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Während der Ermittlungen zu einem Angriff auf einen Häftling in der JVA erreicht Hauptkommissar Nachtigall die Information über einen brutalen Mord in Burg. Dort platzte am frühen Morgen ein aufschreckender Post in die Vorbereitungen für den Spreewald-Marathon: Aktivisten planen, die Anreise von Teilnehmern und Gästen des Events zu erschweren. Der Kopf der lokalen Aktivistengruppe wurde nur wenige Stunden nach dem Internetaufruf brutal ermordet aufgefunden. Der Post hatte sich im Netz schnell verbreitet - war Rache für die Störung des Events das Motiv?
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Seitenzahl: 408
Franziska Steinhauer
Spreewald-Marathon
Nachtigalls 17. Fall
Unverzeihlich Als Hauptkommissar Nachtigall über einen Angriff von Häftlingen auf einen Mitgefangenen informiert wird, stellt sich heraus, dass eine Nachricht aus der Außenwelt Auslöser der Gewalttat gewesen sein könnte. Das wegen Vergewaltigung verurteilte Opfer der Attacke, war für eine vorzeitige Entlassung vorgesehen. Spielten persönliche Motive oder eher Neid und Wut über eine gefühlte Ungerechtigkeit eine Rolle? In die ersten Ermittlungen platzt die Nachricht von der Entdeckung eines brutal ermordeten Umweltaktivisten in Burg. Stimmen behaupten, die Tat habe mit einem Post zu tun, der seit dem frühen Morgen von den Bewohnern der Stadt empört geteilt wird. Eine Klebeaktion, die eine Anreise zum anstehenden Spreewald-Marathon unmöglich machen soll, wurde angeblich von dem toten Aktivisten initiiert. Doch schnell ist klar: Der Post wurde nicht vom Opfer veröffentlicht …
Franziska Steinhauer lebt seit über 30 Jahren in Cottbus. Bei ihrem Pädagogikstudium legte sie den Schwerpunkt auf Psychologie und Philosophie. Ihr breites Wissen im Bereich der Kriminaltechnik erwarb sie im Rahmen eines Master-Studiums in Forensic Sciences and Engineering. Diese Kenntnisse ermöglichen es der Autorin den Lesern tiefe Einblicke in pathologisches Denken und Agieren zu gewähren. Mit besonderem Geschick werden mörderisches Handeln, Lokalkolorit und Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft. Franziska Steinhauers Romane zeichnen sich durch gut recherchierte Details und eine besonders lebendige Darstellung der Figuren aus. Ihre Begeisterung für das Schreiben gibt sie als Dozentin an der BTU Cottbus weiter.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Kerrick / istockphoto.com
ISBN 978-3-7349-3036-2
»Was soll das heißen? ›Ihr Sohn wurde leider Opfer eines Tötungsversuchs‹? Mein Sohn wird nicht Opfer eines feigen Anschlags unter den Augen der Vollstreckungsbehörde!« Die Stimme heiser, empört, unbeugsam. Vielleicht eine Lehrerin, ordnete der Anrufer die Gesprächspartnerin ein.
»Wir ermitteln noch die genauen Umstände seines Unfalls. Im Moment läuft der schwere Sturz unter ›Verdacht auf …‹. Heißt: Es könnte sich um einen Unfall oder einen Mordversuch durch Mithäftlinge handeln.«
Peter Nachtigall, Hauptkommissar in Cottbus, konnte die Mutter gut verstehen. Selbstverständlich war sie davon ausgegangen, dass man sich so um die Inhaftierten kümmerte, dass es keine solchen Vorkommnisse gäbe.
»Es tut uns aufrichtig leid. Nach ersten Erkenntnissen oder besser Informationen handelt es sich um einen Sturz im Waschraum. Er …«
»Hören Sie nicht, was ich Ihnen sage? Oder verstehen Sie es nicht? Möchten das auch gar nicht? Mein Sohn stürzt nicht! Er ist jung, gesund und leidet nicht unter Schwindel. Also?«
Die Stimme von Marlies Brand wurde hart und schneidend.
»Ich erkläre Ihnen, wie wir nun weiter vorgehen.« Nachtigall unterdrückte mit Mühe ein Seufzen. »Zunächst befragen wir Ihren Sohn zum Ablauf des Vorfalls. Sollte sich herausstellen, dass es sich nicht um einen Unfall handelt, werden weitere Ermittlungen eingeleitet. Wir gehen der Frage nach, wer an der Tat beteiligt war und aus welchem Grund jemand versucht haben könnte, den Tod Ihres Sohnes herbeizuführen – oder ihn wenigstens sehr schwer zu verletzen.«
»Dann fangen Sie am besten sofort damit an! Ich bin zwar nicht mehr ganz jung, aber noch nicht dement! Mir macht hier keiner was vor«, stellte die Mutter mit rauer Stimme klar.
Die Mitglieder des Planungskomitees kamen im Saal des Rathauses zusammen.
Thema: Spreewaldmarathon.
Im Grunde begannen die Mitglieder schon während oder kurz nach dem Ende des aktuellen Laufs mit den Überlegungen und Vorbereitungen für den nächsten.
Je nachdem, als wie gravierend die Störungen im Ablauf wahrgenommen oder bewertet wurden und welche Konsequenzen sich daraus zwangsläufig ergeben mussten.
Schließlich war das nicht irgendein Event.
Es war ein Touristenmagnet, einer der am besten besuchten der Stadt.
Umso wichtiger war es, ein Fazit aus den letzten Läufen zu ziehen, Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen und deren Umsetzung zu planen.
»Hiermit eröffne ich die heutige Sitzung. Wie ich der Liste entnehmen kann, sind wir vollzählig und demnach beschlussfähig. Beginnen wir mit dem Tagesordnungspunkt eins: Verlauf und Sicherung der Strecke.«
»Genau.« Mit gewohnt brüchiger Stimme meldete sich Hubert zu Wort. »Ihr wisst, ich könnte wieder spezielle Backwaren zum Event anbieten. Marathonbrot, belegte Marathonbrötchen, warme Gerichte zum Ereignis. Natürlich alles nach den neuesten Ernährungserkenntnissen zusammengestellt.«
»Was hat das mit der Sicherung der Strecke und deren Verlauf zu tun? Wir sollten lieber über Krankenzelte, medizinische Versorgung bei Verletzungen der Teilnehmer oder von akuten Problemen im Publikum sprechen! Und über Ordner, die das Publikum beim Anfeuern hinter den Absperrungen halten!«, warf sein Sitznachbar empört ein.
Klaus, Schriftführer und Leiter der Versammlung, kommentierte trocken: »Habe ich so notiert.« Er begann, einzelne Punkte für alle sichtbar am Flipchart festzuhalten.
»Halt, halt«, der Bass von Roderich war unüberhörbar, »soll das heißen, wir müssen nun alle auf irgendeinen Ernährungstrend von ›Gesund-Bäckern‹ aufspringen? Also ganz ehrlich: nicht mit mir! Das würde nämlich auch bedeuten, dass es keinen Alkohol geben soll. Und das geht gar nicht! Die Gäste möchten Bier. Am liebsten in rauen Mengen.«
»Und dann setzen sie sich angetrunken oder sogar total besoffen hinters Steuer«, krächzte Hubert. »Schon beim letzten Mal gab es einige kleinere Unfälle. Sogar mit leichtem Personenschaden. Außerdem passt Alkohol gar nicht zu der Forderung nach drogenfreiem Sport.«
»Ach, so ein Quatsch! Das mit dem Bier klappt ja beim Fußball auch.« Roderich ballte unbewusst kampflustig seine Fäuste, während er sprach.
»Halt!« Der Leiter der Gesprächsrunde unterbrach diesmal mit erhobener Stimme und eindeutiger Gestik die Diskussion, die an Fahrt aufzunehmen drohte. »Tagesordnungspunkt eins: Sicherung der Strecke. Das hat mit Ernährung nichts zu tun. Erst wenn wir das abgearbeitet haben, folgt ein neuer Punkt. Zum Beispiel: die Verköstigung der Teilnehmer und der Gäste. Ist ein gesonderter Themenkomplex.«
»Oh Mann! Darüber haben wir doch schon gefühlt 1000 Mal gesprochen. Polizei ist vor Ort, sichert die Zufahrtsstraßen. Dann übernehmen Ordner die Parkplatzzuweisung. Rettung ist geplant, wird wie immer präsent sein, aufmerksam das Publikum und die Läufer im Blick haben. Das große Sanitätszelt wird weithin sichtbar sein. Die Problemfelder von letzten Läufen sind bekannt – wir werden sie in diesem Jahr vermeiden.« Cordula seufzte genervt. »Mir ist es wichtig zu betonen, dass die Gäste, die an diesem Sportereignis nicht interessiert sind, von den Sportfreunden nicht wieder belästigt werden dürfen. Bei mir haben sich viele über Pöbeleien, Poklapse und ähnliche Grapschereien oder plumpe Anmache beschwert.«
»Wie wäre es mit einem bebilderten Infoblatt zum Thema? ›Wie benehme ich mich als Gast des Sports?‹« Der Einwurf klang höhnisch, fast giftig, und Cordula schenkte dem Sprecher einen vernichtenden Blick.
»Inzwischen dürfte sich herumgesprochen haben, dass man sich Frauen gegenüber respektvoll zu verhalten hat«, zischte sie wütend. »In Lübbenau sind sie nicht nur bei diesem Thema in der Planung des Marathons viel weiter. Wir sollten endlich vorankommen.«
Der Leiter übernahm an dieser Stelle erneut. »Es gibt noch ein anderes Problem, das wir zu lösen haben. Wie ihr alle wisst, gab es auch dieses Mal gelegentlich Schwierigkeiten mit den Toiletten. Es waren schlicht zu wenige, zu manchen fand man nicht problemlos hin, schon gar nicht, wenn es eilte. Einige der Sportler und der Gäste verrichteten ihre Notdurft in den privaten Gärten der Anwohner in der Nähe der Strecke. Es gab schon früher Beschwerden über Beschwerden! Das war ein Unding – einfach mal zack! Über den Zaun und dann … Wir müssen unbedingt sicherstellen, dass so etwas nicht mehr passieren kann. Schließlich muss der ganze Ort hinter dem Event stehen, wenn an allen Ecken gemeckert wird, schlägt das auf die Stimmung. Und schlecht gelaunte Freiwillige oder Bewohner von Burg: meiner Meinung nach eine Katastrophe. Also noch einmal: Wurden die Standorte für die mobilen Toiletten festgelegt? Haben wir diesmal genug davon angefordert, um die gesamte Strecke abzudecken? Anfahrt und Abtransport der Toiletten ist schon geregelt? Schließlich will niemand das Ding länger als nötig vor seinem Gartenzaun stehen sehen.«
»Yupp. Alles besprochen, alles bestellt, alles geklärt. Der Anbieter hat schriftlich zugesichert, dass Anfahrt und Abholung termingerecht stattfinden. Kostenvoranschlag ist schon bei deinen Unterlagen.« Cordula verdrehte die Augen.
»Und«, räusperte sich Klaus, »wir haben ein neues Problem.« Er legte die Stirn in ungewöhnlich dicke Falten, die wohl die Größe des Problems abbilden sollten.
Zehn Augenpaare wandten sich ihm gespannt zu, hefteten sich an das Gesicht des Sprechers.
»Es gab da einen Post. Heute Morgen. Auf einer der Websites der Klimaaktivisten. Man kann ihn auch auf der Seite von Kipppunkt finden.«
Genervtes Stöhnen folgte als kollektive Reaktion auf diese Einleitung.
Manch eine flache Hand wurde wütend auf die Tischplatte geschlagen.
»Schon wieder?«, ächzte Hubert gequält. »Mann! Ich glaube, wir haben inzwischen genug von diesen Quertreibern. Unser Sportevent ist ein Lauf! Dagegen können sie doch nun wirklich nichts einzuwenden haben – wo sollte der Grund für Protest liegen?«
Klaus zuckte mit den Schultern. »Sie drohen damit, sich auf die Zufahrtsstraßen zu kleben. Da die Kleberei an Attraktivität eingebüßt hat , steht auch eine neue Variante im Raum, die sich ›ungehorsame Versammlung‹ nennt. Dabei versammeln sich möglichst viele Aktivisten auf Gehwegen und Straßen, blockieren so Fußgänger, Rad- und Autofahrer. Auf diese Weise wollen sie verhindern, dass die Gäste oder Teilnehmer des Marathons rechtzeitig hier eintreffen. Es gibt auch Planungen die Bahnstrecke betreffend. Was ja nun wirklich ein völlig falscher Ansatz wäre. ›Nimm’s Rad‹, soll der Slogan offensichtlich lauten.«
»Aha! Nun, ich glaube, jeder hier am Tisch weiß genau, auf wessen Mist diese Forderung gewachsen ist.« Roderich war tiefrot angelaufen, pumpte schwer atmend, hörte sich an wie ein Dampfdrucktopf knapp vor der Explosion. »Dieser Trottel! Der braucht wohl mal eine ganz besondere Abreibung, damit er wieder zu Verstand kommt.« Nun brüllte er wie ein brunftiger Stier. »Wir können nicht zulassen, dass dieser hirnlose Wicht unsere ganze Planung sabotiert!«
»Es muss in einer freien Gesellschaft schon möglich sein, so anzureisen, wie man das selbst für richtig und sinnvoll hält. Mag doch mit dem Rad kommen, wer will – die anderen nutzen das Verkehrsmittel ihrer Wahl. Das ist meine Meinung dazu«, stellte Hubert klar.
Und selbst Paul, dem ein kleines Hotel am Rand von Burg gehörte, meinte: »Es heißt meiner Meinung nach Individualverkehr, weil ein jeder individuell entscheiden kann, welches Transportmittel er zu welchem Zweck nutzen möchte.«
»Jawoll«, donnerte Roderich, und Hubert nickte verhalten, setzte nach: »Dieser Formulierung stimme ich zu. Und nicht nur ich – wie ich an den vielen nickenden Köpfen unschwer erkennen kann.«
»Wir sollten darüber abstimmen«, forderte Klaus mit unglücklicher Miene.
»Vorschlag«, meldete sich Cordula zu Wort, »wir veröffentlichen zusammen mit der Eventwerbung einen Aufruf, für die Anfahrt möglichst CO2-arme Verkehrsmittel zu nutzen. Das stünde uns gut zu Gesicht, würde die Forderung nach der individuellen Entscheidung berücksichtigen und könnte die Aktivisten ein wenig runterkühlen.«
»Guter Vorschlag!« Hubert nickte wieder und forderte: »Lasst uns darüber abstimmen, ob wir beide Anträge ins Protokoll aufnehmen wollen.«
Klaus seufzte schwer. »Ich bitte um Handzeichen. Wer ist für diesen Vorschlag?«
Er sah in die Runde.
Gut, dann war das eben so.
Mit diesem Votum wurde der Diskurs eröffnet.
»Ich stelle fest, dass dieser Antrag einstimmig angenommen wurde. Wir positionieren uns gegen die Blockierung der Anreisewege durch Aktivisten – und empfehlen gleichzeitig eine CO2-neutrale Form der Anfahrt.«
»Hu«, flüsterte eine Stimme viel zu laut. »Das gibt mehr Ärger, als wir uns im Moment vorstellen können. Ihr werdet schon sehen.«
Beim Bäcker merkte er es sofort.
Er, Thoralf, für seine Freunde Thor, war der einzige Kunde.
Hinter der Theke standen gleich drei Fachverkäuferinnen und ignorierten ihn auffällig konsequent.
Er versuchte es mit lautem Räuspern.
Nichts.
Mit einem pointierten »Guten Morgen!«.
Keine Reaktion.
Dann mit: »Ich hätte gern ein Roggenvollkornbrot und vier von den Kürbiskernbrötchen.«
Nicht eine der Angestellten schaute überhaupt in seine Richtung.
Hatte er vergessen, das T-Shirt zu wechseln?
Ein schneller Blick genügte für die Erkenntnis, dass er sogar schon geduscht hatte und jetzt ein frisches sauberes Hemd trug.
Nachdem er eine Weile ratlos gewartet hatte, kamen andere Kunden hinzu, stellten sich neben ihm vor die Theke.
Wurden sofort und ausgesprochen freundlich bedient.
Er dagegen: nicht einmal bemerkt.
Was war denn nun schon wieder los? Thor war sich keiner Schuld bewusst, verließ verärgert die Bäckerei.
Beim Fleischer – dasselbe Phänomen.
Vielleicht war er über Nacht unsichtbar geworden? Er schmunzelte. So etwas hatte er sich als Kind oft gewünscht – zu jener Zeit passierte ihm das leider nie.
Warum gerade jetzt? Unerbeten?
Mürrisch kehrte er in seine Wohnung zurück. Bereitete sich ein Frühstück mit Rührei ohne Schinken, ohne leckeres Brötchen, ohne frisches Brot.
Immerhin fand er noch eine trockene Scheibe Toast.
Setzte sich mit dem Teller vor den Computer, öffnete sein Mailprogramm.
Die Gabel blieb auf halbem Weg zum bereits geöffneten Mund in der Schwebe.
»Wow!«, entfuhr ihm, und er nahm überrascht zur Kenntnis, er habe mehr als 100 Mails in seinem Posteingang. Er checkte das Handy. Nachrichten über Nachrichten in seinem Account.
Ein noch nie dagewesenes Ereignis.
Nach dem ersten Blick in die einzelnen Nachrichten verflog seine Begeisterung vollständig.
»Du Volltrottel! Wir lassen uns von dir das Event nicht verderben!«
»Am besten, du verschwindest gleich – lös dich in Luft auf, bevor noch einer von uns nachhilft!«
»Wir lassen uns von dir und deinesgleichen keine Vorschriften machen! Du bist nur ein bedeutungsloses Würstchen! Pass bloß auf, dass du nicht in einer dunklen Ecke einen schweren Unfall erleidest!«
»Puh!« Er scrollte sich durch, las nur noch die ersten Worte, scrollte weiter. »Du liebe Güte – womit habe ich so viel Aufmerksamkeit und Wut verdient?«
Als es unerwartet an der Tür klingelte, überlegte er ernsthaft, ob er eingedenk der Drohmails wirklich öffnen sollte. Vielleicht stand irgend so ein gewaltbereiter Typ mit Brechstange auf seinem Fußabtreter. Quatsch, versuchte er den rasenden Puls nach einem Blick auf die Uhr zu beruhigen. Du erwartest deine Mitstreiter, der Gesprächstermin ist schon lange vereinbart.
Rationales Denken sollte die Angst vertreiben.
Wahrscheinlich kam nur einer der Freunde früher vorbei, weil es noch Privates zu besprechen gab. Nicht ungewöhnlich, nicht überraschend.
Als er leise zum Spion schlich und beim Blick durch den Sucher schon die Klinke hinunterdrückte, wie einen Vertrauensvorschuss, kam er sich höchst albern vor.
Zum letzten Mal in seinem Leben.
Der Rest war lodernde Panik.
An den Tischen der Eisdiele Eiszeit wurde neben der Schlemmerei ebenfalls heftig diskutiert.
»Wie kann man nur so eine idiotische Forderung in die Welt setzen? Beim Bäcker hat man mir heute früh gleich von dem Aufruf erzählt! Offenbar poppte der sofort auf, wenn man sich ins Internet einloggte. Und manche wurden dann über WhatsApp über den Text informiert. Ich bin ehrlich überrascht, wie schnell sich so eine Information dann bei uns verbreitet.« Traudels Stimme, durchdringend wie immer.
»Na ja, wenn du Aktivist bist und wahrgenommen werden willst, musst du die Medien zu nutzen wissen und natürlich Maximalforderungen aufstellen, die polarisieren. Sonst gibt es keine Diskussionen, niemand regt sich auf. Und du wirst am Ende gar nicht beachtet, deine Meinung spielt keine Rolle.«
»›Nimm’s Rad‹! So ein Schwachsinn! Wenn die Leute aus Cottbus mit dem Rad kommen, sind sie müde. Dann haben sie keine Lust mehr auf Marathon. Und die Sportler werden sich wohl auch nicht auf dem Weg hierher auspowern wollen. Ganz abgesehen davon, dass dann Gäste aus Berlin, Dresden, Leipzig oder von noch weiter weg gar nicht anreisen können. Wäre doch schade, wenn an der Piste keiner mehr den Läufern zujubelt.« Traudel schob einen Löffel Johannisbeereis mit Sahne in den Mund. »Mmmhhhmm. Lecker!«
Die Freundin schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Strecke, nicht Piste. Und sieh es mal so: Wenn wir nicht alle endlich verstehen, dass für das Klima und gegen die heraufziehende Katastrophe jetzt durchgreifend gehandelt werden muss, leiden wir alle. Und ein bisschen früher, als würden wir jetzt einschneidende Konsequenzen ziehen.«
»Ach, nun hör schon auf! Diese Panikmache geht mir ziemlich auf die Nerven. Ich sage dir, der Mensch hat sich all das selbst eingebrockt – wenn er nun die Suppe auslöffeln muss, ist das gerecht. Ist niemand anderer da, dem wir die Verantwortung überhelfen können.« Traudel zuckte mit den Schultern.
»Da ist was dran«, räumte die Freundin ein. »Deshalb sind solche Klimaaktionen wichtig. Damit die Menschen begreifen.«
Traudel hatte keine Lust mehr auf das Thema.
»Nun – alle reden hier über Thoralf, der wohl andere Aktivisten zu Aktionen gegen den Marathon angestiftet hat. Beim Bäcker, hat mir die Cordula erzählt, wurde er heute Morgen schon nicht mehr bedient – so was wird er wohl nicht noch einmal lostreten. Ist ja kein Dummer.«
»Niemand weiß, ob er wirklich hinter diesem Aufruf steckt. Das Schlimme an solchen Gerüchten ist, dass man sie, einmal in die Freiheit entlassen, nicht mehr einfangen und in eine Kiste stecken kann. Niemand wird Thoralf glauben, wenn er beteuert, mit der Sache nichts zu tun zu haben. Rauszureden, werden die Leute sagen, versucht sich ein jeder, wenn es unangenehm wird. Und je mehr er versucht, den Verdacht abzustreifen, desto mehr werden die Menschen an Nebelkerzen von ihm glauben. Eine echt vertrackte Situation.« Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass die orangerote Dauerwelle nachhaltig in Schwingung versetzt wurde. »Schwierig.«
»Wenn er nicht schon die ganze Zeit über so unbequeme Forderungen … na ja, dann würde auch niemand bereitwillig angenommen haben, er sei in diese Aktion verwickelt.« Traudel fühlte sich eindeutig auf der richtigen Argumentationsschiene. »Wenigstens distanzieren hätte er sich können. Deutlich.«
»Wann denn? Dazu wäre doch notwendig gewesen, dass er von den Vorwürfen weiß. War der Aufruf nicht von ihm, wusste er wohl noch nichts davon, als er beim Bäcker stand.«
Traudel schnaubte verächtlich.
»Der wird natürlich behaupten, nichts gewusst zu haben. Strategie, mehr nicht.«
»Eben«, triumphierte die Freundin. »Das meinte ich ja gerade. Bei dir funktioniert es auch schon. Es ist egal, was er sagen wird – man wird es drehen und wenden, bis es zur ursprünglichen Schuldannahme passt.«
»Hast du eigentlich in letzter Zeit die Eveline gesehen? Die hat so abgenommen, bestimmt ist sie krank«, wechselte Traudel abrupt das sperrige Thema. »Sie sieht ein bisschen aus wie Selma, nachdem sie ihre Krebsdiagnose bekommen hat.«
Die Freundin seufzte tief. »Lars Friedrich vom Polizeiposten Burg hat mir vor ein paar Tagen voller Bewunderung von Evelines neuem Training erzählt. Sie besucht jetzt ein Studio, hat einen straffen Trainingsplan, dessen Übungen sie brav abarbeitet. Er meint, seine Schwester habe in den letzten Monaten deutlich abgenommen und sei wild entschlossen weiterzumachen.«
»Ach? Eveline ist seine Schwester? Ich dachte, sie seien nur entfernt verwandt. Aber wenn man durch Sport so schlecht aussieht, dass halb Burg glaubt, man sei schwer erkrankt, sollte man lieber bei uns sitzen und einen der tollen Eisbecher genießen. In Evelines Alter ist es eh vorbei mit dem Traum vom Muskelaufbau.«
»Äh, nein, nein.« Die Freundin hob sogar abwehrend die Hände. »Die These ist längst als falsch belegt. Man kann in jedem Alter Muskeln aufbauen und Erfolge beim Sport haben. Spaß macht es außerdem. Das Internet ist voll von Senioren, die Rennen gewinnen, die Gewichte stemmen und sogar Preise einheimsen. Es ist toll: Burg steht schließlich für Sport. In unserem Fall dem Marathonlauf. Ich habe mich auch im Sportstudio angemeldet. Bin gespannt, was ich noch erreichen kann.« Sie kicherte leise, setzte dann energisch nach: »Komm doch mit! Zu zweit macht es sicher noch viel mehr Spaß! Und man findet deutlich weniger Ausreden, um sich zu drücken.«
Traudel versteckte ihr Gesicht hinter dem Eisbecher.
Ihre Freundin wusste: Die Informationen musste ihr Gegenüber erst mal sacken lassen.
Zu neu, zu anstrengend.
Maja Klapproth, Kollegin von Peter Nachtigall, war von seinem Plan wenig begeistert.
»Wir sollen uns um diesen jungen Mann kümmern? Gut, wir haben den Fall damals nicht bearbeitet – warum glaubt man, es sei eine gute Idee, ein neues Team dranzusetzen?«
Der Kollege atmete tief durch: »Neues Denken, neuer Ansatz. Das Team von damals gibt es nicht mehr. Zwei der drei Kollegen sind inzwischen weggezogen, der dritte …«
»Genau, zwei von dreien. Dann könnte doch der dritte …«
Verwundert bemerkte sie, wie der Kollege den Zeigefinger über die Lippen legte, und verstummte sofort.
In der Tür stand Doktor März.
»Wie ich höre, sind Sie bereits dabei, den alten Fall aufzurollen. Nun – dann sehen Sie auch, wer der ermittelnde Staatsanwalt war: ich.«
Maja spürte eine unangenehme Hitze über ihren Körper schwappen. Für einen Moment befürchtete sie gar, sichtbar zu dampfen.
»Es ging um eine Vergewaltigung. Die junge Frau war erheblich verletzt und traumatisiert, konnte sich so gut wie gar nicht an das Geschehene erinnern. Das erschwerte die Ermittlungen erheblich.« Der Staatsanwalt fühlte sich offensichtlich unwohl.
»Zeugen?« Maja hatte die heiße Welle wieder im Griff.
»Es standen viele Menschen um das Opfer herum. Gesehen haben wollte keiner etwas. Angeblich habe man niemanden beobachtet, der vom Tatort flüchtete. Alle haben sich hinter diesem kollektiven Schweigen verschanzt.« Der Staatsanwalt wirkte bedrückt. »Wir haben Verdächtige ausgemacht, die nachweislich in der Nähe des Tatorts waren. Aber es passte alles nicht zusammen. Jedenfalls nicht so, wie sich das ein Staatsanwalt gewünscht hätte.«
»Und?«, fragte Klapproth. »So ungewohnt ist diese Situation doch auch wieder nicht.«
»Nein, stimmt natürlich, das ist sie tatsächlich nicht. Einer der Verdächtigen wurde letztlich für schuldig befunden. Wie Sie sich vorstellen können, war die Situation für den Verurteilten nicht angenehm. Das Opfer war bekannt, beliebt, die gesamte Familie sozial engagiert – auch ein Resozialisierungsprogramm für straffällig gewordene Jugendliche wurde von den Eltern der jungen Frau finanziell unterstützt.«
»Und nun wurde der Verurteilte von damals in der JVA angegriffen?« Nachtigalls Stimme war die Überraschung anzuhören. »Er sitzt doch schon seit drei Jahren ein.«
»So die Lage, ja.« Doktor März seufzte tief.
»Gibt es einen Hinweis darauf, warum der Angriff auf den jungen Mann gerade jetzt stattfand?« Maja war deutlich anzusehen, dass sich ihr Mitleid mit einem Vergewaltiger, der verprügelt wurde, in engen Grenzen hielt. »Seine Entlassung war geplant?«, hakte sie nach.
»Geplant, schon kommuniziert, stand direkt bevor? Das sind genau einige der Fragen, die nun beantwortet werden müssen. Wie hat er sich geführt? Wie belastbar waren die Indizien von damals aus heutiger Sicht? Hat er versucht, mit anderen Häftlingen ins Gespräch zu kommen? Was hat er über die Tat preisgegeben? Dazu werden Sie sicher in seiner Akte Aufzeichnungen und Vermerke finden. Vielleicht hat sich die junge Frau im Freundeskreis über neue Erinnerungen an den Abend geäußert.«
»Wir haben schon alle Vorgänge angefordert«, erklärte Nachtigall. »Mit der Mutter des Verurteilten habe ich ebenfalls gesprochen. Sie war, wie nicht anders zu erwarten, sehr wütend darüber, dass der brutale Angriff auf ihren Sohn unter den Augen der Staatsgewalt möglich war.« Er atmete tief durch. »Ich verstehe gut, dass man so etwas nicht erwartet.«
»Wurde er schwer verletzt?«, erkundigte sich Doktor März leise.
»Das wissen wir noch nicht. Die Informationen haben uns gerade erst erreicht.« Klapproth zuckte mit den Schultern.
»Damals hat der junge Mann heftig bestritten, dem Mädchen zu nahe gekommen zu sein. Sie seien beste Freunde, mehr nicht. Die Spurenlage war unübersichtlich. Nach einer Party, auf der jeder mit jedem getanzt hatte, man begrüßte und verabschiedete sich mit Küsschen und Umarmung. Spermaspuren gab es nicht. Wahrscheinlich benutzte der Täter ein Kondom. Alle Ergebnisse der Ermittlungen dürftig, sehr unbefriedigend. Basis der Anklage war, dass man den Angeklagten vom Tatort hatte weglaufen sehen, er dabei einen derangierten Eindruck machte.« Damit drückte der Staatsanwalt die Klinke energisch nach unten. »Weder er noch das Opfer hatten eine Erinnerung an das Geschehen«, setzte er hinzu und verließ das Büro. Nachtigall kam es vor, als ginge er ungewohnt gebeugt.
»Er nimmt es schwer«, murmelte der Cottbuser Hauptkommissar betroffen.
»Jeder macht mal Fehler.« Klapproth hob die Hände in Richtung Decke. »Und er hat das Urteil nicht gefällt. Nur die Ermittlungsergebnisse gesammelt und ausgewertet. Offensichtlich haben die Indizien für eine Verurteilung ausgereicht. Ist sein Job.«
»Hoffen wir, dass der junge Mann nicht allzu schwer verletzt wurde.« Nachtigall öffnete eine Datei auf seinem Handy. »Hm. Bisher nur die Mitteilung, es habe eine gewaltsame Auseinandersetzung gegeben. Einer der Häftlinge sei dabei verletzt worden.«
»Mager«, kommentierte die Kollegin.
»Viel zu mager. So sehe ich das auch.«
»Wir teilen uns am besten auf. Du fährst in die JVA – ich ins Klinikum«, entschied Maja, die wusste, wie ungern der Kollege einen Besuch auf der Intensivstation übernehmen würde. Sie selbst besuchte ausgesprochen ungern die JVA. Mit gewaltbereiten Männern entglitt ihr das Gespräch leicht bis zur Unsachlichkeit.
»Ein sehr elegantes Arrangement, aber ich denke, wir fahren gemeinsam«, erwiderte der Kollege, ließ sich mit dem Vollzugsbeamten der JVA verbinden, der den frühmorgendlichen Angriff beenden konnte, und kündigte Gesprächsbedarf an.
Andreas Vollmert, der am sehr frühen Morgen zur Auseinandersetzung im Waschraum gerufen worden war, sah grau aus, das Gesicht verhärmt, der Blick, der zwischen den Besuchern und den Akten hin und her wanderte, war unruhig, die Lider zuckten heftig, die linke Augenbraue ruckte in unregelmäßigen Abständen in Richtung Haaransatz.
»Ich war sofort da. War ja deutlich zu hören, dass es Streit gab, eine handgreifliche Auseinandersetzung verläuft in den seltensten Fällen geräuschlos. Jemand schrie und stöhnte. Also bin ich rein und habe für Ruhe gesorgt, musste dann die Gruppe zur Seite drängen, damit ich sehen konnte, um wen man sich da versammelt hatte. Eine unglaublich aggressive, aufgeladene Stimmung. Der eine oder andere hat selbst dann noch versucht, nach dem am Boden Liegenden zu treten. Eine echt bedrohliche Lage, selbst für mich. Schließlich sah es für die anderen nach einer Vier-gegen-einen-Situation aus. Und bei testosteronvernebelten, gewaltbereiten Prüglern bedeutet das immer ein besonders hohes Risiko für uns Vollzugsbeamte. Natürlich habe ich sofort gehandelt. Wenn da einer auf dem Boden liegt und sich nicht rührt, während das Blut – also, da zögert man ja nicht«, versuchte der Vollzugsbeamte, die Situation nachvollziehbar zu schildern.
Nachtigall seufzte.
Hörte, wie Maja scharf die Luft einsog.
Ahnte, was nun folgen würde.
»Sie haben also den Ernst der Situation sofort realisiert, sich selbst erst einmal auf die Schulter geklopft, weil Sie sich überaus mutig in den Waschraum getraut hatten, um nachzusehen, was dort im Gange war – und dann? Was haben Sie konkret unternommen?« Klapproth genoss nicht den Ruf, besonders einfühlsam zu sein.
»Sofort die Kollegen verständigt, damit die einen Notruf absetzen konnten, und dann habe ich notiert, wer sich zur Zeit des Übergriffs im Waschraum befunden hatte. Natürlich habe ich überprüft, ob der Verletzte ansprechbar war, aber der hat das wohl gar nicht mitgekriegt.«
»Sie haben sofort die Gruppe auf Abstand gebracht, sofort geholfen, sofort die Namen der Anwesenden notiert, sofort die Kollegen alarmiert und sofort versucht, mit dem Opfer zu sprechen. Ein bisschen viel sofort – meiner Meinung nach.« Maja stand auf, schob dem Kollegen einen Zettel zu und verschwand.
Vollmert sah ihr nach, wurde womöglich noch ein bisschen blasser.
In seinen Blick zog jedoch ein neues, aggressives Funkeln ein.
»Ich weiß sehr genau, wer da verprügelt wurde. Und mir war ziemlich klar, dass es nun jede Menge Ärger geben würde. Dabei treffen ja nicht wir die Entscheidungen – das tun andere.«
»Ihre Aufgabe ist es, die Inhaftierten im Auge zu behalten, Gewalt zu verhindern. Ohne dabei den Grund der Inhaftierung zu bewerten.« Nachtigall bemühte sich um einen neutralen Ton, las die Nachricht der Kollegin. »Hintergrund«, stand dort, mehr nicht.
»Schon«, grinste der Mann selbstgefällig, »es gibt aber Grenzen. Und so einer, der selbst ausgeteilt hat, und zwar so richtig widerlich – der darf dann auch mal dafür büßen.«
»Ich kann also davon ausgehen, dass Sie sich nicht verpflichtet fühlten, rechtzeitig in die Auseinandersetzung einzugreifen, sie vielleicht sogar zu verhindern? Sie hätten geeignete Maßnahmen ergreifen können, um diese Konfrontation, die sich bestimmt schon länger angekündigt hatte, zu verhindern. Es war Ihnen ziemlich egal, ob der junge Mann verletzt oder gar sterben würde?« Nachtigalls flache Hand auf dem zierlichen Klapptisch ballte sich zur Faust.
Überrascht sah Vollmert ihn an. »Glauben Sie wirklich, der hätte auch nur einen Gedanken an die Folgen für sein Opfer verschwendet? Er hat das Mädchen auf brutalste Weise vergewaltigt. Sie leidet, wenn man den Medien glauben darf, noch immer unter den Folgen.«
Nachtigall nickte. »Ja, die Medien erinnern sich gelegentlich an diesen Fall. Aber Sie wissen sicher auch, dass Phil Brand nur aufgrund von Indizien verurteilt wurde.«
»Und? Das Gericht sah ausreichenden Tatverdacht. Also?«
»Also – warum jetzt?«, hakte Nachtigall ein.
»Der Kerl sollte entlassen werden. Das wird wohl für die anderen ausreichend Grund gewesen sein. Ihrer Meinung nach sollte man den Kerl nie wieder auf junge Mädchen treffen lassen. Tatsächlich sitzen hier einige Väter von Töchtern im relevanten Alter ein.«
Der Cottbuser Hauptkommissar plante in Gedanken bereits das weitere Vorgehen. Silke Dreier, seine zweite Kollegin, würde Videos sichten, die die Situation vor und nach dem Übergriff festgehalten hatten. Augenscheinlich empfand Vollmert eine gewisse moralische Rechtfertigung – aber er selbst brauchte Beweise, um die eventuell vorliegende unterlassene Hilfeleistung oder gar eine Mittäterschaft Vollmerts belegen zu können.
Beim Abschied hatte er einen schlechten Geschmack im Mund, wusste, seinem Magen gefiel das Ergebnis dieses Gesprächs überhaupt nicht.
Als er das Autoradio einschaltete und Nachrichten hörte, wurde das Rumoren in seinem Inneren nicht besser.
Das Opfer von damals, Amelie Hausacher, hatte sich am Vorabend des Angriffs auf Phil Brand umgebracht.
Die Eltern der jungen Frau wurden mit der Aussage zitiert, sie habe sich zum Suizid entschlossen, als sie von der bevorstehenden Entlassung des Täters erfuhr.
Ihre Tochter habe befürchtet, das Verfahren werde neu aufgerollt, und plötzlich seien all die schlecht verheilten seelischen Wunden wieder aufgebrochen.
Nachtigall spürte das Gewicht dieser Entscheidung Amelies schwer wie Blei auf seinen Schultern lasten, atmete mit Mühe tief durch.
»Umgebracht, weil der verurteilte Vergewaltiger wieder entlassen werden sollte? Das war doch noch gar nicht endgültig entschieden – oder habe ich die Worte Vollmerts falsch verstanden? Und wer hat behauptet, der Fall solle neu aufgerollt werden? Eine Gruppe Inhaftierter, die von diesem Suizid erfahren und sich sofort zur Rache entschlossen hatte? Ist das wirklich ein vorstellbares Szenario?«, murmelte er vor sich hin, während er den Wagen startete und in Richtung Cottbus zurückfuhr. »Woher konntet ihr von diesem Selbstmord wissen?«, grübelte er halblaut.
Maja hatte vielleicht geahnt, dass die Situation für Ermittlungen unübersichtlich werden könnte. Immerhin blieb die Informationslage dünn, die Männer würden sich nicht gegenseitig belasten, und Vollmert wirkte ebenfalls nicht so, als würde er seine Aussage revidieren.
Waren sie auf der richtigen Spur, oder drängten die Aussagen ein Szenario auf, das es so nie gab?
Während der Fahrt zum Büro wurde er schwankend.
Logischer wäre es anzunehmen, überlegte er, die anderen Insassen hätten doch wohl eher ihre eigene Situation im Blick. Warum sollten sie diesen Mithäftling angreifen und schwer verletzen – mit der Folge, dass man sie womöglich dafür vor Gericht stellte? Welches Motiv wäre für völlig Fremde akzeptabel, um so zu reagieren?
Er beschloss nachzuprüfen, ob sich einige, eventuell sogar alle, der gewaltbereiten Gruppe aus dem Waschraum bereits vor Haftantritt kannten. War einer von ihnen mit Amelie oder ihrer Familie womöglich persönlich bekannt?
Irgendjemand hatte offensichtlich das Gefühl, er müsse die Bestrafung des Vergewaltigers in die eigenen Hände nehmen – den Suizid der jungen Frau rächen? Wussten sie überhaupt schon vom Tod der jungen Frau? Wenn ja – woher? Gab es eine Verbindung zur Außenwelt, über die jederzeit Informationen an die Häftlinge weitergegeben werden konnten?
Er schüttelte den Kopf. Fragen über Fragen. Wie immer zu Beginn einer Ermittlung.
Maja wartete bereits auf den Kollegen.
»Ich habe Neuigkeiten zur Hintergrundrecherche«, verkündete sie sofort. »Das Opfer konnte ich leider nicht befragen. Der Mann hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, ist nicht ansprechbar. Und in seinem Körper wurden einige Knochen gebrochen, innere Organe durch mächtige Hiebe getroffen. Eine Prognose gibt es noch nicht, hat man mir erklärt. Was ich herausgefunden habe: Phil Brand stammte aus Kolkwitz, wie das damalige Opfer. Sie sind für einige Zeit in dieselbe Schule gegangen, ihre Eltern waren eng befreundet, man traf sich zum Grillen, zu Ausflügen und fuhr gemeinsam in Urlaub. Amelie und ihre Familie blieben in Kolkwitz, die Freunde zogen in ein Einfamilienhaus nach Kahren. Dadurch sahen sich auch die Kinder seltener, hielten aber wohl immer Kontakt. Seit der Vergewaltigung wohnt Amelies Familie in Werben. In der Akte steht nichts weiter dazu, aber ich könnte mir vorstellen, dass man in eine Gegend umziehen wollte, in der die Nachbarn nichts von der Tat wussten. In den Unterlagen steht allerdings auch, dass die junge Frau nicht sicher war, von ihrem Freund überfallen worden zu sein, im Gegenteil. Es gibt Aussagen, in denen sie meint, es sei vollkommen ausgeschlossen, dass er sie überfallen habe. ›Phil doch nicht!‹, war eine solche Äußerung. Konkret erinnern konnte sie sich allerdings weder direkt nach der Tat noch später.«
Sie setzten sich im Besprechungsraum an den Tisch, begannen die ersten Informationen zu sammeln und zu notieren.
»Sie hat sich umgebracht«, murmelte Nachtigall, griff nach einem Stift und notierte diesen Punkt auf einer Karteikarte.
»Was? Davon steht nichts in den Aufzeichnungen.« Maja wirkte irritiert, erschrocken und ratlos.
»Gestern Nacht wurde sie gefunden. Mehr weiß ich auch noch nicht. Es kam vorhin im Radio.« Nachtigalls Stimme war dumpf. »Ich verstehe das nicht. Noch war er doch gar nicht entlassen.«
»Du glaubst nun, die Häftlinge wussten davon, und es kam zu einer kurzfristigen Absprache? Verabredung zum Racheakt?«
»Ich weiß es nicht. Wir überprüfen, ob jemand angerufen wurde. Es würde die eigenartige Haltung Vollmerts erklären, oder? Denkbar, dass eine Stimmung entstand, die eine solch brutale Reaktion nach sich zog. Es erschien ihnen vielleicht logisch, den Vergewaltiger von damals, wie man es wohl nennen würde, krankenhausreif zu prügeln, wenn er in ihren Augen für den Suizid verantwortlich war. Aber um das herauszufinden, müssen wir mit den Männern aus dem Waschraum sprechen.«
»Ich glaube, er hatte von Anfang an einen schweren Stand. Immerhin ging es um den Tatvorwurf der brutalen Vergewaltigung einer Minderjährigen – die er auch noch sehr gut kannte. Täter und Opfer teilten sich einen Freundeskreis. In der Akte steht, nach der Party seien die beiden nach Aussagen der anderen Feiernden gemeinsam aufgebrochen. Als Amelie nicht nach Hause kam, starteten die besorgten Eltern eine groß angelegte Suchaktion. Alle wussten, dass Amelie sehr zuverlässig war, niemals ihre Eltern in solche Sorge versetzen würde. Deshalb halfen so viele Nachbarn mit. Der Hund einer befreundeten Familie fand das schwer verletzte Mädchen im Gebüsch. Der Freund war längst zu Hause, gab sich von der Nachricht überrascht und schockiert, Amelie wurde in ein künstliches Koma versetzt und konnte sich später an nichts mehr erinnern.«
»Also wurde ihr Kumpel verurteilt«, murmelte der Kollege. »Zeugen, die das Mädchen in anderer Begleitung gesehen haben, gab es demnach nicht.«
»Ja, so kann man das zusammenfassen.« Majas Miene spiegelte ihre Unzufriedenheit mit dieser Entscheidung. »Der Freund konnte sich alkoholbedingt auch nicht genau erinnern. Allerdings war er sich sicher, er habe sich von ihr verabschiedet und sei dann auf direktem Weg nach Hause geradelt.«
»Okay. Wahrscheinlich hat ihn niemand gesehen. Die Eltern haben ihn nicht nach Hause kommen hören? Immerhin war er angeblich angetrunken.« Nachtigall klang gereizt.
»Nein. Die waren an diesem Abend nicht zu Hause, haben bei Freunden in Berlin übernachtet.«
»Kein Alibi.« Nachtigall runzelte die Stirn. »Rechtsmedizinisches Gutachten? Es wurde doch sicher eine gründliche Untersuchung durchgeführt.«
»Klar. Sie kam sofort ins Carl-Thiem-Klinikum. Dort wurden alle weiteren Maßnahmen sofort eingeleitet. Schwere Verletzungen oral und vaginal. Sperma negativ. Aber ein Spermizid konnte beim Abstrich nachgewiesen werden, vermutlich wurde ein Kondom benutzt. Gewalteinwirkung gegen Kopf, Gesicht und Hals. Schläge gegen den Körper. Eine brutale Vergewaltigung. Sie war sehr schwer verletzt.«
»Hat sie niemand bis nach Hause begleitet?«
»Doch, aber eben nur bis zum Bus. Ihr Freund, Phil Brand, damals gerade 23 Jahre alt, also sieben Jahre älter als das Opfer. Er behauptete, sich an der Haltestelle von ihr verabschiedet zu haben. Als man sie befragen konnte, gab Amelie an, keine Erinnerung an diesen Abend zu haben, nicht zu wissen, wer sie angegriffen hat, konnte allerdings nicht ausschließen, dass ihr Freund Phil der Täter war. Also wurde er schließlich für die Tat verurteilt, alle Indizien sprachen gegen ihn, er leugnete die Tat vehement. Auch während der Haft blieb er bei seiner Version.«
»Und das Mädchen?«
»Wurde psychologisch betreut. Über einige Jahre.«
»Und nun haben Mithäftlinge den Vergewaltiger beinahe zu Tode geprügelt. Warum jetzt?«
»Ihr Suizid wäre ein Erklärung. Ab sofort war er vielleicht in den Augen der anderen kein Vergewaltiger mehr, sondern ein Mörder. Für mich liegt nahe, dass er nicht nur verletzt, sondern getötet werden sollte.«
Es entstand eine Pause.
»Und, weißt du schon, wie sie sich gestern umgebracht hat?«, hakte Maja nach.
»Nein. Ich habe die Mitteilung auch gerade erst gehört.«
Klapproth startete den Rechner.
Suchte offensichtlich nach konkreteren Informationen, scrollte und klickte sich durch Berichte.
»Hier ist eine Kurzmeldung der Kollegen dazu, die den Tatort aufgenommen haben. Sie hat sich im Gartenschuppen erhängt. Huh! Ungewöhnlich. Eine Überdosis Schlaftabletten hätte ich eher erwartet«, erklärte sie dann.
Sie drehte den Bildschirm so, dass der Kollege die Bilder der Auffindesituation sehen konnte.
»Wir müssen klären, ob es gesichert ein Suizid war«, ächzte Nachtigall betroffen. »Nicht ungewöhnlich, dass im Konglomerat von Vorwürfen, echter und gefühlter Schuld ein Mord unentdeckt bleibt. Wer obduziert?«
»Thorsten. Es gibt aber noch keine Ergebnisse im Computer.«
»Noch zu früh. Hm, wir schreiben ihm eine Mail und bitten ihn, uns über alle Befunde zu informieren, haken auch beim Tatortteam nach. Vielleicht gab es auffällige Spuren, die noch nicht abgeklärt werden konnten.«
Sie klickte weiter.
»Oh, es gibt durchaus interessante Posts im Internet. Ich habe hier eine Seite gefunden, die nennt sich Rache der Gesellschaft. Da wird schon seit Tagen darüber diskutiert, ob Brand wirklich entlassen werden darf, ob es nicht einer klaren Maßnahme der Gesellschaft bedürfe, damit solche Typen nie wieder … Das Übliche eben.« Maja starrte auf den Bildschirm. »Du glaubst gar nicht, was die hier so empfehlen! Grundsätzlich sind sie sich einig darüber, dass es für das Opfer ein herber Schlag wäre. Bei der Frage: ›Wie können wir die Freilassung verhindern?‹, wird die Diskussion scharf und völlig unreflektiert geführt. Klarnamen Fehlanzeige.«
»Ist denn überhaupt schon sicher gewesen, dass er entlassen werden soll? Oder beruht der ganze Sturm auf vager Annahme? Einem gestreuten Gerücht? Bisher ging ich davon aus, dass die Kollegen vor Ort rechtzeitig im Vorfeld einer solchen Entscheidung informiert würden.«
»Hätte ich auch gedacht. Und die Familie des Opfers sollte ebenfalls darüber in Kenntnis gesetzt werden. Denn es ist ja nicht auszuschließen, dass sich die beiden beim Einkaufen begegnen. Die Mutter des Verurteilten ist nach der Verurteilung des Sohnes nach Burg gezogen.«
»Hm. In die direkte Nähe zur Familie des Opfers? Werben liegt, von Cottbus aus gesehen, auf der Durchfahrtstraße nach Burg. Wahrscheinlich Zufall. Falls man in der JVA vom Suizid wusste, bedeutet das, es gibt einen raschen Informationsfluss zu den Inhaftierten. Heißt, wir müssen herausfinden, wer gestern Abend telefonieren durfte – und welche anderen Möglichkeiten es gibt, Informationen in die JVA weiterzugeben.«
»Ist es denkbar, dass die Eltern sich nicht im Klaren über den psychischen Zustand der Tochter waren? Ist schwer vorstellbar, oder?« Maja runzelte die Stirn. »Wir brauchen mehr Informationen über Amelies Familie.«
»Hätte jemand die Möglichkeit gehabt, die Männer in der JVA zu informieren, läge es nahe anzunehmen, der Angriff auf den Häftling sei auf jeden Fall eine Form von Vergeltungsmaßnahme gewesen. Aber noch können wir die Situation nicht abschließend bewerten. Wir müssen klären, ob es eine private Beziehung zwischen den Angreifern und der Familie Amelies gibt. Der Vollzugsbeamte hat vieles offengelassen.«
»Ich verstehe schon, was du meinst. Aber wäre ein solcher Gewaltausbruch nicht zum Antritt der Haft logischer gewesen? Erst jetzt, nach dem Suizid …« Sie machte eine vage Geste. »Sieht ein bisschen so aus: Vergewaltigung ist schlimm, ja – aber dafür prügeln wir dich nicht krankenhausreif, so was kann mal vorkommen, ist irgendwie okay. Aber jetzt, nach dem Suizid, hat sich die Lage verändert , das ist nicht mehr okay?« Sie räusperte sich. »Ganz ehrlich: Da bekomme ich einen heftigen Schub von Übelkeit.«
Nachtigall nickte. »Genau. Ging mir auch so. Der Beamte war nicht gerade zugänglich. Für ihn ist alles korrekt gelaufen, er selbst habe sich nichts vorzuwerfen. Meint er jedenfalls.«
»Wir rufen noch einmal im Klinikum an. Vielleicht kann man uns sagen, wann wir mit dem jungen Mann sprechen dürfen.« Maja sprang auf.
»Hey, langsam, ist ja nicht so, dass wir ihn sofort befragen können, wie du weißt! Bestenfalls bekommen wir Einsicht in seine Krankenakte, sehen, welche Befunde bei der Einlieferung erhoben werden konnten. Möglicherweise können wir uns mit dem Ärzteteam darauf verständigen, dass man uns sofort informiert, wenn der Patient Fragen beantworten kann.« Nachtigall rappelte sich auf, streckte seine fast zwei Meter Körpergröße energisch zu voller Länge. »Haben wir die Akte aus dem Klinikum, versuchen wir, von Thorsten vor dem Gespräch mit Vollmert einige hilfreiche Informationen zum Tatablauf zu bekommen – schon damit wir beurteilen können, ob der Vollzugsbeamte wirklich sofort vor Ort war und eingegriffen hat.«
Gegen Mittag versuchte Benjamin, seinen Freund Thor über die veränderte Stimmungslage im Ort in Kenntnis zu setzen. Irgendetwas war unterschwellig im Gange, offensichtlich richtete sich eine große Portion Ärger gegen die Gruppe Kipppunkt, niemand antwortete auf seine tastenden Fragen, allgemeines Schweigen breitete sich aus, sobald er in die Nähe der Einwohner Burgs kam, feindselige Blicke begleiteten jeden seiner Schritte.
Sehr sonderbar.
Auf sein Klingeln bei Thor erfolgte keine Reaktion.
Ratlos wartete er eine halbe Stunde auf den Freund, der sich selbst auf die mehrfachen Anrufe hin nicht meldete.
Sonderbar.
Benjamin rutschte nervös auf der Treppenstufe vor der Wohnung hin und her.
Konnte das Handy hinter der Tür klingeln hören.
Wurde zunehmend kribbelig.
Immerhin waren sie für heute verabredet, die Mitglieder von Kipppunkt wollten neue Aktionen besprechen, er käme also nur zu früh. Nicht überraschend. Benjamin kam meist deutlich vor den anderen Teilnehmern.
Thor meldete sich sonst immer an seinem Handy!
Nahm es sogar mit ins Bad.
Sehr ungewöhnlich.
Schließlich konnte der Freund auf dem Display sehen, wer da versuchte, ihn zu erreichen.
Benjamin erinnerte sich daran, dass Thors Vater vor einiger Zeit verstorben war.
Schlaganfall.
Ein neuer Notfall in der Familie, die Mutter vielleicht gestürzt?
Oder Thor selbst – plötzlich erkrankt?
Seine Besorgnis erreichte einen neuen Höhepunkt. »Hysteriker!«, zischte er sich zornig zu. »Immer malst du dir gleich das schlimmste Szenario aus!«
Nach weiteren 15 Minuten beschloss er, sich auf die Suche nach Anna-Sophie zu machen, die, wie er vermutete, einen Schlüssel zur Wohnung hatte.
»Tja, wie schon erwähnt: Sie können nicht mit ihm sprechen. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt, damit er …«
»Wir wissen das«, unterbrach Klapproth den Mediziner unfreundlich. »Es ist nur so, dass wir diejenigen sind, die herausfinden sollen, wer ihn so verprügelt hat, dass dieses künstliche Koma notwendig wurde.«
Entschlossen schaltete Nachtigall sich ein, übernahm an dieser Stelle die Kommunikation, formulierte ruhiger, aber eindeutig: »Sie haben den jungen Mann bei der Aufnahme sicher gründlich untersucht. Uns könnten diese Daten ermöglichen, Schlüsse zu ziehen, die uns auf die Spur des Täters führen. Ich gehe nicht davon aus, dass Sie Ermittlungen behindern wollen.«
»Sie brauchen dazu einen Beschluss. Ich werde sicher keine Daten von Patienten an x-beliebige Leute weitergeben.«
Für wenige Augenblicke beherrschte das Geräusch von Klapproths Atmung die Szenerie.
Ein Dampfdrucktopf hätte nicht deutlicher auf sich und seine Empörung aufmerksam machen können.
Hier war Imponiergehabe angebracht, entschied Peter Nachtigall, trat einen Schritt auf den Mann im weißen Kittel zu, brachte seine Größe optimal zur Geltung, schlug einen härteren und lauteren Ton an.
»Es bedarf wohl der Klarstellung einiger Fakten. Erstens: Wir sind die Ermittler in diesem Fall, gehen von versuchtem Mord aus. Zweitens: X-beliebige Leute sind wir nicht – wir haben uns korrekt als Mitarbeiter der Ermittlungsbehörde ausgewiesen und Ihnen angeboten, unsere Identität per Anruf sofort zu überprüfen. Drittens: Beschluss brauchen wir gar nicht unbedingt, es könnte theoretisch eine Gefahr für Ihren Patienten, uns Ermittler oder noch nicht bekannte Dritte vorliegen. Aber natürlich haben wir einen mitgebracht.« Er öffnete eine Datei auf dem Handy. »Musste schnell gehen. Ich schicke Ihnen den Beschluss auf Ihren PC, dann können Sie ihn ausdrucken. Wie lautet Ihre Mailadresse?«
Der Arzt zeigte sich von dem wütenden Riesen unbeeindruckt. »Mag ja alles sein, aber hier ist mein Verantwortungsbereich. Ich muss also sicher sein, dass alles seine Richtigkeit hat. Während ich Ihren Besuch abkläre, warten Sie hier und rühren sich nicht von der Stelle.«
Er wandte sich um, ließ die beiden Beamten vor der Stationstür zurück und stürmte über den Gang des gesicherten Bereichs in sein Arztzimmer.
»Hm. Polizei, Kriminalpolizei. Das reicht dem Mann nicht mehr! Sollen wir vielleicht zusätzlich Ausweise von Pullach mit uns führen? ›Diese Beamten wurden geheimdienstlich überprüft und zugelassen‹«, tobte Maja und fixierte die Tür, als könne ein telepathischer Befehl sie zum Aufschwingen bringen.
Der Kollege atmete tief durch. »Sieh es doch mal so: Wären wir mit bösen Absichten hergekommen, könnten wir zum Patienten gelangen und den Mord vollenden. Oder alle Informationen sammeln und zur Erpressung der Täter oder des Täters verwenden. So gesehen ist es doch völlig in Ordnung, dass er misstrauisch ist. Wie oft siehst du in deinem Leben einen Polizeiausweis? Woher weißt du, wie der genau auszusehen hat? Am Ende zeigte er sich uns gegenüber freundlich und entgegenkommend und müsste dann an anderer Stelle für die leichtsinnige Verfehlung geradestehen.« Er versuchte, die Stimmung runterzukühlen, wusste, dass das ein schwieriges Unterfangen war.
Wenige Minuten später öffnete sich die Tür.
»Ich habe bei Ihrer Dienststelle nachgefragt. Dort hat man Ihre Identität bestätigt. Ich habe also die Daten aus der Akte für Sie ausgedruckt, darf Ihnen die gewünschten Informationen überlassen. Dieses Vorgehen ist mit der Leitung abgesprochen.« Er klang sehr unzufrieden, und seine Miene spiegelte deutlich seine Verärgerung über die Entscheidung, die er nun umsetzen sollte.
Eine einfache Pappmappe wechselte in Nachtigalls Finger.
Der Inhalt sicher mehr als leicht; er war dürftig.
Maja Klapproth würgte einen aufschwappenden bösen Kommentar hinunter.
»Sieht mir nicht nach viel Information aus«, monierte auch Nachtigall, wog das schmale Dossier demonstrativ in der Hand.
»Was erwarten Sie?«, fauchte der Arzt zornig. »Der Patient kam in den frühen Morgenstunden ohne Bewusstsein zu uns. Einzige Information neben dem Namen für die stationäre Aufnahme: Zustand nach brutalem handgreiflichem Übergriff von mehreren Personen. Wir haben das gesamte Programm durchgeführt, wie wir es immer tun. Es gibt schließlich Leitlinien. Schädel-CT, Röntgen der in Mitleidenschaft gezogenen Extremitäten, Blutabnahme wegen möglicher Intoxikationen et cetera. In den letzten Stunden hat sich an seinem Zustand nichts Wesentliches verändert. Die erhobenen Diagnosen finden Sie in diesem Ordner. Ach, jemand von der Rechtsmedizin war auch hier. Wegen der beweissichernden Fotos der Verletzungen für ein eventuelles Strafverfahren.«
Nachtigalls Nicken drückte deutlich Zweifel aus. »Gut, dann hat die Beweisaufnahme ja wie geplant begonnen. Nun, vielleicht werden uns die bisher erhobenen Befunde und Informationen nicht reichen. Wenn wir weitere Fragen haben, kommen wir wieder auf Sie zu. Bitte benachrichtigen Sie uns sofort, wenn sich der Zustand des Patienten verändert. Sollte er ansprechbar sein, versuchen wir mit ihm zu klären, was genau vorgefallen ist.«
Der Arzt nickte zwar, wirkte aber genervt. »Ich habe Ihre Karte. Wir werden uns melden, aber ganz ehrlich, ich fürchte, das wird noch ein bisschen dauern. Die Verletzungen sind durchaus lebensbedrohlich.« Damit drehte er sich um und verschwand eilig wieder hinter der Tür zur Intensivstation.
Maja schüttelte den Kopf. »Ist doch seltsam: Sie versuchen hier, den jungen Mann zu retten – aber die Umstände, die ihn in diese Situation gebracht haben, interessieren nicht, die Aufklärung ist eher unwichtig. Dabei verschiebt sich der Vorwurf inzwischen von gefährlicher Körperverletzung zu Mordversuch.«
»Das Retten seines Lebens ist der wichtigste Punkt. Unsere Ermittlungen laufen parallel. Also los! Wir besprechen die Befunde mit Thorsten, dann wissen wir mehr. Können möglicherweise die Tötungsabsicht belegen.«
Er schlug die schmale Kladde auf. »Subdurales Hämatom. Hm, schlecht in jedem Fall. Vielleicht kann er sich an den Überfall im Waschraum nicht mehr erinnern.«
»Fahren wir zunächst zur Mutter?«, erkundigte sich Maja. »Sie wird gerne wissen wollen, wie es ihrem Sohn geht.«
Nachtigall strebte in Richtung Fahrstuhl. »Ich denke, sie ist inzwischen informiert. Sie war verständlicherweise sehr, sehr aufgebracht. Sehen wir mal …« Sein Schritt verlangsamte sich, er wandte den Kopf zur Tür der Intensivstation um.
»Stimmt was nicht?« Klapproth klang verwundert. »Irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Na ja, eigentlich würde ich erwarten, dass ein Beamter den Patienten im Auge behält«, murmelte der Kollege. »Falls es sich um einen fehlgeschlagenen Mordversuch handelt, sollte jemand aufpassen, dass der nächste Versuch gar nicht erst stattfinden kann.«
»Vielleicht sitzt der Kollege drinnen vor der Tür«, mutmaßte Klapproth, deutliche Ratlosigkeit breitete sich über ihre Züge aus.
Nachtigall blieb stehen. »Würde ein Kollege vor dem Zimmer sitzen, wäre doch der Arzt wohl kaum so erstaunt über den Besuch der Kriminalpolizei gewesen, oder?«
»Du glaubst, es wurde vergessen? Oder ist die Gefährdungslage doch nicht so hoch, wie wir sie einschätzen?« Maja sah Peter verblüfft an. »Liegt vielleicht daran, dass bisher nicht von einem Mordversuch ausgegangen wurde.«
Nachtigall schüttelte bedächtig den Kopf. Zog sein Handy hervor, tippte auf eine Kurzwahlnummer. »Doktor März, wir waren gerade beim Arzt, der den Patienten auf der Intensivstation betreut. Ein Beamter, der auf das Opfer achtet, ist uns nicht aufgefallen. Dabei ist doch Schutz notwendig, oder sehen wir das falsch? Immerhin gibt es offensichtlich einen nicht unterbundenen Informationsstrang zu den Häftlingen in der JVA. Ein weiterer Mordversuch erscheint zumindest denkbar.«
Maja beobachtete, wie es im Gesicht des Kollegen arbeitete, seine Kiefer mahlten, das Augenlid zuckte, die Brauen ruckten. Ganz eindeutig machte er sich erhebliche Sorgen.
Sekunden später war das Telefonat mit »Gut! Ab sofort? Wir bleiben vor Ort, bis der Beamte hier ist« beendet.