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Es sind die Siebziger, die Sonne scheint, und das Abenteuer wartet in den hügeligen Straßen von San Francisco. Niemand würde Mary Ann als impulsiv bezeichnen, aber als sie sich eine Auszeit in San Francisco nimmt, beschließt sie kurzum, für immer zu bleiben. Hier an der sonnigen Westküste schillern die unterschiedlichsten Persönlichkeiten um die Wette. Auch die charismatische Anna Madrigal, die für jede verlorene Seele einen Joint und einen Platz in ihrer lebhaften Stadtvilla in der Barbary Lane parat hat. Die Schützlinge der Hausherrin zeigen Mary Ann das wilde Leben im bunten San Francisco. Dabei erleben der Freigeist Mona, Schürzenjäger Brian und der schwule Michael Tolliver ihre ganz eigenen Geschichten in der lebensfrohsten Stadt Amerikas. Eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie suchen das ganz große Glück. Ursprünglich in den Siebzigerjahren erschienen, hat Armistead Maupin sich mit seinem «Stadtgeschichten» Zyklus sowohl über soziale als auch über sexuelle Barrieren hinweggesetzt, noch bevor die LGBTQIA+ Community überhaupt so genannt wurde. Er lässt seine heterosexuellen und queeren Charaktere gleichermaßen Herzschmerz und Triumph, atemraubenden Schrecken und erfreuliche Zufälle erleben. Das Ergebnis ist eine funkelnde und süchtig machende Sittenkomödie. «Ich habe mich schockverliebt. Man will sofort mit in die Barbary Lane ziehen.» eat.READ.sleep. Podcast «Maupins Erzählstil ist kult.» Cosmopolitan «Die Wärme, die von der Geschichte um den verrückten Clan aus der Barbary Lane 28 ausgeht, erreicht Leser:innen aller Geschlechter und sexuellen Orientierungen.» The New York Times
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Seitenzahl: 404
Armistead Maupin
Roman
Armistead Maupin, geboren 1944 in Washington, studierte Literatur an der University of North Carolina und arbeitete als Reporter für eine Nachrichtenagentur. Er schrieb für Andy Warhols Zeitschrift Interview, die New York Times und die Los Angeles Times. Seine Geschichten aus San Francisco, die berühmten «Tales of the City», verfasste er über fast zwei Jahrzehnte als täglichen Fortsetzungsroman für den San Francisco Chronicle. Maupin lebt mittlerweile in Großbritannien.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel «Tales of the City» bei The Chronicle Publishing Company, San Francisco.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2024
Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Stadtgeschichten» Copyright © 1993 by Rogner & Bernhard GmbH & Co. Verlags KG, Berlin, 2016 by Kein & Aber AG - Zürich - Berlin
«Tales of the City» Copyright © 1978 by The Chronicle Publishing Company, San Francisco
Covergestaltung FAVORITBUERO, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01992-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meine Mutter und meinen Vater und meine Familie im Duck House
It’s an odd thing, but anyone who disappears is said to be seen in San Francisco.
Es ist merkwürdig, aber von jedem, der verschwindet, heißt es, er sei hinterher in San Francisco gesehen worden.
Oscar Wilde
Mary Ann Singleton war fünfundzwanzig, als sie zum ersten Mal nach San Francisco kam.
Sie kam allein und wollte eine Woche Urlaub machen. Am fünften Abend stellte sie nach drei Irish Coffee im Buena Vista fest, dass ihr Stimmungsring blau schimmerte, und beschloss, ihre Mutter in Cleveland anzurufen.
«Hallo, Mom. Ich bin’s.»
«Ach, Liebling. Dein Daddy und ich haben gerade von dir gesprochen. Bei McMillan and Wife haben sie heute über diesen Irren berichtet, der reihenweise Sekretärinnen erwürgt hat, und da musste ich natürlich …»
«Mom …»
«Ich weiß schon. Deine verrückte alte Mom macht sich mal wieder ganz umsonst krank vor Sorgen. Aber es passiert doch wirklich so viel. Denk bloß an die arme Patty Hearst, die in einer Abstellkammer eingesperrt war, mit all diesen schrecklichen …»
«Mom … Ferngespräch.»
«Ach so … ja. Gott, wie musst du es gerade schön haben.»
«O ja … du machst dir keine Vorstellung! Die Leute sind hier so freundlich, dass ich mir vorkomme wie …»
«Bist du ins Top of the Mark gegangen, wie ich’s dir gesagt hab?»
«Noch nicht.»
«Dass du mir das bloß nicht auslässt! Du weißt, dahin hat mich dein Daddy ausgeführt, als er aus dem Südpazifik zurückkam. Ich weiß noch, wie er dem Bandleader fünf Dollar zugesteckt hat, damit wir zu Moonlight Serenade tanzen konnten. Und wie ich einen Tom Collins verschüttet habe über seine wunderschöne weiße Marine…»
«Mom, ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust.»
«Aber sicher, Liebling. Nur hör mir jetzt mal zu. Oh … bevor ich es vergesse: Gestern ist mir in der Ridgemont Mall Mr. Lassiter über den Weg gelaufen, und er hat mir gesagt, dass im Büro alles zusammenbricht ohne dich. Sie haben nicht viele gute Sekretärinnen bei Lassiter Fertilizers.»
«Mom, wo wir schon dabei sind …»
«Ja, mein Schatz?»
«Ich möchte, dass du Mr. Lassiter anrufst und ihm sagst, dass ich am Montag nicht komme.»
«Aber … Mary Ann, ich weiß nicht, ob du um eine Urlaubsverlängerung bitten solltest.»
«Es geht nicht um eine Verlängerung, Mom.»
«Ja, aber warum …?»
«Ich komm nicht wieder zurück, Mom.»
Stille. Dann war von weiter weg eine gedämpfte Fernsehstimme zu hören, die Mary Anns Vater zeitweilige Erleichterung bei Hämorrhoiden versprach. Schließlich war wieder ihre Mutter dran: «Red keinen Unsinn, mein Schatz.»
«Mom … Ich rede keinen Unsinn. Es gefällt mir hier. Ich fühle mich schon wie zu Hause.»
«Mary Ann, falls da ein Junge seine Finger im …»
«Es gibt keinen Jungen … Ich hab mir das gut überlegt.»
«Sei doch nicht albern! Du bist grade mal fünf Tage da!»
«Mom, ich weiß, was das für dich heißt, aber … Weißt du, das hat mit dir und Daddy überhaupt nichts zu tun. Ich möchte bloß mein eigenes Leben führen … mit einer eigenen Wohnung und so.»
«Ach, darum geht’s. Aber mein Schatz … das ist doch kein Problem. Ehrlich gesagt haben dein Daddy und ich schon mal darüber geredet, dass diese neuen Apartments draußen in Ridgemont wahrscheinlich genau das Richtige für dich wären. Die vermieten dort viel an junge Leute, und es gibt einen Swimmingpool und eine Sauna, und ich könnte dir solche zauberhaften Vorhänge nähen, wie ich sie Sonny und Vicki zur Hochzeit geschenkt habe. Und dort wärst du so ungestört, wie du …»
«Du hörst mir nicht zu, Mom. Ich versuche, dir beizubringen, dass ich eine erwachsene Frau bin.»
«Na, dann benimm dich auch wie eine! Du kannst nicht einfach … von deiner Familie fortlaufen und von deinen Freunden, um unter lauter Hippies und Massenmördern zu leben!»
«Du sitzt zu viel vor dem Fernseher.»
«Jaja … Und was ist mit dem ‹Horoskop›?»
«Wie?»
«Mit diesem Horoskop-Typen. Diesem Verrückten. Diesem Mörder.»
«Mom … Das ist der Sternzeichen-Mörder.»
«Ist doch alles eins. Und was ist mit … mit den Erdbeben? Ich hab diesen Film gesehen, Mary Ann, und ich bin fast gestorben, als Ava Gardner …»
«Würdest du bitte einfach Mr. Lassiter für mich anrufen?»
Ihre Mutter begann zu weinen. «Du kommst bestimmt nie wieder. Ich weiß es genau.»
«Mom … bitte … ich komm wieder. Das versprech ich dir.»
«Aber du bist dann nicht mehr … dieselbe!»
«Nein. Hoffentlich nicht.»
Nach dem Telefonat verließ Mary Ann die Bar und spazierte durch den Aquatic Park an die Bay. Dort stand sie einige Zeit im kalten Wind und schaute zum Leuchtfeuer auf Alcatraz hinüber. Sie schwor sich, in nächster Zeit nicht an ihre Mutter zu denken.
Als sie wieder im Fisherman’s Wharf Holiday Inn war, suchte sie Connie Bradshaws Nummer aus dem Telefonbuch heraus.
Connie war Stewardess bei United. Mary Ann hatte sie seit der Highschool nicht mehr gesehen: seit 1968.
«Fantastisch!», kreischte Connie. «Wie lang bleibst du?»
«So lang, wie’s mir gefällt.»
«Super! Hast du schon ’ne Wohnung?»
«Nein … ich … na ja, ich dachte … ob ich mich vielleicht bei dir einquartieren könnte, bis ich …»
«Aber klar. Kein Problem.»
«Connie … bist du denn solo?»
Die Stewardess lachte. «Ist ein Schimmel weiß?»
Mary Ann zerrte ihren Rucksack in Connies Wohnung und sank seufzend in einen mit falschem Zebrafell bezogenen Pilotensessel.
«Na … dann seid gegrüßt, Sodom und Gomorrha.»
Connie lachte. «Deine Mom ist ausgeflippt, was?»
«Frag nicht!»
«Armes Kind! Ich kenn das Gefühl. Als ich meiner Mom gesagt hab, dass ich nach San Francisco gehe, hat die sich gar nicht mehr eingekriegt mit ihrem Gekeife! Es war unsäglich viel schlimmer als den Sommer, wo ich bei Up With People mitmachen wollte! Schon damals hat meine Mom nur Zustände gekriegt, obwohl ich wild entschlossen war, die ganze Welt zu missionieren!»
«O Gott … das hatt ich schon fast vergessen.»
Connies Blick verklärte sich in der Erinnerung. «Tja … He, hast du nicht ’n ordentlichen Durst, Schatz?»
«Doch.»
«Rühr dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich zurück.»
Im Handumdrehen kam Connie mit zwei United-Gläsern und einer Flasche Banana Cow aus der Küche zurück. Sie schenkte Mary Ann ein.
Mary Ann nippte vorsichtig. «Hm … wenn man sich hier so umsieht, dann bist du ja praktisch schon eine Einheimische, wie? Das … ist doch schon was.»
«Doch schon was» war das Netteste, wozu Mary Ann sich durchringen konnte. Connies Wohnung war eine wilde Mischung aus Plastik-Tiffany-Lampen und knöcheltiefen Zottelteppichen, gestickten Snoopy-Bildern und Kätzchenplakaten mit Kopf-hoch-Parolen, Salatschüsseln aus den Tropen und Pflanzenampeln aus Makramee und – bitte nicht!, dachte Mary Ann – einem Pet Rock. Mary Ann waren diese neckischen bunten Tierfigürchen aus Stein ein Graus.
«Ich hatte Glück», sagte Connie strahlend. «Wenn du fliegst und so … da kannst du auf deinen Trips ’ne Menge Kunstobjekte aufgabeln.»
«Mhmm.» Mary Ann überlegte, ob Connie ihr Stierkämpferbild auf schwarzem Samt als Kunstobjekt ansah. Die Stewardess lächelte unbeirrt. «Schmeckt der Bananenmix?»
«Wie? Ach so … ja. Toll.»
«Ich trink das Zeug für mein Leben gern.» Zur Bekräftigung nahm sie gleich noch ein paar Schlucke. Danach schaute sie Mary Ann an, als wäre ihr gerade erst bewusst geworden, dass die in ihrer Wohnung saß. «Mensch, du! Wir haben uns ja lange nicht gesehen!»
«Ja. Zu lange. Acht Jahre.»
«Acht Jahre … Acht Jahre! Du siehst aber gut aus. Du siehst so richtig … He, soll ich dir mal was ganz Schauerliches zeigen?»
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang sie auf und ging zu einem Bücherregal, das aus sechs orangen Foremost-Milchkästen bestand. Mary Ann konnte Die Möwe Jonathan, Du bist dein bester Freund, Die sinnliche Frau, Der Weg der Wärme und More Joy of Sex erkennen.
Connie griff nach einem großformatigen, in burgunderrotes Plastik gebundenen Buch und streckte es Mary Ann entgegen.
«Tätarä-tä!»
«Ach du meine Güte! Der Freibeuter?»
Connie nickte triumphierend und zog sich einen Stuhl heran. Sie klappte das Schuljahrbuch auf. «Du fällst garantiert tot um, wenn du deine Frisur siehst!»
Mary Ann fand ihr Bild aus der Abschlussklasse. Ihr Haar war sehr blond und mit Akribie gebügelt. Sie trug den obligatorischen Pullover mit Perlenkette. Und obwohl er wegretuschiert war, wusste sie noch genau, wo der Pickel saß, der ihr am Fototag gesprossen war.
Unter dem Foto stand:
MARY ANN SINGLETON
«Stille Wasser sind tief»
Pep Club 2,3,4
Future Homemakers of America 3,4
National Forensic League 4
Plume and Palette 3,4
Mary Ann schüttelte den Kopf. «Ruhe in Frieden», sagte sie und verzog das Gesicht.
Connie verzichtete gnädig darauf, ihre eigene Kurzbiografie zu präsentieren. Mary Ann kannte sie nur zu gut: Vortänzerin bei den Cheerleaders, drei Jahre lang Klassenkassiererin und Vorsitzende der YWCA-Teens. Connies Wasser waren rasch und seicht geflossen. Sie war beliebt gewesen.
Mary Ann kämpfte sich in die Gegenwart zurück. «Und was machst du so … zum Vergnügen, meine ich?»
Connie rollte mit den Augen. «Rate mal.»
«Lieber nicht.»
«Na gut … Zum Beispiel.» Connie beugte sich über den Kaffeetisch – eine umgearbeitete Flugzeugtür – und kramte eine Ausgabe von Oui heraus. «Liest du so was?», erkundigte sich Mary Ann.
«Nein. Die hat irgendein Kerl dagelassen.»
«Oh.»
«Schlag mal Seite siebzig auf.»
Mary Ann blätterte sich zu einem Artikel durch, der die Überschrift trug: «Gemischte Sauna – Willkommen zur saubersten Orgie der Welt». Illustriert war er mit einem fotografierten Wirrwarr aus Beinen, Brüsten und Hinterteilen.
«Reizend.»
«Das ist unten an der Valencia Street. Da zahlt man seinen Eintritt und nimmt, was kommt.»
«Du warst schon dort?»
«Nein. Aber ich hätte nichts dagegen.»
«Ich fürchte, auf mich musst du verzichten, wenn du vorhast, da …»
Connie lachte herzhaft. «Keine Angst, mein Schatz. Das sollte nicht heißen, dass wir beide … Du bist neu hier. Lass dir Zeit. Diese Stadt ist genau das Richtige zum Lockerwerden.»
«So locker werd ich nie sein … oder so verzweifelt.»
Connie zuckte mit den Schultern und wirkte ein wenig gekränkt. Sie trank noch einen Schluck Banana Cow.
«Connie, ich wollte nicht …»
«Schon gut, mein Schatz. Ich weiß, wie’s gemeint war. Mensch du, ich hab einen Riesenhunger. Wie wär’s mit einem kleinen Hamburger Helper?»
Nach dem Abendessen legte sich Mary Ann für eine Stunde hin.
Im Traum sah sie sich in einem großen gekachelten Raum voll Dampf. Sie war nackt. Ihre Mutter und ihr Vater waren da und schauten sich durch die Dampfschwaden hindurch im Fernsehen Geh aufs Ganze an. Connie kam mit Mr. Lassiter herein, der Mary Ann wütend beschimpfte. Mary Anns Eltern schrien auf Monty Halls ersten Kandidaten ein.
«Nimm die Kiste», kreischten sie. «Nimm doch die Kiste …»
Mary Ann wurde wach. Sie stolperte ins Bad und spritzte sich Wasser ins Gesicht.
Als sie das Schränkchen über dem Waschbecken öffnete, stieß sie auf eine ganze Rasierwasserkollektion: Brut, Old Spice, Jade East.
Connie war offensichtlich immer noch beliebt.
Die Diskothek hieß Dance Your Ass Off. Mary Ann fand das unanständig, sagte aber nichts. Connie war zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihre Marisa-Berenson-Masche einzustimmen.
«Der Trick ist, dass du total gelangweilt aussehen musst.»
«Das sollte einem hier nicht schwerfallen.»
«Wenn du einen fürs Bett willst, Mary Ann, dann sieh zu, dass du …»
«Ich hab nie gesagt, dass ich das will.»
«Sagen tut’s natürlich nie jemand! Aber merk dir eins, mein Schatz: Wenn du nicht weißt, was du sexuell willst, dann erlebst du in dieser Stadt nichts als böse Überraschungen.»
«Sehr schön gesagt. Du solltest bei Gelegenheit einen Country-&-Western-Song daraus machen.»
Connie stöhnte genervt auf. «Komm jetzt. Und versuchwenigstens, ein anderes Gesicht zu machen als Tricia Nixon bei der Truppeninspektion.» Sie ging voran und besetzte ein abgetakeltes Sofa an der Wand.
Der Raum sollte locker-lässig wirken: ziegelrote Wände, rotierende Brauereischilder und Flohmarktkitsch. Hennagefärbte Frauen und Männer in Rugby-Shirts standen in dekorativen Grüppchen an der Bar, als posierten sie für eine Seagram-Reklame.
Während Connie was zu trinken besorgte, setzte sich Mary Ann verlegen auf das Sofa und zwang sich, Vergleiche mit Cleveland sein zu lassen.
Aus einigen Metern Entfernung taxierte ein Mädchen in Cowboystiefeln, Trainingshose und einer mit rotem Eichhörnchenfell besetzten Bomberjacke Mary Anns Hosenanzug aus Polyester mit abschätzigem Blick. Mary Ann schaute weg, doch die Folge war bloß ein anderes Gegenüber – rückenfreies Flechtkleid mit Stegkragen, schwarze Fingernägel, Bürstenhaarschnitt und blasierter Blick.
«Da steht ein Kerl an der Bar, der ist Robert Redford wie aus dem Gesicht geschnitten.» Connie brachte die Drinks. Einen Tequila Sunrise für sich, Weißwein für Mary Ann.
«Was ist mit den Warzen?», fragte Mary Ann und griff nach dem Wein.
«Wie?»
«Der Typ. Hat er Warzen? Robert Redford hat Warzen.»
«Das ist ja abgedreht … Du, ich hab Lust auf ein bisschen wildes Bäng-Bäng. Stürmen wir die Tanzfläche?»
«Ich glaube, ich lasse … das Ganze erst mal auf mich wirken. Geh du ruhig schon vor.»
«Bist du sicher?»
«Ja. Danke. Mach dir um mich keine Sorgen.»
«Wie du willst, Schätzchen.»
Kaum war Connie in der Disco verschwunden, setzte sich ein langhaariger Typ in einem griechischen Bauernhemd neben Mary Ann auf das Sofa. «Stör ich, oder kann ich mich setzen?»
«Sicher … Ich meine, nein.»
«Tanzen ist wohl nicht dein Ding, was?»
«Na ja, nicht gerade im Moment.»
«Stehst du dann mehr auf Geistiges?»
«Ich weiß nicht, was …»
«Was bist du für ein Zeichen?»
Am liebsten hätte Mary Ann gesagt: «Ein Stoppschild.» Sie sagte: «Rate mal.»
«Mhhmm … Du stehst auf Spielchen. Okay … Ich würde sagen, du bist Stier.»
Das saß. «Stimmt … Wie hast du das gemacht?»
«Ganz einfach. Stiere sind grauenhaft stur. Es gibt keinen, der dir freiwillig verrät, was er für ein Sternzeichen ist.» Er beugte sich so weit vor, dass Mary Ann sein Patschuli riechen konnte, und sah ihr direkt in die Augen. «Doch unter der rauen Schale des Stiers schlägt das Herz eines hoffnungslosen Romantikers.»
Mary Ann rückte sachte ein Stück zur Seite.
«Und?», sagte der Mann.
«Was, und?»
«Du bist doch eine Romantikerin, oder? Du magst Erdfarben und neblige Abende und Lina-Wertmüller-Filme, und bei der Liebe lässt du Kerzen mit Zitronenduft brennen.» Er griff nach ihrer Hand. Sie zuckte zurück. «Keine Angst», sagte er sanft. «Ich mach dir noch keinen Antrag. Ich will mir bloß deine Herzlinie ansehen.»
Er ließ seinen Zeigefinger über Mary Anns Handfläche gleiten. «Sieh dir mal deinen Ansatz an», forderte er sie auf. «Er liegt genau zwischen Jupiter und Saturn.»
«Was bedeutet das?» Mary Ann blickte auf seinen Finger. Er lag zwischen ihrem Mittel- und ihrem Zeigefinger. «Das bedeutet, dass du ein sehr sinnliches Wesen bist», erklärte der Typ. Er ließ seinen Finger vor- und zurückgleiten. «Das stimmt doch, oder? Du bist doch ein sehr sinnliches Wesen?»
«Na ja, ich …»
«Weißt du, dass du genau wie Jennifer O’Neill aussiehst?»
Mary Ann stand ruckartig auf. «Nein, aber wenn du noch ein bisschen mehr schleimst …»
«Aber, aber, Mädchen. Schon gut, schon gut. Ich dräng mich nicht auf …»
«Gut. Dann geh ich nach nebenan. Weidmannsheil.» Sie ging in die Disco, um ihre Freundin zu suchen. Connie befand sich im Auge des Hurrikans und tanzte mit einem Schwarzen, der knielange Lurexhosen und Glitzerschuhe mit Keilabsätzen trug.
«Was ist los?», fragte die Stewardess, als sie an den Rand der Tanzfläche gewackelt kam.
«Ich bin geschafft. Kann ich die Wohnungsschlüssel haben?»
«Stimmt was nicht, Schatz?»
«Nein, nein. Ich bin bloß müde.»
«Ein heißer Typ?»
«Nein, bloß … Könnte ich bitte die Schlüssel haben, Connie?»
«Hier hast du die Zweitschlüssel. Und träum was Schönes.»
Als Mary Ann in den 41er-Bus stieg, wurde ihr schlagartig klar, warum Connie immer ein zweites Paar Schlüssel dabeihatte.
Mary Ann sah sich Mary Hartman, Mary Hartman an, drehte dann den Fernseher ab und schlief ein.
Es war nach zwei, als Connie nach Hause kam.
Sie war nicht allein.
Mary Ann drückte sich gegen die Rückenlehne des Sofas, steckte den Kopf unter die Decken und stellte sich schlafend. Connie und ihr Gast stolperten auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer.
Die Stimme des Mannes klang etwas whiskeyverwaschen, doch Mary Ann wusste sofort, wer er war.
Er fragte nach Kerzen mit Zitronenduft.
Mary Ann schlich sich kurz vor Morgengrauen aus der Wohnung. Ihr grauste vor der Aussicht auf ein Trix-Frühstück zu dritt.
Sie wanderte durch die Straßen des Marina-Viertels, hielt Ausschau nach «Zu vermieten»-Schildern und aß später im International House of Pancakes ein enormes Frühstück.
Um Punkt neun war sie die erste Kundin eines Maklerbüros an der Lombard Street.
Sie wollte eine schöne Aussicht, ein Sonnendeck und einen Kamin für unter hundertfünfundsiebzig Dollar.
«Ogottogott», sagte die Maklerin. «Für ein Mädchen ohne Job sind Sie ja ganz schön wählerisch.» Sie bot Mary Ann ein «hübsches Studio in Lower Pacific Heights mit voll elektrifizierter Küche, Spannteppich und Teilausblick auf das Fillmore Auditorium» an. Mary Ann sagte Nein.
Am Schluss blieben ihr drei Möglichkeiten.
Zur ersten gehörte eine sittenstrenge Vermieterin, die wissen wollte, ob Mary Ann «Marihuana nahm».
Die zweite war eine rosa Stuckfestung an der Upper Market mit Goldflitter im Deckenputz.
Die letzte lag auf dem Russian Hill. Mary Ann kam um halb fünf dort an.
Das Haus stand an der Barbary Lane, einem aus Holzplanken gezimmerten schmalen Verbindungssteg, der zwischen der Union und der Filbert von der Leavenworth abging. Es war ein ziemlich verwittertes, mit braunen Schindeln verkleidetes zweistöckiges Gebäude. Mary Ann fühlte sich an einen alten Bären erinnert, in dessen Fell sich trockenes Laub verfangen hatte. Das Haus gefiel ihr auf Anhieb.
Die Vermieterin war eine Frau von Mitte fünfzig und trug einen pflaumenfarbenen Kimono.
«Ich bin Mrs. Madrigal», sagte sie fröhlich. «Ganz Mittelalter.»
Mary Ann lächelte. «So alt wie ich heute können Sie sich gar nicht fühlen. Den ganzen Tag bin ich schon wegen einer Wohnung unterwegs.»
«Dann lassen Sie sich Zeit. Sie haben hier so was Ähnliches wie eine Aussicht, wenn man den kleinen Flecken Bucht gelten lässt, der zwischen den Bäumen durchschimmert. Nebenkosten sind natürlich inklusive. Ein kleines Haus. Nette Leute. Sind Sie diese Woche angekommen?»
«Sieht man das so deutlich?»
Die Hausbesitzerin nickte. «Der Blick sagt alles. Sie können es nicht erwarten, in den Lotos zu beißen.»
«Wie? Ich versteh nicht …»
«Tennyson. Sie wissen doch: ‹Dann äß ich Lotos Tag für Tag, / Schaute der Welle, die am Strand sich kräuselt, / Des weißen Schaumes zarter Krümmung nach, / Und weihte völlig Geist und Herz / Der› … Was war das bloß, was war das bloß? … Na, Sie verstehen schon.»
«Ist die Wohnung denn … möbliert?»
«Wechseln Sie nicht das Thema, wenn ich Tennyson zitiere.»
Mary Ann war irritiert, doch dann merkte sie, dass die Vermieterin lächelte. «Sie werden sich an mein Geplapper schon gewöhnen», sagte Mrs. Madrigal. «Bei den anderen war das auch so.» Sie ging ans Fenster, wo der Wind ihren Kimono flattern ließ wie ein glänzendes Gefieder. «Die Wohnung ist möbliert, ja. Was sagen Sie, meine Liebe?»
Mary Ann sagte Ja.
«Gut. Dann gehören Sie jetzt zu uns. Willkommen in der Barbary Lane 28.»
«Ich danke Ihnen.»
«Ja, das sollten Sie auch.» Mrs. Madrigal lächelte. Ihr Gesicht hatte etwas leicht Verhärmtes, doch Mary Ann kam zu dem Schluss, dass sie wirklich sehr nett war. «Haben Sie irgendwelche Vorbehalte gegen Haustiere?», fragte die neue Mieterin.
«Meine Liebe … Ich habe gegen gar nichts Vorbehalte.»
In Hochstimmung marschierte Mary Ann bis zur Ecke Hyde und Union und rief vom Searchlight Market aus Connie an. «Hallo. Was glaubst du, was passiert ist?»
«Bist du entführt worden?»
«Oh … Connie, es tut mir leid. Ich habe mich nach einer Wohnung …»
«Ich hab Todesängste ausgestanden.»
«Das tut mir schrecklich leid. Ich … Connie, ich hab eine entzückende Wohnung auf dem Russian Hill gefunden, zweiter Stock in einem echt tollen Haus … Und ich kann morgen einziehen.»
«Oh … das ging ja schnell.»
«Es ist so niedlich! Am liebsten würd ich es dir jetzt sofort zeigen.»
«Klingt ganz nett. Hör zu, Mary Ann … Also, wenn du irgendwie Geldprobleme hast oder so, kannst du bei mir wohnen bleiben, bis …»
«Ich hab doch was gespart. Trotzdem schönen Dank. Du warst ganz toll.»
«Für dich doch immer. Aber … was machst du denn heute Abend, Schatz?»
«Mal überlegen. Ach, ja. Robert Redford holt mich um sieben ab. Wir gehen bei Ernie’s essen.»
«Versetz ihn. Er hat Warzen.»
«Und was krieg ich an seiner Stelle?»
«Das Schärfste, was die Stadt zu bieten hat. Social Safeway.»
«Social was?»
«Safeway, Dummerchen. Wie Supermarkt.»
«Ja, so hab ich das auch verstanden. Aber du weißt ja besser als ich, wo kleine Mädchen ihren Spaß haben können.»
«Zu deiner Information, Kleines, Social Safeway ist nun mal … na ja, es ist halt das … Tollste überhaupt. Nicht mehr und nicht weniger.»
«Für die, die auf Lebensmittel abfahren.»
«Für die, die auf Männer abfahren, Dummchen. Das ist hier Tradition. Jeden Mittwochabend. Und du brauchst nicht mal so auszusehen, als wärst du auf Anmache aus.»
«Das glaub ich nicht.»
«Es gibt nur eine Möglichkeit, es dir zu beweisen.»
«Und was soll ich machen? Hinterm Gemüse in Deckung gehen, bis ein nichtsahnender Börsenmakler des Wegs kommt?»
«Sei um acht bei mir in der Wohnung, Mädchen. Du wirst schon sehen.»
Ein Dutzend Reklametafeln baumelten von der Decke des Marina Safeway und umschmeichelten die Kundschaft mit einer doppeldeutigen Botschaft: «Nachbarn sind wir schon. Freunde wollen wir noch werden.»
Und Freunde fand man hier tatsächlich.
Als Mary Ann sich umsah, schlenderte gerade ein blonder Mann in einem Stanford-Sweatshirt auf eine Brünette in einem rückenfreien Jeanskleid zu. «Ähm … Entschuldige, aber kannst du mir vielleicht sagen, ob man besser Saffola-Öl oder Wesson-Öl nimmt?»
Das Mädchen sagte kichernd: «Wofür?»
«Das ist ja nicht zu fassen», sagte Mary Ann und griff nach einem Einkaufswagen. «Jeden Mittwochabend?»
Connie nickte. «Das Wochenende ist auch nicht grade von Pappe.» Sie packte einen Wagen und stürzte sich in einen besonders belebten Gang. «Bis später. Es läuft besser, wenn man allein ist.»
Mary Ann schlenderte zur Obst- und Gemüseabteilung. Connies heidnisches Paarungsritual würde sie nicht daran hindern, hier einzukaufen.
Dann zupfte sie jemand am Ärmel.
Es war ein mondgesichtiger Kerl um die fünfunddreißig. Er trug einen legeren Anzug mit einem weißen Kunstledergürtel und passenden Schuhen. «Sind das die Dinger, die man zum chinesisch Kochen braucht?», fragte er und deutete auf die Zuckerschoten.
«Ja», sagte sie so wenig einladend wie möglich.
«Toll. Ich such schon die ganze Woche danach. In letzter Zeit fahr ich nämlich total auf chinesisches Essen ab. Ich hab mir schon einen Wok und so zugelegt.»
«Aha. Jedenfalls sind das die richtigen. Also dann … gutes Gelingen.» Sie kratzte im wahrsten Sinn des Wortes die Kurve und steuerte auf die Kasse zu. Ihr Angreifer ließ nicht locker.
«He … hallo, könntest du mir nicht ein bisschen was über chinesisches Essen erzählen?»
«Wie käme ich dazu.»
«Zier dich nicht so. Die meisten Mädels hier in der Stadt stehen total auf chinesisches Essen.»
«Dann bin ich die Ausnahme.»
«Okay. Schon verstanden. Jeder nach seiner Fasson, was? Worauf stehst du denn?»
«Aufs Alleinsein.»
«Okay. Schon gut, schon gut. Du hast wohl grade deine Tage, du Zicke!»
Er ließ sie zwischen den Gefriertruhen stehen. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest hielt sie den Rand einer der Truhen umklammert, und ihr Atem klang wie ein gepresstes Notsignal. «Mein Gott», flüsterte sie mit trockener Stimme, als eine einzelne Träne auf eine Packung Sara-Lee-Brownies fiel.
«Reizend», sagte ein Mann neben ihr.
Mary Ann wurde stocksteif. «Was?»
«Ihr Freund dort … der mit der spritzigen Antwort. Ein wirklich vornehmer Mensch.»
«Sie haben alles mit angehört?»
«Nur die zärtlichen Abschiedsworte. War der Rest besser?»
«Nein. Es sei denn, man findet es toll, sich mit Charlie Manson über Zuckerschoten zu unterhalten.»
Der Mann zeigte beim Lachen schöne weiße Zähne. Mary Ann schätzte ihn auf ungefähr dreißig. Er hatte lockige braune Haare und blaue Augen und trug ein weiches Flanellhemd. «Manchmal trau ich hier meinen Augen nicht», sagte er.
«Das kann ich mir vorstellen.» Hatte er sie weinen sehen?
«Das Fürchterliche ist, dass die ganze Stadt übers Sich-Auseinandersetzen und Miteinanderkommunizieren und all den Scheiß aus dem Wassermannzeitalter redet, und dabei brechen sich die meisten noch immer einen ab, damit sie so wirken, wie sie nicht sind … Entschuldigung, ich hör mich wohl wie ein Briefkastenonkel an, was?»
«Nein. Ganz und gar nicht. Ich … bin ganz Ihrer Meinung.»
Er streckte ihr die Hand entgegen. «Ich heiße Robert.» Nicht Bob oder Robbie, sondern Robert. Kraftvoll und direkt. Sie ergriff seine Hand. «Ich bin Mary Ann Singleton.» Sie wünschte sich, dass er ihren Namen behalten würde.
«Tja … auch auf die Gefahr hin, mich wie Charlie Manson anzuhören … wie wär’s mit einem kleinen kulinarischen Ratschlag für einen glücklosen Mann?»
«Gern. Aber doch wohl nicht zu Zuckerschoten?»
Er lachte. «Nicht zu Zuckerschoten. Zu Spargel.»
Mary Ann hatte dieses Thema noch nie so aufregend gefunden. Sie las gerade Roberts Reaktion auf ihr Sauce-hollandaise-Rezept aus seinen Augen, als ein schnauzbärtiger junger Mann mit seinem Einkaufswagen heranrollte. «Dich kann man auch keine Minute allein lassen.» Er sprach mit Robert.
Robert gluckste. «Michael … das ist Mary Ann … äh …»
«Singleton», ergänzte Mary Ann.
«Das ist Michael. Wir wohnen zusammen. Mary Ann hat mir ihr Hollandaise-Rezept verraten, Michael.»
«Sehr schön», sagte Michael lächelnd zu Mary Ann. «Er macht eine scheußliche Hollandaise.»
Robert zuckte mit den Schultern. «Michael ist bei uns zu Hause der Küchenchef. Und daraus leitet er das Recht ab, mir das Leben zur Qual zu machen.» Er grinste seinen Mitbewohner an.
Mary Anns Hände waren feucht.
«Ich bin auch keine besonders gute Köchin», sagte Mary Ann. Wie kam sie bloß dazu, Robert beizuspringen? Robert brauchte ihre Unterstützung nicht. Robert wusste nicht einmal, dass sie neben ihm stand.
«Sie war mir eine große Hilfe», behauptete Robert. «Das ist mehr, als ich von anderen Leuten sagen kann.»
«Jetzt krieg dich aber wieder ein», meinte Michael grinsend.
«Na ja», sagte Mary Ann matt. «Ich glaube, ich muss jetzt … weiter.»
«Schönen Dank für Ihre Hilfe», sagte Robert. «Ehrlich.»
«War nett, Sie kennenzulernen», sagte Michael.
«Gleichfalls», erwiderte Mary Ann und schob ihren Wagen in den Gang mit den Hygieneartikeln. Als Connie gleich darauf um die Ecke kam, stand ihre Freundin niedergeschlagen da und quetschte eine Rolle Charmin.
«Total scharf!», sagte die Stewardess. «Hier geht heute echt die Post ab!»
Mary Ann warf das Toilettenpapier in ihren Wagen. «Ich hab Kopfschmerzen, Connie. Ich glaub, ich geh nach Hause. Okay?»
«Na ja … Wart noch kurz. Ich komm mit.»
«Connie, ich … ich wär gern allein. Okay?»
«Klar. Okay.»
Sie sah beleidigt aus. Wie immer.
Connie kam eine Stunde nach Mary Ann aus dem Marina Safeway zurück.
Geräuschvoll ließ sie ihre Einkäufe auf den Küchentresen plumpsen. «Also», sagte sie auf dem Weg ins Wohnzimmer, «ich hab jetzt Bock auf die Union Street. Du hast wohl eher Bock aufs Schlafengehen, was?»
Mary Ann nickte. «Ich muss mich morgen um einen Job kümmern und den Umzug machen. Da muss ich fit sein.»
«Vom Abstinent-Sein kriegt man Pickel.»
«Ich werd mir’s merken», sagte Mary Ann, während Connie schon zur Tür hinausstakste.
Mary Ann setzte sich zum Abendessen vor den Fernseher. Sie aß Steak mit Salat und Happy Potatoes – Connie schwor auf diese Kombination, wenn es darum ging, Männer bei Laune zu halten. Sie stöberte in Connies Plattensammlung (The Carpenters, Percy Faith, 101 Strings) und schaute sich dann die Bilder aus More Joy of Sex an. Kurz vor Mitternacht schlief sie auf dem Sofa ein.
Als sie aufwachte, war das Zimmer lichtdurchflutet. Die Müllabfuhr rumpelte die Greenwich Street entlang. Eine Schlüsselkette schlug klimpernd gegen die Wohnungstür.
Connie schleppte sich herein. «Es ist kaum zu glauben, wie viele Arschlöcher es in dieser Stadt gibt!»
Mary Ann setzte sich auf und rieb sich die Augen. «Schlimme Nacht, hm?»
«Schlimme Nacht, schlimmer Morgen, schlimme Woche, schlimmes Jahr. Diese Spinner! Die Scheiße ist, dass ich dauernd bei denen lande. Wenn irgendwo im Umkreis von hundert Kilometern ein Spinner rumrennt, ist die gute alte Connie Bradshaw gleich zur Stelle und geht mit ihm aus. Scheiße!»
«Wie wär’s mit einem Kaffee?»
«Was ist los mit mir, Mary Ann? Kannst du mir das mal sagen? Ich hab zwei Titten und einen netten Arsch. Ich wasche mich. Ich bin eine gute Zuhörerin …»
«Nun komm schon. Wir brauchen beide einen Kaffee.»
Die Küche taugte in ihrer perversen Niedlichkeit überhaupt nicht als Ort für eine frühmorgendliche Seelenmassage. Mary Ann schaute aus zusammengekniffenen Augen auf die Doris-Day-gelben Wände und die kleinen Behälter, hinter deren Sichtfenstern getrocknete Bohnen lagerten.
Connie verschlang eine Schale Trix. «Ich glaub, ich werd Nonne», sagte sie.
«In dem Outfit wirst du dann im Dance Your Ass Off sicher zum Star.»
«Ach wie lustig.»
«Okay. Was war los?»
«Du willst es doch gar nicht wissen.»
«Will ich schon. Du bist also in die Union Street gegangen?»
«Zu Perry’s. Dann ins Slater Hawkins. Aber die richtige Pleite kam erst im Thomas Lord’s.»
Mary Ann goss ihr eine Tasse Kaffee ein. «Was ist denn passiert?»
«Wenn ich das mal selber wüsste! Ich sitz ganz unschuldig an der Bar und trink so vor mich hin, als ich drüben am Kamin diesen Kerl entdecke. Ich hab ihn sofort erkannt, weil ich mit ihm letzten Monat auf seinem Hausboot in Sausalito eine kleine Nummer geschoben habe.»
«Eine kleine Nummer geschoben?»
«Gevögelt.»
«Schönen Dank.»
«Na … ich also rüber zu dem Kerl. Jerry Sonstwas. Ein deutscher Name. Wildlederhose, ein Halskettchen aus türkisen Kürbisblüten und eine Brille à la John Denver. Einfach umwerfend. Auf … na ja … so auf die Art wie drüben im Marin eben. Ich sag also zu ihm: ‹Hallo, Jerry, wer hält denn das Hausboot warm?›, und da gafft mich das Arschloch bloß an, als wär ich irgend ’ne Nutte von der Market Street oder was. Weißt du, als würd er mich nicht mal erkennen. Ich bin mir vorgekommen wie der letzte Dreck.»
«Kann ich mir vorstellen.»
«Deshalb hab ich dann gesagt: ‹Connie Bradshaw von den Friendly Skies of United.› Bloß hab ich es … in einem richtig zickigen Ton gesagt, damit er’s auch schnallt.»
«Hat er aber nicht?»
«Nein, verdammt noch mal! Er sitzt bloß da in seiner Hochnäsigkeit und glotzt stoned durch die Gegend. Schließlich bietet er mir einen Platz an, und dann macht er mich mit diesem Danny bekannt, einem Freund von ihm. Danach steht das Arschloch einfach auf und geht raus, und mich lässt er mit diesem Danny allein. Der hatte grade so ein Therapiewochenende hinter sich, und da hat er mich dann vollgelabert mit lauter Scheiß von Abstand zum Selbst gewinnen und so.»
«O Gott. Und was hast du gemacht?»
«Was konnte ich schon machen? Ich bin mit Danny nach Hause gegangen. Sollte ich etwa zulassen, dass er mich auch sitzen lässt und ich dann allein meine Salzstangen mampfe? Nein! Es gibt schließlich so was wie Stolz!»
«Richtig.»
«Jedenfalls hat Danny eine wirklich süße Wohnung in Mill Valley, mit Redwoodtäfelung und ganz viel farbigem Glas und so, aber er ist total besessen von der Ökologie. Kaum hatten wir einen Joint geraucht, brabbelte er mir auch schon einen vor über die Rettung der Wale in Mendocino und über die Zerstörung der Ozonschicht durch Intimspray für Frauen.»
«Was?»
«Du weißt schon. Spraydosen. Und diese dämliche Ozonschicht. Auf jeden Fall war ich da schon ziemlich stoned, und dann hab ich gesagt, dass meiner Meinung nach jede Frau das unveräußerbare … das unveräußerliche Recht … Wie heißt es denn nun?»
«Unveräußerlich.»
«Das unveräußerliche Recht hat, Intimspray zu benutzen, wenn sie das möchte, Ozonschicht hin oder her!»
«Und …?»
«Und er hat gesagt, nur weil ich die bizarre Vorstellung habe, dass meine … na, du weißt schon … schlecht riecht, ist das noch lange kein Grund, den Rest der Welt der ultravioletten Strahlung und dem Hautkrebs auszusetzen. Oder so was in der Art.»
«Na … das war ja ein erquicklicher Abend.»
«Dieser Kerl ist doch einfach unglaublich. Nicht nur, dass er mich mit diesem ganzen Ökoscheiß überzieht, nein … es passiert noch nicht mal was.»
«Es ist nichts passiert?»
«Nichts. Null. Er kutschiert mich den ganzen Weg über die Brücke, und bloß zum Quatschen. Er sagt, er will zu mir als Person einen Bezug herstellen. Pah!»
«Und … Was hast du gesagt?»
«Ich hab ihm gesagt, er soll mich nach Hause fahren. Und weißt du, was er da gesagt hat?»
Mary Ann schüttelte den Kopf.
«Er hat gesagt: ‹Tut mir leid, dass du umsonst gesprayt hast.›»
Ein paar Stunden später zog Mary Ann von Connies Wohnung in die Barbary Lane 28 um. Ihr Umzugsgut bestand aus einem Rucksack. Connie war erkennbar deprimiert.
«Du kommst mich doch mal besuchen, oder?»
«Klar. Und du musst zu mir auf Besuch kommen.»
«Hand aufs Herz?»
«Hand aufs Herz.»
Beide glaubten nicht daran.
An ihrem ersten Vormittag in der Barbary Lane suchte Mary Ann im Branchenbuch nach dem Schlüssel zu ihrer Zukunft. Laut einer großformatigen, mit Gänseblümchen verzierten Anzeige war die Metropolitan Employment Agency eine «individuelle Arbeitsvermittlung, der Ihre Zukunft am Herzen liegt».
Das hörte sich gut an. Zuverlässig und doch mitfühlend.
Mary Ann schlang ein Instant Breakfast runter, zog ihr dezentes marineblaues Kostüm an und stieg in den 41er-Union Richtung Montgomery Street. Ihr Horoskop versprach an diesem Tag «unvergleichliche Möglichkeiten für Sie, wenn Sie den Stier bei den Hörnern packen».
Die Agentur befand sich im vierten Stock eines gelb verklinkerten Gebäudes, in dem es nach Zigarren und Salmiakgeist roch. Jemand mit einem Auge für zeitgenössische Kaliforniensia hatte die Wände des Wartezimmers mit Jugendstilplakaten und einem aus Treibholz und Kupfer gefertigten Relief einer fliegenden Möwe geschmückt.
Mary Ann setzte sich. Da niemand zu sehen war, griff sie nach einem Heft der Zeitschrift Office Management. Sie las gerade einen Artikel über Avocadozucht im Büro, als aus einem Nebenraum eine Frau auftauchte.
«Haben Sie schon ein Formular ausgefüllt?»
«Nein. Ich wusste nicht …»
«Auf dem Pult dort. Ich kann Sie nicht vorlassen, solange Sie kein Formular ausgefüllt haben.»
Mary Ann füllte ein Formular aus. Mit den Fragen quälte sie sich ab. Verfügen Sie über ein Auto? Würden Sie eine Stelle außerhalb von San Francisco annehmen? Beherrschen Sie eine oder mehrere Fremdsprachen?
Sie trug das Formular zu der Frau ins Nebenzimmer. «Ich bin fertig», sagte sie so freundlich und verbindlich wie möglich.
Die Frau grunzte. Sie nahm Mary Ann das Formular ab und rückte die an einer Kette baumelnde Brille auf ihrer kleinen Schweinchennase zurecht.
Sie hatte eine Entenschwanzfrisur mit eingefärbten Strähnchen. Während sie das Formular prüfte, fingerte sie an einem Schreibtischspielzeug herum: vier Stahlkugeln, die an Schnüren von einem Gestell aus Walnussholz baumelten.
«Kein Abschluss», sagte die Frau schließlich.
«Meinen Sie … vom College?»
Die Frau brauste auf. «Ja. Vom College, meine ich.»
«Ich war zwei Jahre auf einem Junior College in Ohio, wenn das …»
«Zwischenprüfung?»
«Ja.»
«Ja und?»
«Was?»
«Worin hatten Sie Ihre Zwischenprüfung?»
«Oh. In Kunstgeschichte.»
Die Frau lächelte affektiert. «Von der Sorte haben wir aber garantiert mehr als genug.»
«Macht ein Abschluss denn wirklich so viel aus? Ich meine … für einen Sekretärinnenjob?»
«Na hören Sie mal! Ich hatte schon Doktorandinnen als Tippsen.» Sie redete in der ersten Person, als wären die jobbenden Studentinnen ihre Leibeigenen. Sie schrieb etwas auf eine Karteikarte und überreichte sie Mary Ann. «Das ist eine kleine Büroartikelfirma an der Market Street. Der Verkaufsleiter braucht ein Girl Friday. Fragen Sie nach Mr. Creech.»
Der entpuppte sich als rotgesichtiger Mann um die fünfzig. Er trug ein burgunderrotes Polyestersakko mit übergroßem Fischgrätmuster. Seine Hose und die Krawatte hatten die gleiche Farbe.
«Haben Sie schon mal im Verkauf gearbeitet?» Er lächelte und lehnte sich in seinem quietschenden Drehstuhl zurück.
«Nein … na ja, nicht so richtig. Die letzten vier Jahre habe ich bei Lassiter Fertilizers in Cleveland als Sekretärin gearbeitet. Ich war nicht direkt im Verkauf, aber … wissen Sie … ich hatte eigentlich mit allem zu tun.»
«Klingt gut. Firmentreue. Das ist immer ein gutes Zeichen.»
«Die letzten anderthalb Jahre war ich auch noch Assistentin in der Geschäftsleitung, und in meiner Zuständigkeit lagen mehrere …»
«Schön, schön … Ich nehme an, Sie wissen, was ein Girl Friday ist?»
«So eine Art Mädchen für alles … oder?» Sie lachte nervös auf.
«Die Bezahlung ist gut. Sechshundertfünfzig im Monat. Und es geht sehr locker zu bei uns … Schließlich sind wir in San Francisco.» Er fixierte Mary Ann und fing an, am Knöchel seines Zeigefingers herumzukauen.
«Mir gefällt es … wenn es im Büro etwas ungezwungener zugeht», sagte Mary Ann.
«Mögen Sie Vegas?»
«Sir?»
«Earl.»
«Wie?»
«Ich heiße Earl. Ungezwungen … so sagten wir doch, nicht?» Grinsend wischte er sich über die Stirn. Er schwitzte ziemlich stark. «Ich habe gefragt, ob Ihnen Vegas gefällt. Wir sind ziemlich oft in Vegas. Vegas, Sacramento, L.A., Hawaii. Das bringt ’ne Menge Spesen zusätzlich.»
«Klingt ja … richtig gut.»
Er zwinkerte ihr zu. «Wenn Sie nicht … Sie verstehen … zugeknöpft sind.»
«Ach.»
«Ach was?»
«Ich bin zugeknöpft, Mr. Creech.»
Er schnappte sich eine Büroklammer vom Schreibtisch und bog sie, ohne hochzuschauen, langsam auseinander. «Die Nächste», sagte er ruhig.
«Sir?»
«Raus mit Ihnen.»
Sie ging nach Hause in ihre neue Wohnung und heulte. Als die Nachmittagssonne sich durch das Fenster ergoss, schlief sie ein. Um fünf wachte sie auf und scheuerte aus therapeutischen Gründen die Küchenspüle blitzblank. Sie aß etwas Blaubeerjoghurt und machte eine Liste von Dingen, die sie für ihre Wohnung brauchte.
Sie schrieb einen Brief an ihre Eltern. Optimistisch, aber vage. Draußen vor der Tür war ein Geräusch. Nach kurzem Lauschen öffnete sie. Sie sah gerade noch flatternde pflaumenfarbene Seide, die nach unten entschwand.
Mary Ann fand einen Zettel an ihrer Tür:
Eine Kleinigkeit aus meinem Garten, um dich in deinem neuen Heim willkommen zu heißen.
Anna Madrigal
PS: Ich bring dich um, wenn du deiner Mutter etwas davon sagst.
Auf dem Zettel klebte ein fein säuberlich gerollter Joint.
Die Frau unten an den Mülltonnen hatte krause rote Haare und trug ein aufgepepptes Farmerinnenkleid aus Baumwolle.
Naserümpfend ließ sie ihre Hefty-Tüte in eine der Tonnen fallen und lächelte Mary Ann an. «Müll ist sehr aussagekräftig, kann ich dir nur sagen. Tarotkarten sind ein Dreck dagegen!»
«Was würdest du sagen zu … Moment mal … vier Joghurtbechern, einer Cost-Plus-Tüte, ein paar Avocadoschalen und diversen Plastikfolien?»
Die Frau drückte ihre Finger gegen die Stirn wie ein Medium. «Ah, ja … die Person sorgt gut für sich … wenigstens, was die Ernährung angeht. Wahrscheinlich ist sie auf Diät, und sie … richtet eine neue Wohnung ein!»
«Unheimlich!», sagte Mary Ann lächelnd.
«Außerdem … züchtet sie gern Pflanzen. Sie hat den Avocadokern nicht weggeworfen, und das heißt, dass sie ihn wahrscheinlich in der Küche eingepflanzt hat.»
«Bravo!» Mary Ann streckte ihr die Hand entgegen. «Ich bin Mary Ann Singleton.»
«Ich weiß.»
«Aus meinem Müll?»
«Von unserer Vermieterin. Unserer Urmutter.» Sie schüttelte Mary Anns Hand mit festem Griff. «Ich bin Mona Ramsey … von direkt unter dir.»
«Hallo. Du hättest sehen sollen, was unsere Mutter mir gestern Abend an die Zimmertür geklebt hat.»
«Einen Joint?»
«Sie hat es dir erzählt?»
«Nein. Das gehört hier zum Standardprogramm. Wir kriegen alle einen.»
«Hat sie das Zeug im Garten?»
«Gleich da drüben hinter den Azaleen. Sie hat den Pflanzen sogar Namen gegeben … Dante zum Beispiel, oder Beatrice, oder … Da fällt mir ein, willst du vielleicht etwas Ginseng?»
«Was?»
«Ginseng. Ich hab grade welchen gekocht. Komm doch mit hoch.»
Monas Wohnung im ersten Stock war mit indischen Wandbehängen, einer Sammlung von Straßenschildern und Kugellampen aus dem Art déco verschönert. Ihr Esstisch war eine riesige Kabeltrommel. Ihr Sessel eine umgearbeitete viktorianische Toilette.
«Früher hatte ich mal Vorhänge», sagte sie lächelnd und reichte Mary Ann einen Becher Tee, «aber nach einiger Zeit sah’s mir hier mit den Paisleystoffen viel zu altmodisch und … höheretöchtermäßig aus.» Sie zuckte mit den Schultern. «Außerdem … was soll’s … vor wem verberge ich denn schon meinen Körper?»
Mary Ann schaute aus dem Fenster. «Was ist mit dem Haus da drüben …?»
«Nein … ich meine … mehr so … Vor dem Kosmos kann niemand etwas wirklich verbergen. Unter den Strahlen des Großen Heilenden Lichts sind wir alle … na ja … wahrhaft nackt. Wen schert es da, wenn man seine Haut zeigt?»
«Der Tee schmeckt wirklich …»
«Warum willst du als Sekretärin arbeiten?»
«Woher weißt du, was …?»
«Die Übermutter. Mrs. Madrigal.»
Mary Ann konnte ihren Ärger nicht verbergen. «Sie bringt die Neuigkeiten ganz schön schnell unter die Leute, was?»
«Sie mag dich.»
«Hat sie dir das gesagt?»
Mona nickte. «Magst du sie nicht?»
«Na … ja … ich meine, ich kenn sie noch nicht lang genug, um …»
«Sie glaubt, dass du sie abgedreht findest.»
«Na großartig. Die Psychokiste wird gleich mitgeliefert.»
«Findest du sie denn abgedreht?»
«Mona, ich … Ja, ich glaube schon», sagte sie lächelnd. «Vielleicht liegt es ja an mir. Bei uns in Cleveland gibt es keine solchen Leute.»
«Wie schade für Cleveland.»
«Ja, vielleicht.»
«Sie will dich in die Familie aufnehmen, Mary Ann. Versuch’s doch mal. Okay?»
Monas gönnerhafte Art ärgerte Mary Ann. «Ich hab damit keine Probleme.»
«Nein. Noch nicht.»
Mary Ann nippte schweigend weiter an dem höchst merkwürdig schmeckenden Tee.
Die beste Nachricht kam ein paar Minuten später. Mona arbeitete als Werbetexterin für Halcyon Communications, eine angesehene Werbeagentur am Jackson Square.
Edgar Halcyon, der Chef, brauchte Ersatz für seine Privatsekretärin, die «ihm schwanger geworden» war.
Mona arrangierte ein Vorstellungsgespräch für Mary Ann.
«Sie haben doch nicht vor, wieder nach Cleveland abzuhauen, oder?»
«Sir?»
«Bleiben Sie auf Dauer hier?»
«Ja, Sir. Ich liebe San Francisco.»
«Das sagen alle.»
«In meinem Fall ist es zufällig die Wahrheit.»
Halcyons buschige weiße Augenbrauen zuckten nach oben. «Sind Sie zu Ihren Eltern auch so frech, junge Frau?»
Mary Ann blieb ungerührt. «Was glauben Sie, warum ich nicht nach Cleveland zurückkann?»
Es war gewagt, aber es funktionierte. Halcyon warf den Kopf zurück und lachte schallend. «Okay», sagte er, um Fassung ringend. «Das war’s.»
«Sir?»
«Das ist das letzte Mal, dass Sie mich so lachen sehen. Ruhen Sie sich ein bisschen aus. Ab morgen arbeiten Sie für den schrecklichsten Kerl, den diese Stadt zu bieten hat.»
Mrs. Madrigal jätete im Garten Unkraut, als Mary Ann in die Barbary Lane zurückkam.
«Du hast den Job, nicht?»
Mary Ann nickte. «Hat Mona angerufen?»
«Nein. Ich wusste einfach, dass es klappt. Du kriegst immer, was du willst.» Mary Ann zuckte lächelnd mit den Schultern. «Ja, ich glaube schon.»
«Wir beide haben viel gemeinsam, Liebes … Ob dir das bewusst ist oder nicht.»
Mary Ann ging auf die Haustür zu, blieb dann stehen und drehte sich um. «Mrs. Madrigal?»
«Ja?»
«Ich … Vielen Dank für den Joint.»
«Gern geschehen. Liebes. Ich denke, du wirst Beatrice mögen.»
«Es war nett von Ihnen, dass Sie …»
Die Hausherrin schickte sie mit einem Wink fort. «Geh und sag deine Gebete auf oder so. Du stehst jetzt im Berufsleben.»
Halcyon Communications war in einer früheren Inkarnation eine Lebensmittelgroßhandlung gewesen. Jetzt strahlten einem von den dezenten Ziegelwänden Supergraphics und Mietkunst entgegen. Würdige Damen, die am Jackson Square nach Louis-quinze-Schnäppchen suchten, verwechselten die Sekretärinnen des Hauses häufig mit exquisiten Mannequins.
Mary Ann gefiel das.
Was ihr nicht besonders gefiel, war ihr Job.
«Ist die Fahne draußen, Mary Ann?»
Das war am Morgen Halcyons erste Frage. An jedem Morgen. «Ja, Sir.» Mit jeder Sekunde fühlte sie sich weniger wie Lauren Hutton. Wer würde von Lauren Hutton verlangen, schon vor neun Uhr morgens die amerikanische Flagge aufzuziehen?
«Haben wir keinen Kaffee mehr?»
«Ich habe ihn im Konferenzraum bereitgestellt.»
«Was ist das denn wieder für eine komische … O Gott! … Adorable ist da?»
Mary Ann nickte. «Konferenz um neun.»
«Verdammt! Sagen sie Beauchamp, er soll seinen Hintern hierherbewegen. Aber dalli.»
«Ich hab’s schon bei ihm versucht, Sir. Er ist noch nicht im Haus.»
«O Gott!»
«Ich könnte es bei Mildred versuchen, wenn Sie möchten. Manchmal trinkt er unten in der Produktion Kaffee.»
«Ja, los.»
Mary Ann rief an und kam sich dabei vor wie eine Fünftklässlerin, die einen Mitschüler verpetzt hatte. Sie mochte Beauchamp Day; trotz seiner Verantwortungslosigkeit. Vielleicht mochte sie ihn sogar wegen seiner Verantwortungslosigkeit.
Beauchamp war Edgar Halcyons Schwiegersohn, der Ehemann von DeDe Halcyon, deren Debütantinnenball auch schon eine ziemliche Weile zurücklag. Nach seinem Studium in Groton und Stanford war der hübsche junge Bostoner 1971 als Trainee zur Bank of America nach San Francisco gekommen und natürlich wie geschaffen gewesen für den eleganten Junggesellenclub The Bachelors.
Den Klatschspalten zufolge hatte er seine spätere Frau 1973 beim Spinsters Ball kennengelernt. Binnen Monatsfrist genoss er die Freuden von Poolpartys in Atherton, Brunches auf Belvedere Island und Skiausflügen nach Tahoe.
Die Balz zwischen DeDe und Beauchamp verlief rasant. Die beiden heirateten im Juni 1973 auf den sonnenbeschienenen Hängen von Halcyon Hill, dem Sitz der Brautfamilie in Hillsborough. Die Braut hatte darauf bestanden, barfuß zu heiraten. Sie trug ein Folklorekleid von Adolfo, geordert bei Saks Fifth Avenue. Ihre Mitbewohnerin in Bennington und Brautjungfer, Muffy van Wyck, trug ausgewählte Verse von Kahlil Gibran vor, zu denen ein Streichquartett das Thema aus Elvira Madigan spielte.
Nach der Hochzeit erklärte die Brautmutter, Frannie Halcyon, gegenüber Reportern: «Wir sind so stolz auf DeDe. Sie war immer eine ganz besondere Individualistin.»
Beauchamp und DeDe zogen in ein elegantes Art-déco-Penthouse auf dem Telegraph Hill. Sie waren generöse Gastgeber, und man traf sie häufig bei wohltätigen Ausschweifungen … anscheinend gingen alle Leute zu so was, bloß nicht Mary Ann Singleton.
Mary Ann hatte während eines Softballmatchs mit einer befreundeten Agentur (Halcyon gegen Hoefer, Dieterich & Brown) einmal kurz mit DeDe geplaudert. Mrs. Day wirkte auf die Sekretärin ganz und gar nicht versnobt, doch Mona fand, dass eine Dina-Merrill-Frisur bei einer Sechsundzwanzigjährigen lächerlich aussah.
Beauchamp jedoch hatte an jenem Nachmittag wunderbar ausgesehen und die Wurfzone des Pitchers in einen Miniolymp verwandelt.
Blaue Augen, schwarze Haare und glänzende braune Arme, die sich von einem leicht verwaschenen grünen Lacoste-Hemd abhoben …
Mary Ann hatte richtig getippt. Beauchamp trank in der Produktion Kaffee.
«Seine Majestät verlangen nach Eurer Anwesenheit in den königlichen Gemächern.» Sie hatte keine Bedenken, Beauchamp gegenüber solche Respektlosigkeiten zu gebrauchen. Sie war überzeugt, dass sie es mit einem Gleichgesinnten zu tun hatte.
«Bestellen Sie ihm, der prinzliche Kretin sei auf dem Weg.»
Sekunden später stand Beauchamp neben ihrem Schreibtisch und zeigte sein selbstbewusstes Jünglingslächeln. «Lassen Sie mich raten. Ich habe Mist gebaut bei der Abrechnung für Adorable, stimmt’s?»
«Noch nicht. Um neun ist eine Konferenz angesetzt. Er war nervös, das ist alles.»
«Er ist immer nervös. Außerdem habe ich den Termin nicht vergessen.»
«Das war mir klar.»
«Sie halten mich doch für einen fähigen Kerl, nicht?»
«Als Etatdirektor?»
«Als Ganzes?»
«Das ist unfair. Wollen Sie ein Dynamint?»
Beauchamp schüttelte den Kopf und lümmelte sich in einen der Barcelona-Sessel. «Ist er nicht ein richtiger Arsch?»
«Beauchamp …»
«Wie steht’s morgen mit dem Mittagessen?»
«Ich glaube, da ist er schon belegt.»
«Nicht er. Sie. Wird er Sie für eine Stunde aus Ihrem Käfig lassen?»
«Oh … Ja, sicher. Machen wir’s auf die deutsche Art?»
«Nein, ich lade sie ein.»
Mary Ann kicherte, zuckte dann allerdings zusammen, als Halcyon sich über die Gegensprechanlage meldete. «Ich will ihn jetzt sehen», sagte ihr Chef.
Beauchamp stand auf und zwinkerte Mary Ann zu. «Na ja, von wollen kann bei mir keine Rede sein.»
Edgar musterte seinen Schwiegersohn. Er fragte sich, wie ein so adretter, beredter und im Großen und Ganzen vorzeigbarer Mensch eine so furchtbare Nervensäge sein konnte.
«Ich denke, du weißt, worum es geht.»
Beauchamp beugte sich vor und schnippte ein Stäubchen von seinen Gucci-Schuhen. «Ja, um den Spruch für die Strumpfhosen. Ich finde, dass die Zweihundertjahrfeier da drin nichts zu suchen hat.»