, Laurie. Der nächste Fall in UnterVerdacht wird der Cinderella-Mord sein.«

Grace und Jerry nahmen wie immer auf dem weißen Ledersofa vor den Fenstern Platz, von denen man einen herrlichen Blick über die Eislaufbahn hatte. Nirgendwo fühlte sich Laurie sicherer als in der eigenen Wohnung, aber ihr geräumiges, elegantes, modernes Büro war Ausdruck der vielen, harten Arbeit, die sie in den vergangenen Jahren geleistet hatte. Hier ging sie ihrem Beruf nach. Hier war sie die Chefin.

Kurz hielt sie inne und wünschte dem einzigen Foto auf dem Schreibtisch in Gedanken einen guten Morgen. Das Bild, aufgenommen vor dem Strandhaus eines Freundes in East Hampton, war das letzte, auf dem sie, Greg und Timmy als Familie zu sehen waren. Bis vor einem Jahr hatte sie sich strikt geweigert, Fotos von Greg in ihrem Büro aufzustellen. Bis dahin war sie überzeugt gewesen, jeder Besucher würde damit nur daran erinnert werden, dass ihr Ehemann tot und sein Mord unaufgeklärt war. Jetzt hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, mindestens einmal am Tag das Foto bewusst anzusehen.

Nachdem sie damit ihr kleines Morgenritual absolviert hatte, ließ sie sich auf ihrem grauen Drehstuhl gegenüber dem Sofa nieder und ging die von Mrs. Dempsey unterschriebene Erklärung durch, in der sie sich zur Teilnahme an UnterVerdacht verpflichtete. Die Idee zu der Reality-Show stammte von Laurie. Im Mittelpunkt standen ungelöste Kriminalfälle, aber statt Schauspielern traten Freunde und Familienangehörige des Opfers auf, denen die Sendung die Gelegenheit bot, das Verbrechen aus ihrer Sicht zu schildern. Obwohl der Sender vom Konzept anfangs wenig überzeugt gewesen war – und Laurie noch dazu einige Flops produziert hatte –, konnte sie sich schließlich durchsetzen. Die erste Episode, mit dem Titel »Abschlussgala«, erzielte nicht nur überraschend hohe Einschaltquoten, sondern führte auch dazu, dass der besprochene Fall gelöst werden konnte.

Mittlerweile war fast ein Jahr vergangen. Seitdem hatten sie Dutzende ungelöste Mordfälle begutachtet und verworfen, da keiner ihren Vorgaben entsprochen hatte – unablässige Bedingung war natürlich, dass die nächsten Verwandten und Freunde, von denen einige nach wie vor »unter Verdacht« stehen konnten, als Gäste in der Sendung auftraten.

Unter sämtlichen Altfällen, die Laurie für die nächste Sendung in Betracht gezogen hatte, war der mittlerweile zwanzig Jahre zurückliegende Mord an der damals neunzehnjährigen Susan Dempsey immer ihre erste Wahl gewesen. Susans Vater war drei Jahre zuvor gestorben, Laurie aber hatte die Mutter, Rosemary Dempsey, aufspüren können. Sie war zwar äußerst aufgeschlossen für jeden neuen Versuch, den Mörder ihrer Tochter zu finden, schränkte ihre Bereitschaft zur Teilnahme aber ein, da sie in der Vergangenheit mit einigen Leuten, die in dieser Sache auf sie zugekommen waren, ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht hatte – laut eigener Aussage sei sie »ein gebranntes Kind«. Daher wollte Laurie auf jeden Fall sichergehen, dass man Susan in der Sendung den nötigen Respekt entgegenbrachte. Ihre Unterschrift unter dem Vertrag zeigte nun also, dass Laurie ihr Vertrauen gewonnen hatte.

»Wir müssen behutsam vorgehen«, schärfte sie ihren beiden Mitarbeitern ein. »Der Name ›Cinderella‹ wurde von den Medien geprägt. Susans Mutter verabscheut ihn. Wenn wir also mit Familienangehörigen oder Freunden reden, werden wir immer nur den Namen des Opfers nennen: Susan.«

Ein Reporter der Los Angeles Times hatte dem Fall die Bezeichnung »Cinderella-Mord« verpasst, weil Susan nur noch einen Schuh am Fuß gehabt hatte, als sie tot im Laurel Canyon Park, südlich des Mulholland Drive in den Hollywood Hills, aufgefunden wurde. Die Polizei hatte zwar schnell den zweiten Schuh in der Nähe des Parkeingangs entdeckt – vermutlich hatte sie ihn verloren, als sie vor ihrem Mörder flüchten wollte –, aber das Bild des verlorenen silberfarbenen Pumps blieb im Bewusstsein der Öffentlichkeit haften.

»Der Fall ist wie geschaffen für die Sendung«, sagte Jerry. »Eine hübsche, intelligente Studentin, wir haben die Universität von Los Angeles als Schauplatz. Dazu die einmalige Aussicht vom Mulholland Drive in der Nähe des Laurel Canyon Park. Wenn wir den Hundebesitzer ausfindig machen können, der Susan damals gefunden hat, könnten wir an der Stelle drehen, wo er an jenem Morgen seinen Hund ausgeführt hat.«

»Ganz zu schweigen von Frank Parker, dem Regisseur«, nahm Grace den Faden auf. »Mittlerweile wird er als moderner Woody Allen gehandelt. Vor seiner Ehe galt er als großer Schürzenjäger.«

Frank Parker war vierunddreißig gewesen, als Susan Dempsey ermordet wurde. Nach drei Independent-Produktionen war es ihm damals gelungen, für sein nächstes Projekt ein Studio zu gewinnen. Allgemeine Aufmerksamkeit erlangte er allerdings erst durch den Mordfall, weil er Susan am Abend des Mordes zu einem Vorsprechen bei sich zu Hause eingeladen hatte.

Zu den Herausforderungen für UnterVerdacht gehörte es, diejenigen zur Teilnahme zu bewegen, die dem Opfer nahegestanden hatten. Manchen wie Susans Mutter ging es darum, dass die längst eingestellten Ermittlungen wiederaufgenommen wurden. Anderen lag daran, sich selbst von einem Verdacht reinzuwaschen, der möglicherweise immer noch auf ihnen lastete. Und einige stimmten vielleicht widerstrebend zu, weil sie in der Öffentlichkeit nicht als unkooperativ dastehen wollten – das, so Lauries Hoffnung, würde bei Frank Parker der Fall sein. Wann immer vom Cinderella-Mord die Rede war, beeilten sich seine Presseleute klarzustellen, dass Parker damals von der Polizei offiziell von allen Vorwürfen freigesprochen worden war. Trotzdem hatte er einen Ruf zu wahren und würde nicht gern als jemand hingestellt werden, der Ermittlungen behinderte, die vielleicht zur Aufklärung des Mordes führten.

Parker war mittlerweile ein Regisseur, dessen Filme für den Oscar nominiert wurden. »Ich habe gerade eine Vorabrezension seines nächsten Films gelesen«, sagte Grace. »Er gilt als aussichtsreicher Kandidat für den nächsten Oscar.«

»Das ist vielleicht unsere Chance, ihn zur Teilnahme zu überreden«, sagte Laurie. »Es sollte nicht schaden, so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu bekommen, wenn es an die Preisverleihung geht.« Sie machte sich einige Notizen. »Als Erstes müssen wir aber die Leute kontaktieren, die Susan nahegestanden haben. Also alle anrufen, die wir auf unserer Liste haben: Susans Mitbewohnerinnen im Studentenwohnheim, ihren Agenten, ihre Kommilitonen, ihren Partner im Computerlabor.«

»Der Agent fällt weg«, sagte Jerry. »Edwin Lange ist vor vier Jahren gestorben.«

Das bedeutete eine Person weniger vor der Kamera, aber der fehlende Agent würde sich kaum auf die Wiederaufnahme des Falls auswirken. Edwin Lange hatte mit Susan vor dem Vorsprechen noch einige Textzeilen proben wollen, am Nachmittag aber telefonisch erfahren, dass seine Mutter einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er hatte sich sofort ins Auto gesetzt und während der Fahrt nahezu ununterbrochen mit Verwandten telefoniert, bis er am Abend in Phoenix eingetroffen war. Als er von Susans Tod erfuhr, war er aufrichtig entsetzt, und die Polizei hatte ihn zu keiner Zeit als Verdächtigen oder Zeugen eingestuft.

Laurie ging weiter die Liste durch. »Rosemary Dempsey ist es besonders wichtig, dass wir uns mit Susans damaligem Freund befassen, einem Keith Ratner. Angeblich war er auf irgendeiner Veranstaltung, aber Mrs. Dempsey mochte ihn nicht und ist nach wie vor überzeugt, dass er irgendwas mit dem Mord zu tun hat. Ihn und Parkers Büro werde ich selbst anrufen. Nachdem Susans Mutter jetzt offiziell mit dabei ist, hoffe ich, dass wir auch alle anderen überzeugen können. Aber so oder so, freut euch schon mal auf einen Ausflug nach Kalifornien.«

Grace klatschte in die Hände. »Ich kann es kaum erwarten, endlich mal nach Hollywood zu kommen.«

»Noch sind wir nicht da«, sagte Laurie. »Unser erster Stopp ist die Bay Area. Wenn wir Susans Geschichte erzählen wollen, müssen wir zuerst sie kennenlernen. Wir müssen eingehend mit dieser jungen Frau vertraut sein. Und daher fangen wir mit der Person an, die sie am längsten gekannt hat.«

»Mit ihrer Mutter«, bestätigte Jerry.

5

Rosemary Dempsey war für Laurie der ausschlaggebende Grund gewesen, den Cinderella-Mord ganz oben auf ihre Liste für die nächste Sendung zu setzen.

Der Sender hatte sie ursprünglich gedrängt, einen Fall aus dem Mittleren Westen zu nehmen: den ungelösten Mord an der Teilnehmerin eines Kinder-Schönheitswettbewerbs. Der Fall war im Lauf der letzten zwanzig Jahre bereits in unzähligen Büchern und Fernsehsendungen durchgekaut worden, weshalb Laurie ihrem Boss Brett Young eindringlich klarzumachen versucht hatte, dass UnterVerdacht dem nichts mehr hinzuzufügen habe.

»Das ist doch egal«, hatte Brett nur erwidert. »Unsere Einschaltquoten schnellen jedes Mal nach oben, wenn wir mal wieder unter irgendeinem Vorwand die entzückenden Aufnahmen vom Kinder-Schönheitswettbewerb zeigen.«

Laurie hatte keine Lust, den Tod eines Kindes auszuschlachten, nur um die Einschaltquoten in die Höhe zu treiben. Aber kurz nach Beginn ihrer Recherchen stieß sie zufällig auf einen Blog über Kriminalfälle; dem Cinderella-Mord war eine Rubrik beigefügt, die überschrieben war mit: »Was ist aus ihnen geworden?« Die Bloggerin schien einfach die einzelnen Beteiligten im Internet recherchiert zu haben: Susans Freund arbeitete als Schauspieler; ihr Forschungspartner an der Uni hatte mittlerweile Karriere in der IT gemacht; und Frank Parker war … Frank Parker.

Der Blog brachte Zitate aus ausschließlich einer Quelle: Rosemary Dempsey. Auch deren Telefonnummer war angegeben – »für den Fall, dass mir jemand etwas über den Tod meiner Tochter mitteilen möchte«, wie es hieß. Rosemary hatte der Bloggerin erzählt, dass sie alles dafür tun würde, um die Wahrheit über den Mord an ihrer Tochter herauszufinden. Außerdem war sie überzeugt, dass der Stress, der durch Susans Tod ausgelöst worden war, mit zu dem Herzinfarkt beigetragen hatte, dem ihr Mann erlegen war.

Aber der Ton des Blogs, der vor geschmacklosen Anzüglichkeiten nur so strotzte, stieß Laurie eher ab. Ohne die geringsten Anhaltspunkte unterstellte die Bloggerin Susan, dass sie schlichtweg alles getan hätte, um eine aufsehenerregende Rolle bei einem aufstrebenden Regietalent wie Parker an Land zu ziehen. So spekulierte sie, erneut ohne jeglichen stichhaltigen Beweis, dass ein eventuell einvernehmliches Verhältnis an diesem Abend »aus dem Ruder gelaufen« sei.

Laurie wagte sich kaum vorstellen, wie es für Rosemary Dempsey gewesen sein musste, als sie diese Sachen zu lesen bekam – verfasst von einer Person, der sie ihre innigsten Gefühle über den Verlust sowohl ihrer Tochter als auch ihres Mannes anvertraut hatte.

Als Laurie daher bei Rosemary Dempsey wegen ihrer Teilnahme an UnterVerdacht anrief, wusste sie genau, was Rosemary mit ihrer Aussage meinte, sie sei »ein gebranntes Kind«. Laurie versprach, ihr Bestes zu geben, allein schon ihr und ihrer Tochter zuliebe. Und sie erzählte Rosemary, dass sie auch aus eigener Erfahrung sehr gut nachvollziehen könne, wie es sei, wenn man im Ungewissen lebe.

Im vorangegangenen Jahr, als die Polizei endlich Gregs Mörder identifizieren konnte, hatte Laurie erfahren, was es bedeutete, von einem »Schlussstrich« zu sprechen. Natürlich bekam sie ihren Mann nicht mehr zurück, auch Timmy fehlte der Vater, aber sie mussten jetzt keine Angst mehr vor dem Täter haben, den Timmy als den »Mann mit den blauen Augen« beschrieben hatte. Zumindest hatte sie damit ihre Angst hinter sich lassen können, wenn auch nicht ihre Trauer und ihren Kummer.

»Dieser verdammte Schuh«, hatte Rosemary über die von der Presse verliehene Bezeichnung, den »Cinderella-Mord«, gesagt. »Susan hat doch nie so etwas Grelles getragen. Sie hat diese silberfarbenen Schuhe für eine Siebziger-Jahre-Party in einem Vintage-Geschäft gekauft. Ihr Agent Edwin war aber der Meinung, sie würden sich hervorragend zum Vorsprechen bei Parker eignen. Wenn sich die Öffentlichkeit schon an ein Bild klammern will, dann hätte man doch ihre Halskette nehmen können. Sie war aus Gold und hatte einen kleinen Hufeisen-Anhänger. Die Kette ist ebenfalls bei ihr gefunden worden, sie war gerissen, wahrscheinlich ist das passiert, als Susan sich gewehrt hat. Wir haben sie ihr zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt, und am Tag darauf hat sie die Hauptrolle als Sandy in der Aufführung von Grease an ihrer Highschool bekommen. Seitdem war sie für sie ihre Glückskette. Als die Polizei sie uns beschrieben hat, war Jack und mir klar, dass wir unsere Tochter verloren haben.«

In diesem Moment wusste Laurie, dass der Mord an Susan Dempsey ihr nächster Fall sein würde. Eine junge, begabte Frau, die viel zu früh hatte sterben müssen. Greg war ein erstklassiger junger Arzt gewesen, der ebenfalls viel zu früh hatte sterben müssen. Nur, sein Mörder war mittlerweile tot. Susans Mörder aber war immer noch auf freiem Fuß.

6

Rosemary Dempsey balancierte zwei bis über den Rand gefüllte braune Lebensmitteltüten auf den Armen und versuchte gleichzeitig mit dem rechten Ellbogen die Hecktür ihres Volvo C30 zu schließen. Als sie auf der anderen Straßenseite Lydia Levitt sah, drehte sie sich schnell weg und hoffte, sich unbemerkt ins Haus stehlen zu können.

Aber so viel Glück war ihr nicht beschieden.

»Rosemary! Ach du meine Güte. Wie kann ein einzelner Mensch bloß so viel essen? Lass mich dir helfen!«

Wie konnte ein einzelner Mensch nur so ungehobelt sein?, dachte sich Rosemary. Ungehobelt und gleichzeitig so freundlich.

Höflich lächelte sie, und bevor sie sichs versah, war ihre Nachbarin von gegenüber auch schon bei ihr und nahm ihr eine Tüte ab.

»Mehrkornbrot, was? Oh, und Bio-Eier. Und Blaubeeren – die haben ja so viele Antioxydantien! Wie schön für dich. Wir füllen uns ja ständig nur mit schlechtem Zeugs ab. Meine ganz persönliche Schwäche sind Geleebonbons. Kaum zu glauben, was?«

Rosemary nickte und lächelte Lydia betont höflich an. Wenn Rosemary raten sollte, hätte sie die Frau auf etwa Mitte sechzig geschätzt, aber das war ihr weiß Gott ziemlich egal.

»Danke für deine Hilfe, Lydia. Und ich würde sagen, Geleebonbons sind ein relativ harmloses Laster.«

Mit ihrer jetzt freien Hand sperrte sie die Eingangstür zu ihrem Haus auf.

»Was, du schließt die Tür ab? Wir machen das so gut wie nie.« Lydia stellte ihre Tüte neben die von Rosemary auf die Kücheninsel. »Und das mit den Geleebonbons, das sag mal Don. Der meint immer, er würde mit einer Fünfjährigen zusammenleben, die überall ihre Ostereier verteilt, wenn er unter einem Sofakissen mal wieder eine rote oder grüne Überraschung findet. Meine Adern seien schon wie Brausestäbchen, voller Zucker.«

Rosemary bemerkte das blinkende Licht am Telefon auf der Küchentheke. War das der erwartete Anruf?

»Wie auch immer, ich danke dir für deine Hilfe, Lydia.«

»Du solltest am Dienstagabend mal mit zum Buchclub kommen. Oder am Donnerstag zum Filmegucken. Wir haben hier alles, was du willst, wirklich: Stricken, einen Brunch-Club, Yoga.«

Ungerührt plauderte Lydia von den vielen Dingen, die man mit den Nachbarn hier machen konnte, während Rosemary an die lange Geschichte denken musste, die sie hierhergeführt hatte. Sie hatte gedacht, sie würde für immer in dem Haus bleiben, in dem sie ihre Tochter aufgezogen und insgesamt siebenunddreißig Jahre mit ihrem Mann zusammengelebt hatte. Aber wie sie schon vor langer Zeit herausgefunden hatte, funktionierte die Welt nicht immer so, wie man es gern hätte. Manchmal musste man auf die Schicksalsschläge, die einen trafen, reagieren.

Nach Susans Tod bot Jack an, seine Arbeit aufzugeben und nach Wisconsin zurückzukehren. Sein Aktienanteil am Unternehmen, der sich im Lauf der Zeit angesammelt hatte, sowie die großzügige Altersvorsorge und Rente würden ausreichen, um sie für den Rest ihres Lebens finanziell abzusichern. Aber Rosemary erkannte, dass sie sich in Kalifornien ein Leben aufgebaut hatten. Sie selbst hatte ihre Kirche und die Suppenküche, in der sie ehrenamtlich tätig war. Sie hatte Freunde, die sich so sehr um sie kümmerten, dass ihr Kühlschrank über Monate hinweg voll war mit Kasserollen, als sie erst von Susan und dann von Jack Abschied nehmen musste.

Also blieb sie in Kalifornien. Nur wollte sie nach Jacks Tod nicht mehr in ihrem gemeinsamen Haus wohnen, das jetzt zu groß und zu leer geworden war. Daher erwarb sie ein Stadthaus in einer bewachten Wohnanlage außerhalb von Oakland.

Ihr war immer klar gewesen, dass sie entweder mit ihrer Trauer zurechtkommen musste oder in Depressionen versinken würde. Der tägliche Gottesdienstbesuch wurde ihr zur Gewohnheit. Sie widmete sich verstärkt ihrer ehrenamtlichen Arbeit und ließ sich in Trauerbegleitung fortbilden.

Im Nachhinein wäre es vielleicht besser gewesen, wenn sie sich eine Eigentumswohnung in San Francisco zugelegt hätte. Dort hätte sie ihre Anonymität gehabt. Dort hätte sie Mehrkornbrot und Bio-Eier kaufen und ihre Lebensmittel in die Küche schleppen und die eingetroffene Nachricht abhören können, ohne sich Lydia Levitts Anwerbeversuchen erwehren zu müssen.

Schließlich fasste ihre Nachbarin alles hübsch zusammen: »Das ist doch das Schöne hier bei uns. Hier in Castle Crossings sind wir alle eine einzige große Familie. Oh, das tut mir leid, das war vielleicht etwas unglücklich formuliert.«

Rosemary hatte Lydia Levitt vor eineinhalb Jahren kennengelernt, aber erst jetzt war es ihr möglich, sich selbst durch deren Augen zu sehen – sich selbst als Fünfundsiebzigjährige wahrzunehmen, die mittlerweile seit drei Jahren Witwe war und bereits zwanzig Jahre zuvor ihre einzige Tochter verloren hatte. Für Lydia war sie eine alte Frau, der man Mitleid entgegenbringen musste.

Rosemary wollte ihr bereits erklären, dass ihr Leben erfüllt sei von den unterschiedlichsten Tätigkeiten, die ihr Freude machten, aber im Grund wusste sie, dass Lydia recht hatte. Ihre Arbeit und ihre Freunde waren immer noch dieselben wie in San Mateo, als sie ihr Leben als Mutter und Ehefrau geführt hatte. Nur zögernd ließ sie neue Menschen in ihre Welt. Fast so, als wollte sie niemanden kennenlernen, der nicht auch Jack und Susan gekannt und geliebt hatte. Sie wollte niemanden kennenlernen, der sie wie Lydia als eine vom Schicksal schwer geschlagene Witwe sehen konnte.

»Danke, Lydia, ich weiß es zu schätzen.« Sie meinte es wirklich so. Ihre Nachbarin ließ es vielleicht manchmal an Takt fehlen, aber sie war aufmerksam und nett. Rosemary nahm sich vor, auf Lydias Vorschläge zurückzukommen, wenn sie etwas weniger um die Ohren hatte.

Als sie endlich allein war, eilte sie zum Anrufbeantworter. Sie hörte den Piepton, darauf eine klare Stimme, die eine gewisse Aufregung nicht verbergen konnte.

»Hallo, Mrs. Dempsey. Hier ist Laurie Moran von den Fisher Blake Studios. Vielen Dank für die Rücksendung Ihrer Teilnahmeerklärung. Wie gesagt, die Sendung hängt davon ab, wie viele der in den Fall involvierten Personen wir gewinnen können. Der Agent Ihrer Tochter ist leider schon verstorben, aber wir haben alle angeschrieben, die Sie uns genannt haben: den Regisseur Frank Parker, Susans damaligen Freund Keith Ratner und ihre Mitbewohnerinnen Madison und Nicole. Mein Chef wird sie allesamt noch einmal anrufen, aber Ihre Bereitschaft, mitzuwirken, dürfte ausschlaggebend sein. Ich hoffe sehr, dass die Sendung zustande kommt, und werde Sie umgehend informieren, sobald ich das endgültige Okay habe. Falls Sie mich in der Zwischenzeit zurückrufen wollen …«

Laurie gab ihre Kontaktdaten durch. Rosemary speicherte die Nachricht ab, wählte anschließend eine andere Nummer, die sie im Kopf hatte, während sie gleichzeitig die Lebensmittel auspackte. Es war die Nummer von Susans ehemaliger Mitbewohnerin Nicole.

Rosemary hatte Nicole von ihrer Entscheidung, an der Sendung teilzunehmen, bereits erzählt.

»Nicole, haben Sie sich schon entschieden, ob Sie in der Sendung mitmachen wollen?«

ENDE DER LESEPROBE