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Die ersten Symptome zeigen sich ein, zwei Stunden nachdem das Gift in den Magen gelangt ist. Émile hört den regelmäßigen Atem seiner Frau neben sich, spürt ihre Wärme, nimmt ihren Geruch wahr, an den er sich nie hat gewöhnen können. Er fühlt sich nicht anders als an jedem anderen Sonntag. Und doch: Elf Monate lang hat er sich auf diesen Tag vorbereitet. Alle Probleme, die seine Ehe mit sich brachte, werden gelöst sein, Émile wird für immer frei sein. Er selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, Berthe zu heiraten, damals, als er an die Côte d'Azur kam, aber für sie, Erbin einer Pension unweit von Cannes, war es die große Liebe. Und Émile, der Koch, machte aus dem einfachen Lokal ein Paradies für Gourmets. Erst als das Hausmädchen Ada eingestellt wird, überkommt Émile eine nie gekannte Leidenschaft, die alles verändert.
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Band 93
Georges Simenon
Sonntag
Roman
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Barbara Bauer
Kampa
Er hatte nie einen Wecker gebraucht. Eine Weile schon lag er mit geschlossenen Augen wach und spürte die Sonne, die durch die beiden schmalen Spalten der Fensterläden hereinglitt, als er ein ersticktes Klingeln im Zimmer oben hörte.
Es war eine enge Mansarde, genau über seinem Kopf. Er kannte dort jeden Winkel, das Eisenbett mit der dunkelroten Wolldecke, die Waschschüssel auf ihrem Dreifuß aus gedrechseltem Holz, die Emaillekanne am Boden, den kleinen braunen Teppich, der nie an seinem Platz lag. Er hätte die Umrisse der Flecken an den weißgekalkten Wänden und den schiefen schwarzen Rahmen um das Bild einer Madonna im himmelblauen Gewand zeichnen können.
Er kannte auch den leicht scharfen Geruch von Ada, bei der es immer lange dauerte, bis sie sich dem Schlaf entreißen konnte. Sie regte sich noch nicht. Der Wecker klingelte immer noch, und Émile begann schon unruhig zu werden. Seine Frau, die reglos neben ihm in dem großen Nussbaumbett lag, hörte das Klingeln natürlich auch, aber sie würde nichts sagen, würde nicht den kleinen Finger rühren – das gehörte zu ihrer Taktik.
Das spielte nun keine Rolle mehr. Der Tag war gekommen. Er hatte es gewusst, bevor er die Augen aufschlug, ja, bevor er feststellte, dass die Sonne aufgegangen war, und das Zwitschern der Vögel und das Gurren der beiden Tauben hörte.
Oben drehte sich Ada in ihrem Bett auf die andere Seite, streckte ihren braunen Arm aus, sodass ihr Busen unter dem Nachthemd zum Vorschein kam, und tastete mit der Hand über die Marmorplatte des Nachttischs.
Manchmal war sie noch so schläfrig, dass sie den Wecker umstieß und er auf dem Fußboden weiterklingelte, aber heute geschah das nicht. Das Klingeln verstummte. Einen Augenblick lang war es noch still, und nichts rührte sich. Dann hörte man ihre bloßen Füße auf der Suche nach den Pantoffeln über den Boden tappen.
Hätte man Émile gefragt, was er an diesem Morgen fühlte, wäre er um eine Antwort verlegen gewesen. Schon bevor der Wecker läutete, hatte er sich die Frage selbst gestellt. Im Grunde war ihm nicht anders zumute als an jedem anderen Tag oder jedem anderen Sonntag. Er hatte keine Angst. Er hatte auch nicht das Bedürfnis, alles noch einmal zu überdenken. Er war weder unruhig noch erregt. Er hörte neben sich den regelmäßigen Atem seiner Frau, spürte ihre Wärme und nahm auch ihren Geruch wahr, an den er sich nie gewöhnt hatte. Sie hatte einen ganz anderen Geruch als Ada, einen zugleich faden und säuerlichen Geruch wie von sauer gewordener Milch, der gegen Morgen das ganze Zimmer erfüllte.
Ada wusch sich nicht in ihrer Mansarde. Erst später, wenn sie mit der groben Arbeit fertig war, ging sie wieder hinauf, um sich frisch zu machen. Sie zog keine Strümpfe und keinen Schlüpfer an, sondern streifte nur ein rötliches Baumwollkleid über ihr kurzes Nachthemd.
Kaum war sie sich mit dem Kamm durch ihr dichtes schwarzes Haar gefahren, öffnete sie auch schon die Tür und stieg die Treppe hinunter, wo sie manchmal wieder eine Stufe zurückmusste, weil sie einen Pantoffel verloren hatte.
Sie ging an der Tür vorüber, gelangte ins Erdgeschoss, und er hörte sie immer noch. Aber selbst wenn er sie nicht gehört hätte, hätte er ihr in Gedanken folgen können, so genau kannte er die festen Abläufe des Hauses.
Sie ging in die Küche mit den roten Fliesen, drehte den großen Schlüssel an der Glastür, um die Fensterläden zu öffnen, sah den klaren blauen Himmel, die beiden gekrümmten Olivenbäume, die Pinien jenseits der Terrasse und – in einem Einschnitt zwischen den Bergen – ein glitzerndes Stück des Hafens von La Napoule.
Die beiden Tauben pickten wie Hühner im Kies. Ada blieb einen Augenblick stehen, um allmählich ganz wach zu werden und die Morgenfrische in sich aufzunehmen. Inzwischen hatte Madame Lavaud ihr Häuschen in Saint-Symphorien in der Nähe von Pégomas bestimmt schon verlassen und den steilen Weg eingeschlagen.
Émile hatte Zeit. In Pégomas oder in Mouans-Sartoux läuteten die Glocken. Irgendwo fuhr ein Auto vorbei. Ada machte den Propangasherd an und mahlte Kaffee.
Es war der letzte Tag, der Sonntag, den er seit Langem festgesetzt hatte, aber nichts hinderte ihn, seine Entscheidung umzustoßen und die Dinge so weiterlaufen zu lassen, wie sie seit fast einem Jahr liefen.
Doch er geriet nicht in Versuchung. Der Gedanke, dass er alles noch abblasen konnte, kam ihm gar nicht in den Sinn.
Sein Puls schlug normal. Er hatte keine Angst. Er war nicht aufgeregt. Als er schließlich aufstand, genau in dem Augenblick, da Ada unten das Wasser auf den Kaffee goss und man die Schritte von Madame Lavaud hörte, warf er einen Blick zu seiner Frau hin, von der er nur die sich unter der Decke abzeichnende Gestalt sah, ein paar blondgefärbte Haare, ein rosiges Ohr und ein geschlossenes Auge.
Sie war es gewesen, die verlangt hatte, dass äußerlich alles bliebe wie bisher, dass sie weiter im gleichen Zimmer und im gleichen Bett schliefen, in dem schon ihre Eltern geschlafen hatten, weshalb sie sich, ohne es zu wollen, nachts manchmal berührten.
Mehr aus Gewohnheit, als um sie nicht zu wecken, ging er auf Zehenspitzen in den kleinen Waschraum und rasierte sich, wie er es jeden Sonntagmorgen und an Markttagen tat. An den anderen Tagen ging er wie Ada später noch einmal hinauf, um sich zu waschen und anzuziehen.
Die beiden Frauen saßen unten am Tisch beim Frühstück und unterhielten sich leise.
Es war Ende Mai. Im April hatte es stark geregnet, dann waren kalte Wochen gekommen, und an drei von vier Tagen hatte der Mistral geweht. Aber vor einer Woche hatte der Sommer begonnen. Der Wind kam morgens von Osten, drehte langsam, um dann über das Meer zu streichen, legte sich gegen Abend, und in der Nacht herrschte vollkommene Stille.
Er wusste nicht, ob Ada ihn anders ansah als sonst, denn er vermied es, sie anzublicken. Sie stellte ihm seine Kaffeetasse hin und schob ihm einen Teller mit Pizza zu; er schnitt sich ein großes Stück ab, das er aß, während er an der Tür stand und hinausblickte.
Sie wusste Bescheid. Er hatte ihr keine Einzelheiten verraten. Sie hatten nie viele Worte gewechselt.
An einem Tag in der vorhergehenden Woche, am Dienstag, wenn er sich nicht täuschte, hatte er lediglich zu ihr gesagt:
»Am nächsten Sonntag.«
Sie wusste nicht, warum er einen Sonntag gewählt und warum er so lange, fast ein Jahr, gewartet hatte. Hatte sie womöglich geglaubt, er habe Angst oder gar Mitleid mit Berthe?
»Sind die Körbe im Auto?«
Madame Lavaud hatte nur ein flüchtiges »Guten Morgen« über die Lippen gebracht, und man hätte glauben können, sie sei eine Fremde im Haus. Sie war eine kleine, rundliche und dennoch zähe Frau von zweiundsechzig Jahren, die drei oder vier irgendwo in Frankreich verheiratete Kinder hatte. Da sie ihnen nicht zur Last fallen wollte, war sie lange als Dienstmädchen bei einem Arzt in Cannes und dann bei einem Zahnarzt gewesen.
Vor zwei Jahren hatte sie sich wieder verheiratet. Émile hatte ihren Mann nie gesehen, und niemand in der Bastide kannte ihn. Soweit man wusste, hatte sie ihn in Cannes kennengelernt, wo sie allwöchentlich ihren freien Tag verbrachte und er, der im Altersheim lebte, ebenfalls donnerstags immer seinen Spaziergang machte.
Er war zweiundsiebzig. Monatelang hatte sie ihn besucht und ihm Süßigkeiten gebracht. Eines Morgens hatte zur allgemeinen Überraschung bei den Aufgeboten in der Zeitung ihr Name gestanden.
Ihr Mann lebte nach der Heirat weiterhin im Altersheim, und sie arbeitete nach wie vor in der Bastide.
Warum hatten sie geheiratet? Sie hatte nie darüber gesprochen. Vielleicht besaß er ein wenig Geld, das sie zu erben hoffte? Hatte sie es vielleicht auch nur aus Mitleid getan?
Émile machte sich keine Gedanken darüber, denn er gehörte nicht zu den Menschen, die gerne grübeln und sich unnötige Probleme schaffen.
Er hatte nichts dazu beigetragen, dass es so weit gekommen war. Er selber hatte das Drama nicht ausgelöst und hätte auch nicht genau sagen können, wie alles angefangen hatte.
Wenn man sich zu erinnern versucht, ist es schwierig, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Man hat lauter einzelne Begebenheiten vor sich, von denen die einen bedeutsam, die anderen unwesentlich scheinen, und merkt erst hinterher, dass man sich täuscht, dass die Gründe, die man entdeckt hatte, nichts erklären. Und dann fängt man wieder von vorne an und sucht nach anderen Ursachen.
Wenn man sich jedoch mit einfachen Erklärungen begnügt, kommt man zu Schlüssen wie die Zeitungen, die schreiben:
Weil er betrunken war, hat ein Schleusenmeister seine Frau mit dem Messer erstochen.
Warum war er betrunken? Warum ein Messer? Warum seine Frau? Vor allem aber, warum fragte sich niemand, ob sie nicht dazu berufen war, zum Opfer zu werden?
Denn wenn es Menschen geben mag, die als geborene Mörder auf die Welt kommen, dann können andere auch dazu geboren sein, ermordet zu werden, woraus wiederum folgt, dass bei einem Verbrechen nicht nur der Mörder oder die Mörderin, sondern auch der oder die Ermordete Verantwortung trägt.
Es war kompliziert, und Émile dachte nicht gern über komplizierte Dinge nach. Während er seine Pizza aß und am Fuß des Esterel ein Stück Mittelmeer sah, dachte er ohnehin nicht ernsthaft nach, jedenfalls nicht auf dramatische Weise.
Es waren nur flüchtige Gedanken, die ihm in den Sinn kamen. Es ging nicht darum, ein Problem zu lösen. Er gab nicht vor, die Dinge erklären zu können.
Er hatte sich in einer bestimmten Situation befunden, aus der er auf diese oder jene Weise herauskommen musste. Eine einzige Lösung hatte sich ihm angeboten, eine Lösung, die ihm geradezu selbstverständlich erschien.
Sein ganzes Bemühen hatte den Vorbereitungen zu deren Umsetzung gegolten, und das hatte seine Zeit gedauert, genau elf Monate.
Jetzt, da der Tag gekommen war, hatte es keinen Zweck, alles wieder in Frage zu stellen. Das kam ihm übrigens auch gar nicht in den Sinn. Während das Leben im Hause wie an jedem anderen Sonntag begann, war er höchstens etwas eigenartig berührt bei dem Gedanken:
›Heute Abend wird es vorbei sein.‹
Er konnte es kaum noch abwarten, ein paar Stunden älter zu sein. Als er, immer noch im Stehen, fertig gefrühstückt hatte und sich seine erste Zigarette ansteckte, zitterte seine Hand ein wenig. Da erst begegnete sein Blick dem Adas, die ihm eine zweite Tasse Kaffee eingoss, und er glaubte darin eine Frage zu lesen, die ihn nervös machte.
Er hatte zu ihr gesagt:
»Am nächsten Sonntag.«
Es war Sonntag. Sie musste sich um nichts kümmern und brauchte außerdem kein schlechtes Gewissen zu haben, denn wenn sie bei dem, was geschehen würde, auch eine gewisse Rolle spielte, so war sie doch nicht der Hauptgrund. Sie war nur der äußere Anlass dazu. Es hätte auch ganz anders beginnen können, mit irgendjemandem oder ohne jemanden.
»Ich habe Ihnen eine kleine Liste gemacht, Monsieur Émile. Vergessen Sie nicht den Parmesan …«
Madame Lavaud, die ihre blaue Leinenschürze umgebunden hatte, füllte einen Eimer mit Wasser, um die Fliesen im Speisesaal und in der Bar aufzuwischen.
La Bastide wirkte fast wie eine Theaterkulisse, ein Gasthof in der Provence, so wie ihn sich die Leute aus Paris und Nordfrankreich vorstellen, mit rotem Fliesenboden, mit von Ziegeln eingefassten Fenstern, ockergelben Mauern und bauchigen Keramikvasen. Die Bar war auf Schrauben von alten Weinpressen montiert, und auf den Tischen im Speisesaal lagen selbstverständlich karierte Decken.
Die beiden Pensionsgäste, Mademoiselle Baes und Madame Delcour, die eben aufgestanden waren, würden gleich in geblümten oder gepunkteten Kleidern und mit großen Strohhüten auf dem Kopf herunterkommen, um auf der Terrasse zu frühstücken.
Beide waren Belgierinnen, schon über sechzig und verbrachten jedes Jahr zwei Monate an der Côte.
Émile setzte sich ans Steuer des kleinen Lieferwagens und ließ den Motor an. Als er sich, ehe die Straße bergab führte, noch einmal umdrehte, sah er Ada vor der Tür stehen, aber es ließ ihn kalt.
Es war eine schwierige Strecke. Rechts ragte ein Felsen auf, und links war ein Graben. Doch er achtete schon gar nicht mehr darauf. Wenig später verlief die Straße zwischen zwei Hecken; er kam an einer Villa vorüber, dann an einem kleinen Bauernhof und gelangte schließlich auf die Route Napoléon.
Es fuhren einige Motorräder nach Grasse hinauf, auf den meisten saß ein Pärchen. Manche Fahrer hatten sich schon das Hemd ausgezogen. Andere Wagen, mit Pariser, Schweizer oder belgischen Kennzeichen, überholten ihn auf der abschüssigen Straße.
In Rocheville bog er rechts ab, fuhr an der Mauer des Friedhofs und des Krankenhauses entlang, dann die Rue Louis-Blanc hinunter und überquerte die Eisenbahnbrücke. Er machte diese Fahrt dreimal die Woche, versuchte jedes Mal, seinen Wagen zunächst vor der Metzgerei zu parken und, wenn er dort keinen Platz fand, in der schmalen Rue Tony-Allard, in der Nähe des hellblau angestrichenen Milchladens, wo er Stammkunde war.
Auf dem Forville Markt herrschte lebhaftes Gewimmel. Es war unübersehbar, dass die Saison begonnen hatte. Er sah Frauen in Shorts, manche sogar im Badeanzug, mit der Sonnenbrille auf der Nase und einer Art chinesischem Hut auf dem Kopf.
Es war gut, dass er etwas zu tun hatte und all diese vertrauten Bilder an ihm vorüberglitten. Er durfte auch nicht seine Liste vergessen.
»Nun, Monsieur Émile? Sind schon viele Gäste bei Ihnen?«
Der Geruch verschiedener Käsesorten. Verkäuferinnen mit heller Haut und schneeweißen Schürzen.
»Nur die beiden, die jedes Jahr kommen.«
»Bald wird es wieder voll werden. Gestern hat es schon Staus gegeben auf der Straße.«
Er kramte seine Liste aus der Tasche hervor und gab seine Bestellung auf, hatte aber einige Mühe, Madame Lavauds Handschrift zu entziffern.
Im Grunde mochte er sie nicht. Sie war ein fremdes Element in der Bastide, und eigentlich wusste er nichts von ihr. Sie nahm nicht am Leben des Hauses teil, verrichtete nur ihre Arbeit, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Das taten die anderen vielleicht auch, aber nicht auf dieselbe Weise. Wenn zum Beispiel Maubi, der Gärtner, ihn betrog, wusste er, wie und warum, und es war nicht einmal ein Geheimnis zwischen ihnen. Er hätte ihm ins Gesicht sagen können:
»Maubi, du bist ein Dieb!«
Maubi hätte wahrscheinlich gelächelt und mit den Augen gezwinkert.
Es wurde heiß. Émile ging vom Schatten in die Sonne, vom Lärm des Markts in die Stille der Gassen. Gegenüber dem Milchladen befand sich ein Geschäft für Angelartikel. Seit einem Monat war er nicht mehr angeln gewesen. Wenn alles vorbei war, würde er wieder angeln gehen. Dabei fiel ihm ein, dass er sich vergewissern musste, dass das Boot von Doktor Guérini den Hafen verlassen hatte.
Denn er hatte alles vorausgeplant. Nicht umsonst hatte er elf Monate lang vorbereitet, was heute geschehen würde. Die ganze Zeit hatte er alles genau überlegt und bis ins Einzelne berechnet.
Wenn er daran dachte, kam ihm die Zeit kurz vor. Er war auf einmal erstaunt, ganz nah am Ziel zu sein, und obwohl er noch immer nicht versucht war, von seinem Plan Abstand zu nehmen, überkam ihn ein gewisser Schwindel.
Einen Korb in der Hand, wandte er sich zum Hafen, nicht zum Jachthafen, wo schon einige weiße Segel gehisst waren, sondern zum Fischerhafen, wo die Boote, die in der Nacht ausgefahren waren, eins nach dem anderen wieder vor Anker gingen.
Als er sich den zum Trocknen ausgelegten Netzen näherte, hörte er:
»Salut, Émile …«
Er war hier nämlich kein Fremder.
Er fragte:
»Ist Polyte schon zurück?«
»Seit einer halben Stunde. Ich glaube, er hat etwas für dich …«
Er betrat einen anderen Landesteg und fand Polyte in seinem Boot, der damit beschäftigt war, die Fische zu sortieren.
»Hast du die Tintenfische?«
»Sechs Pfund.«
Auf dem Boden des Korbes bewegte sich eine klebrige, porzellanweiße Masse, ein paar Tintenfische hatten ihre Tinte ausgespuckt.
»Willst du auch Fische für Bouillabaisse?«
»Was kosten die?«
»Mach dir darüber keine Gedanken, wir werden uns schon einig.«
Er nahm eine ganze Menge davon, denn bei dem schönen Wetter konnte es durchaus sein, dass an die dreißig Gäste kamen, und die meisten Touristen wollten Bouillabaisse essen.
Doktor Guérinis Boot lag nicht an seinem Ankerplatz.
»Ist die Sainte-Thérèse schon lange ausgelaufen?«
»Als ich zurückgekommen bin, habe ich sie zwischen den Inseln gesehen. Sie muss schon im Dunkeln losgefahren sein.«
Käse, Fisch, Fleisch. Jetzt musste er nur noch in den Kolonialwarenladen gehen. Danach begab er sich zu Justin, dem eine der kleinen Kneipen am Markt gehörte.
»Salut, Émile …«
Die Männer tranken Weißwein, die Frauen Kaffee, und alle redeten durcheinander. Es waren Marktleute und Händler aus dem Ort, die seit drei oder vier Uhr morgens auf den Beinen waren. Einer nach dem anderen gingen sie auf die Toilette.
»Schönes Wetter heute!«
»Ja, schönes Wetter.«
Er war genauso ein Mensch wie sie. Niemand ahnte etwas. Nur Ada wusste Bescheid. Bestimmt machte sie sich eine falsche Vorstellung von seinen Beweggründen.
Schon lange bevor sie die Stellung in der Bastide bekommen hatte, hieß es in der Gegend, sie sei nicht wie die anderen. Es behauptete zwar keiner, sie sei verrückt, aber man hielt sie für zurückgeblieben. Kam das daher, dass sie nur wenig sprach und Angst vor den Leuten zu haben schien?
Jedenfalls war sie nicht ganz normal. Sie verhielt sich nicht wie andere Mädchen ihres Alters, hatte keine Freundinnen und traf sich auch nicht mit jungen Männern.
»Sie ist menschenscheu!«
Auch ihre Eltern waren menschenscheu und lebten sehr zurückgezogen.
Als ihr Vater, Pascali, sich am Rande von Mouans-Sartoux niedergelassen hatte, hatte er schon graues Haar und ein faltiges, von der Sonne gegerbtes Gesicht, und er sprach ein kaum verständliches Gemisch aus Italienisch und Französisch.
Da er ein guter Maurer war, fand er überall Arbeit, machte vor allem Reparaturen, denn er arbeitete allein.
Von Zeit zu Zeit verschwand er für mehrere Wochen, kam dann zurück und nahm seine Arbeit wieder auf. Als er einmal nach längerer Abwesenheit zurückkehrte, brachte er eine Frau in den Vierzigern mit, die wie eine Zigeunerin aussah, und ein zwölfjähriges Mädchen, das nicht antwortete, wenn man es ansprach.
Émile war damals knapp fünfundzwanzig Jahre alt und war gerade erst zu den Harnauds gekommen, den Besitzern der Bastide, die später seine Schwiegereltern werden sollten.
Er erinnerte sich an ein mageres Mädchen, das, eine Seltenheit in diesem Land der Sonne, immer schwarzgekleidet ging. Sie trug im Übrigen ein merkwürdiges Gewand, halb Kleid, halb Schürze, das ihr wie ein Sack am Körper hing.
Man sah sie manchmal an einer Wegbiegung stehen oder im Wald an der Landstraße.
»Das ist die Tochter von Pascali und der Zigeunerin«, sagten die Leute.
Doch nichts bewies, dass die Frau, die Pascali mitgebracht hatte, eine Zigeunerin war. In Wirklichkeit wusste man nichts über sie, und Pascali sprach auch nie von ihr. Wussten die Gendarmen mehr? Wahrscheinlich nicht, denn sonst hätten sie es irgendwann gesagt.
Francesca verkehrte nicht mit den anderen Frauen. Sie verließ kaum das Haus, das Pascali in seiner Freizeit gebaut hatte und das keinem anderen Haus glich.
Man hätte meinen können, er habe damit zeigen wollen, was er alles konnte und was für verschiedene Steine und Baumaterialien es gab.
Es hieß, er verbiete seiner Frau auszugehen, schließe sie manchmal ein und schlage sie gelegentlich.
Francescas Gesicht war von zwei Narben entstellt, die quer über ihre Wangen liefen, und man erklärte sie mit der Eifersucht des Italieners. Manche behaupteten, er habe seine Frau absichtlich entstellt, um Männer, die mit ihr anbändeln wollten, abzuschrecken.
Er war es jedoch gewesen, der eines Tages seine Tochter Ada in die Bastide gebracht hatte. Émile war damals schon seit einiger Zeit verheiratet. Sein Schwiegervater war gestorben. Seine Schwiegermutter war in die Vendée zurückgekehrt, wo ihre Angehörigen lebten.
In seinem Kauderwelsch, das selbst Italiener nicht verstanden, hatte Pascali über Adas Lohn und die Arbeitsbedingungen verhandelt und dabei ganz den Eindruck erweckt, als wolle er sie verkaufen.
Er hatte für sie weder freie Tage noch einen jährlichen Urlaub gefordert. Sie nahm sich auch nie frei. Nur selten begab sie sich auf einen kurzen Besuch ins Haus ihrer Eltern, obwohl es nur zwei Kilometer entfernt lag; Pascali tauchte hin und wieder auf, jedes Mal ganz mit Kalk bespritzt. Er setzte sich jeweils in die Küche, trank ein Glas Wein und sah seiner Tochter zu.
War das der Anfang, oder musste man noch weiter zurückgehen?
Am Strand, gegenüber dem Carlton, dem Majestic, dem Miramar, badeten schon Leute, Frauen saßen unter Sonnenschirmen, einige von einer Kinderschar umgeben, und rieben sich mit Öl ein, bevor sie sich der Sonne aussetzten.
In der Markthalle traf Émile Kollegen, die Restaurants in der Stadt oder in der Umgebung besaßen. Autos kamen vom Esterel herunter und andere, über Nizza, aus Italien.
Man wohnte den Vorbereitungen für einen schönen Sonntag bei. Es war wie in einem Restaurant, in dem die Gedecke aufgelegt und Blumenvasen auf die Tische gestellt werden. Auch auf dem Blumenmarkt herrschte reges Leben. Émile musste auch Blumen kaufen. Der Lieferwagen füllte sich allmählich, und die Zeiger der Uhr rückten langsam vor und näherten sich der Stunde, zu der er handeln musste.
Es hatte nicht einen Anfang gegeben, sondern mehrere. Und dazu zählte zweifellos das, was eines Nachmittags in der Mansarde geschehen war.
Ada arbeitete seit fast zwei Jahren in der Bastide und musste also achtzehn Jahre alt sein. Er war noch nicht dreißig. Er hatte sich nie für sie interessiert, hatte sie nur manchmal mit gerunzelten Brauen betrachtet und sich gefragt, was sie dachte.
Jede Arbeit, die man ihr auftrug, verrichtete sie ohne Widerrede. Sie arbeitete nicht flink und auch nicht sorgfältig, aber es hatte keinen Sinn, sie zu tadeln oder sich über sie zu ärgern, wie es Berthe manchmal tat, denn jedes Wort prallte an ihr ab wie an einer Mauer.
Er erinnerte sich an Szenen, in denen Berthe schließlich hysterisch geschrien hatte:
»Sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede!«
Ada sah sie aus ihren dunklen, leeren Augen an.
»Hören Sie mir zu?«
Sie zuckte nicht mit der Wimper.
»Sagen Sie: Ja, Madame.«
Gleichgültig wiederholte sie:
»Ja, Madame.«
»Könnten Sie etwas höflicher sein?«
Émile glaubte fast, dass seine Frau sich so schnell aufregte, weil es ihr nicht gelang, Ada zum Weinen zu bringen.
»Vielleicht sollte ich Sie einfach hinauswerfen!«
Wieder die Mauer.
»Ich werde mit Ihrem Vater sprechen …«
Émile hatte sich an sie gewöhnt, aber ungefähr so, wie er sich an einen Hund im Haus gewöhnt hätte. Ein Hund redet auch nicht und tut nicht immer das, was man möchte.
Dann war er eines Nachmittags, als Berthe nicht da war, ohne jeden Hintergedanken in die Mansarde hinaufgestiegen, um Ada zu suchen, die auf sein Rufen nicht geantwortet hatte. Als er wieder heruntergekommen war, wusste er nicht, ob er sich freuen oder entsetzt sein sollte über das, was eben geschehen war.
Jedenfalls kannte er sie auch danach nicht besser, und vielleicht verstand er sie weniger denn je.
Er erinnerte sich vor allem an die Art ihres Blicks, wie er es bei einer Frau noch nie gesehen hatte. Es war fast der Blick eines Tiers, dem sich ein Mensch nähert.
Das lag nun schon drei Jahre zurück. Konnte er behaupten, dass er sie jetzt besser kannte? Und ließ sich das als Liebe bezeichnen?
Wenn es unbedingt eines Anfanges bedurfte, dann war das einer unter vielen.
Aber das mit Berthe hatte erst zwei Jahre später begonnen, am 15. Juni, zur Zeit der Mittagsruhe. Er erinnerte sich genau an das Datum, an die Stunde, an jede Einzelheit.
Hatte das noch irgendeine Bedeutung? War das alles nicht längst Vergangenheit? Er hatte elf Monate Zeit gehabt, darüber nachzudenken, doch es hatte ihn kaum beschäftigt.
Selbst heute beunruhigte es ihn nicht übermäßig. Er war nicht erregt. Er bedauerte nichts. Er hatte auch keine Angst.
Es stimmte, er war etwas ungeduldig und verbrannte sich an dem heißen Kaffee bei Justin deshalb auch den Mund. Seine Finger zitterten wie schon am Morgen in der Küche, und in der Brust verspürte er einen leichten Druck, aber den hatte er manchmal auch beim Angeln, wenn ein schöner Fisch angebissen hatte.