Stark wie die Mark - Rudolf Stratz - E-Book

Stark wie die Mark E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Der Roman berichtet vom Leben, Lieben und Irren, von Kampf, Schuld und Reue des Achim von Bornim von Schloss Sommerwerk. Äußerlich macht er eine glänzende Karriere: Wir begleiten den neunzehnjährigen Fähnrich in den 1880er Jahren auf der Kriegsschule der preußischen Armee, begegnen ihm wieder als jungen Leutnant und auf weiteren Karrierestufen, die so ganz nach dem Gusto seines Vaters, des einflussreichen preußischen Politikers sind, der sogar mit Bismarck persönlich verkehrt. Doch hinter den Kulissen ist da noch eine ganz andere Geschichte: Unweit von Schloss Sommerwerk, auf Wendisch-Wische, lebt Kaspar von der Zültz mit seiner kleinen Tochter Ilse, der in arge finanzielle Nöte geraten ist. Als der alte Bornim, Achims Vater, ihm jede Hilfe kategorisch verweigert, jagt er sich eine Kugel durch den Kopf. Für Ilse ist fortan nichts mehr, wie es war. Als Achim ihr Jahre später wiederbegegnet, spürt er, dass er Gefühle für Ilse empfindet, die über die bloße Verantwortung hinausgehen. Doch da ist auch noch Otto Lauckardt, Achims Rivale aus dem Militär, der ebenfalls ein Auge auf Ilse geworfen hat. Als Ilse plötzlich verschwindet, heftet sich Otto ihr auf die Versen, will sie als seine Braut heimbringen, während Achim seine Jugendliebe nun ganz aus den Augen verliert ... Rudolph Stratz' breit angelegter Roman ist ein wahres Epos über Schicksal und Selbstbestimmung, Liebe und Herzenskälte, Flucht und Verantwortung, das dem Preußen vor dem Ersten Weltkrieg ein eindrucksvolles Denkmal setzt.-

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Rudolf Stratz

Stark wie die Mark

Roman

Saga

Stark wie die Mark

© 1913 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711507179

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Der, den wir in diesem Buch ein gutes Stück seines Lebens durch Kampf und Fehle, durch Schuld und Reue und Irrtum und Erkenntnis begleiten wollen, der war an diesem Potsdamer Frühlingstag eigentlich noch ein grüner Junge. Erst nahe an neunzehn. Ein Portepeefähnrich, wie die hundert anderen Kriegsschüler um ihn. Silberglanz der Berliner Gardeinfanterie an Kragen und Aufschlägen. Die Reihen neben ihm entlang auf Pickelhauben und Pelzmützen und Stahlhelmen, auf Czakos und Czapkas, über den jungen Gesichtern die Wappen aller Fürsten zwischen Maas und Memel: der fliegende Adler und der steigende Löwe, der Greif und die Sonne, das Hirschhorn und das springende Ross. Mit Ausnahme der Bayern die ganze deutsche Armee.

Noch nicht anderthalb Jahrzehnte nach dem grossen Krieg von 1870 ... in der ersten Hälfte der achtziger Jahre ... Und der erste Mai ... Ein tiefblauer Himmel über dem alten Potsdam und seinem Stadtschloss, vor dessen Front die Fähnriche aufmarschiert standen. Frühlingsgrün drüben über den weissen Marmorgruppen des Lustgartens ... davor die sandige Exerzierfläche ... Auf die brannte die Sonne ... Fern klimperte vom Turm der Garnisonkirche, hoch über den Grabstätten Friedrichs des Grossen und seines Vaters, des Soldatenkönigs, das Glockenspiel sein uraltes „Üb immer Treu und Redlichkeit ...“ Dann Stille. Erwartungsvolles Schweigen.

Der Fähnrich Achim von Bornim sah aus, wie ein Fähnrich aussehen soll. Lang, mager, stramm, den ersten Flaum auf den Lippen, mit einem verwegen-dienstlichen Gesichtsausdruck. Seine spöttischen und klugen grauen Augen musterten lebhaft den Paradeplatz. Mochten die Kameraden dösen, im Stehen, die Köpfe hängen lassen wie die Schwadronsgäule, oder gar fortwährend gähnen, wie diese Oberschlafmütze, der Kürassierfähnrich Lauckardt, zwei Mann von ihm ... Er war ein anderer Kerl ... Und überhaupt ... Von Kindesbeinen an hier zu Hause, in Potsdam, seinen Kasernen und Kasinos.

Drüben, am Rand des Lustgartens, harrte das erste Garderegiment zu Fuss seines Kriegsherrn. Kaiser Wilhelm der Siegreiche wollte heute das erste Bataillon besichtigen, das sein Enkel, der Major Prinz Wilhelm, befehligte. Achim von Bornim blinzelte sachkundig zu dem Regiment hinüber. Tadellose Kerle! Wie ’ne lange Mauer! Eine Mauer aus drei bunten Längsstreifen, dem Gelb der spitzen Blechhelme, dem Blau der Röcke, dem Weiss der Hosen. Das war wie ineinandergebacken. Das rührte sich so wenig, wie wenn man daheim auf Sommerwerk die grosse Dampfdreschmaschine abgestellt hatte.

Nur etwas flackerte leise im Maiwind. Zerschossene und vergilbte Seidenfetzen an den drei Fahnenstangen. An den Stangen blinkte etwas. Silberne Ringe. Die trugen die Namen derer, die bei Königgrätz und Gravelotte mit der Fahne in der Hand gefallen.

Und allerhand Gedanken im Kopf des Fähnrichs von Bornim: die Fahne hatte mein Vetter Stobberow damals gerade zu fassen gekriegt, da blieb er schon tot. Und sein Bruder. Und die Vettern Hellmich und Henning Bornim, die armen Kerle, und ... na ja ... im Krieg ... Es sollte mal wieder Krieg geben. Besser als Kriegsschule ... Herrgott ja ... Die Franzosen! Bismarck musste doch vernünftig sein und mal wieder anfangen ... Und Moltke! ... Na, Moltke war doch natürlich gleich dabei ...

Der Offizier du jour der Kriegsschule, der Premierleutnant der Jäger von Herrenknecht, hinkte vorbei. Er hatte noch zwei Chassepotkugeln im Bein und auf der Brust das Eiserne Kreuz. Das Eiserne Kreuz war überall. Auch Feldwebel trugen es drüben in der Front. Nur bei den Leutnants war es schon sehr rar geworden.

Sobald es wieder losging, holte man es sich auch! ... Hoffentlich bald! ... 1870 platzte die Bombe ja auch so aus heiler Haut, mitten in den Hundstagen! Achim von Bornim träumte sich das vor, wie es gegen den Feind ging. Hinten lagen die abgelegten Tornister und war der Boden weiss von weggeschmissenen Spielkarten ... vorn, weit drüben die Rothosen ... Hui — das pfiff ... krach: die erste Granate ... da stürzten schon Mannschaften — da fielen die ersten Herren ... kalt Blut ... ruhig zielen ... vorwärts auf die verfluchte Bande! ... Er sah das vor sich. Er hatte es hundertmal im Kasino gehört. Immer noch sprachen ja die Mitkämpfer von den drei Kriegen. Noch lebte die grosse Zeit.

Verdammter Friede! Dummes Zeug, was die andern Junker halblaut um ihn schwatzten. Der brünette Husarenfähnrich von Solkowski, der Sohn des einflussreichen Hofpolen, musste sich natürlich dicke tun und aus hohen Kreisen erzählen. Die Kaiserin Augusta war immer noch krank. Es werde für sie in den Kirchen gebetet. Und auch die Fürstin Bismarck sei leidend. Bei der grossen Soiree zu fünfhundert Gedecken, die der Reichskanzler am Sonnabend in seinem Palais in der Wilhelmstrasse gebe, werde die Gräfin Rantzau die Honneurs machen ...

„Ach ... Du Polack!“ dachte sich Achim von Bornim. Immerhin: Leute von Rang und Namen, in der Gnadensonne des Thrones, imponierten ihm doch, auch wenn es Sarmaten waren. Hinter ihm stritten der Fähnrich von Rakenitz, ein Sachse, und der Württemberger Freiherr Thürmer von Neudeck über das neue, versuchsweise bei ein paar Bataillonen eingeführte Repetiergewehr! Eine tolle Knarre! ... Schoss immer nach rechts ... Klemmte sich im Löffel fest ... „Also mir isch’s recht!“ sprach der biedere Schwabe gottergeben. „Ich wollt’ lieber, ich wär’ schon zu End’ mit der saudummen Kriegsschul’!“

Zugleich gähnte im ersten Glied der Kürassierfähnrich Lauckardt ungeduldig: „Herrgott, Kinders ... nun könnt’ es aber mal losgehen!“

Er war ein grosser, hellblonder, rosiger Bursche, in weissem Koller, nicht so windhundmager wie die andern, sondern eher zu breitschultriger Fülle neigend, mit einem weichlichen, verwöhnten Lächeln. Achim von Bornim wandte sofort kampflustig seinen hageren gebräunten Kopf zu ihm herum. Mochte in Gottes Namen ein Kerl von Kreuzzugadel wie der Thürmer von Neudeck auf die Kriegsschule schimpfen. Aber diesem Lauckardt liess er nichts durch. Den musste man immer ducken, mit seiner Selbstgefälligkeit. Er sprach so scharf, als wäre er ein Vorgesetzter: „Sagen Sie mal, Lauckardt ... Sie sind wohl verrückt?“

„Wieso?“

„Sie geniessen hier das ganz unmassgebliche Glück, Seine Majestät zu sehen! Der Kronprinz kommt. Prinz Wilhelm. Dort drüben steht das erste Regiment der Christenheit ... Ja — was wollen Sie denn eigentlich noch auf der Welt?“

Die Fähnriche ringsum lachten über seinen hochmütigen Verweis. Achim von Bornim hatte einen gewaltigen Einfluss auf sie. Er gab sich kaum Mühe, es darauf anzulegen. Es kam ganz von selbst. Sie hatten ihn gleich in den ersten Tagen zu einem ihrer Inspektionsältesten gewählt. Sie hieben förmlich, mit halblauten Worten, auf den Kürassier ein.

„Still, Lauckardt!“

„Sie haben’s nötig!“

„Kss! Kss!“ hetzte aus dem dritten Glied der Fähnrich von Chambaut de Chauvet. Jeder wusste: Lauckardt und der von Bornim standen sich wie Katz’ und Hund. Es gab noch einmal einen Krach. Aber Achim von Bornim sagte nur gelassen und anscheinend harmlos: „Von mir aus können Sie nach Hause gehen, Lauckardt, wenn es Ihnen hier zu langstielig wird! Ich wasche meine Hände in Unschuld!“

Dabei machte er eine Bewegung der weiss behandschuhten Finger, als hielte er zwischen ihnen ein Stück Seife, und dem Kürassier stieg in hilflosem Zorn eine Blutwelle bis unter das hellblonde, leicht gelockte Haar. Sein Vater hatte im Westen eine Weltfabrik ätherischer Öle und Essenzen. Das war durch einen unglücklichen Zufall Achim von Bornim zu Ohren gekommen. Und durfte man dessen Schilderungen seitdem glauben, so stand der Geheime Kommerzienrat und Vorsitzende des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft vormals Theodor Lauckardt irgendwo da unten zwischen Ruhr und Wupper persönlich Tag um Tag am Seifenkessel und rührte eigenhändig die brodelnde Masse.

Der Fähnrich von Bornim schaute, als sei nichts geschehen, an den andern vorbei nach dem rechten Flügel der Paradeaufstellung. Dort wehten Dutzende von Generalsfederbüschen im Wind. Neben ihnen, am rechten Flügel des ersten Bataillons, stand dessen Kommandeur, ein auffallend junger Major mit blondem Schnurrbart, die Schuppenkette unter dem Kinn — Prinz Wilhelm von Preussen, der künftige Kaiser. Weiter nach hinten, in buntem Durcheinander der Uniformen, die fremdländischen Militärattachés und ein auserlesenes, nur spärlich durch die Schutzmannskette bis zu dem Rand des Exerzierplatzes zugelassenes Zivil, Herren und Damen der Gesellschaft aus Potsdam und der Umgegend.

Richtig: dort stand jetzt auch Papa! ... War also doch von Sommerwerk herübergekommen! ... Na ja ... was hiess das für den alten Herrn — um fünf Uhr aus den Federn und fünf Meilen Chaussee, wenn er dafür wieder einmal den Kaiser sehen konnte. Seinen König ... Achim von Bornim unterschied deutlich die hagere, kaum mittelgrosse Gestalt des Vaters drüben, obwohl sie sich in dem schlichten schwarzen Rock, dem ehrwürdigen Zylinderhut unscheinbar in dem Gewimmel der Generalspracht und Gardegala, der Grosskreuze und Haussterne, der Kriegs- und Frühstücksorden verlor. Daneben Achims Schwestern. Alle drei ... die in Ostpreussen natürlich nicht ... Aber die Daniela ... die Berta und die Eva-Marie ... Drei semmelblonde Mariellen, wie er sich in brüderlicher Liebe dachte, viel blonder als er. Weisse Waschkleider, weisse Schirme, rote Backen ... eigentlich ganz stramme Mädels ... konnten so bleiben. An ihrem linken Flügel, neben der Eva-Marie, unter einem knallroten Sonnendach noch ein bräunliches, dunkelhaariges, dunkeläugiges Kleinmädchengesicht ... kaum vierzehn ... Wo hatten sie denn wieder den Balg, die kleine Zültz, aufgegabelt? Dann merkte Achim, wie der Vater ihn erkannte und ihm zunickte, und stand unwillkürlich im Glied stramm und lächelte, und drüben frug einer der mit Eichenlaub und Lorbeern goldüberstickten Potsdamer Riesen den kleinen Herrn im schwarzen Röckchen: „Wohl ein Filius, Exzellenz?“

„Ja, mein Jüngster!“ sagte Herr von Bornim bedächtig. Seine Stimme klang immer etwas heiser. Sie knarrte. Kam knapp und befehlsgewohnt heraus.

„Alles Offiziere?“

„Nee ... den Ältesten hab’ ich im Auswärtigen Amt ... unter Herbert ... Den mittleren in Berlin bei der Gardekavallerie ... mit Gottes Hilfe schon Premier ... aber der drüben ist der fixeste von der Gesellschaft. Der muss mal das Rennen machen ...“

Der alte Herr war so gewohnt, ausserhalb seiner selbst, im Rahmen des Staates, in den Grenzen von Preussen zu denken, dass er den Faden der Familie gleich wieder verlor und auf das Gespräch des Granden zu seiner Linken einging.

„An der Heuernte werden wir Freude erleben, lieber Graf! Kartoffeln ... wollen sehen. Aber Roggen notiert jetzt 145. Gegen 150 für russischen. Wenn einmal die Zeit kommt, wo wir die Spannung nicht beibehalten ...“

„Na ... das lassen Sie mal Bismarcks Sorge sein!“

„Der lebt auch nicht ewig!“ sprach der alte Bornim. Es klang streng. Voll widerwilliger Anerkennung für das menschenübersteigende Mass des Mannes aus der Altmark. Er, Wilke von Bornim auf Sommerwerk, fühlte sich nirgends wohl als zweiter. Er hatte hellblaue flammende Blücheraugen in dem vom Alter gefurchten Gesicht, gesträubtes weisses Haar, kriegerischen weissen Schnurrbart. Sein Kopf war scharf und trocken wie der eines kleinen wilden alten Raubvogels. Er schüttelte ihn missbilligend: „Ja, kann denn der Mann nicht reiten?“

Vor ihm hatte das kleine dunkelhaarige Mädchen mit dem roten Sonnenschirm diesen grüssend zu dem Fähnrich von Bornim hinübergeschwenkt. Durch die rasche Bewegung war der Gaul eines berittenen Gendarmen unruhig geworden. Er stieg ... Der Reiter lag unten am Boden, hielt noch die Zügel, hatte den Fuss im Bügel, war schon wieder oben ... Alles in Ordnung ... Nichts geschehen ... Der alte von Bornim räusperte sich und tadelte die Kleine, deren gebräuntes Gesichtchen mit den grossen dunklen Augen verdutzt und halboffenen Mundes dreinschaute: „Ilse ... Kind ... hab’ die Güte und schmeiss uns nicht mit deinem Parapluie die Parade um! Da kann ja ’ne Kuh scheu werden!“

Er schwankte in letzter Zeit gegenüber der Tochter seines Gutsnachbarn von der Zültz zwischen Du und Sie! Das Kleinzeug wuchs um einen heran, ehe man sich’s versah. Die Ilse war jetzt gerade so im Übergang, mit ihren dreizehn oder vierzehn. In kurzem Röckchen. Dicht vor der Konfirmation. Der richtige Backfisch. Er wandte sich wieder gedämpft an den Grafen.

„Das ist nun wieder so echt der Zültz! Fährt unterwegs mit seinen ungarischen Katzen an mir vorbei, als ob es brennte, schreit: ‚Exzellenz ... tun Sie mir den einzigen Gefallen und heben Sie mir heute das Kind auf! ... Ich kann sie heute nicht brauchen ... Ich hab’ Geschäfte!‘ ... Stoppt mir das Mädel herüber in den Break und heidi!“

„Was hat er denn wieder für Geschäfte?“

„Gott ... Sie wissen ja ...“

Freilich: es war im ganzen Kreis bekannt, dass Kaspar von der Zültz auf Wendisch-Wiesche das Wasser an der Kehle stand. Schon seit Jahr und Tag. Es war ein Wunder, wie er sich immer wieder herauszog. Ein aufregendes Schauspiel für die Landeingesessenen. Der alte Bornim schloss: „Helfen kann man ihm nicht! Der Mann spielt! ... Und neuerdings macht er Geschichten ... Ich habe da von einem Holzhandel gehört ... Nee ... danke ...“

Der General an seiner rechten Seite musste lächeln. Gerade vor ihm hatte die jüngste der drei blonden Schwestern, die Eva-Marie, einen raschen Gruss, mehr ein verstohlenes Kopfnicken mit einem jungen Husarenleutnant ausgetauscht, der in Paradeuniform, aber als Zuschauer, in einiger Entfernung mit einer anderen Familie stand. Dabei war sie plötzlich feuerrot geworden. Er frug: „Wer ist denn der blaue Belling-Husar da drüben, Exzellenz?“

„Bei den Zotzens? ... Ja, wenn ich Namen behielte! ... Er ist schon seit Wochen auf Urlaub in Rhinow!“

Der alte Herr war so harmlos, wie nur Väter sein können. Er hing anderen Gedanken nach.

„Ja ... nun geht Wendisch-Wiesche nächstens auch vor die Hunde!“ sagte er halblaut, damit ihn die kleine Ilse von der Zültz nicht hörte, die ahnungslos dicht vor den Herren stand. „Es ist ein Jammer mit den Gütern ...“

Und dann, in einem seltsamen, jähen Gedankensprung: „Na ... hoffentlich heiraten mir meine Sprösslinge mal wieder ein bisschen Geld ins Haus! Wenigstens die älteren. Um den Achim ist mir nicht bange. Der beisst sich schon sel ...“

Eine jähe Bewegung lief über den ganzen Platz. Ein Strammstehen. Ein Lüften von Hüten. Hundert weiss behandschuhte Hände hoben sich an den Helmrand. Damen sanken knicksend in sich zusammen. Ein hochgewachsener, vollbärtiger Generalfeldmarschall stand da, das Grosskreuz des Eisernen Kreuzes auf der Brust, ein Bild siegender männlicher Schönheit. Er schüttelte dem Kommandeur des ersten Bataillons die Hand. Der Kronprinz des Deutschen Reiches begrüsste seinen Sohn. Dann zog er viele Generale und Grosse des Landes ins Gespräch. Auch den alten Bornim. Die Kriegsschüler drüben beobachteten es aufgeregt. Es war ein Geflüster: der Kronprinz ... der Kronprinz ... Der Fähnrich Kausert, ein respektloser Berliner, erkundigte sich:„Was ist denn das für ein alter Knabe, den er jetzt am Rockknopf fasst?“

„Der alte Knabe ist mein Vater, wenn Sie nichts dagegen haben, Kausert!“ sagte Achim von Bornim kühl und mit unendlichem Hochmut.

Der Linieninfanterist schwieg betreten. Sein Nachbar, der Pionierfähnrich Rossnagel, frug: „Was ist denn Ihr Herr Vater?“

„Oberpräsident z. D. und früherer Staatsminister!“

Dann setzte der junge Bornim noch nachlässig hinzu: „Er konnt’ sich mit Bismarck nicht mehr vertragen. Da ging er. Nun sitzt er auf unsern Gütern ...“

Und weil er sich immer noch über den ‚alten Knaben‘ ärgerte, obwohl der Berliner Kausert für ihn kein Entrüstungsobjekt war: „Zeitung lesen Sie wohl nie — was? Sonst müssten Sie doch was von meinem Vater wissen! Er ist doch Mitglied des Reichstags und des Herrenhauses!“

Die Fähnriche lauschten achtungsvoll. Das war etwas für sie. Der Pionier hatte eine tollkühne unbestimmte Hoffnung, dass Achim von Bornim ihn einmal am Sonntag nach Sommerwerk mitnehmen würde.

„Sind Ihre Güter weit von hier?“

„Ein paar Meilen! Aber dann können Sie ’nen halb en Tag laufen, bis Sie rundherum sind!“

Und weil er schon im Zug war, setzte Achim von Bornim hinzu: „Früher waren es natürlich mehr. Aber in letzter Zeit, seit die Hohenzollern ins Land gekommen sind, haben wir viel hergeben müssen!“

In letzter Zeit! Das war dem Fähnrich Lauckardt, dem grossen rosig-blonden Kürassier, doch zu bunt. Er wandte den Kopf und meinte verweisend, in seiner verwöhnten Art: „Unsinn! Das ist doch mehr als vierhundert Jahre her!“

„Und meine Familie ist achthundert alt! Das heisst: in ununterbrochener Ahnenfolge! Eigentlich stammen wir, der Überlieferung nach, von dem Wendengott Zornebog ab!“

„Nu wird’s Tag!“ sagte der Berliner trocken. Die andern lachten und Achim mit. Aber eigentlich imponierte es den jungen Burschen doch! Und am meisten, obwohl er einen roten Kopf bekam und verächtlich überlegen die Achseln zuckte, dem Fähnrich Lauckardt selbst. Das war eben das Schlimme: Er war gegen diesen Bornim wehrlos. Dessen tollste Aufschneidereien machten hier noch Eindruck. Was man dagegen an Lauckardtscher Wirklichkeit ins Feld führen konnte, der industrielle Name des Vaters, die grossen Fabriken — das stiess auf Verständnislosigkeit. Achim von Bornim lächelte kaltblütig und, um den Kürassier noch weiter zu ärgern, lud er die Fähnriche Kausert und Rossnagel und was an Bürgerlichen in der Nähe war, ein, nächstens mit ihm nach Sommerwerk hinauszukommen. Dort wollte er ihnen alles zeigen. Er war ganz einfach und liebenswürdig mit den Kameraden. So. Nun konnte der gute Lauckardt als einziger Übergangener sehen, dass es nur an ihm selbst, nicht an seinem Namen, lag, wenn ihn ein Bornim schlecht behandelte ... Und das von Rechts wegen!

Jetzt war es nur noch zwei Minuten bis halb zwölf. Ein eigentümliches stilles Fieber, eine letzte, fast lautlose Geschäftigkeit auf dem Paradeplatz: Noch einmal ein Nachsehen der Richtung — die Front stand so haarscharf, als sei dieser lange bunte Strich von Menschen mit dem Lineal in den gelben Sand des Lustgartens gezogen, ein sich Ordnen der Generale am rechten Flügel. Und in dies atemlose Schweigen das Flattern des Federbuschs eines Leibjägers auf dem Bock einer offenen Viktoria, die in raschem Trab von der Langen Brücke heranrollte, gedämpftes Hurrarufen in der Ferne ... Es kam näher und näher ...

„Gewehr ... auf!“

„Achtung: Präsentiert das — Gewehr!“

Im Aufklirren von sechshundert Gewehrschlössern an breite Handflächen neigte sich langsam, grüssend die zerschossene Fahne zur Erde. Die Musik setzte rauschend ein: ‚Heil dir im Siegerkranz!‘ Quer über den Platz ging Kaiser Wilhelm der Siegreiche, dem Wagen entstiegen, bedächtig, gebeugt von der Wucht der Jahre, auf sein Regiment zu. Er begrüsste seinen Sohn, den Feldmarschall, er nahm aus den Händen seines Enkels, des Majors, der mit gesenktem Degen vor ihm stand, den Frontrapport entgegen und schritt die erstarrte Mauer der Grenadiere entlang. Hinter ihm weithin das Gefolge, Dutzende von Generalen, Ordensmassen, wehende Federbüsche, strenge, altersgefurchte Züge — die meisten mit dem Backenbartschnitt ihres Königs und Herrn, die Helden der drei Feldzüge, nun Greise wie er. Es lag wie feierliches Abendrot der versinkenden grossen Zeit über den alten Kriegern.

Achim von Bornim konnte sich gar nicht erinnern, wann er zum erstenmal Kaiser Wilhelm gesehen. Schon als winziger Dreikäsehoch, nach dem Friedensschluss von einundsiebzig, beim Einzug der Truppen in Potsdam. Seitdem immer wieder. Jahr um Jahr. Dutzende von Malen. Der Kaiser war immer da. Und Bismarck und Moltke. So wie Sonne und Mond am Himmel. Man vermochte es sich nicht anders vorzustellen. Aber den Kameraden, den Kriegsschülern aus der Provinz, war der Anblick des Kaisers neu. Die mochten sich wundern, dass das nicht nur der gütige Greis war, der drüben in Berlin, wenn der Paukenwirbel der Wache erscholl, am historischen Eckfenster seines Schlosses sich der jubelnden Menge unter den Linden zeigte, sondern hier, in seinem eigentlichen Element unter seinen Garden, der ernste, dienstlich prüfende, jede Kleinigkeit an Anzug und Richtung musternde preussische General. Nun trat er rückwärts, gegen das Marstallgebäude, um den Vorbeimarsch des Bataillons abzunehmen. Er stand immer noch ziemlich fern von den Fähnrichen der Kriegsschule. Um sie herum war ein Gewimmel von Fürsten und Generalen und Adjutanten und fremdländischen Offizieren. Der Kronprinz selber ging vorbei und liess sich von einem der Junker die gelockerte Schärpe fester schnallen und machte dazu, absichtlich die Berliner Mundart gebrauchend, einen Scherz. Von drüben hallte in durchdringendem preussischen Kommandoton die Stimme seines Sohnes, des Prinzen Wilhelm, der mit gezogenem Degen zu Fuss sein Bataillon dem Kriegsherrn vorexerzierte, es kunstvoll in dem engen Raum zwischen den Bäumen und Sandsteinstatuen tummelte, es schwenken und aufmarschieren liess, Linien und Sektionskolonnen, Zugfronten und Vierecke aus der gehorsam-beweglichen Masse schuf. Die jungen Seelen der Fähnriche waren voll von dem Bild. Beinahe bedrückt und doch gehoben. Nur der Kürassier Lauckardt meinte, als das Gefechtsexerzieren begann: „Also, dass man die Schützenlinie von hinten ausschwärmen lässt und dann die Soutiens zum Eindoublieren von vorn nimmt ... ich würde es gerade umgekehrt machen!“

„Schade ... Wenn Moltke hier wäre, könnten Sie’s ihm gleich sagen!“ riet Achim von Bornim. Aber Moltke war allerdings nicht zur Stelle. Der hatte anderes zu tun. Der sass jetzt drüben in Berlin, im Generalstabsgebäude am Königsplatz. Der Offizier du jour blieb vor der Front der Kriegsschüler stehen und versetzte freundlicher, als es sonst seine Art war: „Da schauen Sie mal hinauf!“

An einem der grossen Fenster der Paradegemächer des Stadtschlosses standen auf der Brüstung, von Lakaien gehalten, zwei kleine Prinzen in weissen Kleidchen mit lichtblauen Schärpen. Dahinter eine Dame in einfachem Schwarz. Die Prinzess Wilhelm und ihre beiden ältesten Söhne, die Urenkel des Kaisers.

„Vier Generationen Hohenzollern!“ sagte unten der Premierleutnant von Herrenknecht zu den Fähnrichen.

Vier Generationen Hohenzollern ... Drüben der Kaiser. Dort oben der dereinstige vierte Träger der neuen Reichskrone. Das war ein Stück Weltgeschichte: die jungen Leute fühlten es und schwiegen. Der Leutnant du jour frug nach einer Weile: „Wissen Sie, was morgen für ein Tag ist? Der 2. Mai?“

Allgemeine Stille.

„Morgen ist der Jahrestag von Grossgörschen, wo Seine Majestät zum erstenmal in den Freiheitskriegen gegen Napoleon im Feuer stand und sich das Eiserne Kreuz erwarb ...“

Nun wussten es die Fähnriche, und es war doch wie ein Märchen: der greise Kriegsherr dort drüben hatte schon gegen den grossen Korsen gefochten und zwei Menschenalter später, als ganze Geschlechter schon ins Grab gesunken, sich dessen kleinen Neffen als Gefangenen aus Frankreich geholt. Der greise Kriegsherr hatte Preussen erlebt von Jena bis Sedan. Er hatte Blücher und hatte Moltke an seiner Seite gesehen. Dreimal war er siegreich in Paris eingezogen. Er war der einzige Mensch auf Erden, der das Eiserne Kreuz der Freiheitskriege und das von 1870 zugleich trug. Die Zeit schien um ihn stillzustehen, der noch Theodor Körners Waffengefährte gewesen, und jetzt eben dort drüben, unbeirrt von allem Wandel der Dinge, ruhig und nüchtern durch das Knallen der Platzpatronen hindurch sagte: „Mir scheint, mir scheint, der Abstand zwischen der vierten und fünften Schützengruppe von rechts ist um zwanzig Zentimeter zu gross!“

Nun kam der Schluss: der Parademarsch. Diesmal des ganzen Regiments. Parademarsch in Kompagniefront. Die Musik schmetterte. Die Vorgesetzten kotoyierten, die Hand am Helm. Vor der Front ihrer Kompagnien marschierten zu Fuss die Capitäne in elegantestem Potsdamer Stechschritt. Dahinter flogen die weissen Beinreihen in einem: Eins, zwei! ... Eins, zwei!, als donnerte eine einzige Maschine, und sprangen im Rücken der Züge in Laufsätzen die vielen, als Leutnants eingetretenen, kleinen, noch minderjährigen Prinzen in ihren hohen Blechmützen, die mit den langen Beinen der Potsdamer Riesen nicht gleichen Schritt zu halten vermochten. Achim von Bornim sah sich den Vorbeimarsch sachkundig und gespannt an. Er war ja auch von der Garde. Und lange, ehe die jetzige preussische Garde bestanden, hatten seine Vorfahren schon auf eben demselben geschichtlichen Boden des Lustgartens die Söldner des Grossen Kurfürsten gedrillt und Friedrich dem Grossen mit gesenktem Sponton, den Ringkragen auf der Brust, ihre Kompagnien vorgeführt. Dann hörte er, wie neben ihm ein Fähnrich tieftraurig sagte: „Ach Gott ... jetzt fährt er weg!“ ... In der Tat: Kaiser Wilhelm hatte schon seine Viktoria bestiegen. Aber nun sah er aus der Ferne die sehnsuchtsvollen Augen der jungen Leute, die ihn die ganze Zeit noch nicht recht zu Gesicht bekommen, und fast zugleich gab er, sich lebhaft an einem Handgriff im Wagen aufrichtend, dem Kutscher einen Wink, zu wenden, und fuhr langsam, im Schritt, die Front der Kriegsschule entlang. Seine Stimme war kräftig, als er freundlich sagte: „Guten Morgen, meine Herren!“

„Guten Morgen, Eure Majestät!“

Dann standen die Fähnriche atemlos still. Sie fühlten die blauen Augen ihres Kriegsherrn auf sich ruhen. Viele waren blass geworden. Alle waren glücklich. Der Kaiser war eigens wegen ihnen umgedreht, hatte zu ihnen gesprochen ... Das war das grösste Erlebnis in ihrer bisherigen, kurzen Soldatenlaufbahn. Es zitterte noch in ihnen nach, während sie nach beendeter Parade den Kanal entlang durch die stillen Strassen Potsdams nach der Kriegsschule zurückmarschierten.

Sie waren schon beinahe daheim, an der Ecke des „Langen Stalls“, des grossen Exerzierhauses des ersten Garderegiments zu Fuss, als ein steckengebliebener Lastwagen die Kolonne zum Haltmachen zwang. In diesem Augenblick trat vom Bürgersteig her ein schlanker, hochgewachsener Herr in den Vierzigern, viel eleganter gekleidet, als sonst gemeiniglich das Zivil in Potsdam ging, lebhaften Schritts an die Fähnriche heran und überflog sie mit seinen nervösen, unsteten Augen. Dann winkte er lässig mit der Hand.

„Ah ...! ’Morgen! ’Morgen! ... Herr von Bornim!“ Und mit einer flüchtigen Verbeugung gegen den Offizier du jour, immer in einem schnellen, hochfahrenden Ton: „... von der Zültz! ... Pardon! ... dürfte ich eine Sekunde den Junker sprechen?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder an Achim von Bornim. Er wippte dabei unruhig mit seinem Spazierstöckchen, das er wie eine Reitpeitsche hielt.

„Ich muss nämlich rasch ’rüber nach Berlin! ... Sehen Sie Ihren Herrn Vater nicht jetzt?“

„Nee ... der fährt gleich nach Sommerwerk zurück!“

„Ach so ... ich wollte Sie sonst bitten ... Er hat doch meine Ilse bei sich ... dass er mir die nach Wendisch-Wiesche hinüberspediert! Ich kann sie beim besten Willen nicht abholen!“

„Das wird Papa gewiss von selber tun!“

„Na ... um so besser!“

Kaspar von der Zültz nickte zerstreut. Er war ein schöner, etwas abenteuerlicher Mann, mit dunklem Haar und dunklem Spitzbart. Immer in Unruhe. Immer in Aufregung. Dabei überstürzten sich seine Worte: „Sagen Sie mal, was war denn das? Eben trabt der Wehlen an mir vorbei und schreit mir zu: ‚Na, Ihre Kleine hat ja um ein Haar Malheur bei der Parade angerichtet!‘ ...“

„Ach, es war nicht so schlimm! Ein Gendarm ...“

„Stillgestanden! ... Bataillon — marsch!“

Das Kommando des Offiziers schnitt das Gespräch ab. Herr von der Zültz sprang zurück, grüsste herablassend: „’Morjen, lieber Junker ... ’Morjen!“ und eilte die Strasse hinunter. Er hielt, was hier in der Militärstadt besonders auffiel, seine aristokratisch hagere Gestalt etwas vornübergebeugt und trug den Hut im Genick. Er ging noch einmal so rasch wie andere Leute. Er hatte schon halbwegs den Bahnhof erreicht, als die Fähnriche endlich in dem Hof der alten Kriegsschule wegtraten und der Kürassier Lauckardt dabei sagte: „Der Gendarm hätte sich das Genick brechen können! ... So ’ne kleine Krabbe wie die mit dem roten Sonnenschirm gehört doch überhaupt nicht auf den Exerzierplatz!“

„Was fällt Ihnen denn ein, von einem jungen Mädchen aus solchen Kreisen per ‚kleine Krabbe‘ zu reden?“

„Sind Sie mit ihr verwandt oder verschwägert, Bornim?“

„Das nicht, aber ...“

„Na schön! Dann lassen Sie mich gefälligst in Ruhe — ja?“

„Kss! Kss!“ machten hinten wieder die Fähnriche. Aber Achim erwiderte nichts. Er fühlte, dass er diesmal zu hitzig gewesen war. Da wurde man lächerlich, wenn man sich zum Ritter eines unmündigen Backfisches aufwarf. So begnügte er sich damit, während sie die Treppen hinaufstiegen, die Melodie des Parademarschs im Laufschritt vor sich hinzupfeifen. Dessen gewöhnlich unterlegter Text lautete: ‚Lampenputzer ist mein Vater!‘, aber Achim von Bornim hatte eine Variante ersonnen: ‚Seifensieder ist mein Vater!‘ und wenn der Fähnrich Lauckardt seitdem die Laufschrittweise hörte, reizte es ihn so, wie der rote Sonnenschirm der kleinen Ilse von der Zültz auf einen Stier gewirkt hätte, und trieb ihm das Blut zu Kopf. Auch jetzt zitterte er vor Zorn am ganzen Körper. Dann wurde er plötzlich bleich. Er fühlte: So ging das nicht weiter.

Eine Hauptnahrung der bitteren Feindschaft zwischen ihm und Achim von Bornim war es, dass sie gemeinsam mit zwei anderen Fähnrichen das gleiche Quartier innehatten: ein Arbeitszimmer und daran anstossend zwei Schlafkammern mit je zwei Betten. So war man Tag und Nacht beisammen. Auch jetzt wieder. Kurz vor dem Mittagsappell. Es war ein Wassergepladder, ein Kämmen und Bürsten, der Musketier Valentin, die Ordonnanz der vier Kriegsschüler, lief mit Hosen über dem Arm und Stiefeln in der Hand auf und ab, und Achim von Bornim rief, während er sich wusch: „Valentin ... bringen Sie mir ein Handtuch! Ich habe die ganzen Hände voll Seife!“

Diesmal sagte er es wirklich harmlos. Er hatte gar nicht an Lauckardt gedacht. Aber im nächsten Augenblick stand der neben ihm. Atemlos vor Wut. Und keuchte: „Tun Sie die Seife weg, oder ...“

„Die Seife ...? ... Ach so ...“

Achim von Bornim hatte durch Zufall noch die Seife in der Hand. Jetzt behielt er sie mit Absicht darin und sagte scharf: „Lauckardt ... Sie finden nie den rechten Ton! ... Vorhin erlaubten Sie sich deplacierte Redensarten über unsere Nachbarfamilie von der Zültz ... Da musste ich Ihnen schon über den Mund fahren ... Jetzt schreien Sie mich gar selber an ...“

„Jawohl! Die Seife weg ... oder es setzt etwas!“

Der andere lachte. Jetzt ging er dem Streit nicht aus dem Weg.

„Dies Stück Seife ist mein unbestrittenes Eigentum. Verehrtester! Kostenpunkt ein Meter zwanzig! Teuer, aber gut! ... Donnerwetter ... Wollen Sie wohl gleich ...“

Der Kürassier hatte ihn am Arm gepackt und entriss ihm die Seife. Sie fiel zur Erde. Zugleich stiess ihn Bornim vor die Brust. Dann traten sie beide zurück. Eine Sekunde war dumpfes Schweigen. Endlich sagte Achim von Bornim kühl zu einem der beiden anderen Kriegsschüler, die im Zimmer waren: „Bitte, Morlock, überbringen Sie Herrn Fähnrich Lauckardt meine Forderung!“

„Nein, bitte, Chambaut: meine an Herrn Fähnrich von Bornim!“

Unten im Hof läutete die Glocke zum Mittagsappell. Die Tischordonnanzen standen schon in Reih’ und Glied aufmarschiert und streckten dem Fähnrich du jour ihre frisch gewaschenen, roten Pfoten entgegen, der sie kritisch auf ihre Sauberkeit hin musterte. Daneben ordnete sich die Kriegsschule selbst. Gleich nach dem Appell stülpten sich die beiden Fähnriche Stahlhelm und Pickelhaube auf und liefen nacheinander zu ihrem Inspektionsoffizier, einem breitschulterigen, pommerschen Infanterieleutnant. Der hörte erst den einen, dann den anderen bedächtig an. Ja ... dat war ja nu wohl slimm! ... Also nach Tisch bekämen sie weiter Bescheid! ...

Heute beteiligte sich Achim von Bornim nicht an den Scherzen, mit denen sich die hundert Fähnriche in dem grossen Speisesaal die Zeit beim Essen vertrieben. Er mischte keinen jener trügerischen Schnäpse aus Essig, Wasser, Senf oder Rotenrübensaft, die man durch eine Ordonnanz einem Kameraden schickte, um sich an den Grimassen des Beschenkten zu erfreuen, er erfand keine neuen fürchterlichen Namen für die Tischgerichte, deren es heute die „Leichensauce“, Hammelragout mit Zwiebeln, gab, er liess sich auch nicht, wie sonst, durch die Namen der Fähnriche an den Wänden, die seit der Gründung der Kriegsschule ihr Offiziersexamen mit Kaisers Belobigung bestanden hatten, zu guten Vorsätzen auf Eifer im Hörsaal anspornen. Er dürstete nur danach, vor den Feind zu kommen. Sein Herz klopfte, als ihn nach der Mahlzeit ein Offizier beiseite rief. Dann kehrte er verklärt zu den gespannt harrenden Kameraden im Hof zurück.

„Morgen nachmittag um drei Uhr in der Turnhalle! Rappier glacé! ... Kinder! Das wird ein Mordszauber!“

„Aber pass nur höllisch auf!“ sagte sein Freund, der junge Graf von Luyn. „Mit so ’nem Kürassier ist nicht zu spassen. Die Brüder sind an schweren Pallasch gewöhnt! Wenn der dir mit seinen Schwadronssauhieben durch die Parade fährt ...“

Der Fähnrich von Bornim lachte sorglos. Er war so glücklich wie ein Kind vor Weihnachten.

„Er soll nur kommen! ... Er soll sich wundern! ... Ich bin auch nicht von Pappe! ... Ach, wenn es doch nur schon morgen wär’! ...“

2

Kaspar von der Zültz auf Wendisch-Wiesche war am Tag nach der Parade zeitig am Morgen von Berlin auf sein Gut heimgekehrt. Er brachte einen Herrn mit. Einen respektablen älteren Herrn mit goldener Uhrkette und leicht sächsischem Tonfall, der sich Krüger nannte. Mehr wusste er selbst nicht von ihm. Aber Przywow und Libochowitz und Rehfisch und wie all seine Berliner Agenten und Geldleute hiessen, hatten ihm geschworen, es sei ein seriöser Mann, ein entschlossener Käufer. Der Richtige für Wendisch-Wiesche. Wenn es gelang, ihm in letzter Stunde noch die Sandbüchse anzuhängen ... Mit dem Angeld liess sich wenigstens die verwünschte Geschichte wegen des Waldverkaufs aus der Welt schaffen — es war die letzte Rettung ... eigentlich nur noch ein Rettungsschimmer, aber Kaspar von der Zültz sprach unaufhörlich, nervös lachend, in seiner liebenswürdig-erregten Art, während er seinen Gast durch Höfe und Ställe des verwahrlosten Gutes führte: „Ich züchte hier ein Schwein!“ sagte er, als sie in den süsslich-scharfen Brodem der Saubucht traten, und machte rasch die Türe hinter sich zu, um die durch Ammoniakdünste zerfressene Decke möglich zu verdunkeln, „... ein Schwein ... ich möcht’ am liebsten immer den Hut abnehmen, wenn ich hier hereinkomm’ ... veredeltes Landschwein natürlich ... was tu’ ich mit Yorkshire — nicht wahr? ... Na ... hier haben wir nun den Kuhstall!“ Er wandte in der Zerstreutheit die erste Jungkuh rechts am Horn zur Seite, damit man nicht merkte, dass sie erst gestern verkalbt hatte „... Grossartige Absatzverhältnisse für die Milch ... Elf Pfennig zahlt die Dampfmolkerei! ... Magermilch kriegt man fast geschenkt zurück ... Hier ist’s eine Lust, Schweine zu mästen, bei den Kartoffeln ...“

Der Inspektor Wiegand, die rechte Hand seines Herrn, hatte schon dafür gesorgt, dass im Kartoffelkeller alles, was faul war, zu unterst lag. Oben sah man nur eine tadellose Sorte Magnum Bonum. Der stätige Hengst im Stall hatte seit dem Mittag vorher kein Wasser mehr bekommen. Er stand da wie ein Lamm. Kaspar von der Zültz pries die struppigen Ackergäule wie vorher seinen Breitenburger Schlag Kühe. Er donnerte bei den landwirtschaftlichen Maschinen, als der Besitzer eines Musterguts, der unerbittlich nach dem Rechten sieht: „Den Heuwender gerade rücken! ... Den Düngerstreuer mehr nach links! Der Exstirpator sieht wie ein Ferkel aus! ... Warum hat ihn niemand geputzt? So geht’s, wenn man einen Tag von zu Hause weg ist! ... Da sind die Sackschen Pflüge, Herr ... Herr ... Krüger ... Da die Walzen ... Da haben wir das Göpelwerk für das Wasser! Jedes Pony zieht es! ... Famos — was?“

Der Herr mit der goldenen Uhrkette nickte. Er war glatt rasiert und sah wie ein Landgeistlicher aus. Er sprach fast nichts. Offenbar, um sich nicht zu blamieren. Er verstand anscheinend blutwenig von alledem. Einmal öffnete er seine Brieftasche, um stumm etwas nachzusehen. In dicken Bündeln staken darin die Tausendmarkscheine. Kaspar von der Zültz tanzte es vor den Augen ... Ein Stossgebet: ‚Lieber Gott, steh mir bei!‘ Er hüstelte, lachte und begann wieder — zu verräterisch schimmerten die frischen Schnittflächen der Baumriesen des Parks, die er, um ein bisschen Geld ins Haus zu bekommen, hatte abholzen lassen: „Ja ... hier hat der Sturm bös gehaust! ... Es tut einem im Herzen weh ... Aber was soll man machen? ... Nu möcht’ ich Ihnen vorschlagen, Herr ... Herr Krüger, wir fahren mal draussen die Gutsgrenzen ab! ... Ein Boden ... rotkleefähig ist noch zu wenig! Und eine Jagd! ... Ich glaube, da draussen am Waldrand steht schon ein Rudel Wild ...“

„Ich sehe nichts!“ sagte der fremde Herr.

„Drei- und vierschnittige Wiesen ... jawohl: vierschnittig!“

„Nach der Karte steht das ja eigentlich alles meist unter Wasser!“ Der fremde Herr hatte auf einmal eine Generalstabskarte herausgezogen. Dem andern wurde es etwas schwül zumut. Er lachte jovial.

„Na ... jetzt im Frühjahr ... nach den Wolkenbrüchen ... Man muss auch nicht zu ängstlich sein, Herr ... Herr Krüger ...! Bitte ... betrachten Sie mal hier den Dampfdreschsatz!“

„Bezahlt?“

Wieder lachte Herr von der Zültz etwas gezwungen.

„Auf Abzahlung! Es steht ja noch ein Pöstchen ... Aber da ist der Wagen! Bitte steigen Sie ein! ... Prüfen Sie alles und dann entschliessen Sie sich am besten rasch! ... Sonst kommen Sie zu spät! ... Es sind eine Menge Bewerber da!“

Und hinter dem Rücken des Gastes raunte der Inspektor, würdigen Ernst auf dem roten Biedermeiergesicht: „Ich bin ein alter Praktikus ... Ich kann Ihnen nur raten: Steigen Sie in die Goldgrube ’rein, Herr ... Herr ...“

„Krüger ist mein Name!“ sagte der fremde Herr. „Ich bin königlich preussischer Amtsrat. Auch ein Praktikus. Ich suche auch nicht für mich, sondern für meinen künftigen Schwiegersohn! ... Na ... Ich will jetzt nach Berlin zurück! Hat mich sehr gefreut, Herr von der Zültz!“

„Wollen Sie nicht den Wagen ...?“

„Nee, danke! Ich geh’ das Stück bis zur Station.“ Der Domänenpächter blieb, auf seinen Stock gestützt, noch einmal stehen und nickte: „Ich bin nun bald vierzig Jahre Landwirt! Wollen Sie einen guten Rat von mir, Herr von der Zültz? ... So werden Sie das Ding nicht mehr los! Es gibt ja genug Dumme auf der Welt ... aber so dumm ...? Ich glaub’ nicht! ... Wünsch guten Morgen!“

Er stapfte bedächtig davon. Kaspar von der Zültz schaute ihm finster nach. Dann tauschten er und der Inspektor einen Blick. Beide sagten kein Wort, und der Herr auf Wendisch-Wiesche trat in sein Haus zurück.

Vom Flur aus sah er in dem grossen Eckzimmer seine Tochter Ilse mit ihrer Französin. Die Kleine sass zurückgelehnt, die Hände im Schoss, mit verdriesslichem Gesicht. Ein paar unordentliche dunkle Haarsträhnchen hingen ihr in die weisse Kinderstirne. Sie sagte halblaut und gottergeben einen Abschnitt aus der voyage de Télémaque auf. Weder sie, noch Mademoiselle Roger bemerkten den Hausherrn, der auf den Fussspitzen vorüberging. Er setzte sich in dem letzten Raum nach dem Garten zu auf ein Kanapee. Den nannte er sein Arbeitszimmer. Er hatte die Auswahl unter den vielen Gemächern. Im ganzen Hause waren ja nur er und das Ilschen und die törichte Französin. Er dachte sich: ‚Seit zehn Jahren ist meine Frau nun krank. Das ist’s ... das ist’s ...‘

Er zündete sich eine Zigarre an. Er sass ganz still — er, der sonst das Quecksilber selber war. Vor ihm stiegen blaue Wolken, kleine Ringe ... lösten sich ... sonderbar ... sonderbar war doch das Leben ...

In einem jähen Ruck schnellte er empor, öffnete das Geheimfach seines Schreibtisches, las wieder diesen verwünschten Brief, den Schluss: „... und kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der Verkauf und die Bevorschussung des bereits anderweitig hypothekarisch verpfändeten Forsts gegen das Strafgesetzbuch verstösst. Wir ersuchen Euer Hochwohlgeboren, die Angelegenheit spätestens bis zum ersten Mai abends durch Rückzahlung des Vorschusses an unsere Firma zu regeln, und werden wir dann den Vertrag als annulliert betrachten. Andernfalls müssten wir zu unserm Bedauern der Staatsanwaltschaft ...“

Verflucht und zugenäht! ... Kaspar von der Zültz verschloss tiefsinnig den Brief. Er wunderte sich eigentlich immer noch! So viele Jahre war das nun gegangen! ... So viel Ruhe wie ein Seiltänzer! ... Schulden ... Schulden ... Ein Loch zu ... das andere auf ... mal auch ein gesegneter Abend im Klub in Berlin ... ein bisschen Luft ... man hielt sich doch über Wasser ... man gewöhnte sich daran ... Und nun auf einmal ... Man war doch immerhin ein anständiger Mensch! So hatte er das gar nicht gemeint, mit Rehfisch und Kompanie, Holzhandel und Güteragentur ... Die Bande war auch zu rigoros ...

Wenn man nun hier mäuschenstill sass ... ei was ... leg nur die Löffel an und duck dich! ... Sie schiessen dich doch wie ’nen Hasen im Lager! ... Sie kommen ... sie kommen ... heute noch ...

Kaspar von der Zültz stand wieder auf, goss sich Kognak ein und stürzte ihn herunter. Der Wandspiegel drüben warf ihm sein Bild zurück: Ein schmächtig-schlanker, schöner Mann in der ersten Hälfte der vierzig. Haar und Bart tief dunkel wie drüben bei dem Ilschen. In den Augen ... komisch: seinen Augen traute man nie! ... Nun noch, mit der infam-elenden Gesichtsfarbe. Wie ein ausgenommener Hering ...

Er war sonst ein Kind des Tages und der Welt. Und jetzt diese ungewohnte Stimmung. Über sein Leben hinaus. In das Leben rückwärts mit den Gedanken: Die Jugendzeit ... Lieber Gott, was hatte so ein Leutnant viel Sorgen? Gar, wenn einen nun noch der Erbprinz Freund nannte ... Flügeladjutant an dem kleinen Hof ... Kammerherr ... schöne Tage ...

Musste denn nun ausgerechnet der Erbprinz sterben? ... Wieder in die Front zurück? Kaspar von der Zültz zupfte sich an seiner Krawatte. Er redete sich selbst gut zu: Meine Frau hatte doch ein bisschen was, wie wir uns heirateten! Es war ganz vernünftig, dass ich mich angekauft hab’! ... Vielleicht zu gross ... aber wer kann das wissen? ... Man will doch mal sein eigner Herr sein ... Wenn meine Frau gesund geblieben wäre ...

Er fing beinahe an zu weinen. Er schlug die Knöchel der Finger aneinander. Sein schönes Abenteurergesicht war schmerzlich verzerrt: Die Frau für immer im Sanatorium. Selten mehr bei sich. Und ich nicht Witwer und nicht Ehemann, das Wurm, die Ilse, auf dem Hals — mit meiner Gabe, zu bummeln ... Kein Wunder ... Und was die Krankheit kostete ... Zwei Jahre war er nun bei der Anstalt im Rückstand gewesen ... Der leitende Arzt war ja ein anständiger Kerl, mit einer Engelsgeduld ... aber schliesslich hatte er doch gedroht, er müsse die Kranke nun zurückschicken ... ja ... wohin denn dann mit ihr ... um Gottes willen ... wohin? So war damals das Geschäft mit Rehfisch zustande gekommen ... Er war so überzeugt gewesen, noch irgendwie Deckung zu finden. Ein Vierteljahr war lang. Aber gestern war der erste Mai ...

Komisch, dass es einen gerade an den paar guten Eigenschaften packte, die man noch an sich hatte ... sonderbar ... das Leben: Wenn man’s jetzt überschaute, war’s, als hätt’ es so sein müssen. Man lief blindlings drauf zu ... ratsch in die Falle ... Wer das alles so leitete ... Herrgott, andere Menschen waren doch auch leichtsinnig ... Freilich sollte der Mensch nicht spielen ... Aber er tut’s doch nu mal ... er tut’s ...

Kaspar von der Zültz stand nachdenklich, die Hände in den Hosentaschen. Jetzt nur kalt Blut, sagte der Fuchs beim Kesseltreiben. Noch war nichts geschehen. Vor allem musste man hier ’raus, aus dem Haus. Den ganzen Tag über. Sonst kamen sie einem über den Hals. Und dann noch einmal zu den Nachbarn. Es war der letzte Versuch. Vielleicht half doch einer im Lande. Dumm nur: die Geschichte hatte sich schon ’rumgesprochen! ... Einerlei ... Nur jetzt keine falsche Scheu ...

„Anspannen, Johann!“ schrie er in den Hof. Dann ging er hinüber in das Eckzimmer. Da sass Ilse immer noch mit der Mademoiselle. Er fuhr der Kleinen mit der Hand über den seidendunklen Backfischscheitel.

„Na, min Döchting — willste mit? Ich fahr’ aus!“

„Ja, Papa!“

Ilse schnellte stürmisch empor. Der Télémaque bekam einen Schubs, dass er bis zum Tischrand glitt. Sie hatte das Temperament ihres Vaters. Die Französin sagte vorwurfsvoll: „Monsieur nimmt Ilse in letzter Zeit fortwährend mit!“

„Na ja ... wenn’s uns doch Spass macht! ... Was, Mausi?“

Der Hausherr lachte, immer das Unstete im Blick. Er sprach das fliessende Französisch des ehemaligen Hofmanns.

„Aber sie bleibt im Lernen zurück, Monsieur! ... Sie erkältet sich auch noch einmal bei dem Wind und Wetter. Ich übernehme keine Verantwortung!“

Kaspar von der Zültz wurde plötzlich wieder ernst. Bleich. Fünf Jahre älter.

„Nichts zu machen, Mademoiselle Roger! Es gibt Zeiten ... ich kann jetzt nicht allein sein ... Verstehen Sie ... ich muss immer jemanden um mich haben ... Hab’ aber niemanden ausser meiner Maus da ... Also man los! ... Pell dich gut ein, Ilse! ... So! ... ’s kann Abend werden, bis ich zurückkomm’! ... Wer unter Tags nach mir frägt, wird abgewimmelt! Nach Rhinow, Johann!“

Der Wagen rollte lautlos auf weichem Weg durch die weite, ebene Mark. Goldenes Sonnengeglitzer auf tiefblauen Seen, schwarzgrünes Luch und Bruch und lichtgrüne Saat und Föhrendunkel auf weissem Sand, Windmühlenflug auf niederem Hügel, braune Sturzäcker mit Reihen pflügender Gespanne, die Ziegelei da hinten, die Kirchtürme am Horizont ... es war alles wie sonst und schien, als könne es sich nie ändern, und als sei kein Berlin auf der Welt, und über Kaspar von der Zültz kam allmählich etwas von dem Frieden frischer Luft und würziger Scholle. Er sass gefasst, in seinen Mantel gewickelt, und rauchte, bis der Kutscher vor einem altmodischen, niederen, still in einen uralten Park gebetteten Gutshaus hielt. Ein junger Leutnant in blauem Attila trat zufällig auf die Freitreppe hinaus. Er erwiderte die Vorstellung des andern.

„Von Sillein! Jawohl! Mein Onkel ist daheim!“

Über der Türe zum Arbeitszimmer stand der Bibelspruch: „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen!“ Der alte, schlichte Herr von Zotzen-Rhinow war gerade in eine Besprechung mit Förster und Inspektor vertieft. Drei ernste, sonnengebräunte Köpfe staken da beisammen. Nun schickte er die beiden Angestellten weg, setzte sich Kaspar von der Zültz gegenüber und sagte, nachdem der mit seinem nervösen Hüsteln und Lachen kurze Zeit geredet, in seiner einfachen Art: „Wie viel oder wie wenig Sie auch brauchen mögen — ich hab’ es nicht! Ich bin kein reicher Mann. Ich bewirtschafte mein Rhinow und bin froh, wenn ich es meinem Sohn so hinterlassen kann, wie ich es von meinem Vater ererbt hab’! Mehr schaut heutzutage da nicht heraus!“

„Ich dachte auch nur, wenigstens eine Unterschrift zum Gutsagen!“

„Da sei Gott vor! Ich werde mich hüten und dem Teufel den kleinen Finger geben!“

„Nun denn ... adieu!“

Der stille Christ begleitete seinen Besucher bis zum Tor. Unterwegs sagte er, und der andere merkte, dass jener schon etwas von der Holzgeschichte wusste: „Beten Sie, Herr von der Zültz. Es liegt Kraft im Gebet!“

Die kleine Ilse wartete im Wagen. Sie sass stillvergnügt und liess sich von der Sonne bescheinen, froh, die Lerchen zu hören, statt der Vokabeln der Mademoiselle Roger. Als sie wieder mit ihrem Vater durch den weiten Rhinower Forst fuhr, frug der plötzlich mit erstickter Stimme: „Kind, kannst du das Vaterunser?“

„Natürlich, Papa!“

„Bitte ... bet es einmal!“

Die Kleine war verwundert. Aber sie faltete die mageren Kinderfinger und fing an: „Unser Vater, der du bist im Himmel ...“ Und Kaspar von der Zültz krampfte die Hände ineinander und schaute vor sich nieder und bewegte kaum die Lippen, bis es in dem Frühlingswind verklang: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit! Amen!“ Eine wilde Angst zog ihm das Herz zusammen. Nein. Umsonst. Da rührte sich nichts Rechtes. Da war kein Glaube. Keine Hoffnung. So rasch holte man das in zwölfter Stunde nicht nach ...

„Zültz!“ schrie eine heisere Stimme vom Grabenrand. „Zültz! ... ’Morjen, oller Schwede! ... ’Morjen, Ilseken! ... Na — wo führt Sie denn der Deibel her?“

Ein kleiner runder Herr stand da, im Jagdanzug, die Flinte in der Hand, das Hütchen über dem krebsroten Kopf bis in den Stiernacken zurückgeschoben, einen Zwicker auf der scharfgebogenen Nase, unter der ein Schnurrbärtchen kriegerisch starrte. Die wasserblauen Äugelchen blickten schlau in die Welt. Der Gurt der Joppe wölbte sich über dem spitzen Bäuchlein. Trotzdem sprang der Fünfziger gelenkig über den Graben und trat an den Wagen heran.

„Guten Morgen, Leggien! Ich wollte eben zu Ihnen nach Bernöwel.“

„So? Schön! Hohe Ehre! Da fahr’ ich mit!“ Er stieg ein. „Bleib sitzen! ... bleib sitzen, Ilseken! Oder soll ich Sie zu dir sagen, mein Kind ...? Na ... wie du willst!“ Er nahm neben von der Zültz Platz. „Krähen hab’ ich geschossen! Die Biester gehen mir an meine Fasaneneier! Da versteh’ ich keinen Spass ... Na ... Wie steht’s bei Ihnen? Was macht das Futter? Gut? Ja ... aber wissen Sie: ich schimpf’ doch! Ich schimpfe immer! Auf alle Fälle! Schliesslich zahlt der Landwirt ja doch die Zeche!“

„Na ... Sie gewiss am wenigsten!“

Der kleine dicke Junker lachte. Man war jetzt schon auf seinem Grund und Boden. Dort hinten lag Bernöwel. Das war kein altfränkischer Herrensitz wie bei den Zotzens. Das erinnerte an eine Fabrik, mit dem hohen Turm der Brennerei, den Schornsteinen der Dampfmolkerei, den linienweise wie blaugestrichene Batterien aufgefahrenen landwirtschaftlichen Maschinen, den Wellblechschuppen für die Sachsengänger, den endlosen Reihen von Schweineställen, der kleinen Feldbahn in die Torfmoore hinaus — an eine Fabrik kaufmännischer Grossindustrie zur Erzeugung von Branntwein, Schinken, Butter und Mehl, mit dem Hauptbuch im Kontor.

„Ein toller Betrieb — was?“ sagte der von Leggien stolz. Um sie herum waren bunte Kopftücher, fremdartige Gesichter, slawische Laute. Ungarn. Galizier. Russen.

„Ja ... nu geht die Kampagne los! Anno Tobak war’s gemütlicher! Aber jetzt muss sich der Mensch wehren — gegen Berlin! ... Wissen Sie: Ich mag trotz alledem die Berliner gern! ... Sie haben so was Naives!“

„Da sind Sie auch der erste Mensch, der das ...“

„Doch! Doch! ... Sehen Sie mal: die Berliner halten jeden, der Kartoffeln baut, für dumm! ‚Jotte doch! So ’n Ajrarier!‘ Da zuckt schon der Jüngling an der Heringstonne mitleidig die Achseln. Ein Segen fürs Geschäft! ... Ich kann ein Gesicht machen, töricht wie ein Waisenknabe, wenn es sein muss! Ich reiss’ die Leutchen nicht aus ihren Illusionen!“

„Ja. Sie ...“

„Wollen Sie mit mir frühstücken, Zültz? Ich seh’s der kleinen Gnädigen an: sie hat Hunger! Ich hab’ einen Bordeaux — noch ehrenfeste Bremer Ware, nicht das moderne Gesöff! ... Tröstet einen bei den schlechten Zeiten! ... Das Geld ist knapp! Ich bin froh, dass ich bei meiner Bank Kredit habe! Aber wie so ’n brauner Lappen in Natura ausschaut, das weiss ich kaum mehr! Nee — Spass beiseite ... wahrhaftig, Verehrtester!“

Dabei zwinkerte er den andern treuherzig aus seinen kleinen wässerigen Augen an. Das war deutlich genug. Es hiess: ‚Gib dir keine Mühe! Ich weiss schon alles! Aber hier jibt’s nischt! ... Keinen polnischen Groschen!‘ Kaspar von der Zültz begriff das. Er stieg entschlossen wieder in den Wagen. Der Bernöweler heuchelte Erstaunen.

„Und ich dachte, Sie hätten mir was zu sagen?“

„Ach nee — lieber nich!“

„Na, denn: ’Morjen!“

„’Morjen!“

Als sie ausser Sicht der grossen Spiritus- und Schinkenfabrik waren, sagte Ilse kläglich: „Papa! Ich hab’ aber wirklich Hunger!“

Ihr Vater fuhr aus seinen Gedanken auf und strch sich über die Stirne, auf der trotz des lauen Maiwindes kalte Schweisstropfen perlten.

„Ja, ja!“ sagte er. „Die Gäule müssen ja auch verschnaufen!“

Sie frühstückten unter alten Linden vor einem Dorfkrug. Ilse fütterte die Hühner und streute Krümel für die Spatzen und ahmte als sachkundiges Landkind das gereizte: ‚Kauder! Kauder!‘ des grossen Truthahns nach, bis dem vor Zorn der ganze Hals blaurot schwoll. Ihr Vater sah sie, den Kopf auf die Hand gestützt, gramvoll von der Seite an, wie sie, seelenvergnügt kauend, in ihrem weissen Kleidchen dasass, auf dem durch das noch halbkahle Lindengeäst hindurch die goldenen Sonnenkringel tanzten, das zarte, schmale Kindergesicht mit den dunklen Augen von dem grossen Strohhut überschattet. Dann fuhren sie weiter. Auf Rosenrade zu. Das war kein schlichter Edelsitz wie die andern. Das war ein Schloss, neuerbaut, mit ragenden Türmen, inmitten eines englischen Parks. Hier kam es aufs Geld nicht an. Die Herrin des Hauses stammte aus Hamburg und hatte die drei wilden Schwäne im Wappen derer von Machwitz neu vergoldet. Ihr Gatte war reicher, als es seine Vorfahren hier in sechshundert Jahren je gewesen. Er war ein blonder, eleganter Mann mit einem langen Heidelberger Durchzieher über die linke Backe, Dr. juris, Kammerherr, mit seiner Frau mehr in seiner Stadtwohnung in Berlin, bei Hof und in der Hofgesellschaft zu Hause als hier draussen. Zu ihm kam man nicht so leicht wie zu den andern. Ein Haushofmeister meldete an, ein Lakai verschwand mit der Karte, ein zweiter führte den Besucher geräuschlos in das Arbeitskabinett.

„Bitte, nehmen Sie Platz! Womit kann ich dienen, Herr von der Zültz?“

Es klang äusserst kühl. Zurückhaltend bis zur Möglichkeit. In seiner gesellschaftlichen Stellung vermied der Kammerherr von Machwitz auf Rosenrade alles, was nicht ganz zweifelsohne war, so ängstlich wie mit Lackschuhen eine Pfütze am Wege. Der andere fühlte das. Er sagte sich: ‚Was fahr’ ich eigentlich bei all den Leuten herum? Es hilft ja nichts! Ich bin ja im Kreise bekannt wie ’n bunter Hund!‘ Aber er war nun einmal da. Er lachte und hüstelte und fing zu reden an. Nicht lange. Dann machte Herr von Machwitz eine Handbewegung.

„Ersparen wir uns das weitere, Herr von der Zültz! Ich bin leider ganz ausserstande ...“

„Ja, aber lassen Sie mich nur ...“

„... völlig ausserstande, mich mit Ihren Angelegenheiten zu befassen! Diese Berliner Geschäfte sind nicht nach meinem Geschmack ... bitte, verargen Sie mir meine Offenheit nicht!“

„O bitte sehr!“

Der Kammerherr begleitete mit der Höflichkeit, die ihn nie verliess, seinen Gast bis an die Schwelle des Schlosses. Er begrüsste auch Ilse, die im Wagen aufstand und knickste, mit einer Verbeugung, als sei sie schon eine Dame. Das schmeichelte der Kleinen. Sie war vor Verlegenheit rot geworden. Wieder trotteten die Gäule dahin. Sie liessen die Köpfe hängen. Es ging im Schritt. Die Räder mahlten in weichem Sand. Kaspar von der Zültz schrak empor: „Wo sind wir denn zum Kuckuck?“

„Bei Görtzke, gnädiger Herr!“

Der Kutscher deutete mit der Peitsche nach dem kaum hundert Schritt entfernten Gutshof hinüber. An den grenzte ein See. Ein grauköpfiger, grossgewachsener, hagerer Herr ging da still spazieren, der verwitwete Generalleutnant von Stobberow, dessen beide Söhne 1870 an einem Tag gefallen waren. Es hatte keinen Zweck, den einsamen, weltabgeschiedenen Mann erst aufzusuchen. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit der Rettung. Kaspar von der Zültz rang mit sich, fuhr sich mit der Hand zwischen Hals und Kragen, als würgte ihn da etwas, und stiess endlich heiser hervor: „Nach Sommerwerk! Zu Exzellenz von Bornim!“

Die Sonne stand tief am Horizont. Die Schatten der Bäume wurden lang. Wilde Enten strichen schweren Flügelschlags über den See zur Linken. Wanderstare schwatzten schlaftrunken zu Tausenden im Schilf. Fledermäuse huschten. Kaspar von der Zültz sagte plötzlich: „Ja, damals, wie die gute Mama noch gesund war, Ilse — das war ein Leben ...“

Und dann, weich: „Da hab’ ich nicht so auf den Landstrassen herumgelegen. Da war ich daheim. Ich hab’ sie sehr lieb gehabt, Kind!“

Und endlich: „Ich hab’ sie auch jetzt noch lieb! ... Dich auch, Ilse!“

Seine Augen waren feucht. Die Kleine bemerkte es im Dämmern nicht. Sie war müde. Drüben blitzten Lichter. Das war das mächtige Herrenhaus von Sommerwerk, dem grössten Dominium rings im Lande. Man unterschied nur noch undeutlich die hohen Giebel und die weiten Dächer der Stallungen und Speicher dahinter. Kaspar von der Zültzs Herz pochte. Er dünkte sich sonst in seiner selbstbewussten, lässigen Art jedem überlegen. Aber vor dem alten Bornim hatte er einen Heidenrespekt, wie alle Welt. Er war förmlich froh, als er gebeten wurde, einen Augenblick im Salon zu verziehen. Exzellenz seien noch über Land, würden aber bald kommen.

In der Tat fuhr gleich darauf ein hochräderiger Break vor, in dem Wilke von Bornim und zwei andere alte Herren sassen. Sie nahmen vor dem Hause voneinander Abschied. Von der Zültz hörte durch die offenen Fenster, wie der eine raunte: „Überhaupt — was macht Minnigerode jetzt in Berlin? Die Wahlen sind doch erst im Herbst!“

Darauf ein gedämpftes: „Kommen Sie diesen Sommer mal nach Varzin, Bornim?“

Ein Nicken.

„Also dann sagen Sie ihm, dass wir ...“

Das weitere erstarb in einem Gemurmel. Der Schatten Bismarcks lag einen Augenblick über den drei Junkern. Dann zogen die Pferde an. Die beiden andern fuhren weiter. Wie zwei alte Geier sassen sie mit ihren scharfen, verwitterten Köpfen, in ihre Mäntel gewickelt, oben auf dem Wagen, und Wilke von Bornim trat in sein Haus.

Diese unheimlichen, leuchtenden blauen Augen! In denen lag so etwas von selbstlosem Fanatismus ... rücksichtslosem Einsetzen der eigenen Persönlichkeit ... ein: ‚Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen!‘ ... Es war Kaspar von der Zültz gar nicht wohl zumut unter dem Blick des alten Herrn. Sie sassen einander gegenüber. Er konnte keine Umschweife mehr machen. Er war ganz matt und kaputt. Er brach nach wenigen Sätzen los: „... und kurz und gut: Wenn ich nicht heute noch Zwanzigtausend Mark auftreib’, so werde ich einfach verhaftet ... vielleicht schon diese Nacht ...“

In dem hundertfach gefurchten Antlitz des alten Bornim regte sich nichts. Die Lampe beschien hell sein aufrechtstehendes, weisses Haar, den kampflustig gesträubten, schlohweissen Schnurrbart. Er rauchte. Er sprach kein Wort. Der andere sprang auf. Er lachte heiser.

„Herrgott — das ist ja grässlich, Exzellenz! ... Reden Sie doch wenigstens irgend einen Ton!“

„Ich weiss nichts, Herr von der Zültz!“

„Aber, was soll ich denn machen?“

Wieder keine Antwort.

„Ich soll mich totschiessen — meinen Sie? ... He?“

Schweigen.

Der Wendisch-Wiescher rang die Hände. Er flehte beinahe. Die Stimme überschlug sich ihm.

„Exzellenz ... Sie sind doch hier im Kreis sozusagen unser mahnendes Gewissen ... unser Vorkämpfer ... unser Vorbild ... Alles schaut mit Verehrung zu Ihnen auf ... Sie haben die höchsten Würden erreicht ... Sie kennen das Leben wie keiner ... Herrgott ... Sie sind doch ein Christ ...“

Das wirkte. Exzellenz von Bornim hob das Haupt.

„Ich bin ein alter Mann!“ sagte er. „Und das Leben hat mich gelehrt, dass man alle Leute retten kann, nur die Spieler nicht! ... Sie sind ein Spieler. Waren’s immer. Mein zweiter, der Lüdecke, der Kavallerist, jeut auch und wird einmal daran um die Ecke gehen. Das weiss ich jetzt schon ... Und was Sie betrifft: Sie wären in einem Jahr wieder gerade so weit wie jetzt, Herr von der Zültz, und das Geld wäre ins Wasser geworfen.“

„Und da soll ich nun so einfach, mir nichts, dir nichts, verloren sein — was? Keiner streckt die Hand aus, um mir zu helfen?“

„Seien Sie nicht ungerecht!“ sprach der alte Herr ernst. „Sie wissen genau: Es hat Ihnen jeder hier schon einmal geholfen. Ich selbst schon dreimal. Und es war immer umsonst. Und diesmal ist die Geschichte einfach schmuddelig ...“

Das Feuer in seinen blauen Augen verstärkte sich. Er stand auf und stampfte mit dem Fuss.

„Eine verfluchte Schmuddelei ist es, Herr von der Zültz! Das mit dem Holzverkauf. Das wollen wir doch einmal offen aussprechen. Da geh’ ich nicht mit. Das können Sie nicht verlangen. Es tut mir weh genug, dass so was möglich ist! Was soll ich denn im Reichstag sagen, wenn man mir solche faulen Sachen meiner Standesgenossen unter die Nase hält? ... Das Maul muss ich halten, wie ein dummer Junge! Ich schufte für uns alle, und Sie machen mir hier meine Arbeit zunichte! ... Wenn wir die Ersten im Lande Preussen sein wollen, Herr von der Zültz, dann müssen wir ’ne weisse Weste anhaben, so weiss, wie sie gerade von der Plättfrau kommt! Auch nicht ein Stäubchen drauf! ... Nee ... Nee ... da hab’ ich kein Mitleid mehr ... nee ... nee ... tut mir leid ...“

Der alte Herr ging ein paarmal stürmisch durch das Zimmer. Dann blieb er stehen.

„Wenn Ihnen mit dem Geld nach Amerika gedient ist, das können Sie haben! Auf der Stelle!“

„Herr von Bornim ...“

„Sie brauchen gar nicht aufzubrausen! Was faul ist, fällt vom Stamm. Mehr kann ich nicht tun. Soll ich das Geld holen?“

Kaspar von der Zültz fing an, nervös zu schluchzen. Er überragte die kleine Exzellenz vor ihm um zwei Haupteslängen. Aber er stand vor ihm wie vor einem Richter. Der alte Bornim sah ihn mit unverhohlenem Widerwillen an. Ein weinender Mann ... Pfui ... Plötzlich stiess der andere einen unartikulierten Ton aus, stürzte ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer, lief durch den Flur, sprang in den Wagen ... Wilke von Bornim sah im Dunkel des Hofs die beiden Laternen sich bewegen, die Pferde anziehen ... Wer lehnte denn da noch neben dem Unglücksmenschen auf dem Rücksitz? ... Ein halbwüchsiges Mädchen, den Kopf schlaftrunken vornübergesunken, friedlich schlummernd ... Ach so ... die kleine Ilse ... seine Tochter ...

Das Antlitz des alten von Bornim wurde noch ernster. Er ging hinüber in seinen grossen Arbeitsraum. Dort sah es nicht so aus wie sonst bei den Landjunkern. Wohl fehlten auch hier die Schriftstücke der Gutsverwaltung nicht, Holz- und Korn- und Lohntabellen, Abrechnungen mit der Dampfmolkerei, Spiritus- und Steuerkorrespondenzen, Briefe an das Kirchenpatronat und den selbständigen Gutsbezirk Sommerwerk, aber sie verschwanden neben den Aktenstössen, die den mächtigen Schreibtisch, die Stühle, den Fussboden bedeckten, die Regale an den Wänden füllten: die Drucksachen des Reichstags und des Herrenhauses, die Verhandlungen des Provinziallandtags und des Kreisausschusses, der General- und der Provinzialsynode, des Kriegervereins und des Johanniterordens, des patriotischen Wahlvereins und der Brandschätzungskommission, Schreiben von Parteifreunden aus nah und fern, Zeitungsnummern mit blau angestrichenen politischen Artikeln, Zuschriften aus den Ministerien ... Aus diesem niederen, von Tabakrauch durchzogenen, mit Rehgehörnen geschmückten Raum, von diesem unscheinbaren kleinen Herrn, der in ihm sass, strömte ein zäher, unbändiger Wille zur Macht hinaus über das Land, über Preussen und das Reich.