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Benjamin stottert und hat große Lernschwierigkeiten, deshalb wird er in die Sonderschule für Lernbehinderte eingeschult. Dort findet die Klassenlehrerin heraus, daß er Legastheniker ist. Seine Eltern, besonders die Mutter, versuchen das Beste für den Jungen zu erreichen. Benjamin lernt Anke kennen, mit der er auf den Hauptschulabschluß lernt. Aber bis es zwischen den Beiden zu einer Beziehung kommt, gilt es einige Schwierigkeiten zu überwinden. Da dieser Roman teilweise auf wirklichen Erlebnissen des Autors beruht, neben der Schilderung aufgetretener Schwierigkeiten auch deren Lösungen aufzeigt, ist er sowohl für Kinder, Jugendliche, Erwachsene als auch für Lehrer interessant. Dieses Buch ist der erste Roman auf dem deutschen Büchermarkt, der die Lernbehinderten- problematik als Hauptthema hat.
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Seitenzahl: 107
Veröffentlichungsjahr: 2018
Wilfried Kriese
Impressum
Mauer Verlag
Wilfried Kriese
Buchgestaltung Mauer Verlag
Titelbild: Wilfried Kriese
Edition Wilfried Kriese 2018
Erstveröffentlichung 1994
Alle Rechte vorbehalten
www.mauerverlag.de
www.wilfried-Kriese.de
Zum Titelbild
Wir müssen gemeinsam
Bretterzäune überwinden!
Dieser Roman ist all denen gewidmet,
die auf eine Sonderschule gehen und
mit dieser Last
ihr Leben bewältigen müssen
Obwohl Benjamin vor Aufregung die halbe Nacht nicht schlafen kann, fällt ihm zu der ungewohnten Uhrzeit das Aufstehen nicht schwer, denn er hat lange genug auf diesen Tag gewartet.
Eins, zwei, drei, ist er aus dem Bett, zieht sich an, geht ins Bad, wäscht sich das Gesicht und die Hände.
In der Wohnung ist es still. Nur aus der Küche ist etwas zu hören: dort deckt seine Mutter den Frühstückstisch. Als er zu ihr tritt, sieht sie ihn lächelnd an.
„Guten Morgen Benny“, begrüßt sie ihn. Sie hat den Frühstückstisch mit dem guten Kaffeegeschirr gedeckt. Die Augen des Jungen blicken auf frisches Toastbrot, Marmelade und Nutella.
Benjamin setzt sich zu seinen Eltern. Selbst der Vater ist heute von der Arbeit weggeblieben. Er gießt ihm richtigen Kaffee ein und nicht wie sonst Kinderkaffee.
„Na Junge, aufgeregt?“, will er wissen.
„Eeetwas“, stottert Benjamin, dann greift er nach der Tasse Kaffee und nimmt einen Schluck. Er ist so heiß, daß er sich fast die Lippen verbrennt. Aber er schmeckt stärker, schmackhafter und riecht besser als der Kinderkaffee.
Benjamin ist für sein Alter klein und schwächlich gebaut. Am liebsten wäre er größer und stärker, dann hätte er sich im Kindergarten besser durchsetzen können; er wird nämlich von den anderen Kindern immer nur geärgert. Meistens schreien sie im Chor: „Bebebenjamin, Bebebenjamin“, oder sie machen sich anders über seinen Sprachfehler lustig. Dabei gibt er sich doch immer redliche Mühe, nicht zu stottern.
Aber jetzt wird sich bestimmt alles ändern, heute an seinem ersten Schultag!
Nach dem Frühstück ziehen sich alle drei die Jacken über und gehen aus der Wohnung.
Benjamin lebt in einer Wohnsiedlung, in der ein Wohnblock neben dem anderen steht. Hier wohnen hauptsächlich Familien mit niedrigen Einkommen, Arbeiter und Ausländer. Einige müssen sogar von der Sozialhilfe leben.
Sie steigen in ihr Auto, das auf einem großen Parkplatz bei der Wohnsiedlung steht. Sie fahren in Richtung Schule. Eigentlich hätten die drei auch zu Fuß laufen können, weil das Schulgelände nur drei Minuten entfernt ist, aber der Vater hat die Angewohnheit, bei jeder Gelegenheit das Auto zu benützen. Er lenkt seinen Ford Capri durch den verstopften Stadtverkehr.
Ein Autofahrer übersieht ein Stoppschild und fährt fast in eine Autofahrerin hinein. Ein kurzes Hupen und Quietschen der Reifen macht auf die Situation aufmerksam. Der Autofahrer flucht und zeigt der Autofahrerin den Vogel. Sie schüttelt nur mit dem Kopf und fährt weiter.
Eine Ampel schaltet auf Rot. „Scheiß Ampel. Jetzt springt die natürlich auf rot, wenn wir kommen“, schimpft der Vater.
„Wären wir gleich zu Fuß gegangen, dann wären wir bestimmt schon bei der Schule. Aber nein, du mußtest ja unbedingt das Auto benützen“, meint die Mutter.
„Ja, ja ich weiß, jetzt bin ich natürlich wieder an allem schuld.“
Die Ampel springt auf gelb, dann auf grün. Zehn Minuten später parkt der Vater das Auto endlich auf dem einzigen freien Parkplatz des Schulgeländes.
Hier gibt es eine Haupt-Realschule, ein Gymnasium, und zehn Meter weiter die Sonderschule für Lernbehinderte.
Benjamin schaut die Schule genauer an. Das wird nun also seine Schule sein. Das Sonderschulgebäude ist wesentlich kleiner als die anderen Schulen. Je näher sie kommen, um so nervöser wird Benjamin. Als sie das Gebäude betreten, läuft er unsicher hinter seinen Eltern her. Die Schüler sind alle schon im Unterricht, deswegen ist es sehr still im Gebäude. Bei Benjamins zukünftigem Klassenzimmer klopft sein Vater an die Türe.
„Herein“, antwortet eine sanfte Frauenstimme.
Der Vater öffnet die Türe. Die Lehrerin, Frau Margarita Bader, kommt auf die drei zu.
„Ach ja, ich habe Sie schon erwartet“, sagt sie und reicht zum Gruß die Hand. „Grüß Gott, Frau Klett, Grüß Gott, Herr Klett“. Sie schaut nun den Jungen an. „Und du bist bestimmt der Benjamin?“
Benjamin antwortet unsicher „Ja, bbbin iiich!“ „Gut. Ich werde nämlich in den nächsten vier Jahren deine Klassenlehrerin sein und hoffe, daß wir gut miteinander auskommen werden. Jetzt komm aber erst mal in die Klasse.“ Zögernd läuft Benjamin hinein und schaut nach seinen Eltern, die an der Tür stehen bleiben.
Frau Klett sagt lächelnd. „Bis nachher.“ Dann geht die Türe zu. Er blickt sich um. Die Schüler mustern ihn mit neugierigen Blicken.
„Setz dich dort neben Karl-Heinz und schreibe deinen Namen auf ein Schild.“ Benjamin setzt sich. Karl-Heinz ist ebenfalls in der ersten Klasse. Seine Eltern sind seit vier Jahren geschieden, und bisher hat man den Jungen immer zwischen den Eltern hin- und hergeschoben. Weil sein Vater zur Zeit arbeitslos ist, wohnt er mit seinen drei Geschwistern gerade bei seiner Mutter, die den ganzen Tag über in der Fabrik arbeitet.
Nach einer Minute Schweigen flüstert Benjamin: „Frau BBBader“, die Kinder lachen. „Iiich kkka nnnicht schreiben“.
„Das macht nichts, deswegen bist du ja schließlich da, um das und noch mehr zu lernen.“ Frau Bader läuft zu ihm, nimmt den Zettel und meint verständnisvoll: „Dann schreib ich deinen Namen auf einen Zettel.“
„Ich bin die Lydia und bin zehn Jahre alt und gehe in die 3. Klasse“, sagt ein Mädchen zu ihm, das Sommersprossen im Gesicht und lange rote Haare hat und gleich hinter ihm sitzt.
„Iiiich bbbin dder BBBenjamin uuund bbbin sieben Jahre aaalt.“
„Ich konnte schon schreiben, als ich in diese Schule kam“, meint das Mädchen stolz.
Benjamin erwidert nichts, dreht sich wieder nach vorne und schaut zur Tafel.
Nachdem Lydia zum zweiten Mal die zweite Klasse nachgeholt hatte, war sie im neuen Schuljahr in die Lernbehinderten-Schule eingewiesen worden. Der Abschied von ihrer alten Klasse war ihr nicht schwergefallen, weil sie von ihren damaligen Mitschülern oft ausgelacht worden war.
Als ihr Vater erfahren hatte, auf welche Art von Schule sie kommen sollte, hatte er sie mit dem Gürtel geschlagen und geschrien: „Du dummes, faules Luder, jetzt kommst du dort hin, wo die Deppen sind!“
Weil in den ersten 4 Klassen so wenige Schüler sind, lohnt es sich nicht, aus ihnen einzelne Klassen zu bilden. Deshalb werden sie gemeinsam in einem Raum unterrichtet. Trotz des unterschiedlichen Lehrstoffs ist es Frau Bader bei der kleinen Anzahl von Schülern möglich, jedem zu erklären, was zu machen ist. Benjamin schaut gerade auf ein Papier mit Zahlen, als der Gong zur Pause ertönt: „Ging Gong gong.“ Die erste Schulstunde ist zu Ende.
Bevor die Eltern einverstanden waren, daß Benjamin sowohl wegen seines Sprachfehlers als auch wegen seines schlechten Aufnahmevermögens in die Lernbehinderten-Schule eingeschult werden sollte, hatten sie darüber mit Bekannten, Freunden und Verwandten gesprochen.
Der Bruder von Herrn Klett riet damals: „Wißt ihr, dumm ist der Benjamin gar nicht. Es ist aber trotzdem ganz vernünftig, ihn in die Sonderschule zu tun.“
Dagegen hatte die Schwester der Mutter gemeint: „Ich weiß nicht so recht, ob ihr damit Benjamin einen Gefallen tut. Denn schließlich muß er sein ganzes Leben zu seiner Schulzeit stehen und das mit einem Sonderschulzeugnis.“
Eine ältere Nachbarin hatte sich so geäußert: „Was, Sie wollen ihren Jungen in diese Schule stecken? Dort gibt es doch bloß Gesindel und Kinder, die im Kopf nicht ganz richtig sind und Ausländerpack.“
Eines Abends, als Benjamin schon im Bett lag, hatten sich die Eltern im Wohnzimmer mit diesem Problem befaßt: Der Fernseher lief erst, ging aber plötzlich aus. „Was ist jetzt?“ fragte der Vater verärgert. „Gib sofort die Fernsteuerung her.“
„Nein, denn ich will endlich mal mit dir in Ruhe reden, ohne daß du vor der Glotze sitzt oder hinter der Zeitung.“
„Also gut, aber erst nach dem Spiel.“
Frau Klett rutschte nervös auf einem braunen Sessel herum und antwortete: „Nichts da Adolf, denn ich kenne dich doch, nach dem Spiel gehst du sicher gleich wieder ins Bett, weil du Morgen früh raus mußt.“ Der Vater, der bisher auf einem braunen Sofa lag, richtete sich auf und schenkte sich ein Glas Bier ein. „Nicht einmal in Ruhe Fernsehn kann man. Also dann, red von mir aus, was gibt es?“ Die Stimme seiner Frau wurde ruhiger. „Ich weiß einfach nicht, ob wir den Jungen in die Sonderschule schicken sollen, und es wird jetzt Zeit, eine Entscheidung zu treffen.“
„Hm“, meinte Herr Klett, und fügte hinzu: „Ich habe mir ja auch in der letzten Zeit darüber Gedanken gemacht, aber mir fällt es einfach schwer, ihn in eine Sonderschule zu stecken zu all diesen Schwachköpfen.“
Seine Frau schaute ihm ins Gesicht: „Ich weiß auch nicht so recht, aber schließlich müssen wir uns entscheiden, denn er ist jetzt 7 Jahre und kommt eh schon ein Jahr zu spät in die Schule.“
Nachdenklich schaute er in das Bierglas, das er in der Hand hielt. „Na ja, er hat doch vor ein paar Wochen so einen Test gemacht, bei dem man sehen kann, was er kann und so.“
„Du meinst den Eignungstest in der Kindertherapie?“
„Genau Magarita, und ich finde, wir sollten uns mal mit diesem Professor Hammer zusammensetzen und seine Meinung dazu hören.“
Sie bestätigte: „Ja, daran dachte ich auch schon. Es wird das Beste sein, wenn ich uns morgen früh gleich einen Termin besorgen werde.“
Zwei Wochen später saß Benjamin zwischen seinen Eltern im Sprechzimmer von Herrn Professor Doktor Hammer vor einem stabilen Schreibtisch, der, wie die restliche Sprechzimmereinrichtung, aus Buchenholz war.
Benjamin schaute den Professor an, der sehr stattlich und gepflegt wirkte. Dann richtete sich sein Blick auf mehrere bunte Bilder, die an der Wand hingen. Es waren Bilder von Kindern. Er staunte über die Größe des Zimmers, denn es war bestimmt zwei Mal größer als ihr Wohnzimmer zuhause. Und das war schon groß.
Bei einem Gespräch, mit einem Bekannten hatte einmal Benjamins Vater gemeint: ihre Wohnung habe 65 Quadratmeter und davon habe allein das Wohnzimmer 24 Quadratmeter. Damals hatte sich Benjamin gefragt, was wohl Quadratmeter seien. Allerdings hatte er das nicht so wichtig gefunden, um nachzufragen.
Eine jüngere Sekretärin betrat das Behandlungszimmer und sagte: „Herr Professor Hammer, hier ist die Akte.“ Sie legte eine Mappe auf die Tischplatte und ging wieder aus dem Zimmer.
Professor Hammer schaute eine Minute in die Akte, dann schwieg er kurz, dann sprach er: „Das Testergebnis zeigt, daß ihr Junge zwei Jahre mit seiner geistigen Entwicklung zurückliegt. Aus den Unterlagen geht ebenfalls hervor, daß er sich nur schwer konzentrieren kann. So kommt es, daß er einfache Aufgaben nur nach längerer Zeit löst und dann oft noch falsch.“ Der Professor schaute den Vater und die Mutter abwechselnd an.
Der Vater antwortete: „Also, das heißt, unser Benjamin ist für sein Alter zurückgeblieben.“
„Ja genau. Aber ich muß noch dazu sagen, daß er nicht dumm oder gar geistig behindert ist, sondern nur eben langsamer im Lernen, oder anders ausgedrückt, er ist lernschwach.“
Benjamin hörte dem Gespräch zu, nur wußte er nicht so recht, was er damit anfangen sollte, deshalb langweilte er sich. Er schaute auf den Boden, auf dem ein viel schönerer Teppich lag als in ihrem Wohnzimmer zuhause. „Also Herr Doktor“, die Mutter kam ins Stocken. „Entschuldigen Sie, Herr Professor, meine ich natürlich.“
„Macht nichts“, antwortete er.
Sie sprach weiter. „Was ist jetzt besser, daß Benjamin in eine Sonderschule kommt oder auf eine normale Grundschule?“
Benjamin konnte auch mit dem Begriff Sonderschule nichts anfangen.
Professor Hammer antwortete: „Es ist ratsam, Benjamin gleich in eine Lernbehinderten-Schule einzuschulen, damit er nicht zuerst in einer Regelschule gepeinigt wird und dann doch zwei- oder dreimal sitzenbleibt.“
„Das ist einleuchtend. Aber vielleicht kommen die Schwächen meines Jungen nur von seinem Sprachfehler“, meinte der Vater.
„Ja genau, ist es nicht besser, Benjamin in eine Sprachheilschule zu tun?“ fragte die Mutter.
Benjamin konnte auch mit dem Namen Sprachheilschule nichts anfangen.
Der Professor schaute noch einmal kurz in die Akte. „Nein, denn sein Stottern ist lediglich ein Entwicklungsfehler, denn wie ich schon sagte, liegt er 2 Jahre hinter einem normalen gleichaltrigen Kind zurück. Es kommt auch bei jüngeren Kindern oft vor, daß sie stottern. Allerdings stottert Benjamin stärker, als es normal ist. Aber es wird schon mit den Jahren besser werden.“
Jetzt verstand Benjamin wenigstens etwas. Denn was stottern ist, wußte er nur all zu gut. Schließlich war er mehr als nur einmal deswegen von anderen Kindern und manchmal sogar von Erwachsenen verspottet worden.
„Also dann wird es das beste sein, Benjamin in einer Sonderschule für Lernbehinderte anzumelden“, sprach der Vater schweren Herzens.
Zustimmend nickte die Mutter mit dem Kopf.
Der Professor sprach mit behutsamer Stimme: „Am besten ist, Sie melden ihn schon in den nächsten Tagen an und schauen sich dabei gleich die Schule an, dann werden Sie sicherlich merken, daß es dort längst nicht so schlimm ist, wie man allgemein hört.“
Am nächsten Tag telefonierte Frau Klein mit der Lernbehindertenschule. „Sie können am Dienstag während der großen Pause gegen 9.00 Uhr kommen“, sagte der Direktor am Telefon. So kam es auch.
Kurz vor der Pause liefen die Eltern mit Benjamin über den Schulhof. Er kannte das Schulgelände, da es eine beliebte Abkürzung zur Wohnsiedlung war.
„Ging Gong Gong“. Es wurde Pause.
Die Familie befand sich im Flur der Schule. Die Klassenzimmertüren gingen auf und Kinder unterschiedlichsten Alters sprangen heraus. Einige blieben stehen oder wurden langsamer und schauten die drei an, dann sprangen sie weiter zum Pausenverkauf, wo es Brezeln, Brötchen und Getränke gab.
Ein Lehrer kam aus einem Zimmer und sah Benjamin mit seinen Eltern. Er lief zu ihnen und fragte: „Kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ja, das wäre nett. Wir suchen den Direktor Kuhn“, antwortete die Mutter.
„Ich führe Sie zu ihm.“