Sohn der Sterne und Ströme - A. E. Johann - E-Book
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Sohn der Sterne und Ströme E-Book

A. E. Johann

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Beschreibung

Der gewaltige Kongostrom, der im innersten Afrikas durch die Regenwälder fließt, und eine sturmumtoste Insel an der Nordseeküste Irlands: In dieser außergewöhnlichen Natur leben drei Menschen mit außergewöhnlichen Schicksalen: Da ist Corlay, Kapitän auf dem Kongo-Dampfer, dem Trunk ergeben, unberechenbar und tückisch. Und da ist der Schotte MacReanna, sein Erster Offizier. Zwischen den beiden Männern aber steht, verwöhnt, innerlich zermürbt und friedlos, eine Frau: Maureen O’Toole. Drei Menschen, drei Schicksale, ein Abenteuerroman, der – beinahe symbolisch – in der faszinierenden Schilderung eines Orkans gipfelt. Nur ein Autor wie A. E. Johann, der sich immer wieder selbst den Weg durch die Welt erkämpft hat, konnte dieses Thema gleichermaßen fesselnd wie sachkundig beschreiben.

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Seitenzahl: 585

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A. E. Johann

Sohn derSterne und Ströme

Roman

1. Teil

Kongo

1. Kapitel

Wenn jemand den Namen Andrew MacReanna trägt, dann darf man ihn für einen Schotten halten. Der Mann sah auch ganz so aus, wie man sich manchmal, und nicht zu Unrecht, die Schotten vorstellt: Die Farbe seines Haares spielte ins Rötliche; das fiel besonders auf, wenn die Sonne seinen Kopf beschien. Doch stellte die Haut seines Gesichtes nicht jenes sommersprossige Weiß zur Schau, das rothaarigen Leuten fast immer eigentümlich ist. MacReannas Haut war anders: Sie bräunte sich leicht und kräftig und glich dann frisch gegerbtem Leder. Die Augen lagen ziemlich tief und blickten unter hellen Brauen aus dem hageren Antlitz; sie zeigten das gleiche durchsichtige Blau, das man zuweilen in Winkeln einer Felsenküste erlebt, wenn die Flut ihren höchsten Stand erreicht hat und der Tag warm und windstill war.

Dieser Andrew stammte – um es genauer zu sagen – von den Inseln vor der schottischen Westküste. Schon mit jungen Jahren hatte er das Patent für große Fahrt erworben. Andrew war ein von Natur besonnener, in mancher Hinsicht auch begabter Mann, der seinen Verstand zusammenzuraffen wusste, wenn es darauf ankam; er hatte sein Steuermannsexamen als Zweitbester mit »sehr gut« bestanden. Ihm schien vorbestimmt, schneller als andere zu avancieren, Kapitän zu werden und ein mehr oder weniger braves Schiff über die sieben Meere zu führen.

Es liegt auch durchaus kein Grund zu der Annahme vor, dass etwa die Vorgesetzten des Andrew MacReanna auf See oder die Reeder seiner Schiffe an Land nicht mit ihm zufrieden gewesen sind. Ganz im Gegenteil: Andrew wurde schon in einem Alter zum »Ersten« befördert, in dem andere Steuerleute froh sind, wenn sie irgendwo bescheiden den Rang eines »Dritten« erklommen haben. Der breitschultrige Schotte stand damals auf einem Dampfer im Dienst, der die Route um das Kap zur afrikanischen Ostküste befuhr; er hielt sein Schiff in musterhafter Ordnung. Manchmal, wenn er in den frühen Morgenstunden auf der Brücke seine Wache ging, überlegte er sich allen Ernstes, ob es nicht an der Zeit wäre, gelegentlich einen längeren Urlaub zu nehmen und unter den Schönen des Landes nach einer Frau Ausschau zu halten.

Dann aber brach Ende der Zwanzigerjahre jene erdumspannende »Krise« aus, die bösartiger und vernichtender durch die Kontinente furchte, als Hurrikane, Blizzards und Taifune es je vermögen. Aus Gründen, die man hinterher mühsam und stets unzulänglich zusammenklaubt, begannen die Geschäfte und Gewinne nachzulassen. Handel und Wandel gingen allenthalben zurück; die Leute glaubten nicht mehr an die Zukunft und kauften nicht mehr so viel wie zuvor; die großen Firmen bestellten nur noch zögernd; der gleichmäßige Umlauf des Geldes stockte, als sei Sand in eine wunderbar schnell und lautlos umlaufende Turbine geraten.

Dieser kommerzielle Wirbelsturm strudelte weltüber ein trübes Kielwasser von Bankerotten und Bankerotteuren hinter sich her; er traf mit einem seiner Ausläufer auch das Dasein des Andrew von den schottischen Inseln, warf es aus dem bisherigen Kurs und lenkte es in eine völlig neue Richtung.

Ehe Andrew sich’s versah, hatte seine Reederei ihren Dienst nach der afrikanischen Ostküste eingestellt; der Dampfer, der ihm schon zur zweiten Heimat geworden war, wurde aufgelegt und bot fortab nur noch einem ungewaschenen Wachmann mit einem Holzbein Obdach und Unterhalt. Andrew saß auf der Straße – und das ist in London, wo einer den anderen nicht kennt, kein sehr gemütlicher Verbleib.

Wie die Schotten es im Allgemeinen halten, hatte auch MacReanna stets einen Teil seiner Einkünfte auf die hohe Kante gelegt, sodass er sich ein paar Monate oder auch ein Jahr lang vor dem Hunger nicht zu fürchten brauchte. Er hätte in seine Heimat zurückkehren können; er liebte die windigen Inseln. Aber was sollte er dort anfangen? Den Vater hatte schon viele Jahre zuvor die See mitsamt seinem Kutter verschlungen; die Mutter war aus Kummer darüber gestorben; sein jüngerer Bruder im Kriege mit einem Patrouillenboot untergegangen; der väterliche Hof war langfristig verpachtet; die drei Schwestern aber hatten Männer geheiratet, die ihm in der Einfalt ihres nie gesprengten Horizonts nicht behagten.

Außerdem hatte MacReanna damals beinahe zwei Jahrzehnte schon die Meere befahren, hatte die Düfte der Tropen, die Dünste verschlammter Häfen, hatte glühend heiße Windstillen und gierige Orkane erlebt; auch lag ihm der Lärm und das Geklirr so mancher verfluchten Kneipe im Ohr, zumeist schnell vergessen, wenn das Schiff in die erste frei rollende See hineinpflügt und der Bug sich hebt zu einer neuen Reise. Aber es war auch vorgekommen, dass solch ein Abend an Land ihn ein Jahr lang und länger beunruhigte. Er konnte den Geruch des nassen Schanktisches nicht vergessen, fühlte sich heimlich verfolgt davon – und von dem Schimmern eines Lächelns, das ihm aus einem Winkel des dämmernden Gastraums zugeblüht war. Er ahnte nicht und würde nie erfahren, wer das dunkeläugige Wesen gewesen war, das ihn anlächelte, weil ein Funke der Zuneigung den Weltenabgrund zwischen ihr und ihm übersprungen hatte. Ewig glühte nun dies Lächeln in ihm nach; er glaubte in der Tiefe zu spüren, dass damals der Pfeil der großen Leidenschaft auf gespannter Sehne schon gebebt hatte, in die blaue Höhe zu steigen. Warum er die fünf Schritte zu jenem Tisch in der Ecke nicht gewagt, sondern wie aus Holz die kostbaren Minuten hatte verstreichen lassen – ach, die Chancen des Glücks huschen schnell wie Nachtgetier vorüber. Erst wenn sie ins Dunkel fortgeflattert sind, merken die Menschen, dass sie die Seligkeit verpasst haben.

All diese zugleich sanften und gewaltsamen Einflüsse hatten mit dem Geflecht ihrer Wurzeln längst das Herz des Andrew MacReanna durchwoben. Der enge Umkreis seiner Heimat bot ihm nichts Lockendes mehr.

Nun also hatten ihn die schlechten Zeiten aus der Bahn geworfen; sie erschienen indessen seinem schottischen Gemüt nicht schlecht genug, als dass er ihretwegen sein Sparkonto um hundert Pfund oder gar mehr erleichtern mochte. Er hätte sich einfach ein wenig Ruhe gönnen und abwarten sollen, bis ihn seine bisherige Reederei auf einem anderen Schiffe unterbrachte. Dass man ihn gern berücksichtigen wollte und auch so bald wie irgend möglich, war ihm versprochen worden; tüchtige Seeleute wie ihn ließ man nicht gern zu anderen Gesellschaften abwandern.

Doch Andrew MacReanna besaß nur geringes Talent dazu, seine Unrast zu zügeln. Er besuchte, treppauf und treppab, jedes Schiffskontor in ganz London. Die leiseste Aussicht schon, irgendwo als Vierter oder Dritter Offizier eine neue Heuer zu ergattern, erfüllte ihn mit frischer Hoffnung. Zwischendurch machte es ihm nichts aus, auch weniger standesgemäße Gelegenheiten wahrzunehmen und ein Pfund oder zwei zu verdienen, wenn er der Meinung sein durfte, dass er dem Ansehen seines Berufs dadurch nicht schadete. London ist riesengroß; wer sich dort nicht entdecken lassen will, der braucht sich keine große Mühe zu geben.

An einem der hässlichen und regnerischen Herbstabende, wie sie so hässlich und regnerisch nur bei den Docks im Osten Londons vom grauen Himmel fallen, offerierte ihm der Zufall eine neue Stellung, die – was der Schotte an jenem Tage des Missmuts nicht voraussehen konnte – sein eigentliches und ihm speziell zugedachtes Schicksal erst eröffnen sollte.

MacReanna hatte sich in Ost-Greenwich bei einer Witwe ein bescheidenes Zimmer gemietet. Von dort hatte er es nicht weit zum Greenwich-Tunnel, der ihn unter der Themse an das Südende der Hunde-Insel, zu den Westindia-Docks und dem Londoner Chinesenviertel brachte, ohne dass er erst Geld für die Straßen- oder Untergrundbahn auszugeben brauchte.

Manchmal, wenn ihn die Einsamkeit und die Kette der täglichen Enttäuschungen besonders bitter drückten, erlaubte er sich, in »Charley Brown’s« Gasthaus an der Ecke der Garford Street einzukehren und an der mahagonidunklen Bar zum Trost ein Glas Rum mit einer bittersauren Limone oder auch das kräftige Getränk seiner Heimat zu genießen; er tat dies stets langsam, nachdenklich und spürte es gern, wenn ihm die Wärme der gebrannten Wässer allmählich in die kalten Glieder drang.

An jenem Abend war es in »Charley Brown’s« besonders voll; das schlechte Wetter hatte manch einen seebefahrenen Mann hereingetrieben, der sonst wohl einen anderen Weg genommen hätte. Von drei Gästen bei »Charley Brown’s« sind immer zwei seebefahrene Leute; das ist schon von jeher so gewesen.

Angesichts des Gedränges an der Bar fühlte MacReanna sein Unbehagen wachsen. Er gehörte nicht zu den Menschen, die sich in einer gesprächigen Menge wohlfühlen. Wo Schulter sich an Schulter reibt, mochte er nicht verweilen. Ihm war es lieber, wenn er über genügend Platz für seine Ellbogen verfügte.

Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit verstand sich also MacReanna dazu, an einem der winzigen Tische Platz zu nehmen, die der Bar gegenüber die Wand entlang standen. Er bestellte nur ein Glas Guinness Stout, da sich der Abend ohnehin nicht anließ, wie er sollte. Die Gäste an den Tischchen nebenan beachtete MacReanna nicht, wie er seinem Wesen nach auch nicht erwartete, von ihnen beachtet zu werden.

Es ist also nicht verwunderlich, dass Andrew sehr überrascht war, als er sich plötzlich angesprochen hörte. Ein kleiner, beweglicher Mann mit schwarzen Haaren hatte sich vor ihm aufgebaut; er hielt ein Glas Portwein in der Hand und begrüßte den Schotten wortreich mit französischem Akzent in seinem Englisch: »MacReanna! Ja, Sie sind es, wenn Sie keinen Zwillingsbruder haben! Und davon hätten Sie mir sicherlich etwas erzählt! Um alles in der Welt, wo kommen Sie her? Und sitzt hier in seinem Vaterlande ganz allein an einem Tisch, als wüsste er keine Menschenseele, mit ihm ein Gläschen zu trinken und ein wenig zu schwatzen! Dazu sollte ich nicht erst aufzutauchen brauchen – von so weit her, zum Teufel! Dabei kennt er mich gar nicht mehr, dieser rothaarige Dummkopf!«

Und ob MacReanna den Mann nicht auf der Stelle wiedererkannt hätte …! Andrew war aufgesprungen und schüttelte dem zierlichen Herrn im dunkelblauen Anzug mit schwarzer Krawatte vergnügt die Hand. All sein Verdruss war so plötzlich vergangen und vergessen, als hätte er ihn nie als ekligen Geschmack auf der Zunge verspürt. Er rief: »Dubois! Nicht möglich! Wie um alles in der Welt kommen Sie hierher nach London und zu ›Charley Brown’s‹? Als ich das letzte Mal in Matadi war, verrieten Sie mit keiner Silbe, dass Sie nach Europa fahren wollten!«

»Ach, mein Guter, setzen wir uns erst einmal und sagen wir: Prost! Das Weitere wird sich finden!«

Es fand sich auch. Vier Monate erst war es her, dass der Schotte und Dubois gemeinsam in Matadi an der schwelend heißen Kongomündung bei vielen lauwarmen Getränken einen unbeschwerten Abend verbracht hatten. Dubois war Wallone, stammte aus Charleroi und hatte es zum Hafenmeister von Matadi gebracht, dem wichtigsten Port der belgischen Kongokolonie. Dort saß er und stritt sich mit den Ersten Offizieren der Dampfer herum, die in Matadi festmachten. Denn die »Ersten« sind für die Ladungen verantwortlich, und in Matadi ist es so heiß, dass jedermann nur allzu leicht aufbraust und explodiert, wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, in der sengenden Glut den Geist aufzugeben.

MacReannas Schiff hatte den Hafen Matadi regelmäßig angelaufen. Der Schotte war dabei eines Tages in die Verlegenheit geraten, dem kleinen Belgier einen wesentlichen Dienst zu leisten:

Ein griechischer Kapitän war mit seinem rostigen Kasten im Strom an die Ankertonne gegangen, dann aber ins Treiben geraten, als er sechs Stunden später die Trosse loswarf, um zum Laden an die Pier zu verholen. Die machtvoll wirbelnde Strömung des Kongo, der sich vor Matadi dicht unterhalb gewaltiger Schnellen noch einmal zu majestätischer Bosheit entfaltet, hatte sich den armseligen Dampfer gegriffen, ihn voller Hohn über so viel Unfähigkeit ans Ufer gedrückt und auf einen Felsen gebacken. Da saß er hoch und trocken als Totalverlust, eine Pein für die Augen und ein Witz für alle, die vorüberfuhren. Kapitän und Reeder des unglücklichen Schiffes aber machten den Hafenmeister für die Strandung verantwortlich; Dubois – so argumentierten sie in dem Schadenersatzprozess gegen das Hafenamt – hätte wissen müssen, wie gefährlich das Fahrwasser vor Matadi vorwitzigen Kapitänen mit schwachen Schiffen werden kann; Dubois hätte warnen und den Beistand eines Hafenlotsen erzwingen müssen.

Dubois behauptete steif und fest, dass er die Warnung ausgesprochen, den Lotsen sogar dringlichst vorgeschrieben hätte; der griechische Kapitän aber, der Matadi zum ersten Male anlief, hätte gemeint, die teure Lotsengebühr könne er sich sparen; er wäre schon mit schlimmeren Häfen fertig geworden.

Vor Gericht jedoch beschuldigte der Kapitän den Hafenmeister, dieser hätte ihn und sein Schiff ohne ein Wort ins Unglück schwimmen lassen. Aussage stand gegen Aussage. Da die Unterhaltung zwischen dem griechischen Kapitän und dem belgischen Hafenmeister unter vier Augen stattgefunden hatte, keiner der beiden also Zeugen für die Wahrheit seiner Angaben zu benennen vermochte, stand die Entscheidung auf des Messers Schneide. Es hatte sogar den Anschein, als ob die Richter geneigt waren, den Aussagen des Kapitäns mehr Glauben zu schenken als denen ihres hitzköpfigen Landsmannes; einem alten und erfahrenen Kapitän wie diesem Griechen war so viel Leichtsinn, wie der Hafenmeister glauben machen wollte, gar nicht zuzutrauen. Erschwerend kam hinzu, dass Dubois in der Nacht vor dem Unglück kräftig gezecht hatte und nach mehrfachem Zeugnis seiner Sinne kaum noch mächtig gewesen war. Wie auch immer die Sache ausging, Dubois war seine Stellung schon so gut wie los.

MacReanna hörte von der peinlichen Sache, als er viele Monate nach dem Tage der Katastrophe wieder einmal mit seinem Schiff an der Pier von Matadi lag. Er schätzte den kleinen Hafenmeister und war stets gut mit ihm ausgekommen; denn der Schotte von den Inseln ließ sich nicht leicht aus der Fassung bringen, mochte der Wallone auch noch so aufgeregt und schwitzend umhertänzeln. MacReanna entsann sich sofort, dass er bei jenem nun so belastenden Saufgelage mit von der Partie gewesen war, entsann sich auch, dass er den dunkelhäutigen Mann bewundert hatte; denn Dubois hatte trotz großer Mengen Alkohols bis zum Schluss der Geburtstagsfeier Haltung und Witz bewiesen; »seiner Sinne nicht mächtig«, wie es jetzt behauptet wurde, war Dubois bestimmt nicht gewesen.

Für den Ausgang des Prozesses entscheidend aber war, was MacReanna unverzüglich vor Gericht zu Protokoll gab:

MacReanna hatte damals das Kontor des Hafenmeisters wegen einer nach Meinung seines Kapitäns zu hoch berechneten Liegegebühr aufgesucht, den guten Dubois selbst aber nicht angetroffen. Der Schotte war dabei in ein Zimmer geraten, hinter dessen Schreibtisch – er quoll von Papieren und Formularen über – niemand saß; MacReanna sagte sich, Dubois werde sicherlich in wenigen Minuten zurückkehren, sonst hätte er Tisch und Zimmer nicht offen stehen lassen. Der Schotte sah zwar sehr proper aus in seinem steif gestärkten weißen Anzug mit den goldenen Knöpfen. Dass ihm noch der Schädel brummte von der vergangenen Nacht, sah man ihm nicht an. Er ließ sich auf einen Stuhl in der Ecke nieder, um zu warten. Das Dämmerlicht im Zimmer, das Summen von zwei großen Fliegen, das Halbdutzend Stunden, das ihm an der Nachtruhe fehlte – es war fast unvermeidlich, dass ihm schon nach wenigen Minuten das Kinn auf die Brust sank und ein tiefer Seufzer ihn in die Gefilde des Schlafes entführte.

MacReanna wurde von zwei lauten Stimmen geweckt, von denen er die eine sofort als die des Hafenmeisters erkannte. Die andere Stimme radebrechte das Englische mit vollen Vokalen auf jene weiche, singende Weise, die stets auf einen Sohn des Mittelmeeres schließen lässt. Der Hafenmeister sprach sachlich von den Schwierigkeiten der Navigation in den Gewässern vor Matadi; gerade in diesen Tagen benähme sich der Strom besonders heimtückisch; er führe gewaltiges Hochwasser aus dem Innern des Kontinentes heran und ließe es ganz unberechenbar über die Küstenstufen meerwärts schwellen. Er, der Hafenmeister, ordne daher nachdrücklichst an, dass der Kapitän – ja, wie hieß er doch? MacReanna erinnerte sich nur noch, dass der Name des Mannes auf »-ulos« oder »-olos« geendet hatte –, dass also der Kapitän Philipopulos oder Adrianopulos, oder wie immer er angeredet worden war, den Hafenlotsen gleich mit aufs Schiff nähme, um seinen Dampfer zu dem bezeichneten Ladeplatz zu verholen. Der Kapitän aus Griechenland war daraufhin in ein stolperndes Französisch verfallen, von dem MacReanna nichts verstand. Deutlich war nur, dass der Grieche Ausflüchte machte. Dubois erwiderte so gereizt in seinem französischen Englisch und mit solcher Lautstärke, dass es dem unbeweglich lauschenden Schotten zu viel wurde; sein schwerer, noch immer vom Alkohol durchdunsteter Schädel vermochte so viel lärmvolles Temperament keineswegs zu vertragen. MacReanna wurde daher des Streites im Nebenzimmer überdrüssig, erhob sich leise und verließ das Haus, um es erst wieder zu betreten, nachdem der Grieche daraus entwichen war. Ohnehin ging es ihm gegen den Strich, ohne Erlaubnis irgendwo und irgendwann den Lauscher an der Wand oder hinter der halb offenen Tür zu spielen. Der Prozess zwischen der griechischen Reederei und der belgischen Hafenbehörde war nach dieser Aussage des Andrew MacReanna im Handumdrehen entschieden. Dubois ging glänzend gerechtfertigt daraus hervor.

Es verstand sich von selbst, dass MacReanna jedes Mal, wenn er wieder in Matadi auftauchte, begeistert gefeiert wurde. Die Wünsche, die er wegen des Liegeplatzes oder der Ladezeiten seines Schiffes vorbringen mochte, waren stets schon erfüllt, bevor er sie noch ausgesprochen hatte. Allmählich erwachte seine bedächtige Natur zu der Erkenntnis, dass Dubois – allerdings unter mannigfachen Wortschwallen verschleiert – ihm Freundschaft antrug. Denn wenn MacReanna zu der Menschensorte gehörte, die ihre Gefühle verbirgt, indem sie möglichst wenig darüber spricht, war Dubois seinem Wesen nach zu jener anderen Art zu rechnen, die viele Worte macht und so verschleiert, was sie fühlt. Ohne dass je darüber geredet wurde, wussten mit der Zeit die beiden Männer, dass sie sich aufeinander verlassen konnten und dass sie sich erfreulich fanden und schätzten – obschon natürlich ein solcher Gedanke niemals die Erlaubnis erhielt, mit deutlichen Schritten durch ihr Hirn zu spazieren.

Es wurde ein bewegter Abend. Dubois hatte unerwartet Europaurlaub nehmen müssen, weil ihm daheim in Charleroi eine Erbschaft zugefallen war. Höchst feierlich hatte er in schwarzem Gehrock am Grabe seiner schon Wochen zuvor dahingeschiedenen Tante gestanden und dann ebenso ernsthaft und mit der gebührenden Trauermiene verfügt, dass die erfreulichen Pfandbriefe und Hypotheken wieder im Geldschrank des Notars verschwanden, worin sie bislang für die Tante des Hafenmeisters gewissenhaft Zinsen ausgebrütet hatten; fortab würden sie für Monsieur Dubois Franken hecken, wogegen der Hafenmeister von Matadi nicht das Geringste einzuwenden hatte. Da Dubois die bürgerlich wohlanständige Langeweile seiner Heimat nicht mehr gewohnt war, da sie ihn vielmehr wie schon in seiner Jugend rebellisch machte, hatte er nach der Abreise aus der Heimat einem alten Wunsche nachgegeben, sich einmal das große London gründlich und durchaus nicht nur von der respektablen Seite anzusehen. Es stellte sich heraus, dass der findige Dubois mancherlei in der grauen Weltstadt erkundet hatte, wovon MacReanna sich nichts träumen ließ – was dann wiederum den Schotten zu der Bemerkung veranlasste, ihm stände zurzeit wirklich nicht der Sinn danach, zu tingeltangeln oder gar nach allen Regeln der seefahrenden Zunft zu sumpfen; er hätte nämlich kein Schiff mehr, und eine Erbschaft stände auch nicht für ihn in Aussicht; jedes Glas Bier oder Whisky müsste er sich schwer von der sparsamen Seele ringen.

Dubois tröstete den Freund; er hätte in ihm den ersten vernünftigen Menschen getroffen, mit dem er die Erbschaft angemessen feiern könnte. Betrauert hätte er die Heimgegangene würdig und ausführlich genug; an diesem glorreichen Abend gingen Getränke und Verzehr auf seine Rechnung: »Mac, lassen Sie nicht den Kopf hängen! Sie verderben mir die ganze Wiedersehensfreude! Verdammt, es gibt mehr Schiffe unter der Sonne und mehr Reedereien als Ihre alte; die Sie so schmählich im Stich gelassen hat! Kommt Zeit, kommt Rat! Sie glauben gar nicht, Mac wie ich mich darüber freue, dass wir uns endlich mal eine Nacht um die Ohren schlagen können, in der es nicht so barbarisch heiß und schwül ist wie am unteren Kongo. Ich bin froh, dass man hier nicht von dämlichen Schwarzen zu Tode geärgert wird und dass es nicht nach schwarzem Schweiß stinkt, sondern, schön europäisch nach weißem und nach Whisky und nach Lagerbier. Was ist es für eine großartige Sache, dass wir uns hier im dunkelsten London bei ›Charley Brown’s‹ in der Eisenbahnkneipe getroffen haben! Draußen regnet’s und ist kalt, und das heiße Affenland ist weit! Die Macs sollen leben! Prost!«

Was blieb dem Mac anders übrig, als aus seinem Missmut aufzutauchen und dies Fest zu feiern, wie es fiel. Es war auch wirklich etwas Neues, sich einmal im kalten Norden unter lauter wackeren dunkel gekleideten Männern mit Dubois lustig zu machen, als immer nur in jenem brütend heißen Tropenhafen auf knapp sechs Grad südlicher Breite.

Allerdings wob sich schon nach kurzer Zeit ein anderer Ton in das Gespräch der beiden Männer: Hatten sie anfangs den Norden gelobt und die gute Gelegenheit, die sie gerade hier zusammengeführt hatte, so beschworen sie bald mit portwein- und whiskyfeuchten Zungen die »Wunder der Tropen«, den »Zauber des Südlichen Kreuzes« am nächtlichen Himmel und die heitere Lässigkeit der Neger, diesen Quell nie endender Scherze und Geschichten.

Als die Mitternacht geschlagen hatte, bekannte der eine der beiden Kumpane offen, er hätte sich vor sich selber gefürchtet, denn wie leicht hätte die Erbschaft ihn verführen können, in Charleroi kleben zu bleiben – und der andere stöhnte, der Norden wäre ja ganz schön, aber nur, um sich darin ab und zu vom Süden und von Übersee und den wärmeren Breiten zu erholen. Und schließlich sprachen sie beide unverblümt aus, für das tüchtige Europa verdorben zu sein; der gute alte Erdteil – man soll sein Geld von dort beziehen, sich dort verheiraten, wenn dies nicht zu umgehen ist, und schließlich seine alten Tage dort verträumen – natürlich mit Erinnerungen an bessere Länder!

An den Gesprächen der beiden war also – wenn einer mit kühler Stirn zugehört hatte – nichts Außerordentliches zu vermerken. Denn wer erst einmal ein paar Jahre zwischen den Wendekreisen zugebracht hat, der weiß zwar fortan, dass das Land im gemäßigten Norden Heimat bleibt, dass aber Herz und Sehnsucht dem Süden gehören, wo die Sonne stark ist wie ein großer Gott und der Sommer ewig wie die Verdammnis.

Da die Londoner Tage des Jean Dubois schon gezählt gewesen waren, als Andrew MacReanna den Belgier in »Charley Brown’s« wiedertraf, blieb dem Schotten nur noch übrig, seinen Freund an Bord des Dampfers zu geleiten, der ihn zum Äquator entführen sollte. Andrew gestand sich nicht ein, wie schwer sein Sinn war, als das Schiff sich von der Mauer löste, die Schlepper heulten und die Schrauben zögernd im schmutzigen Wasser zu mahlen begannen.

Wochen vergingen, und Andrew von den Inseln war der vielen kahlen Vor- und Wartezimmer und der endlos vergeblichen »Rücksprachen« grässlich müde. Wenn große Worte auf ihn gepasst hätten, so wäre es richtig gewesen zu sagen, dass er von schierer Verzweiflung nur noch um eines Haares Breite entfernt war. Nichts nämlich schien ihm unerträglicher, ja unheimlicher als Untätigkeit und der Mangel an einem vernünftigen Ziel und einer verständlichen Aufgabe.

Unerwartet reichte ihm die Zimmerwirtin an einem grauen Novembermorgen einen Brief durch den Türspalt, auf dem er sofort eine Marke aus dem Belgischen Kongo erkannte. Der Absender auf der Rückseite des Umschlags machte vollends zur Gewissheit, wer an ihn geschrieben hatte; da stand: »Jean Dubois, Autorité du Port, Matadi, Congo Belge.«

MacReanna wog den Brief einen Augenblick unschlüssig in der Hand. Was wohl der gute Dubois, den er fast wieder vergessen hatte, ihm zu schreiben haben mochte? Er riss den Brief auf und las:

»Mein lieber Mac und André!

Natürlich weiß ich nicht, ob dieser Brief Dich überhaupt noch in London unter der Adresse von damals erreicht. Vielleicht hast Du inzwischen irgendwo angeheuert und bist längst wieder auf See.

Aber da die Zeiten sich inzwischen nicht wesentlich gebessert haben, wirst immer noch auf dem Londoner Pflaster die Stiefelsohlen abwetzen und bei Deinem nur gering entwickelten Talent für Faulheit von fürchterlichen Stimmungen geplagt werden.

Ich wage es daher, Dich auf eine Möglichkeit aufmerksam zu machen, die Dir sonst wohl nur ein mitleidiges Lächeln abnötigen würde. Vielleicht kündigst Du mir sogar die Freundschaft, weil ich Dir überhaupt dergleichen zutraue; aber ich riskiere es, weil nach meiner Meinung ein Süßwasserspatz in der Hand besser ist als eine Salzwassertaube auf dem Dache.

Du wirst wohl kaum wissen, dass bei uns eine große Transport-Gesellschaft mit ihren Flussdampfern den Personen- und Frachtverkehr auf dem Kongo und seinen wichtigeren Nebenflüssen versieht. Ob Du es glaubst oder nicht: Diese Gesellschaft hat Bedarf an Flussdampferkapitänen. Es will offenbar kein Mensch den Kongo hinauf- und herunterfahren, immerzu hinauf und herunter und sich außerdem noch dafür verbürgen, mit seinem großen, flachen Kasten nirgends anzustoßen. Die Gesellschaft ist neuerdings sogar bereit, auch Ausländer mit Steuermannspatent einzustellen und anzulernen, wenn sie nur eine Erklärung unterschreiben, dass sie nach fünfjähriger Tätigkeit gewillt sind, die belgischen Bürgerpapiere zu beantragen.

Die Bezahlung ist nicht schlecht, und in fünf Jahren kann sich viel ereignen. Vielleicht bist Du dann längst Kapitän eines Luxuspassagierdampfers nach New York und hast dann etwas, wovon Du des Abends beim Diner den dicken, brillantenstrotzenden Millionärinnen aus Chicago erzählen kannst: von Deiner Zeit als abenteuernder Flusskapitän auf dem großen Kongo, von Krokodilen, Papageien, Brüllaffen und mitternächtlichen Negertrommeln bei Vollmond.

Ich habe einen guten Freund in Léopoldville bei der Hauptverwaltung. Wenn Dir mein Vorschlag einleuchtet, schicke mir ein Telegramm. Ich fahre dann nach Léopoldville hinüber und bereite die Sache vor.

Natürlich musst Du ein paar Tage bei mir bleiben, bevor Du ins Innere entschwindest.

Und wenn Dich dieser Vorschlag in Deiner salzigen Seemannsehre gekränkt haben sollte, so kannst Du mir gestohlen bleiben.

Dein Jean Dubois«

Immerhin dauerte es einen Tag und zwei Nächte, ehe Andrew MacReanna sich entschloss, das vorgeschlagene Kabel abzusenden. Vielleicht ahnte ihm doch im innersten Gemüt, dass er – dessen Vorfahren seit undenklichen Zeiten nie etwas andres geatmet hatten als Salzluft – im Begriffe stand, ein Leben zu beginnen, in dem er unablässig seine Lungen mit Düften und Dünsten füllen würde, wie sie tief im Innern großer Erdteile, fern der hohen See, schwer und schicksalsträchtig die Weiten durchwehen.

Als aber die Depesche aufgegeben war, erfasste den einsamen, schon ein wenig verstörten Mann im großen London heftige Unruhe. Am liebsten hätte er gleich am selben Tage ein Schiff bestiegen und wäre südwärts losgegondelt. Aber so schnell war es beim besten Willen nicht zu schaffen.

Diese Unruhe entließ den Mann auch nicht aus ihren Krallen, als er zwischen Weihnachten und Neujahr einige Tage bei Dubois in Matadi verbrachte. Die Hitze setzte Andrew fürchterlich zu. In einem Tropenhafen zwischen hohen Bergen an Land zu schlafen und nicht auf dem obersten Deck eines Dampfers über bewegtem Wasser, das war eine Schweiß und viele Flüche kostende Anstrengung, besonders, wenn man aus dem winterlichen England kam. Auch stand Andrew wie unter einem Zwange, so bald wie möglich mit seiner neuen Aufgabe handgemein zu werden.

Dubois war daher von seinem Besuch ein wenig enttäuscht und ließ ihn mit der trockenen Bemerkung nach Léopoldville abdampfen: »Also gut, Mac! Hoffentlich hast du in einem Jahr bei deinem nächsten Urlaub wieder menschliche Züge angenommen!«

2. Kapitel

In Léopoldville, der Hauptstadt der Kolonie, verdämmerte Andrew ein paar Tage in der halbdunklen Halle des höchst bescheidenen »Hotel Anvers«. In London war es feucht und kalt gewesen, und MacReanna hatte jeden Abend aufgeatmet, wenn er nach seinen vielen vergeblichen Wanderungen die Füße ans wärmende und trocknende Kaminfeuer strecken konnte. In Léopoldville war es stattdessen feucht und heiß, und MacReanna wusste schon aus früherer Erfahrung, dass sich auf die Dauer »feucht und kalt« leichter ertragen lässt als »feucht und heiß«.

Nein, so hatte er sich die Hitze nicht vorgestellt – und nicht nur die Hitze! Als ein Mann, der sich den größten Teil seines erwachsenen Daseins auf der hohen See umhergetrieben hatte, waren ihm zwar viele Tropenhäfen vertraut – und ohne viel darüber nachzudenken, hatte er wie die meisten Seeleute geglaubt, dass die Länder hinter den Häfen nichts anderes anzubieten haben als die Häfen mit den gleißenden Wasserflächen und den faulig-süß riechenden Lagerhäusern.

Léopoldville war zwar auch ein Hafen, ein großer dazu; Lagerhäuser, Schuppen und Kais gab es auch; die Ratten fühlten sich offenbar ebenso munter und wohl darin wie in jenen anderen Häfen, in welche die Gezeiten ihren mächtigen Puls hineinquellen lassen. Aber dieser Hafen am großen Stanley-Pfuhl war doch bestürzend anders, als der Schotte von den Inseln bisher Häfen erlebt hatte. Manchmal beschlich ihn in den langen Tagen des Wartens eine Art geheimer Panik. Dann hätte er sich wohl auf den leisesten Anstoß hin gewendet und wäre dieser neuen, zugleich üppig strotzenden und schwermütigen Welt entflohen. Noch nie in seinem Leben – an einem leeren Abend rechnete er sich’s aus – war er so weit wie hier in Léopoldville von der hohen See entfernt gewesen, der freien See, auf der man in jeder Richtung der Windrose überall woandershin entweichen kann.

Aber solch ein zuweilen ganz unvernünftig ersehnter Anstoß oder Vorwand ergab sich nicht. Ganz im Gegenteil: Dubois hatte in seinem Brief nach London nicht zu viel versprochen; MacReanna war ohne viel Federlesens angestellt worden; die Reederei hatte nicht gezögert, ihm einen guten Vorschuss auf seine erste Heuer zu gewähren. Man hatte ihm auch von den erfreulichen Aussichten gesprochen, die sich ihm für eine Laufbahn bei der Gesellschaft böten, wenn er nur bei der Stange bliebe. (Offenbar blieben nicht viele bei der Stange.) MacReanna hatte auf dem Reedereikontor ein paar freundliche Leute kennengelernt – wenn es auch nicht wenig zu seiner täglich steigenden Verwirrung beitrug, dass er hier in eine Welt geraten war, in der Französisch oder Flämisch gesprochen wurde. Das Englische galt als »fremde Sprache«, unglaublich! MacReanna musste sich also auf sein kümmerliches Französisch besinnen und sich im Übrigen an Umstände gewöhnen, mit denen er sich noch ein Jahr zuvor schwerlich abgefunden hätte.

Einen britischen Pass zu besitzen, galt in Léopoldville nicht ohne Weiteres als ein Abzeichen höchster Menschenwürde, und das allein war nicht nur sonderbar, sondern auch peinlich.

Ja, hatte es weiter geheißen, man habe vorgesehen, ihn dem Kapitän John Corlay mit auf die Reise zu geben, damit er bei ihm »den Fluss erlerne«. Zweierlei Gründe wären es, welche die Gesellschaft bewogen hätten, ihn, den Neuling, gerade diesem Corlay anzuvertrauen: Erstens wäre Kapitän Corlay ein halber Engländer, und zweitens gäbe es keinen anderen Mann stromauf und stromab, der in unzähligen Renkontres mit dem Kongo so selten den Kürzeren gezogen hätte wie Corlay.

Der Inspektor der Reederei war ein kahlköpfiger Mann mit klugen, farblosen Augen; er trug ein ironisches Lächeln um den Mund; es schien wie festgefroren. Der Inspektor beendete seine Weisungen mit folgenden Worten: »Wissen Sie, MacReanna, dieser Kapitän Corlay unterhält mit dem Kongo eine Art intimer Feindschaft, die ihn für den Umgang mit normalen Menschen einigermaßen verdorben hat. Sie werden es nicht ganz leicht auf der ›Albertine‹ haben. Wenn aber Corlay Sie entlässt und uns bestätigt, dass er Ihnen nichts mehr beibringen kann, dann wissen wir ganz genau, dass wir Ihnen ein Schiff anvertrauen können. Und, glauben Sie mir, Sie werden dann kaum allzu lange auf ein entsprechendes Kommando zu warten brauchen!«

Bei diesen Worten vertiefte sich das anzügliche Lächeln um den Mund des ungefügen Mannes. MacReanna fühlte sich zum Narren gehalten – wenn auch in freundschaftlicher Weise –, ohne zu wissen, warum und wieso – und fühlte sich zugleich von der albernen Empfindung beherrscht, dass ihm heimlich der Boden unter den Füßen schwankte. Obendrein hörte der Inspektor auf den für MacReannas Zunge vorläufig unaussprechbaren Namen Jan van Baestaelaer.

Andrew MacReanna erwiderte also nichts weiter als: »Dann weiß ich ja Bescheid, Inspektor! Hoffentlich lässt die ›Albertine‹ nicht länger auf sich warten!«

Er stülpte sich seinen frisch erstandenen Tropenhelm auf, dies unbequeme Möbel, und wanderte in sein dumpfes »Hotel Anvers« zurück. Wie jeden Tag, seit er in Matadi an Land gegangen war, ärgerte er sich auch jetzt wieder, dass er schon nach einer kurzen Strecke Weges in Schweiß gebadet war, dass ihm unter seiner weißen Leinenjacke das Hemd am Leibe klebte und dass seine Handflächen sich feucht anfühlten. Er zerrte das Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich unter dem Helm die Stirn und knurrte wütend: »Soll doch dies verfluchte Land der Teufel holen! Ständig bin ich wie zerweicht vor lauter Schwüle; mein Chinin habe ich wieder vergessen einzunehmen.«

Als er aber eine Weile in verdunkeltem Zimmer auf dem Bette gelegen und sich ein wenig abgekühlt hatte, gewann seine Vernunft langsam die Oberhand. Er sagte sich: Mit Gewalt geht nichts in dieser Gegend; dazu ist es zu heiß! Ich muss die Zügel ein wenig lockerer lassen als auf See oder daheim, sonst hole ich mir vor der Zeit einen Sonnenkoller! Ich werde mir heute Abend, wenn es kühler geworden ist, einen von diesen lächerlichen Dampfern näher ansehen.

Und außerdem – stolperten des ruhenden Mannes Gedanken schläfrig weiter –, was will ich eigentlich? Ich brauche nicht mehr in London die Türklinken der Schiffskontore abzuwetzen. Für die nächsten zwölf Monate verdiene ich erst einmal mein Geld sicher. Und die Hitze …? Nun, was hundert oder tausend andere aushalten, daran werde ich mich schließlich auch gewöhnen. Aber ist es zu glauben, dass es ein Jahr dauern soll, bis man diesen blödsinnigen Strom »gelernt« hat, wie sie sagen? Es gibt weder Gezeiten auf dem Strom noch Brandung, weder Sturm noch Navigation. Auf einem Fluss kann man sich nicht viel verfahren. Und des Nachts bleiben die Schiffe sowieso liegen, da das Fahrwasser sicherlich nicht befeuert ist. Was kann also groß passieren? Sie machen sich wichtig, diese Süßwassermatrosen! Weiter nichts!

Mit diesem beruhigenden, sein seelisches Gleichgewicht wiederherstellenden Urteil war er eingeschlafen, der ahnungslose Andrew von den Inseln.

Als es einige Stunden später an seine Tür klopfte, wusste er – noch halb im Schlaf – zunächst überhaupt nicht, wo er sich befand. War es noch die Zimmerwirtin in Greenwich, die da klopfte? Die alte gute Tante hatte ihm ständig überflüssige und zwecklose Bestellungen auszurichten gehabt, und er hatte sich nicht dagegen wehren können, denn sie meinte es gut; sie war ja auch eine Schottin gewesen und stammte aus Inverness.

Oder war es der Mann von der Brücke, der ihn für die nächste Wache zu wecken kam? MacReanna hatte sich auf See niemals große Mühe zu geben brauchen, munter zu werden, selbst wenn er die miserable Hundewache gehen musste – im November, und der Kasten rollte durch einen Sturm aus Nordwest wie betrunken.

Andrew MacReanna fuhr erschrocken hoch, als er zwischen den halb geöffneten Lidern weder das besorgte Witwenantlitz der Zimmerwirtin noch die langweilig ehrliche Miene eines britischen Seemanns aus Stepney erblickte; stattdessen bot sich ihm ein afrikanisches Gesicht über einem knallgrünen Hemde. In den Augen blitzte das Weiße, ein prachtvolles Gebiss entblößte sich grinsend, die Nüstern an einer breiten Nase blähten sich. Für einen harmlosen, gerade aus dem Schlaf erwachenden Europäer sah es zum Fürchten aus und zum Gefressenwerden. Aber es bedeutete nichts weiter als pure Freundlichkeit und die Bitte um Entschuldigung.

»Was willst du, Kerl? Wie kommst du hier herein?«, wollte MacReanna einigermaßen erbost wissen.

»Ich klopfte schon so lange, Herr! Und dann machte ich Tür auf, kleinen Spalt breit; war nicht verschlossen, Herr! Und machte ich Tür zu und klopfte wieder, kräftig. Und dachte ich, als alles nichts half: Jetzt gehst du hinein und weckst Herrn, sonst er nicht mehr rechtzeitig zum Abendessen; und dann muss er à la carte, und das teurer!«

Dabei sah der schwarze Mann in dem giftgrünen Hemde so treuherzig drein, dass sich MacReanna nur verdrossen im rotblonden Haar kratzen konnte. Mit einem Seitenblick nahm der Schotte die muskelbewehrten Oberschenkel wahr, die seinem Besucher aus lächerlich kurzen Höschen wie hervorzuquellen schienen. Der angehende Kongoschiffer knurrte: »Teufel, ist es schon so spät? Habe ich den ganzen Tag verschlafen? Ich sollte mich duschen und andere Wäsche anziehen. Vielleicht werde ich dann wieder frisch.«

»Wenn Herr mir geben Kofferschlüssel, kann ich inzwischen alles herauslegen und Schuhe putzen.«

MacReanna kramte schon in seiner Hosentasche, als ihm plötzlich einfiel: »Verdammt, das kann ich ja auch selber machen. Wer bist du eigentlich, Kerl? Gehörst du zum Hotel? Und warum sprichst du Englisch?«

Der Schwarze stand mit einem Gesicht da, als hätte man ihn bei einem dummen Streich ertappt. Er stotterte: »Ich war Hausboy bei englischen Ingenieur, drei Jahre lang. Aber dann er Malaria kriegen und fahren nach Hause. Er niemals mehr Chinin einnehmen; er hat immer Ohrensausen. Er denken, Whisky auch gut. Aber nicht gut! Ich kann alles! Ich bin guter Boy. Ihr könnt mich nehmen auf Probe. Dann mich ganz bestimmt nehmen, Herr! Fünf Franken die Woche, Herr! Fünf kleine Franken!«

»Fünf kleine Franken … Was du dir so denkst! Wer hat dir überhaupt verraten, dass ich hierbleibe? Ich habe mich mit keiner Silbe nach einem Diener erkundigt, und ich brauche auch keinen. Wer schickt dich her?«

Die mächtigen Schultern des schwarzen Mannes füllten sein albernes Hemdchen mit den kurzen Ärmelchen so überaus prall, als wäre es aufgeblasen. Der überdimensionierte »Boy« lächelte verschmitzt und fuhr sich mit der Zunge schnell über die Lippen: »Oh, ich weiß alles, weiß ich immer alles, Herr! Aber ich niemals reden ungefragt. Mister Brown mich einpauken!«

»Das ist ja sehr erfreulich! Das ist ja sehr lobenswert, mein Junge!«

MacReanna, der die Benommenheit seines abgrundtiefen Schlafes inzwischen abgeschüttelt hatte, sah sich den nicht wenig das Zimmer füllenden Herkules in den Bubenhöschen nachdenklich an. MacReanna kratzte sich nochmals am rotblonden Hinterkopf und sagte sich lautlos: Ja, mein Leben wird anders werden, erstaunlich anders als früher. Vor sechs Wochen war ich noch ein stellungsloser Bevölkerer von Vorzimmern, und jetzt soll ich selber für »fünf kleine Franken« diesen Leibgardisten und Kammerdiener engagieren Er fragte: »Wie heißt du denn, mein Sohn?«

»Ich heiße Saka Nganmsuata, Herr!«

»Wiederhole das!«

»Saka Nganmsuata!«

»Na gut! Vergiss es nur nicht. Ich behalte es bestimmt nicht.«

»Mister Brown immer bloß brüllen: Saka! Dann ich gleich kommen. Sonst er furchtbar wild!«

»Es geht nichts über eine strenge Erziehung, Saka. Also fünf Franken die Woche willst du haben. Aber ich brauche gar keinen Boy.«

»Ohne Boy kein Herr, und kein Mensch auf Schiff werden gehorchen, Herr! Und andere Boys nur sprechen Französisch!«

»Ich muss mir die Sache erst überlegen, Saka. Du kannst jetzt verschwinden.«

»Ich bin immer nicht weit von Hoteltür und werde warten, bis Herr ›Ja‹ sagt.«

Der Schwarze drehte sich auf sonderbar breiten, kurzen, beinahe viereckigen Füßen und machte sich lautlos davon.

Zum ersten Male hatte das große Tropenland dem Manne aus dem Norden einen Menschen zugesandt, der ihn ganz unmittelbar und persönlich angesprochen hatte. Bis dahin war MacReanna so stark mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er die Schwarzen, die ihm seit seiner Ankunft in Matadi auf Schritt und Tritt begegnet waren, nur als selbstverständliche Statisten genommen hatte. Neger in allen Schattierungen waren ihm längst nichts Neues mehr; sie gehörten zu Afrika wie die Palmen am Strand oder wie zu England der Regen. Aber sie waren offenbar mehr als das, waren Menschen mit Gesichtern und man hatte mit ihnen im Guten und im Bösen fertigzuwerden. MacReanna machte sich klar, dass dieser Saka offenbar entschlossen schien, sein »Boy« zu werden, und dass wahrscheinlich kein Kraut dagegen gewachsen war; auch hatte ihm der verschmitzte Riese nicht schlecht gefallen.

MacReanna zog die Vorhänge am Fenster seines Zimmers beiseite. Die Sonne stand schon tief; die Hauswand lag bereits im Schatten. Er hätte sich gern aus dem Fenster gelehnt; aber das ging nicht, denn die Fenster waren dicht mit blauer Moskitogaze verkleidet. Das engmaschige Drahtgeflecht verwischte das Bild, das sich ihm draußen bot, als sähe man es durch einen leichten Rauch: die Reihe einstöckiger Gebäude gegenüber, Ladengeschäfte mit gemächlichem Betrieb, kichernde Negerinnen davor in schreiend bunten Baumwollfähnchen und Kontore kleiner Gesellschaften mit stämmigen Türhütern, die man anscheinend nur unter Leuten von allerdunkelster Couleur auswählte.

Riesige Bäume ließen blaugrünes Laub an mächtigen Ästen weit über die Dächer und die Straße: Schatten. Der Schotte kannte ihre Namen nicht. Ein solcher Baum, Macs Zimmer gerade gegenüber, war ganz und gar mit elfenbeinfarbenen jasminähnlichen Blüten bedeckt. Geschwirr ging in diesem Baume um; winzige Flugwesen wirbelten und zuckten auf und nieder, von Schwalben durchschossen.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis MacReanna begriff, dass Tausende von kleinen Faltern dort drüben durch die Zweige taumelten, berauscht von dem Nektar der Abertausend Blüten; sie boten den Schwalben leichte Beute.

Unter seinem Fenster, ohne dass der Mann von den Inseln sie erblicken konnte, schwatzten zwei Schwarze in runden Lauten einer unverständlichen Sprache; zuweilen lachten sie genießerisch auf, glucksend und kullernd und merkwürdig hoch. Vielleicht ist es mein Saka Unaussprechlich, der mich da unten ausplaudert, dachte MacReanna.

Als der Schotte sich über sein Waschbecken beugte, um sich darin das Gesicht abzuspülen und die Hände zu waschen, hatte sich in dem allzu glatten Gefäß ein kleiner Skorpion gefangen. Das Drachentier hob sofort kriegerisch den Schwanz mit dem Stachel, bereit, zuzustechen, falls das mächtige Wesen, das sich zu seiner Fallgrube niederneigte, ihm etwa zu nahe träte.

Andrew MacReanna hatte noch nie einen Skorpion erlebt; aber er erkannte das Tier sofort, ohne erst raten zu müssen. Er hob die Kanne vom Boden auf und ersäufte das sagenhafte Wesen; dann schüttete er Wasser und Leichnam in den Schmutzeimer.

Fast vergaß er darüber, dass er sich erfrischen wollte; er musste sich belächeln, als es ihm wieder einfiel, und holte es prustend nach.

Er trocknete sich den Oberkörper ab. Eine leichte Kühle fächelte ihm die Haut. Plötzlich hielt er inne und stand eine Minute lang regungslos da, mitten im Zimmer, als lausche er mit äußerster Anspannung. Aber er lauschte nicht nach außen – er horchte nach innen.

Ein jäher Schnitt hatte ihm die Binde vor seinem inneren Auge gelöst. Bis dahin hatte er im Dunkeln getappt. In diesen sachte zerwehenden Sekunden wurde er der ungeheuren Bühne inne, auf die er nun gestellt war, ein noch nie geprobtes Spiel zu beginnen. Wie ein Rausch überkam ihn das Bewusstsein, dass er den Eingang zu einer ungeahnten Welt durchschritten hatte, einer Welt von Skorpionen und seltsam schwirrenden Falterflotten, von mädchenhaft kichernden schwarzen Giganten, von Düften, so schwer und eindringlich, dass man immer im Zweifel war, ob sie aus Blüten stammten oder Verwesung anzeigten. Ja, als er mit dem Zug von Matadi nach Léopoldville gefahren war, hatten am Bahndamm Ananas gestanden, wild gewachsen wie stachlige Kohlköpfe, faustgroß manche und manche wie Kinderschädel. Andrew hatte mit nicht ganz reinem Gewissen eine der Früchte gepflückt, mit dem Taschenmesser geteilt und gekostet: So unbeschreiblich würzige Süße glaubte er noch nie geschmeckt zu haben wie diese der am Boden gereiften Ananas; und kein Mensch schien die Früchte zu beachten; sie wuchsen am heißen Bahndamm zu Hunderten und Tausenden wie Unkraut – und vielleicht waren sie sogar Unkraut in diesem üppig schweren Lande, in dem ahnungslosen Leuten wie ihm giftige Untiere in die Waschschüssel fielen, weiß der Himmel, woher!

Die Bahn, ja, die ihn nach Léopoldville gebracht hatte – er hatte während der heißen Fahrt durch den Urwald nicht vergessen, dass die Strecke dazu bestimmt war, die Schnellen zu umgehen (er hatte sie donnern hören), die den Unterlauf des Kongo von seiner Mündung trennen. Der Kongo, den er befahren sollte, dem noch in seiner bergumwallten Mündung unterhalb Matadi die Flut der hohen See nichts anzuhaben vermag – er fließt immer landaus, lässt sich von keiner Flut umkehren, der ungeheure Strom, der Kongo! Es gibt keinen zweiten Strom unter der Sonne, der sich so wie er mächtiger zeigt als das Weltmeer – der Kongo, ja, alle Gespräche, die MacReanna geführt hatte, seit er in Matadi an Land gegangen war, hatte der dunkle Name des Stroms durchwaltet wie eine zwar eintönige, aber ungeheuer mächtige Grundmelodie.

Andrew von den Inseln regte sich wieder und rieb sich den Rücken vollends trocken. »Kongo …!«, murmelte er vor sich hin und fuhr nochmals fort: »Kongokongo – es klingt wie der Hall von einer Zaubertrommel. Auf was für verrückte Ideen man hier kommt! Dabei bin ich noch gar nicht richtig da!«

Doch, er war da! Von dieser stillen Minute ab war er am Kongo; fortab war ein dichter Vorhang niedergelassen, der ihm verbarg, was hinter ihm zurückblieb.

In dem Manne Andrew war ein Wandel vorgegangen. Er selbst wurde sich dieser Veränderung kaum bewusst. Aber der Barmann erspürte den Umschwung gleich, als MacReanna vor dem messingblinkenden Schanktisch erschien, sich vor dem Abendessen einen Whisky zuzubilligen. Denn der Schotte scheute sich mit einem Male nicht mehr, ein Gespräch zu beginnen, gab auch bereitwillig Auskunft, als Pieter Heyst von ihm wissen wollte, was ihn »hinter die Kristallberge« geführt hatte.

»Wieso ›hinter die Kristallberge‹?«, wollte Andrew wissen, als er die Neugier des Barmannes gestillt hatte.

»›Hinter den Kristallbergen‹ – das sind wir hier im Innern. Sie wissen ja, MacReanna, dass der Kongo die Kette der Kristallberge durchbrechen muss, bevor er kurz vor Matadi etwa Meereshöhe erreicht und für Seeschiffe befahrbar wird. Was draußen ist, die ganze übrige Welt, das ist ›vor den Kristallbergen‹. Unsere Welt liegt ›hinter den Kristallbergen‹. Sie gehören nun dazu, MacReanna!«

»Ja, ich gehöre dazu!«, antwortete Mac. Eine Sekunde lang wurde ihm die Kehle trocken. Wie ein Hauch auf einem Spiegel glitt es über sein Gemüt: Warum gehöre ich schon dazu? Er wusste es nicht; er brauchte es nicht zu wissen … Auch der Barmann fand offenbar nichts Verwunderliches an MacReannas wie selbstverständlich getroffener Feststellung und fuhr fort: »Kennen Sie Corlay schon, bei dem Sie den Fluss lernen sollen?«

»Nein! Ich warte hier auf ihn. Er soll in diesen Tagen mit der ›Albertine‹ eintreffen.«

»Er müsste sogar schon hier sein nach meiner Rechnung. Corlay verspätet sich eigentlich nie. Ein sonderbarer Bursche, dieser Corlay! Aber was den Strom anbelangt – den kennt keiner besser als er. Fast alle jüngeren Kapitäne haben bei ihm gelernt.«

»Er soll ein ziemlich grober Patron sein, hat man mir auf der Gesellschaft angedeutet.«

»Grob? Na ja, so kann man es auch bezeichnen!«, entgegnete Heyst, der Barmann, gedehnt. Um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln, das dem Schotten von den Inseln auf der Stelle das Gesicht des Reederei-Inspektors vom Vormittag ins Gedächtnis zurückrief; damals hatte Andrew noch in seiner Vergangenheit gelebt und nicht in der Zukunft wie jetzt.

Eine Weile sog MacReanna wortlos an seinem Whisky; Heyst nippte scheinbar abwesend an seinem Glase Eiswasser, in das er sich ein paar Tropfen Angostura-Bitter gespritzt hatte. Dann fuhr er wie aus dem Hinterhalt fort: »Hat man Ihnen erzählt, MacReanna, dass Corlay verheiratet ist?«

»Nein!« Der Schotte begriff den Ton keineswegs, in dem die Frage gestellt war; er fuhr fort: »Warum auch? Viele Kapitäne sind verheiratet. Wo lebt Corlays Frau? In Belgien? Oder in England? Ist Corlay eigentlich Engländer oder Belgier?«

»Viele Fragen auf einmal! Corlay ist Belgier. Sein Vater war ein Wallone aus Bouillon, wenn ich nicht irre, einer der ersten Weißen hier hinter den Bergen, als Stanley dies finsterste Afrika erst entdeckt hatte. Ein Satan muss er gewesen sein; die Schwarzen am Mittelkongo sollen sich immer noch Schauermärchen von ihm erzählen. Wissen Sie, Kongogräuel et cetera. Davon redet natürlich heute kein Mensch mehr. Wir leben längst in einer zivilisierten Musterkolonie – hier am Kongo. Oder zweifeln Sie etwa daran, MacReanna?«

»Keinen Augenblick!«

»Wollte ich Ihnen auch nicht geraten haben, Mac. Corlay ist sehr empfindlich in dieser Hinsicht. Seine Mutter war nämlich eine Schottin, die mit irgendeiner Untersuchungskommission hierherkam; im Namen der Menschlichkeit und so weiter. Man weiß nie, wo die Liebe hinfällt. John Corlay, Ihr zukünftiger Lehrmeister, war die Frucht dieser Liebe, wie man so schön sagt. Allerdings muss er schon damals ziemlich giftig gewesen sein, denn seine Mutter ist an ihm gestorben, als er geboren wurde. Der gute Corlay verkörpert also gleich beides in seiner unheiligen Person: die Gräuel und die Vergeltung der Gräuel; und ich glaube, er weiß nie genau, ob er nach rechts oder nach links gehört.«

»Vorläufig sprechen Sie in Rätseln, mein Lieber, für mich wenigstens. Aber ich werde mit der Zeit noch dahinterkommen. Ich fragte nach Corlays Frau? Wo hält er sie versteckt? In Belgien oder in England oder gar in Schottland?«

»Weder … noch, mein guter MacReanna. Aber mit ›versteckt‹ haben Sie ahnungslos das passende Wort gewählt. Er hält sie nämlich auf seinem Schiff versteckt, auf der ›Albertine‹. Sie scheinen nicht zu wissen, dass es den Kapitänen auf dem Kongo erlaubt ist, ihre weißen Frauen – wenn sie solche haben und sie ihnen nachweislich angetraut sind –, also, was ich sagen wollte: ihre Frauen mit auf die Schiffe zu nehmen, ihnen eine schöne Kabine einzurichten und mit ihnen immer stromauf und stromab zu gondeln, immer stromauf – und stromab. Und wenn Sie in einem Jahr oder so, mein verehrter Mac, Kapitän geworden sind, so können Sie für Ihre Frau – wenn Sie bis dahin eine geehelicht haben, eine weiße, wohlgemerkt; oder haben Sie vielleicht sogar in England schon eine sitzen? –, ja, was ich vorschlagen wollte, so können Sie für die verehrte Frau Gemahlin einen Deckstuhl auf der Kommandobrücke aufstellen lassen und probieren, wer auf dem Schiff mehr zu sagen hat, Sie oder Madame.«

MacReanna war so verdutzt, dass er sich erst nach einer Weile entschließen konnte zu murmeln: »Ich kenne Sie noch nicht genug, Heyst. Ich muss mich erst langsam an die Bären gewöhnen, die Sie mit todernstem Gesicht Ihren Gästen aufbinden.«

Die Reihe, erstaunt zu sein, war an dem Barmann. Heyst wiederholte: »Ich verstehe Sie nicht. Es ist tatsächlich der Fall, dass die Frauen der verheirateten Kapitäne in fast allen Fällen mit auf den Schiffen hausen und ihren Männern die Socken stopfen. Allerdings verstecken die meisten Kapitäne ihre Frauen nicht so ängstlich wie Corlay. Vielleicht hat er seine Gründe. Lange ist er ja noch nicht verheiratet. Ich habe Frau Corlay nur zweimal gesehen. Er wohnt immer mit ihr im ›Grand Hotel‹. Mir wurde es ein klein wenig bange, als ich die beiden beobachtete.«

»Bange? Warum bange?«

Heyst wusste keine richtige Antwort zu geben. Er wand sich unsicher hin und her: »Ach, wissen Sie, MacReanna, er ist mindestens fünfzehn Jahre älter – und sie hat Augen, merkwürdige Augen, und kann einen so lange damit anstarren, dass einem ganz anders wird. Na, Sie werden es ja selber merken, wenn Sie sie zu sehen kriegen.«

»Wird kaum zu vermeiden sein!«, sagte MacReanna, zahlte, grüßte und ging.

Abseits vor der Hoteltür hockte Saka, der stellungsuchende Neger, auf einem leeren Blechkanister.

MacReanna spürte noch die Unruhe in allen Fasern, die der Barmann Heyst in ihm aufgerührt hatte; doch konnte er nicht umhin, eine Sekunde lang das Geschick des Schwarzen zu bewundern, sich zwar in geziemendem Abstand, aber doch in erreichbarer Nähe zu halten. MacReanna wusste nicht, dass er damit eine der angenehmsten Eigenschaften der schwarzen Rasse entdeckt hatte: ihren Sinn für Takt.

Die Einsicht huschte schnell vorüber. Als Saka sich erhob und eifrig herzutrat, winkte MacReanna ab; er wollte allein sein: »Jetzt nicht, Saka!«

Der Schwarze hielt sofort inne und blieb zurück, ohne ein Wort zu sagen.

Es zog den Schotten von den Inseln zum Wasser hinunter. Er gab damit nur einem uralten Instinkt nach, dessen Wurzeln tief in die Abgründe zu längst verschollenen Vorfahren hinabreichten: Wenn irgendetwas sich nicht ordnen wollte, wenn Gefahr drohte, floh man zum Strand hinunter, wo die Boote lagen, wo sich nichts Fremdes oder Ungewisses verstecken konnte.

Am Wasser wehte es kühl; MacReanna fröstelte; er hob die Schultern und knöpfte sich die weiße Leinenjacke zu. Der Wind stand sanft von Westen herüber, von den Kristallbergen, der gläsernen, dämmerblauen Schranke vor der hohen See; von den Bergen her weht jeden Abend die Kühle nach Léopoldville.

Die Sonne war soeben im Westen zerschmolzen. Hinauf in den östlichen Himmel schwebte veilchenfarben die Nacht. Die Wasserfläche des mächtigen Stanley-Pools aber, zu dem sich der Kongo aufstaut, bevor er sich durch die kristallenen Wälle brüllend und schäumend eine Gasse zum Meere bricht – ja, der Spiegel des großen Gewässers gehörte noch für ein paar Minuten dem schnell vergehenden Tage.

Der Wind legte sich mit einem letzten kühlen Seufzer. Die Kräuselung des Wassers erstarb zu einem ölig unbestimmten Wallen, als sei eine nicht zu stillende Unruhe im Wasser verborgen und würfe von innen her blanke Buckel auf. In diesen unaufhörlich wandernden und wechselnden, flach dahingleitenden Hügeln spielten purpurne, ziegelrote und königsblaue Lichter, schlangenhaft weich, schwerelos bunt wie Schmetterlinge, als wollte der Tag, bevor er starb, zu guter Letzt all seine Farbenschalen verschütten.

Andrew MacReanna hatte nie daran gedacht, den Anspruch zu erheben, als Fachmann für Sonnenuntergänge oder ähnliche lyrische Ereignisse zu gelten. Aber fast zwanzig Jahre auf See hatten ihn gründlich gelehrt, die tausendfachen Abenteuer der Atmosphäre und des Lichts zu beobachten. Mit stockendem Atem nahm er den Aufruhr der Regenbögen wahr.

Niemals – so wusste er – hatte er dergleichen auf den Meeren erlebt. Nein, dies war der Glanz der dünstenden Erde; sie breitete sich auf Hunderte und Tausende von Meilen im Umkreis! Das Lebendige, das Atmende, Gebärende, Strotzende, Sterbende drängte von allen Seiten heran. Dies war nicht mehr die sehnsüchtige Leere der hohen See …!

In dieser prall pressenden, sich überquellend ewig neu erzeugenden Welt – ohne Frauen sein, oder – ohne Frau?

War das überhaupt möglich?

MacReanna dachte den Gedanken nicht zu Ende. Es war eher eine Welle in seinem Blut als ein Gedanke. Er holte ein paarmal tiefer Atem als sonst, ohne es zu wissen.

Der Farbentanz auf dem Kongosee erlosch zu einem Geriesel von Taubenblau und stählernem Grau. Aus dem höchsten Himmel schon taute die Tropennacht. Fremde Sterne blühten am samtenen Gewölbe. Zwei Flamingos, die sich verspätet hatten, zogen auf trägen Flügeln dem verglimmenden Tage nach; irgendwo in den Papyrusdickichten der ferneren Ufer wartete auf sie ihr Nachtquartier.

Tief unterhalb des starrenden Mannes von den Inseln flappte ab und zu eine Welle faul an die schleimige Kaimauer.

Von jenseits des Sees blinkten durch den Dunst die Lichter von Brazzaville herüber, der Hauptstadt von Französisch-Äquatorial-Afrika.

MacReannas Augen blickten schärfer: Vor den Lichtern der fernen Stadt am Nordufer des Stanley-Pools bewegten sich andere, deutlicher werdende Funken. War es die Fähre, die von drüben zurückkehrte? Oder war es ein Dampfer, der noch mit letztem Licht den großen See kongoabwärts erreicht hatte und nun seinem Endhafen Léopoldville zustrebte? Vielleicht die »Albertine«?

MacReanna wandte sich ab und wanderte wieder seinem Hotel zu. Er verspürte Hunger auf ein ausführliches Abendbrot, denn das Mittagessen hatte er verschlafen.

Zudem versprach er sich nicht das Geringste davon, etwa in dieser Nacht noch der »Albertine« und ihrem Kapitän zu begegnen.

Lieber wollte er sich noch einmal nach jenem Saka erkundigen. Denn wenn es die »Albertine« war, die er hatte herandampfen sehen, dann blieb ihm vielleicht nicht mehr viel Zeit, einen brauchbaren Diener ausfindig zu machen.

3. Kapitel

Am nächsten Vormittag saß Andrew in der Halle seines Hotels und überlegte, ob es angemessen wäre, nach der »Albertine« und ihrem Kapitän zu fragen. Am besten war, er verfügte sich auf das Reedereikontor und erkundigte sich dort.

Während er noch zögerte, hielt vor dem Hotel ein Auto.

Das musste Corlay sein! Die Goldstreifen am Ärmel verrieten ihn. Der Kapitän wandte sich schnellen Schrittes von der Eingangstür her zum Schalter des Hotels, stellte eine Frage und blickte sich dann nach dem Schotten um, der sich aus seinem Sessel erhoben hatte. MacReanna spürte den Blick aus den grauen Augen wie einen leichten elektrischen Schlag. Er raffte sich zusammen und ging dem nur wenig über Mittelgröße messenden Offizier entgegen.

Einen Herzschlag lang schätzten sich die beiden Männer ab. Corlay mochte etwa zehn Jahre älter sein als MacReanna. Sein ursprünglich wohl sehr dunkelbraunes, fast schwarzes Haar färbte sich bereits zu Pfeffer und Salz, war aber, wenn auch schon grau, so doch noch dicht und legte sich in leichten Wellen um den schmalen Kopf. Die Haut verriet nichts von der kränklichen Fahlheit mancher Europäergesichter in den Tropen, sondern zeigte ein bronzenes Braun. Um die Stirn des Mannes zog sich ein hellerer Strich: Dort saß der Tropenhelm auf.

Zwei Augenpaare bohrten sich für Sekunden ineinander: Keiner gab nach und schwenkte ab. Aber MacReanna wusste, was sich gehört. Auch war er der Jüngere und bis auf Weiteres zum Untergebenen bestimmt. Er sagte – und musste sich zu seinem Ärger Mühe geben, seiner Stimme einen gleichmütigen Klang zu verleihen: »Kapitän Corlay? Sie suchen wahrscheinlich mich. Mein Name ist Andrew MacReanna.«

»Ja, ich suche Sie. Ich habe unterwegs Maschinenhavarie gehabt und mich um zwei Tage verspätet. Wir haben nicht viel Ladung stromauf. Wir legen morgen früh noch vor dem Morgengrauen wieder ab. Packen Sie Ihr Zeug und kommen Sie an Bord. Sie haben sich hoffentlich schon einen Boy gesucht? Ich kann von meinen Leuten an Bord niemand entbehren.«

»Jawohl, ich habe bereits einen Boy gefunden.«

»Gut! Hoffentlich taugt er etwas! Wenn ich nicht an Bord sein sollte, wenn Sie ankommen, machen Sie sich mit dem Schiff vertraut. Der Bootsmann ist ein Mischling; er wird Ihre Fragen beantworten. Der Ingenieur ist Inder. Weiße sind sonst nicht an Bord – außer gelegentlichen Passagieren. Übrigens, was ich noch fragen wollte: Sprechen Sie nur Englisch? Wie steht es mit Ihrem Französisch, Herr … wie war der Name?«

»Andrew MacReanna, Herr Kapitän! Im Französischen bin ich nicht besonders firm. Auf dem Kontor sagte man mir …«

»Ich weiß. Baestaelaer ist sehr besorgt. Bei mir an Bord wird nur Französisch gesprochen. Auch ich werde in Zukunft nur Französisch mit Ihnen reden.«

»Jawohl, Herr Kapitän!«

»Gut! Danke! Von morgen früh ab stehen wir also gemeinsam auf der Brücke. Richten Sie sich darauf ein! Guten Tag!«

Corlay drehte sich auf dem Absatz um, stülpte sich den Tropenhelm auf, den er in der Hand gehalten hatte, und war schon durch die Tür ins grelle Sonnenlicht entschwunden, bevor er den Helm noch ganz zurechtgerückt hatte. MacReanna hatte nicht einmal Zeit gefunden, den magerhöflichen Abschiedsgruß zu erwidern. Auch nicht den Schatten eines Lächelns hatte sich Corlay gestattet, während er seinem zukünftigen Kongolehrling diese erste Salve von Anordnungen um die Ohren knallte – anders kann man es nicht nennen, stellte MacReanna fest; ein kurz angebundener Herr, dieser Corlay, weiß Gott! Ein einziges nettes Wort hätte er mir gönnen können; es wäre ihm kein Stein aus der Krone gefallen deswegen! Der Fluss scheint noch verrücktere Kapitäne auszubrüten, als die hohe See es fertigbringt.

Andrew rief sich zur Ordnung; er durfte sich nicht gleich zu Anfang verwirren oder etwa reizen lassen. Es kam jetzt darauf an, mit entwaffnender Promptheit auszuführen, was ihm befohlen wurde. Zwanzig Jahre auf See hatten ihn darüber belehrt, dass es kein besseres Mittel gibt, mit schwierigen Kapitänen fertigzuwerden; denn gegen einen Kapitän gibt es unterwegs keine und danach kaum eine Revisionsinstanz.

Als MacReanna die Treppe hinaufgehen wollte, sah er den Barmann Heyst am Pfosten stehen; Heyst war offenbar auf dem Wege, seine Theke zu öffnen, und hatte den kurzen Auftritt Corlays mit angesehen.

»Guten Morgen, Heyst!«, sagte MacReanna.

»Guten Morgen, MacReanna!«, sagte Heyst und lächelte ebenso merkwürdig, wie er am Tag zuvor gelächelt hatte. Der Schotte merkte, dass ihm ein plötzlicher Zorn die Ohren heiß machte. Aber er hielt an sich und sprang mit ein paar Sätzen die Treppe hinauf. Ach, auf alle Fälle war das tatenlose Umherhocken in Hotels endlich vorbei; er hatte eine funkelnagelneue und sicherlich nicht einfache Aufgabe vor sich und würde sich hundertfach bewähren müssen. Das war die Hauptsache! Seit er diesen Corlay erlebt hatte, kam ihm der Kongo gar nicht mehr einfach vor, gar nicht mehr einfach! Aber dieser Bästler oder Bestie, oder wie der verdammte Inspektor auch immer heißen mochte, und dieser Windhund von Barmann – sie sollten keinen Grund mehr haben, ihr Gegrinse weiter spielen zu lassen.

MacReanna zögerte nicht, seine Habseligkeiten zusammenzuwerfen. Nach einer Weile erst fiel ihm ein: Das sollte eigentlich Saka besorgen. Hoffentlich war der überhaupt noch da! MacReanna hatte sich nicht nach ihm umgesehen. Die Antwort, die er Corlay gegeben hatte, war nur Bluff gewesen; er hatte den Vorwurf abwenden wollen, nicht auf der Stelle bereit zu sein, seinen Dienst und die nächste Reise anzutreten. Wo steckte der Bursche?

MacReanna trat ans Fenster und hielt Umschau, so weit es die Drahtgaze gestattete. Saka war nicht zu entdecken. Aber Andrew hörte zwei Neger halblaut schwatzen, abseits irgendwo im Schatten. Er glaubte, in einer der beiden Stimmen den Tonfall zu erkennen, der ihm an diesem Saka aufgefallen war.

Der Schotte stieß einen dreistufigen Pfiff aus, der ihm in seiner Knabenzeit auf den Inseln als Erkennungszeichen gedient hatte. Dann rief er halblaut ins Freie: »Saka …!«

Eine Stimme erwiderte englisch: »Komme, Herr!«

Wenige Augenblicke später stand der Schwarze im Zimmer; er trug immer noch sein giftgrünes Hemd zu den bräunlich-gelben albernen Höschen. MacReanna sagte: »In diesem Aufzug kannst du auftreten, wenn du Urlaub hast und auf deine Braut Eindruck machen willst, Saka.«

Der Schwarze grinste verschämt, wobei zwei Schneidezähne zum Vorschein kamen, die spitz zugefeilt waren.

»Hier hast du zehn Franken, Saka! Kaufe dir weiße Leibchen und Hosen, die genügend weit für dich sind und bis hierher reichen.« MacReanna bezeichnete den unteren Ansatz des Oberschenkelmuskels.

Der Schwarze strahlte, dass ihm fast die Augen aus dem Kopf kugelten: »Ja, Herr!«

»Jetzt hilf mir beim Packen. In einer halben Stunde bringst du das Zeug auf die ›Albertine‹. Dann hast du eine Stunde frei, um dich neu einzukleiden. Morgen früh geht die Reise los!«

»Jawohl, Herr!«

»Vergiss nichts! Schaue in jeden Schubkasten. Ich muss jetzt noch einmal aufs Reederkontor.«

»Jawohl, Herr!«, schrie Saka und hob die schwere blecherne Seekiste MacReannas auf den Tisch, als wäre sie aus Pappe.



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