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In diesem vorletzten Band der ›Homo-Sacer‹-Reihe untersucht der weltweit bekannte und renommierte Philosoph Giorgio Agamben den Bürgerkrieg als politisches Paradigma. Zwei zentrale Momente der Geistesgeschichte stehen dabei im Mittelpunkt: Im ersten Teil widmet er sich dem griechischen Begriff der »stasis«, der die Spaltung der polis in rivalisierende, gewalttätige Gruppen bezeichnet, während er im zweiten Teil eine furiose Interpretation von Hobbes' ›Leviathan‹ und dessen berühmtem Frontispiz vorlegt, und zwar aus theologischer Perspektive. Eine spannende und wichtige Diskussion eines Begriffs, der sich für das politische, philosophische und juridische Denken als zentral erweist.
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Seitenzahl: 81
Giorgio Agamben
Stasis
Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma
Aus dem Italienischen von Michael Hack
FISCHER E-Books
Die beiden hier veröffentlichten Texte geben, mit einigen Abweichungen und Zusätzen, zwei Seminare zum Bürgerkrieg wieder, die im Oktober 2001 an der Princeton University gehalten wurden. Die Leser sollen beurteilen, inwiefern die hier dargelegten Gedanken – die den Bürgerkrieg im Westen als grundlegende Schwelle der Politisierung und die »ademie«, also die Abwesenheit eines Volks, als tragendes Element des modernen Staates fassen – noch aktuell sind, oder ob unser Eintreten in einen Zustand des globalen Bürgerkriegs ihre Bedeutung grundlegend verändert hat.
1. Es herrscht heute allgemein Einvernehmen darüber, dass es an einer Theorie des Bürgerkriegs fehlt, ohne dass diese Lücke Juristen oder Politologen in besonderem Maß zu besorgen scheint. Roman Schnur, der diese Diagnose schon in den 1980er Jahren formulierte, setzte jedoch hinzu, dass diese Nichtbeachtung des Bürgerkriegs einhergeht mit der Entwicklung zum Weltbürgerkrieg (Schnur, S. 144f.). Auch dreißig Jahre später hat diese Bemerkung nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Während es heute unmöglich scheint, Kriege zwischen Staaten und Bürgerkriege voneinander zu unterscheiden, weichen die zuständigen Gelehrten weiterhin noch dem Ansatz einer Theorie des Bürgerkriegs aus. Zugegebenermaßen gab es in den letzten Jahren, vor allem in den USA, angesichts einer steigenden Zahl von Kriegen, die sich nicht mehr als international definieren ließen, eine Flut von Veröffentlichungen zu den sogenannten internal wars; aber auch hier richtete sich die Analyse nicht auf ein Verständnis des Phänomens, sondern eher auf die Bedingungen für die immer geläufigeren internationalen Interventionen. Die Ausrichtung auf den Konsens, die heute gleichermaßen die politische Theorie und Praxis dominiert, scheint inkompatibel mit der ernsthaften Erforschung eines Phänomens, das ebenso alt ist wie die westliche Demokratie.
Es gibt heute ebenso eine »Polemologie«, eine Theorie des Kriegs, wie eine »Irenologie«, eine Theorie des Friedens, aber es fehlt an einer »Stasiologie«, einer Theorie des Bürgerkriegs. Wir haben schon erwähnt, dass es, Schnur zufolge, eine Verbindung zwischen diesem Mangel und dem Fortschreiten des Weltbürgerkriegs geben könnte. Der Begriff des Weltbürgerkriegs wurde 1963 gleichzeitig von Hannah Arendt in ihrem Buch Über die Revolution (in dem der Zweite Weltkrieg definiert wird als »eine Art Bürgerkrieg, der die ganze Welt in Mitleidenschaft zieht«: Arendt, S. 18) und von Carl Schmitt in seiner Theorie des Partisanen eingeführt, einem Buch also, das sich derjenigen Figur widmet, die das Ende des Kriegs gemäß Jus Publicum Europaeum markiert, das eine klare Unterscheidbarkeit zwischen Krieg und Frieden, Militärs und Zivilisten, Feinden und Kriminellen voraussetzt. Unabhängig davon, wo man den Beginn dieser Entwicklung verorten will, muss man doch feststellen, dass der Kriegszustand im traditionellen Sinne heute fast vollständig verschwunden ist. Auch der Golfkrieg – also der letzte Konflikt, der noch den Anschein eines zwischenstaatlichen Krieges hatte – wurde ohne eine formale Kriegserklärung der beteiligten Staaten geführt (was für einige von ihnen, wie im Falle Italiens, der geltenden Verfassung widersprach). Einige Gelehrte haben angesichts der Ausbreitung einer Art von Krieg, den man nicht als internationalen Konflikt definieren konnte, der aber auch nicht die herkömmlichen Eigenschaften eines Bürgerkriegs aufwies, den Begriff der uncivil wars eingeführt, die im Gegensatz zum Bürgerkrieg nicht auf die Veränderung des politischen Systems zu zielen scheinen, sondern auf die Erzeugung größtmöglicher Unruhe (Snow, passim). Die Arbeit der Gelehrten zu diesen Kriegen in den neunziger Jahren konnte natürlich nicht zu einer Theorie des Bürgerkriegs führen, sondern nur zu einer Lehre vom management, also der Verwaltung, der Manipulation und der Internationalisierung interner Konflikte.
2. Ein möglicher Grund für das Desinteresse am Bürgerkrieg liegt in der (zumindest bis zum Ende der siebziger Jahre) wachsenden Popularität des Revolutionsbegriffs, der häufig den des Bürgerkriegs ersetzt, ohne ihm jedoch jemals ganz zu entsprechen. Hannah Arendt selbst postuliert in ihrem Buch Über die Revolution deutlich die Verschiedenheit der beiden Phänomene. Revolutionen sind »die einzigen politischen Ereignisse, die uns inmitten der Geschichte direkt und unausweichlich mit einem Neubeginn konfrontieren … Moderne Revolutionen haben kaum etwas gemein mit der mutatio rerum römischer Geschichte oder dem Bürgerzwist, den wir als stasis aus den griechischen Stadtstaaten kennen. Sie lassen sich nicht mit den platonischen Umschwüngen, den in den jeweiligen Staatsformen selbst angelegten metabolai, gleichsetzen, noch mit Polybius’ Kreislauf der Staatsformen, der politeiōn anakyklōsis, in die alle menschlichen Angelegenheiten gebannt bleiben kraft der ihnen innewohnenden Tendenz, im Extrem ihren eigenen Umbruch zu provozieren. Mit politischen Umschwüngen dieser Art und mit der Gewalt, die in ihnen zum Ausbruch kam, war das klassische Altertum nur zu vertraut; was ihm aber ganz fremd war, ist, … dass sich in solchen Umschwüngen jeweils etwas ganz Neues zeigt« (Arendt, S. 23f.). Auch wenn der Unterschied zwischen den beiden Begriffen im Grunde vermutlich rein nominell ist, so steht doch fest, dass die Verlagerung der Aufmerksamkeit hin zum Begriff der Revolution, der aus irgendwelchen Gründen selbst einer vorurteilsfreien Wissenschaftlerin wie Hannah Arendt respektabler erschien als der der stasis, zur Marginalisierung der Studien über den Bürgerkrieg beigetragen hat.
3. Es kann kein Ziel des vorliegenden Textes sein, eine Theorie des Bürgerkriegs zu entwickeln. Ich werde mich vielmehr darauf beschränken, deren Ausprägung im politischen Denken des Westens an zwei Momenten seiner Geschichte zu untersuchen: in den Zeugnissen der Philosophen und Historiker des klassischen Griechenland und im Denken von Hobbes. Diese beiden Beispiele sind nicht zufällig gewählt: Sie stehen, so meine These, für die beiden Seiten desselben politischen Paradigmas, das einerseits den Bürgerkrieg für eine Notwendigkeit hält und ihn andererseits notwendig ausschließt. Dass beide Seiten für das gleiche Paradigma stehen, bedeutet, dass die beiden entgegengesetzten Notwendigkeiten miteinander in einer geheimen Verbindung stehen, die wir im Folgenden genauer zu verstehen haben.
Eine Untersuchung des Problems des Bürgerkriegs – der stasis – im klassischen Griechenland kann schwerlich anderswo als bei den Schriften Nicole Loraux’ ihren Anfang nehmen. Sie hat der stasis eine Reihe von Artikeln und Essays gewidmet, die 1997 in dem Band La Cité divisée gesammelt wurden, von dem sie stets als mon livre par excellence sprach. Ebenso wie bei Künstlern gibt es auch im Leben von Wissenschaftlern Geheimnisse. So habe ich mir nie gänzlich erklären können, warum Loraux einen Aufsatz, den sie 1986 unter dem Titel La Guerre dans la famille für eine Konferenz in Rom verfasste, nicht in diesen Band aufgenommen hat, obwohl er vermutlich ihre wichtigste Untersuchung des Problems der stasis darstellt. Dieser Umstand wird noch unverständlicher angesichts der Tatsache, dass sie ihn im gleichen Jahr in einem den guerres civiles gewidmeten Heft der Zeitschrift »Clio« veröffentlichte. Fast scheint es, sie sei sich bewusst gewesen – aber das wäre tatsächlich eine sehr ungewöhnliche Motivation –, dass die dort entwickelten Thesen in ihrer Originalität und Radikalität noch weit über die im Buch vorgebrachten – und schon sehr weitreichenden – hinausgingen. Unabhängig von dieser Frage werde ich versuchen, die Erkenntnisse dieses Aufsatzes zusammenzufassen, um danach – mit einem Ausdruck Feuerbachs – ihre Entwicklungsfähigkeit[1] auszuloten.
4. Vor Nicole Loraux hatten schon andere französische Gelehrte – ich möchte hier zumindest zwei Klassiker erwähnen, Gustave Glotz und Fustel de Coulanges, sowie den späteren Jean-Pierre Vernant – die Bedeutung der stasis in der griechischen polis betont. Die Neuerung im Ansatz von Loraux liegt darin, dass sie das Problem an seinem spezifischen locus untersucht, das heißt im Verhältnis zwischen oikos, der »Familie« bzw. dem »Heim«, und polis, der »Stadt«. »Die Angelegenheit«, so schreibt sie, »spielt sich zwischen drei Begriffen ab: der stasis, der Stadt und der Familie« (Loraux 1, S. 38). Diese Verortung des Bürgerkriegs bringt es mit sich, dass man die überkommene Topographie der Verhältnisse von Stadt und Familie von Grund auf neu ordnen muss. Dabei geht es nicht, wie es die geläufige Vorstellung will, um eine Überwindung der Familie durch die Stadt, des Privaten durch das Öffentliche, des Einzelnen durch das Allgemeine, sondern um eine widersprüchlichere und vielschichtigere Beziehung, die wir im Folgenden genauer verstehen wollen.
Loraux beginnt ihre Untersuchung an einer Stelle von Platons Menexenos, an der die Mehrdeutigkeit des Bürgerkriegs offen zutage tritt. »Unser einheimischer Krieg [oikeios polemos] wurde in einer Weise geführt, dass, wenn es einmal den Menschen verhängt sein soll, in einer Fehde zu leben, diese Krankheit in einer Stadt in anderer Gestalt sich entwickle. Denn wie freundlich und brüderlich mischten sich [ōs asmenōs kai oikeiōs allēlois synemeixan] die Bürger aus Piräus und der Stadt!« Schon das von Platon benutzte Verb (summeignymi) bedeutet sowohl »sich vermengen« als auch »sich ins Gemenge stürzen, kämpfen«, und auch der Ausdruck oikeios polemos selbst ist für ein griechisches Ohr ein Oxymoron: polemos bezeichnet nämlich den äußeren Krieg und bezieht sich, wie Platon in der Politeia (470 c) schreiben wird, auf das, was allotrion kai othneion ist, »ausländisch und fremd«, wohingegen für das, was oikeion kai syggenēs ist, »befreundet und verwandt«, stasis der angemessene Begriff ist. Loraux’ Interpretation dieser Stelle scheint anzudeuten, »die Athener hätten einen Bürgerkrieg einzig mit dem Ziel geführt, in einem freudigen Familienfest wieder zusammenzufinden« (Loraux 1, S. 22). Die Familie ist gleichermaßen Ursprung des Konflikts und der stasis wie Paradigma der Versöhnung (die Griechen, schreibt Platon, »kämpfen untereinander als solche, die sich wieder vertragen wollen«, Rep. 471a).
5. Die Vieldeutigkeit der stasis ergibt sich Loraux zufolge also aus der Vieldeutigkeit des oikos, mit dem sie wesensgleich ist. Der Bürgerkrieg ist stasis emphylos, ein Konflikt, der dem phylon, der Blutsverwandtschaft eignet: Er ist so eng mit der Familie verwachsen, dass ta emphylia (wörtlich: »die inneren Angelegenheiten des Stammes«) schlicht »Bürgerkriege« bedeutet. Loraux zufolge bezeichnet der Begriff »das blutige Verhältnis, das die Stadt, verstanden als Stamm, also in ihrer Abgeschlossenheit, mit sich selbst unterhält« (Loraux 1, S. 29). Zugleich und gerade weil sie der Ursprung der stasis