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Obwohl er fort ist, hört Muad’dib nie auf, uns zu prüfen
Paul Atreides, gleichermaßen als Gott verehrt und als Tyrann verhasst, ist nach dem Tod seiner Geliebten Chani in der Wüste verschwunden und hat die Herrschaft über das Imperium seiner jungen Schwester Alia überlasse. Doch an allen Ecken des Reiches brodelt der Geist der Rebellion gegen die grausame Herrschaft der Atreides. Alia will mit allen Mitteln die Doktrinen ihres Bruders durchsetzen und eröffnet eine gnadenlose Jagd auf die Rebellen. In diesem Klima von Verrat und Intrigen versucht Pauls Mutter, Lady Jessica herauszufinden, was hinter dem geheimnisvollen Verschwinden ihres Sohnes steckt. Sie kommt einer gigantischen Verschwörung auf die Spur und muss sich schließlich entscheiden, ob sie das Andenken ihres geliebten Sohnes zum Wohle des Wüstenplaneten opfern soll …
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Seitenzahl: 766
BRIAN HERBERT &
KEVIN J. ANDERSON
STÜRME DES
WÜSTENPLANETEN
Ein Roman aus dem Wüstenplanet-Zyklus
Paul Atreides, gleichermaßen als Gott verehrt wie als Tyrann verhasst, ist nach dem Tod seiner Geliebten Chani in den Weiten der Wüste verschwunden und hat die Herrschaft über sein Galaxien umspannendes Imperium seiner jungen Schwester Alia überlassen. Doch an allen Ecken des Reiches brodelt der Geist der Rebellion gegen die grausame Herrschaft der Atreides. Vor allem Bronso von Ix, einst Pauls bester Freund und Verbündeter, setzt alles daran, die Herrschaft der Atreides in den Grundfesten zu erschüttern. Alia schreckt vor nichts zurück, um die Doktrinen ihres Bruders durchzusetzen, und eröffnet eine gnadenlose Jagd auf die Rebellen. In diesem Klima von Verrat und Intrigen versucht Pauls Mutter, Lady Jessica, herauszufinden, was hinter dem geheimnisvollen Verschwinden ihres Sohnes steckt. Sie kommt einer gigantischen Verschwörung auf die Spur und muss sich schließlich entscheiden, ob sie das Andenken ihres geliebten Sohnes zum Wohle des Wüstenplaneten opfern soll …
Brian Herbert, der Sohn des 1986 verstorbenen WÜSTENPLANET-Schöpfers Frank Herbert, hat selbst SF-Romane verfasst, darunter den in Zusammenarbeit mit seinem Vater entstandenen »Mann zweier Welten«.
Kevin J. Anderson ist einer der meistgelesenen SF-Autoren unserer Zeit. Zuletzt ist von ihm die gefeierte »Saga der Sieben Sonnen« erschienen.
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Titel der Originalausgabe
THE WINDS OF DUNE
Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 2009 by Herbert Properties LLC
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Es ist nicht einfach, mit einem Autor verheiratet zu sein. In vielerlei Hinsicht ist es sogar schwieriger als die Arbeit des Schreibens selbst. Für ihre Opfer, ihre bedingungslose Liebe und Geduld ist dieses Buch, wie auch andere, unseren wunderbaren Frauen gewidmet:
JANET HERBERT
und
REBECCA MOESTA ANDERSON
Für die Fremen ist er der Messias;
Für die Besiegten ist er der Tyrann;
Für die Bene Gesserit ist er der Kwisatz Haderach;
Dennoch ist Paul mein Sohn und wird es immer sein,
ganz gleich, wie tief er fällt.
Lady Jessica, Herzogin von Caladan
Der Imperator Paul Muad'dib überlebte einen schweren Mordversuch, als ein Steinbrenner ihm das Augenlicht raubte. Trotz seiner Blindheit konnte er die Risse in seinem Imperium sehen, die politischen Spannungen und eitrigen Wunden, die seine Herrschaft zu zerreißen drohten.
Letztlich wusste er – ob nun durch Visionen oder Mentaten-Analysen –, dass diese Probleme unüberwindlich waren. Nachdem seine geliebte Chani im Kindbett gestorben war und seine neugeborenen Zwillinge keine Mutter hatten, kehrte Muad'dib der Menschheit und seinen Kindern den Rücken zu und ging in die Wüste, um seiner sechzehnjährigen Schwester Alia das Imperium zu überlassen. Damit kehrte er allem, was er in schwerer Arbeit erschaffen hatte, den Rücken zu.
Selbst der gründlichste Historiker wird nie den Grund dafür erkennen.
Bronso von Ix:
Historische Analyse: Muad'dib
Obwohl er fort ist, hört Muad'dib nie auf, uns zu prüfen. Wer sind wir, dass wir seine Entscheidungen anzweifeln? Wo auch immer er ist, im Leben oder im Tod, Muad'dib wacht weiter über sein Volk. Deshalb müssen wir ihn in unseren Gebeten um Führung bitten.
Prinzessin Irulan:
ERSTER TEIL
10.207 N.G.
Nach dem Sturz von Shaddam IV. währte die Herrschaft von Paul Muad'dib vierzehn Jahre. Er gründete seine neue Hauptstadt in Arrakeen auf dem heiligen Wüstenplaneten Arrakis. Obwohl Muad'dibs Djihad endlich vorbei ist, flackern immer wieder neue Konflikte auf.
In meinem Privatleben auf Caladan erreichen mich nur wenige Berichte über den Djihad meines Sohnes, nicht weil ich all das ignoriere, sondern weil ich nur selten den Wunsch verspüre, solche Neuigkeiten zu hören.
Lady Jessica, Herzogin von Caladan
Das außerplanmäßig eingetroffene Raumschiff hing im Orbit über Caladan. Es war ein ehemaliger Heighliner der Gilde, der als Transporter für den Djihad konfisziert worden war.
Ein kleiner Junge aus dem Fischerdorf, der auf der Burg als Page ausgebildet wurde und in seiner förmlichen Kleidung recht unbeholfen wirkte, kam in den Hofgarten gestürmt. »Es ist ein militärisch ausgerüstetes Schiff, Mylady«, platzte er heraus. »Mit voller Bewaffnung!«
Jessica, die neben einem Rosmarinstrauch kniete, schnitt duftende Zweige für die Küche ab. Hier in ihrem Privatgarten pflegte sie Blumen, Kräuter und Sträucher in einer perfekten Kombination aus Ordnung und Chaos, aus ästhetischer Flora und nützlichem Grün. In der friedlichen Stille kurz nach der Dämmerung arbeitete und meditierte Jessica hier gern, kümmerte sich um ihre Pflanzen und jätete das hartnäckige Unkraut, das die sorgfältig ausgewogene Balance zu stören versuchte.
Ohne sich durch die Panik des Jungen erschüttern zu lassen, atmete sie tief die aromatischen Öle ein, die durch ihre Berührung freigesetzt wurden. Dann erhob sie sich und klopfte sich den Schmutz von den Knien. »Hat das Schiff irgendeine Botschaft geschickt?«
»Nur dass man eine Gruppe von Abgesandten des Qizarats absetzen will, Mylady. Sie verlangen, Sie in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen.«
»Sie verlangen es?«
Der junge Mann erschrak vor ihrer Miene. »Ich bin mir sicher, dass sie es als Bitte gemeint haben, Mylady. Denn wie könnten sie es wagen, etwas von der Herzogin von Caladan und der Mutter von Muad'dib zu verlangen? Trotzdem muss es wichtige Neuigkeiten geben, wenn sie mit einem solchen Raumschiff kommen!« Der Junge wand sich wie ein Aal, der ans Ufer gespült worden war.
Jessica strich ihr Gewand glatt. »Zumindest bin ich mir sicher, dass der Abgesandte die Angelegenheit als wichtig betrachtet. Wahrscheinlich eine weitere Bitte an mich, die Zahl der Pilger zu erhöhen, denen gestattet wird, hierherzukommen.«
Caladan, seit mehr als zwanzig Generationen der Sitz des Hauses Atreides, war den Verheerungen des Djihads entgangen, hauptsächlich weil Jessica sich geweigert hatte, zu viele Fremde hereinströmen zu lassen. Die autarke Bevölkerung des Planeten zog es vor, unter sich zu bleiben. Ihren Herzog Leto hätten sie gern wieder willkommen geheißen, doch dieser war infolge Verrats auf höchster Ebene ermordet worden. Jetzt hatte das Volk stattdessen seinen Sohn Muad'dib, den Imperator des Bekannten Universums.
Trotz Jessicas großer Bemühungen ließ sich Caladan nie vollständig von den Stürmen isolieren, die draußen in der Galaxis tobten. Auch wenn Paul seiner Heimatwelt nur noch wenig Beachtung schenkte, war er hier getauft und aufgezogen worden. Deshalb konnten die Caladaner niemals dem Schatten entrinnen, den ihr Sohn warf.
Nach den vielen Jahren des Djihads hatte sich ein erschöpfter und verwundeter Frieden wie ein kalter Winternebel über das Imperium gelegt. Als Jessica nun den jungen Boten betrachtete, wurde ihr klar, dass er auf die Welt gekommen war, nachdem Paul zum Imperator geworden war. Er hatte nie etwas anderes kennengelernt als die Drohung des Djihads und die gewaltsameren Wesenszüge ihres Sohnes …
Sie verließ den Hofgarten und rief dem Jungen zu: »Hol Gurney Halleck. Er soll die Delegation an meiner Seite im Hauptsaal von Burg Caladan empfangen.«
Jessica tauschte ihre Gärtnerkleidung gegen ein meergrünes Staatsgewand aus. Sie hob ihr angegrautes bronzefarbenes Haar und legte eine Halskette mit dem goldenen Falkenwappen der Atreides an. Ganz bewusst beeilte sie sich nicht. Je mehr sie darüber nachdachte, desto neugieriger wurde sie, welche Nachrichten die Abgesandten zu überbringen hatten. Vielleicht war es doch keine banale Angelegenheit …
Im Hauptsaal wartete Gurney bereits auf sie. Er hatte seine Gazehunde rennen lassen, und sein Gesicht war immer noch von der Anstrengung gerötet. »Laut Bericht des Raumhafens ist der Abgesandte ein hochrangiger Angehöriger des Qizarats, der in Begleitung einer Heerschar von Bediensteten und Ehrenwachen von Arrakis kommt. Er sagt, er hätte eine Nachricht von größter Wichtigkeit zu überbringen.«
Sie täuschte Desinteresse vor, das sie nicht empfand. »Nach meiner Zählung ist dies die neunte angeblich dringende Nachricht seit dem Ende des Djihads vor zwei Jahren.«
»Dennoch fühlt es sich diesmal anders an, Mylady.«
Gurney war in Würde gealtert, obwohl er mit seiner Inkvine-Narbe und dem gehetzten Blick nie ein attraktiver Mann gewesen war und nie einer sein würde. Während seiner Jugend hatte er schwer unter der Unterdrückung durch die Harkonnens gelitten, doch in vielen Jahren tapferen Dienstes war er zu einem der wertvollsten Mitarbeiter des Hauses Atreides geworden.
Jessica ließ sich in dem Stuhl nieder, den einst ihr geliebter Herzog Leto benutzt hatte. Während Burgdiener umherflitzten und alles für den Abgesandten und sein Gefolge vorbereiteten, fragte der Leiter des Küchenpersonals nach den angemessenen Erfrischungen. Jessica antwortete in kühlem Tonfall: »Nur Wasser. Servieren Sie ihnen nur Wasser.«
»Sonst nichts, Mylady? Wäre das keine Beleidigung für derart bedeutende Persönlichkeiten?«
Gurney lachte leise. »Sie kommen vom Wüstenplaneten. Sie werden es als Ehre betrachten.«
Die Eichentüren des Burgfoyers schwangen auf, und eine feuchte Brise wehte herein, gefolgt von der Ehrenwache, die großen Aufruhr verursachte. Fünfzehn Männer, ehemalige Soldaten in Pauls Djihad, kamen mit grünen Bannern herein, die schwarz oder weiß verziert waren. Die Mitglieder dieses unbändigen Gefolges trugen nachgemachte Destillanzüge, als wären es Uniformen, obwohl Destillanzüge in der feuchten Luft von Caladan völlig überflüssig waren. Die Leute waren vom leichten Nieselregen, der draußen eingesetzt hatte, mit glitzernden Tröpfchen besetzt, was die Besucher als göttliches Zeichen zu interpretieren schienen.
Die erste Reihe des Gefolges rückte zur Seite, so dass ein Qizara, ein Djihad-Priester in gelbem Gewand, vortreten konnte. Der Priester schlug die feuchte Kapuze zurück und enthüllte einen kahlgeschorenen Schädel. Seine Augen, die durch Melange-Abhängigkeit völlig blau waren, schimmerten vor Ehrfurcht. »Ich bin Isbar, und ich mache der Mutter von Muad'dib meine Aufwartung.« Er verbeugte sich und sank immer tiefer, bis er auf dem Boden kniete.
»Das genügt. Jeder hier weiß, wer ich bin.«
Selbst als Isbar wieder aufstand, hielt er den Kopf gesenkt und den Blick abgewandt. »Da wir nun die Fülle des Wassers auf Caladan erleben durften, verstehen wir noch viel besser die Größe des Opfers, das Muad'dib gebracht hat, als er nach Arrakis kam, um die Fremen zu erretten.«
Die Schärfe in Jessicas Stimme zeigte deutlich, dass sie nicht den Wunsch verspürte, viel Zeit auf Zeremonien zu verwenden. »Sie haben einen weiten Weg hinter sich. Was ist diesmal so dringend?«
Isbar schien mit der Nachricht zu ringen, als wäre sie etwas Lebendes, und Jessica spürte die Tiefe seiner Furcht. Die Mitglieder der Ehrenwache blieben stumm wie Statuen.
»Raus damit, Mann!«, befahl Gurney.
Schließlich platzte es aus dem Priester hervor: »Muad'dib ist tot, Mylady. Ihr Sohn ist zu Shai-Hulud gegangen.«
Jessica fühlte sich, als hätte sie einen Schlag mit einem Knüppel erhalten.
Gurney stöhnte. »Oh nein. Nicht … nicht Paul!«
Es drängte Isbar, den Rest seiner Nachricht loszuwerden. »Der heilige Muad'dib verzichtete auf seine Herrschaft, um in die Wüste hinauszugehen und sich zwischen den Dünen zu verlieren.«
Jessica musste all ihre Fähigkeiten als Bene Gesserit aufbieten, um sich mit einer dicken Mauer zu umgeben und sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Die Abschottung ihrer Gefühle war so tief verwurzelt, dass sie automatisch geschah. Die Herzogin zwang sich, nicht laut aufzuschreien, und sprach mit ruhiger und gleichmäßiger Stimme. »Erzähl mir alles, Priester.«
Die Worte des Qizara brannten wie Sandkörnchen, die von einem rauen Wind herangeweht wurden. »Sie wissen von der jüngsten Intrige, hinter der Verräter aus den Reihen seiner eigenen Fedaykin stecken. Obwohl er durch einen Steinbrenner geblendet wurde, schaute der gesegnete Muad'dib die Welt mit göttlichen Augen, nicht mit den künstlichen Sehorganen der Tleilaxu, die er für seine verwundeten Soldaten kaufte.«
Ja, all das wusste Jessica. Aufgrund der gefährlichen Entscheidungen ihres Sohnes und durch die Rückwirkungen des Djihads hatte er stets in der sehr realen Gefahr geschwebt, einem Assassinenanschlag zum Opfer zu fallen. »Aber Paul hat die Intrige überlebt, durch die er das Augenlicht verlor. Gab es eine weitere?«
»Eine Fortsetzung genau dieser Verschwörung, Große Lady. Ein Steuermann der Gilde war darin verwickelt sowie die Ehrwürdige Mutter Gaius Helen Mohiam.« Nachträglich fügte er hinzu: »Auf Befehl der Imperialen Regentin Alia wurden inzwischen beide hingerichtet, gemeinsam mit Korba dem Panegyriker, dem Drahtzieher der Intrige gegen Ihren Sohn.«
Zu viele Fakten stürmten gleichzeitig auf sie ein. Mohiam hingerichtet? Diese Nachricht erschütterte sie zutiefst. Jessicas Verhältnis zu der alten Ehrwürdigen Mutter war turbulent gewesen, Liebe und Hass hatten sich wie Gezeiten abgewechselt.
Und Alia … war jetzt Regentin? Nicht Irulan? Natürlich, so war es am angemessensten. Aber wenn Alia herrschte … »Was ist mit Chani, der Geliebten meines Sohnes? Was ist mit Irulan, seiner Gattin?«
»Irulan wurde in Arrakeen inhaftiert, bis sich ihre Rolle bei der Verschwörung besser beurteilen lässt. Die Regentin hat befohlen, dass sie nicht wie die anderen hingerichtet werden soll, aber es ist allgemein bekannt, dass Irulan gemeinsame Sache mit den Verrätern gemacht hat.« Der Priester schluckte. »Und was Chani betrifft … sie hat die Geburt der Zwillinge nicht überlebt.«
»Zwillinge?« Jessica sprang vom Stuhl auf. »Ich habe Enkelkinder?«
»Einen Jungen und ein Mädchen. Pauls Kinder sind gesund und …«
Für einen gefährlichen Moment entglitt ihr die Kontrolle über die Fassade der Gelassenheit. »Und Sie haben nicht daran gedacht, mich unverzüglich darüber zu informieren?« Sie kämpfte darum, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. »Erzählen Sie mir alles, was ich wissen muss, ohne weitere Verzögerungen.«
Der Qizara hatte Schwierigkeiten, seine Geschichte im Griff zu behalten. »Sie wissen vom Ghola, den Muad'dib von den Tleilaxu und von der Gilde zum Geschenk erhalten hat? Es stellte sich heraus, dass er eine Waffe war, ein Mordwerkzeug, erschaffen aus der Leiche eines treuen Dieners der Atreides.«
Jessica hatte vom Ghola gehört, den man aus den Körperzellen des gestorbenen Duncan Idaho gezüchtet hatte, aber sie war immer davon ausgegangen, dass er so etwas wie ein exotischer Schauspieler oder Jongleur-Artist war.
»Hayt besaß das Aussehen und die Eigenarten von Duncan Idaho, aber nicht seine Erinnerungen«, fuhr der Priester fort. »Obwohl er darauf programmiert war, Muad'dib zu töten, erwachte schließlich seine ursprüngliche Persönlichkeit und besiegte die andere, und während dieser Krise wurde er wieder zum wahren Duncan Idaho. Nun berät er die Imperiale Regentin Alia.«
Im ersten Moment faszinierte sie diese Vorstellung – Duncan wiedererstanden und sich seiner selbst bewusst? –, doch dann konzentrierte sie sich auf die dringendere Frage. »Genug Abschweifungen, Isbar. Ich will mehr Einzelheiten über meinen Sohn wissen.«
Der Priester hielt den Kopf gesenkt, wodurch seine Stimme gedämpft klang. »Man sagt, Muad'dib hätte durch seine Visionen gewusst, welche Tragödien ihn heimsuchen würden, ohne irgendetwas tun zu können, um diese ›schreckliche Bestimmung‹, wie er es nannte, abzuwenden. Dieses Wissen hat ihn vernichtet. Manche sagen, dass er am Ende wahrhaftig blind war, ohne die Fähigkeit, in die Zukunft sehen zu können, und dass er dieses Leid nicht mehr ertragen konnte.« Der Qizara hielt inne, bevor er mit größerem Selbstvertrauen weitersprach. »Aber genauso wie viele andere auch glaube ich, dass Muad'dib wusste, dass seine Zeit gekommen war, dass er den Ruf Shai-Huluds hörte. Sein Geist ist immer noch in der Wüste, auf ewig mit dem Sand verwoben.«
Gurney kämpfte mit seinem Kummer und seiner Wut. Immer wieder ballte er die Hände zu Fäusten. »Und Sie alle haben ihn einfach so in die Dünen hinausspazieren lassen, allein und blind?«
»Das ist sogar genau das, was von blinden Fremen erwartet wird, Gurney«, sagte Jessica.
Isbar richtete sich auf. »Niemand ›lässt‹ Muad'dib irgendetwas tun, Gurney Halleck. Er kennt den Willen Gottes. Es steht uns nicht zu, seine Taten und Entscheidungen zu verstehen.«
Gurney wollte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. »Wurde nach ihm gesucht? Was haben Sie unternommen, um ihn ausfindig zu machen? Wurde seine Leiche geborgen?«
»Viele Thopter überflogen die Wüste, und viele Suchtrupps sondierten den Sand. Doch Muad'dib blieb spurlos verschwunden.« Isbar verbeugte sich ehrfürchtig.
Gurneys Augen schimmerten, als er sich wieder Jessica zuwandte. »Er kennt die Wüste gut genug, um überlebt haben zu können, Mylady. Paul könnte es geschafft haben.«
»Aber nicht, wenn er gar nicht überleben wollte.« Sie schüttelte den Kopf und bedachte dann den Priester mit einem strengen Blick. »Was ist mit Stilgar? Welche Rolle hat er bei alldem gespielt?«
»Stilgars Loyalität steht außer Frage. Die Bene-Gesserit-Hexe, Korba und der Navigator starben durch seine Hand. Er bleibt als Sprecher der Fremen auf Arrakis.«
Jessica versuchte, sich den Aufruhr vorzustellen, den diese Ereignisse im ganzen Imperium auslösen würden. »Und wann ist all das geschehen? Wann wurde Paul zuletzt gesehen?«
»Vor siebenundzwanzig Tagen«, sagte Isbar.
Gurney schrie empört auf. »Fast ein Monat! Bei den unendlichen Höllen! Warum haben Sie so lange gebraucht, um hierherzukommen?«
Der Priester wich erschrocken vor dem Zorn des Mannes zurück und stieß dabei gegen einige Mitglieder seines Gefolges. »Wir mussten die nötigen Vorbereitungen treffen und eine Delegation von angemessenem Rang zusammenstellen. Es war unumgänglich, ein hinreichend beeindruckendes Gildenschiff abzuordnen, um diese schreckliche Nachricht zu überbringen.«
Jessica kam sich vor, als würde sie einen Schlag nach dem anderen erhalten. Siebenundzwanzig Tage – und sie hatte die ganze Zeit nichts gewusst, nichts gespürt. Wie konnte der Tod ihres Sohnes so spurlos an ihr vorbeigegangen sein?
»Da ist noch eine Angelegenheit, die uns alle aufs Äußerste verstört, Mylady«, setzte Isbar hinzu. »Bronso von Ix verbreitet weiterhin seine Lügen und Ketzereien. Einmal wurde er gefangen genommen, während Muad'dib noch am Leben war, doch er konnte aus seiner Todeszelle entkommen. Jetzt fühlt er sich durch die Nachricht vom Tod Ihres Sohnes ermutigt. Seine blasphemischen Schriften beschmutzen das heilige Angedenken des Messias. Er verbreitet Traktate und Manifeste, in denen er versucht, Muad'dib seiner Größe zu berauben. Wir müssen ihm Einhalt gebieten, Mylady. Als Mutter des heiligen Imperators sollten Sie …«
Jessica schnitt ihm das Wort ab. »Mein Sohn ist tot, Isbar. Bronso bringt seine Schriften schon seit sieben Jahren unters Volk, und Sie waren bisher nicht in der Lage, ihn daran zu hindern. Damit erzählen Sie mir also nichts Neues. Ich habe keine Zeit für Banalitäten.« Unvermittelt erhob sie sich. »Die Audienz ist beendet.«
Ja, ich werde von Erinnerungen an meine Vergangenheit heimgesucht, aber nicht alle sind traurig. Es gab viele fröhliche Momente mit Paul Atreides – wohlgemerkt mit Paul, nicht mit Muad'dib. Wenn ich jetzt an diese Zeiten zurückdenke, fühlt es sich an, als wäre ich bei vielen festlichen Gelagen zu Gast gewesen.
Gurney Halleck:
»Erinnerungen und Geister«,
aus Unvollendete Lieder
Die Gazehunde witterten die Beute und schlugen an, und Gurney rannte mit ihnen. Die kühle Nachmittagsluft brannte in seinen Lungen, als er krachend durchs Unterholz stürmte. Unbewusst versuchte er, vor den schlechten Neuigkeiten davonzulaufen.
Die kräftigen Gazehunde hatten helle, goldgrüne Augen, die weit auseinanderstanden und es an Sehschärfe mit einem Adler aufnehmen konnten, und einen empfindlichen Geruchssinn. Geschützt durch ein dickes Fell in Rostrot und Grau sprangen sie durch brackige Tümpel oder dichtes Pampasgras und heulten dabei wie ein Chor, der ein atonales Werk aufführte. Alles, was sie taten, verriet ihre pure Freude an der Jagd.
Gurney liebte seine Hunde. Vor Jahren hatte er sechs andere Hunde gehabt, doch er hatte sie einschläfern lassen müssen, weil sie sich mit dem Blutfeuer-Virus infiziert hatten. Jessica hatte ihm diese Welpen gegeben, damit er sie aufziehen konnte, und er bemühte sich, nicht erneut in ein riskantes emotionales Verhältnis zu geraten, weil er sich noch gut daran erinnerte, wie schmerzhaft der Verlust seiner früheren Hunde gewesen war.
Doch diese alte Trauer war nichts im Vergleich zu dem, was er jetzt empfand. Paul Atreides, der junge Herr, war tot …
Gurney strauchelte und fiel immer weiter hinter die Hunde zurück. Schließlich blieb er stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und schloss für einen Moment die Augen. Dann rannte er weiter den bellenden Hunden hinterher. Eigentlich interessierte ihn die Jagd gar nicht, aber er hatte es nicht mehr in der Burg ausgehalten. Er wollte fort von Jessica und vor allem von Isbar und seinen Qizarat-Kollegen. Er durfte es nicht riskieren, vor den anderen die Beherrschung zu verlieren.
Die meiste Zeit seines Lebens hatte Gurney Halleck dem Haus Atreides gedient. Noch vor Pauls Geburt hatte er mitgeholfen, die Tleilaxu zu besiegen und den Anspruch des Hauses Vernius auf Ix zu bekräftigen. Später hatte er an Herzog Letos Seite im Assassinenkrieg gegen Graf Moritani gekämpft. Auf Arrakis hatte er versucht, die Atreides gegen den Verrat der Harkonnens zu schützen. Und in den Jahren des Djihads hatte er Paul treue Dienste geleistet, bis er sich aus dem aktiven Kampf zurückgezogen hatte und nach Caladan gekommen war. Er hätte wissen müssen, dass die Schwierigkeiten nicht vorbei waren.
Und jetzt war Paul tot. Der junge Herr war in die Wüste gegangen … allein und blind. Gurney war nicht für ihn da gewesen. Jetzt wünschte er sich, er wäre auf dem Wüstenplaneten geblieben, trotz seiner Abscheu vor den ständigen Gemetzeln. Es war so egoistisch von ihm gewesen, den Djihad und seine Pflichten im Stich zu lassen! Paul Atreides, Herzog Letos Sohn, hätte ihn bei diesem epischen Kampf gebraucht, und Gurney hatte ihm einfach den Rücken zugekehrt.
Wie kann ich diese Schande jemals vergessen?
Er sprang planschend durch feuchtes Sumpfgras, als er unvermittelt die Gazehunde einholte, die bellend und jaulend vor einem Sumpfhasen mit grauem Fell standen, der seinen borstigen Körper in einem Spalt unter einem moosbewachsenen Überhang aus Kalkstein verkeilt hatte. Die sieben Hunde warteten auf Gurney und ließen den verängstigten Hasen nicht aus den Augen. Sie kamen nicht an das Tier heran, aber es konnte ihnen auch nicht mehr entkommen.
Gurney zog seine Jagdpistole und tötete den Sumpfhasen mit einem schmerzlosen Schuss in den Kopf. Dann zog er den warmen, noch zuckenden Kadaver heraus. Die wohlerzogenen Gazehunde beobachteten ihn mit Topasaugen, die aufmerksam leuchteten. Gurney warf das Tier zu Boden, und als er das Zeichen gab, stürzten sich die Hunde auf die Beute. Sie schlugen die Zähne ins Fleisch, als hätten sie seit Tagen nichts gefressen. Schnell zupackende Raubtiere.
Die Erinnerung an ein blutiges Schlachtfeld des Djihads blitzte in Gurneys Geist auf, und er verscheuchte sie mit einem Blinzeln. Er verbannte diese Bilder zurück in die Vergangenheit, wo sie hingehörten.
Doch es gab noch andere Erinnerungen, die er nicht unterdrücken konnte, all das, was ihm fehlen würde, wenn Paul nicht mehr da war, und er spürte, wie seine Kriegerpersönlichkeit zusammenbrach. Paul, der eine so überragende, unersetzliche Rolle in seinem Leben gespielt hatte, war einfach in die weite Wüste entschwunden, wie ein Fremen-Krieger, der sich dem Zugriff der Harkonnens entzog. Diesmal würde Paul nicht mehr zurückkehren.
Als er beobachtete, wie die Gazehunde das Fleisch zerrissen, hatte Gurney das Gefühl, auch ihm würden Stücke aus dem Körper gerissen, die blutige, klaffende Wunden hinterließen.
Als sich in dieser Nacht Dunkelheit und Stille über Burg Caladan gelegt hatten, zogen sich die Bediensteten zurück, damit Jessica für sich trauern konnte. Doch sie fand keinen Schlaf, keinen Frieden in ihrem leeren, kalten Schlafgemach.
Sie fühlte sich aus der Bahn geworfen. Ihre Bene-Gesserit-Ausbildung hatte dafür gesorgt, dass ihre emotionalen Ventile nach langem Nichtgebrauch zugerostet waren, vor allem seit Letos Tod, nachdem sie Arrakis verlassen und hierher zurückgekehrt war.
Aber Paul war ihr Sohn!
Mit lautlosen Schritten glitt Jessica durch die Gänge der Burg bis zur Tür von Gurneys Privatzimmer. Dort hielt sie inne. Sie wollte mit jemandem reden. Mit Gurney konnte sie über ihren gemeinsamen Verlust sprechen und überlegen, was jetzt zu tun war, wie sie Alia helfen konnten, das ohnehin instabile Imperium zusammenzuhalten, bis Pauls Kinder erwachsen waren. Welche Zukunft konnten sie für diese Zwillingskinder vorbereiten? Die Stürme des Wüstenplaneten – sowohl die politischen als auch die meteorologischen – konnten einem Menschen das Fleisch von den Knochen schmirgeln.
Bevor sie an die schwere Tür klopfte, hörte Jessica zu ihrer Überraschung seltsame Geräusche aus dem Zimmer – wortlose, tierhafte Laute. Erschrocken wurde ihr klar, dass Gurney schluchzte. Allein auf seinem Zimmer ließ der stoische Troubadour-Krieger seinem Kummer mit beunruhigender Heftigkeit freien Lauf.
Noch viel mehr verstörte Jessica, dass ihre eigene Trauer nicht annähernd so tief oder unbeherrscht war. Sie war wie etwas Fernes, das weit außerhalb ihrer Reichweite lag. Der Klumpen in ihr fühlte sich hart und schwer an. Und taub. Sie wusste nicht, wie sie an die Gefühle herankam, die er umschloss. Diese Überlegung beunruhigte sie. Warum empfinde ich nicht genauso wie er?
Als sie Gurneys Schluchzen hörte, verspürte Jessica den Wunsch, hineinzugehen und ihn zu trösten, aber sie wusste, dass sie ihn damit beschämen würde. Der Troubadour-Krieger konnte nicht wollen, dass sie seine unverfälschten Emotionen sah. Das würde er als Schwäche betrachten. Also zog sie sich zurück und überließ ihn seiner privaten Trauer.
Während sie mit unsicheren Schritten zurückkehrte, erforschte Jessica ihr Inneres, stieß aber nur auf verhärtete Barrieren, die verhinderten, dass ihr Kummer nach außen gelangte. Paul war mein Sohn!
Der Anfang einer Regierungszeit oder auch einer Regentschaft ist eine kritische Phase. Bündnisse wandeln sich, und viele umkreisen den neuen Herrscher wie Aasvögel, auf der Suche nach seinen Schwächen. Speichellecker sagen dem Herrscher, was er hören möchte, und nicht, was er hören sollte. Der Anfang ist die Zeit für klare Verhältnisse und harte Entscheidungen, weil diese Entscheidungen die Tonart für die gesamte Regierungszeit festlegen.
St. Alia-von-den-Messern
Der Gesandte Shaddams IV. traf einen knappen Monat nach Pauls Verschwinden ein. Alia staunte, wie schnell der Corrino-Imperator im Exil reagiert hatte.
Da der Repräsentant so große Eile an den Tag gelegt hatte, war er nur oberflächlich mit der Situation vertraut. Der Mann wusste von der Geburt der Zwillinge, dass Chani im Kindbett gestorben war und dass Paul sich der sandigen Ödnis hingegeben hatte. Doch die vielen harten Entscheidungen, die Alia seitdem getroffen hatte, waren ihm nicht bekannt. Er wusste nicht, dass der Navigator Edric, die Ehrwürdige Mutter Mohiam und Korba der Panegyriker exekutiert worden waren. Der Gesandte wusste auch nicht, dass Shaddams Tochter Irulan in einer Todeszelle saß und ihr Schicksal vorläufig unentschieden war.
Alia beschloss, den Mann in einem inneren Zimmer mit Wänden aus dickem Plastein zu empfangen. Helle Leuchtgloben fluteten den Raum mit grellem gelbem Licht, das an die Beleuchtung in einem Verhörzimmer erinnerte. Sie hatte Duncan und Stilgar gebeten, sie zu flankieren. Die Oberfläche des langen Tischs aus blauem Obsidian erweckte den Anschein eines Fensters, durch das der Blick in die Tiefen eines fernen Ozeans fiel.
»Wir haben noch nicht einmal die Planung der Trauerfeier für Muad'dib abgeschlossen«, knurrte Stilgar, »und schon kommt dieser Lakai wie ein Geier, der von frischem Fleisch angelockt wird. Es sind noch nicht einmal offizielle Repräsentanten des Landsraads von Kaitain eingetroffen.«
»Es ist erst einen Monat her.« Alia rückte das Crysmesser zurecht, das sie jederzeit in einer Scheide an einer Schnur um den Hals bei sich trug. »Und der Landsraad hat noch nie schnell reagiert.«
»Ich verstehe nicht, warum Muad'dib diesen Haufen nicht einfach aufgelöst hat. Wozu brauchen wir die ganzen Sitzungen und Stellungnahmen?«
»Der Landsraad ist ein Überbleibsel der alten Verwaltung, Stilgar. Die Formen müssen gewahrt bleiben.« Sie selber hatte noch gar nicht entschieden, welche Rolle das Aristokratenparlament während ihrer Regentschaft spielen sollte – ob es überhaupt irgendeine Rolle spielen sollte. Paul hatte keine direkten Bemühungen unternommen, den Adel zu entmachten, ihn ansonsten aber weitestgehend ignoriert. »Die eigentliche Frage – in Anbetracht der Reisezeiten und der Tatsache, dass wir keine Nachricht nach Salusa Secundus geschickt haben – lautet: Wie konnte sich der Abgesandte so schnell hier einfinden? Schon in den ersten Tagen muss sich irgendein Spion eiligst auf den Weg gemacht haben. Wie hat Shaddam es geschafft, bereits einen Plan zu entwickeln – sofern es überhaupt ein Plan ist?«
Mit nachdenklich gerunzelter Stirn saß Duncan Idaho kerzengerade auf seinem Stuhl, als hätte er vergessen, wie man sich entspannte. Das dunkle, lockige Haar und das breite Gesicht des Mannes waren Alia doppelt vertraut, zum einen aus den Erinnerungen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, zum anderen aus ihren eigenen Erfahrungen mit dem Ghola namens Hayt, die das Bild des alten Duncan überlagerten. Seine künstlichen Metallaugen – ein irritierendes Element in seinem ansonsten menschlichen Gesicht – riefen ihr ständig den Ursprung dieses neuen Duncan ins Gedächtnis.
Die Tleilaxu hatten aus dem Ghola einen Mentaten gemacht, und nun setzte Duncan diese geistigen Fähigkeiten ein, um zu einer Einschätzung zu gelangen. »Die Schlussfolgerung ist offensichtlich. Irgendjemand im Umfeld der Corrinos – möglicherweise Graf Hasimir Fenring – war darauf vorbereitet, in Aktion zu treten, in der Annahme, dass der ursprünglich geplante Mordanschlag erfolgreich verlaufen würde. Die Verschwörung ist zwar gescheitert, aber Paul Atreides ist trotzdem nicht mehr präsent. Die Corrinos haben schnell reagiert, um das mutmaßliche Machtvakuum auszufüllen.«
»Shaddam wird versuchen, wieder auf den Thron zu gelangen. Wir hätten ihn töten sollen, als wir ihn nach der Schlacht von Arrakeen gefangen genommen haben«, sagte Stilgar. »Wir müssen bereit sein, wenn er in Aktion tritt.«
Alia schniefte. »Vielleicht beauftrage ich den Gesandten, Irulans Kopf zu ihrem Vater zu bringen. Eine solche Botschaft wäre unmissverständlich.« Aber sie wusste, dass Paul nie in die Hinrichtung Irulans eingewilligt hätte, trotz der eindeutigen, wenn auch nur nebensächlichen Rolle, die sie bei der Verschwörung gespielt hatte.
»Eine solche Tat hätte schwerwiegende und weitreichende Konsequenzen«, warnte Duncan.
»Du würdest davon abraten?«
Duncan hob die Brauen, so dass seine unheimlichen Augen deutlicher zu sehen waren. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Mir würde es große Befriedigung verschaffen, diesen hübschen imperialen Hals zu erdrosseln«, gab Stilgar zu. »Irulan war nie unsere Freundin, obwohl sie jetzt darauf besteht, Muad'dib wirklich geliebt zu haben. Vielleicht sagt sie das nur, um das Wasser ihres Körpers zu retten.«
Alia schüttelte den Kopf. »In diesem Punkt sagt sie die Wahrheit – Irulan stinkt geradezu danach. Sie hat meinen Bruder wirklich geliebt. Die Frage ist, ob wir sie als Werkzeug behalten, dessen Wert sich erst noch erweisen muss, oder ob wir sie für eine symbolische Geste verschwenden, die sich nicht mehr rückgängig machen ließe.«
»Vielleicht sollten wir noch warten und uns zunächst anhören, was der Gesandte zu sagen hat«, schlug Duncan vor.
Alia nickte. Dann führten ihre beeindruckenden Amazonenwachen einen statuenhaften und wichtigtuerischen Mann namens Rivato durch die gewundenen Gänge der Festungszitadelle in das hell erleuchtete Konferenzzimmer. Obwohl sie den direkten Weg gegangen waren, hatte die bloße Länge ihn völlig verwirrt. Die Wächterinnen schlossen ihn mit Alia und ihren zwei Begleitern in den dickwandigen Raum ein und postierten sich davor im staubigen Korridor.
Der salusanische Gesandte schaffte es mit Mühe, die Fassung zu wahren, und verbeugte sich tief. »Imperator Shaddam möchte angesichts des Todes von Paul Muad'dib Atreides sein Beileid zum Ausdruck bringen. Ja, sie waren Rivalen, aber Paul war auch sein Schwiegersohn, der seine älteste Tochter ehelichte.« Rivato blickte sich um. »Ich hatte gehofft, Prinzessin Irulan würde bei dieser Diskussion zugegen sein.«
»Sie ist anderweitig beschäftigt.« Alia dachte kurz darüber nach, diesen Mann in dieselbe Todeszelle werfen zu lassen. »Warum sind Sie hier?«
Sie hatten keinen leeren Stuhl auf die andere Seite des Tischs aus blauem Obsidian gestellt – ein absichtliches Versäumnis, das Rivato dazu zwang, das Verhör durch die drei anderen stehend über sich ergehen zu lassen. Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht und bereitete ihm sichtliches Unbehagen. Er verbeugte sich erneut, um die Verunsicherung zu kaschieren, die sich auf seiner Miene zeigte. »Der Imperator hat mich unverzüglich entsandt, als er von den Geschehnissen erfuhr, da nun dem gesamten Imperium eine schwere Krise droht.«
»Shaddam ist nicht der Imperator«, korrigierte Duncan ihn. »Unterlassen Sie es, ihn so zu bezeichnen.«
»Verzeihung. Da ich am Hof auf Salusa Secundus in seinen Diensten stehe, neige ich dazu, es zu vergessen.« Rivato sammelte sich und kam allmählich auf den Punkt. »Trotz der betrüblichen Ereignisse bietet sich uns nun die außergewöhnliche Gelegenheit, die Ordnung wiederherzustellen. Seit dem … Sturz von Shaddam IV. wurde das Imperium von großem Aufruhr und blutigen Konflikten erschüttert. Der Djihad wurde durch einen Mann mit großem Charisma angetrieben – das will niemand abstreiten –, aber nachdem Muad'dib nun nicht mehr ist, können wir dem Imperium die dringend benötigte Stabilität wiedergeben.«
Alia schnitt ihm das Wort ab. »Das Imperium wird sich unter meiner Regentschaft stabilisieren. Pauls Djihad wurde vor fast zwei Jahren beendet, und unsere Streitmacht ist schlagkräftig geblieben. Wir haben es mit immer weniger aufständischen Welten zu tun.«
Der Gesandte bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln. »Dennoch gibt es weiterhin einige Konflikte, zu deren Lösung erheblich mehr Diplomatie nötig wäre, wie man es formulieren könnte. Hier wäre das Haus Corrino in der Lage, durch wiederhergestellte Kontinuität die Wogen zu glätten.«
Alia bedachte ihn mit einem kalten Blick. »Muad'dib hat mit seiner Konkubine Chani zwei Kinder, die seine imperialen Erben sind. Die Thronfolge ist eindeutig. Wir haben keinen Bedarf an Corrinos mehr.«
Rivato hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Als er Prinzessin Irulan zur Frau nahm, erkannte Paul Muad'dib die Notwendigkeit an, Bindungen zum ehemaligen Imperialen Haus aufrechtzuerhalten. Die lange Tradition der Corrino-Herrschaft lässt sich bis zum Ende von Butlers Djihad zurückverfolgen. Wenn wir diese Bande stärken, wäre dem Wohl der gesamten Menschheit gedient.«
Sofort wurde Stilgars Misstrauen geweckt. »Wollen Sie damit andeuten, dass Muad'dibs Herrschaft nicht dem Wohl der Menschheit diente?«
»Äh, es liegt an den Historikern, das zu entscheiden, und ich bin kein Historiker.«
Duncan verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Und was genau sind Sie?«
»Ich bin jemand, der Lösungen für Probleme anbietet. Nach Beratung mit dem Padischah … ich meine, mit Shaddam, möchten wir Vorschläge unterbreiten, wie der Wechsel der Herrschaft vonstatten gehen könnte.«
»Zum Beispiel?«, hakte Alia nach.
»Eine Wiedervereinigung der Blutlinien, auf welche Weise auch immer, würde den Aufruhr beträchtlich verringern und Wunden verheilen lassen. Dazu gäbe es viele Möglichkeiten. Zum Beispiel könnten Sie, Lady Alia, Shaddam heiraten – natürlich nur nominell. Schließlich war auch allgemein bekannt, dass Prinzessin Irulan nur auf dem Papier Muad'dibs Ehegattin war. Also gibt es einen klaren Präzedenzfall.«
Alia sträubte sich. »Shaddams Ehefrauen hatten keine allzu hohe Lebenserwartung.«
»Das ist Vergangenheit. Nun ist er seit vielen Jahren unverheiratet.«
»Trotzdem ist dieses Angebot für die Regentin inakzeptabel.« In Duncans Stimme lag ein leicht eifersüchtiger Unterton, dachte Alia.
»Sagen Sie uns, welche anderen ehelichen Verbindungen Sie vorschlagen möchten«, meldete sich Stilgar wieder zu Wort, »damit wir auch darüber spotten können.«
Unbeirrt ging Rivato seine Alternativpläne durch. »Von Shaddams Töchtern haben drei überlebt – Wensicia, Chalice und Josifa –, und Muad'dib hat einen jungen Sohn. Also könnte der Atreides-Junge mit einem Corrino-Mädchen vermählt werden. Der Altersunterschied ist gar nicht so groß, vor allem in Anbetracht der geriatrischen Wirkungen der Melange.« Als er die skeptischen Mienen sah, fuhr Rivato hastig fort. »Andererseits könnte auch Farad'n, der Enkel des Imperators, mit der Tochter von Muad'dib verheiratet werden. Die beiden sind fast im gleichen Alter.«
Alia erhob sich, ein sechzehnjähriges Mädchen zwischen gestandenen Männern, und dennoch war sie offensichtlich diejenige, die die Macht innehatte. »Rivato, wir brauchen etwas Zeit, um über Ihre Worte nachzudenken.« Wenn sie ihn weiterreden ließ, würde sie vielleicht doch noch seine Hinrichtung anordnen, was sie anschließend möglicherweise bereute. »Ich muss mich um dringende Angelegenheiten kümmern, einschließlich des Staatsbegräbnisses für meinen Bruder.«
»Und um ein Fremen-Begräbnis für Chani«, fügte Stilgar leise hinzu.
Sie bedachte Rivato mit einem eiskalten Lächeln. »Kehren Sie nach Salusa zurück und warten Sie auf unsere Antwort. Sie können gehen.«
Mit einer eiligen Verbeugung zog sich der verwirrte Mann zurück, und die Amazonenwachen eskortierten ihn aus der Zitadelle. Sobald sich die Tür geschlossen hatte, sagte Duncan: »Seine Vorschläge sind keineswegs völlig wertlos.«
»Aha? Möchtest du, dass ich den alten Shaddam eheliche?« Der Ghola blieb ungerührt, und Alia fragte sich, ob er vielleicht doch nichts für sie empfand. Oder konnte er es nur gut verbergen? »Ich will nichts mehr von diesen dynastischen Absurditäten hören.« Mit einer schroffen Geste beendete sie die Diskussion. »Duncan, es gibt da eine ganz andere Sache, bei der ich deine Hilfe brauche.«
Am nächsten Tag lugte Alia durch ein verborgenes Spionauge in die Todeszelle. Prinzessin Irulan saß auf einer harten Bank, blickte ins Leere und ließ kein Anzeichen von Ungeduld erkennen. Ihre Haltung drückte eher Trauer als Furcht aus. Sie hat keine Angst um ihr Leben. Es war schwer zu glauben, dass sie wirklich um Paul trauerte, aber Alia wusste, dass es so war.
Von diesem Spiel gelangweilt verließ sie den Überwachungsbildschirm und wies eine der Qizarat-Wachen in den gelben Gewändern an, die Tür zu entriegeln. Als die Regentin eintrat, erhob sich Irulan. »Bist du gekommen, um mir meinen Hinrichtungstermin mitzuteilen? Wirst du mich schließlich doch töten?« Sie schien die Antwort eher mit Neugier als mit Furcht zu erwarten.
»Ich habe noch nicht über dein Schicksal entschieden.«
»Die Priester haben mich längst verurteilt, und das Volk schreit nach meinem Blut.«
»Aber ich bin die Imperiale Regentin, und ich treffe die Entscheidungen.« Alia sah sie mit einem leichten, geheimnisvollen Lächeln an. »Und ich bin noch nicht bereit, sie dir zu offenbaren.«
Mit einem schweren Seufzer setzte Irulan sich wieder. »Was willst du dann von mir? Weshalb bist du gekommen?«
Alia lächelte. »Ein Gesandter von Salusa Secundus war bei mir. Er hat empörende Vorschläge deines Vaters übermittelt, wie man durch Ehen mit dem Haus Corrino die meisten Probleme des Imperiums lösen könnte.«
»Ich selbst habe darüber nachgedacht, aber du hörst ja nicht mehr auf meinen Rat, trotz des Respekts, den du mir in jüngeren Jahren entgegengebracht hast«, sagte Irulan in gleichmäßigem Tonfall. »Welche Antwort hast du ihm gegeben?«
»Gestern Abend bestieg der Gesandte eine Fähre, die ihn zum Heighliner im Orbit zurückbringen sollte. Bedauerlicherweise erlitt diese Fähre einen unerklärlichen Triebwerkschaden und stürzte aus großer Höhe ab. Ich fürchte, es gab keine Überlebenden.« Alia schüttelte den Kopf. »Manche Leute vermuten Sabotage, und wir werden die Angelegenheit gründlich untersuchen lassen … sobald wir Zeit dafür haben.«
Irulan sah sie entsetzt an. »Hat Duncan Idaho die Triebwerke sabotiert? Oder Stilgar?«
Alia versuchte ihren unversöhnlichen Gesichtsausdruck zu wahren, der sich jedoch besänftigte, als sie sich daran erinnerte, wie nahe sie und die Prinzessin sich einmal gestanden hatten. Hier ging es nicht um Schwarz oder Weiß. Irulan war von einer Grauzone umgeben. »Nachdem mein Bruder von uns gegangen ist, werden Verschwörer und Usurpatoren aus allen Richtungen zu mir kommen. Ich muss meine Stärke und Tatkraft unter Beweis stellen, sonst wird alles verloren sein, was Muad'dib aufgebaut hat.«
»Aber was wirst du auf diesem Weg noch alles verlieren?«, fragte Irulan.
»Vielleicht dich, Prinzessin. Ein Fingerschnippen von mir würde genügen.«
»So? Und wer soll dann Pauls Kinder großziehen? Wer würde sie lieben?«
»In dieser Hinsicht ist Harah sehr kompetent.« Alia verließ die Todeszelle, die Qizarat-Wachen verriegelten die Tür, und die Prinzessin war wieder mit ihren unbeantworteten Fragen allein.
Kein Zeitgenosse kann den Wert der Taten meines Sohns einschätzen. Muad'dibs Vermächtnis lässt sich nur auf einer Skala beurteilen, die die Dauer eines Menschenlebens übersteigt. Die Zukunft trifft ihre eigenen Entscheidungen über die Vergangenheit.
Lady Jessica, Herzogin von Caladan
In dem Wissen, dass Alia es nun mit den turbulenten Nachwirkungen von Pauls Tod zu tun hatte, beschloss Jessica, nach Arrakis aufzubrechen. Sie wollte bei ihrer Tochter sein und ihr helfen, so gut sie konnte. Sie schickte eine offizielle Nachricht an den Qizara Isbar und teilte ihm mit, dass sie und Gurney Halleck beabsichtigten, Caladan so schnell wie möglich zu verlassen. Die Delegation des Priesters bemühte sich hektisch, ihren Wünschen zu entsprechen.
Das militärisch aufgerüstete Gildenschiff blieb in der Umlaufbahn, und Gurney bereitete alles für einen Flug mit einer luxuriösen alten Atreides-Fregatte vor, die in einem privaten Hangar am Raumhafen stand. Das reich verzierte Raumschiff war ein Arbeitspferd, das noch vom Alten Herzog Paulus in Dienst gestellt worden war, und Jessica erinnerte sich, dass Leto es für ihre erste Reise nach Arrakis benutzt hatte. Alles, was wir tun, trägt historischen Ballast mit sich, dachte sie.
Während Gurney dem Piloten knappe Anweisungen erteilte, erschien der unterwürfige Priester im leeren Hangar und verbeugte sich tief. »Die Besatzung des Heighliners steht zur Ihrer freien Verfügung, Mylady. In Muad'dibs Namen haben wir das Schiff bereits nach Caladan umgeleitet, damit wir Ihnen die traurige Nachricht überbringen können. Die Wünsche der verspäteten Passagiere sind nicht dringlicher als Ihre.«
»Passagiere? Ich war davon ausgegangen, dass es sich um ein Militärschiff unter dem Kommando des Qizarats handelt.«
»Nachdem der Djihad für beendet erklärt wurde, sind viele der militärisch genutzten Einheiten wieder als Passagierschiffe in Dienst gestellt worden. Wir haben den ersten verfügbaren Heighliner genommen, nachdem Regentin Alia mich anwies, Ihnen die Nachricht vom Tod Muad'dibs zu überbringen. Kann es eine Angelegenheit von größerer Wichtigkeit geben? All die anderen Menschen können warten.«
Gurney ließ ein schweres Stück Gepäck auf die Rampe der Fregatte fallen und murmelte dabei vor sich hin. Obwohl diese beiläufige Machtdemonstration sie nicht überraschte, beunruhigte es Jessica, dass Isbar einfach so ein komplettes Raumschiff mit vollem Frachtraum und jeder Menge Passagieren umleiten konnte. »Nun gut, dann wollen wir uns beeilen.«
Isbar trat näher, und Jessica sah das Flehen und die blinde Ehrfurcht in seinen Augen. »Darf ich mit Ihnen an Bord der Fregatte gehen, Mylady? Es gibt so viel, was ich von der Mutter Muad'dibs lernen könnte. Ich wäre Ihr andächtiger Schüler.«
Doch sie hatte keinen Bedarf an Speichelleckern. Sie wollte diesen Priester nicht als ihren Schüler, ob nun andächtig oder nicht. »Bitte reisen Sie in Gesellschaft Ihrer eigenen Delegation. Ich benötige Ruhe für meine Gebete.«
Enttäuscht antwortete Isbar mit einem ernsten Nicken und zog sich aus dem Hangar zurück. Er verbeugte sich immer noch, als Jessica und Gurney die Fregatte bestiegen. Hinter ihnen schloss sich das verzierte Schott. Gurney sagte: »Paul hätte nur Verachtung für diesen Mann übrig gehabt.«
»Isbar unterscheidet sich nicht von den anderen Priestern, die sich in Form einer Machtpyramide um Muad'dib herum angeordnet haben – und um sein Vermächtnis. Mein Sohn war ein Gefangener seines eigenen Mythos. Im Laufe der Jahre wurde mir – genauso wie ihm – bewusst, wie viel Kontrolle er bereits verloren hatte.«
»Wir haben uns selbst aus der Gleichung gestrichen, Mylady«, sagte Gurney und zitierte dann ein bekanntes Sprichwort: »›Jene, die lediglich aus dem Schatten zuschauen, können sich nicht über die Helligkeit der Sonne beklagen.‹ Vielleicht können wir jetzt einiges wiedergutmachen, wenn Alia es uns erlaubt.«
Auf dem Flug zum Heighliner versuchte Jessica sich zu entspannen, während Gurney sein Baliset hervorholte und leise darauf spielte. Sie befürchtete, dass er bereits eine Trauerhymne für Paul komponiert hatte, aber sie war noch nicht bereit, sie sich anzuhören. Zu ihrer Erleichterung spielte er lediglich eine vertraute Melodie, von der er wusste, dass sie zu ihren Lieblingsliedern gehörte.
Sie betrachtete sein zerklüftetes Gesicht, das gelichtete blonde Haar, das immer grauer wurde, und die auffällige Inkvine-Narbe. »Gurney, du weißt immer ganz genau, welches Stück du spielen solltest.«
»Reine Übungssache, Mylady.«
Nachdem sie im Laderaum des Heighliners angedockt hatten, verließen Jessica und Gurney den Luxus ihrer Fregatte und begaben sich in die allgemein zugänglichen Bereiche. In unauffälliger Kleidung zogen sie keine Aufmerksamkeit auf sich, als sie auf das Promenadendeck traten. Isbar hatte ihnen seine Version vom Tod Muad'dibs erzählt, und jetzt wollte Jessica hören, was die Menschen sagten.
Manche Passagiere verließen nie ihre Privatraumschiffe im großen Frachtraum, aber viele von denen, die sich auf einer längeren Reise mit vielen Zwischenstopps und Umwegen befanden, vertrieben sich auf den Gemeinschaftsdecks des Heighliners die Zeit und besuchten Restaurants, Bars und Geschäfte.
Jessica und Gurney überquerten die riesigen offenen Decks und betrachteten die Waren, die hier feilgeboten wurden und von den unterschiedlichsten Planeten stammten. Manche Verkäufer hatten bereits Stücke im Angebot, die an die Herrschaftszeit und den Tod Muad'dibs erinnerten, was sie bestürzte, worauf Gurney sie von den Auslagen wegzerrte. Er führte sie zu einer hell erleuchteten Gaststätte, die nur aus Plaz, Kristall und Chrom zu bestehen schien und mit lärmenden Gästen gefüllt war. An den Wänden waren Spirituosen in allen erdenklichen Farben aufgereiht, Spezialitäten von zahllosen Welten.
»Hier ist der beste Ort zum Lauschen«, sagte Gurney. »Wir werden uns einfach setzen und an den Gesprächen teilhaben.« Mit einem schwarzen Wein für Jessica und einem schäumenden, bitteren Bier für Gurney saßen sie sich gegenüber. Und hörten zu.
Das vagabundierende Volk der Waykus stellte an Bord aller Gildenschiffe das Verkaufspersonal. Es waren schweigsame, ungewöhnlich gleichartige Menschen, die für ihre sachliche Dienstbeflissenheit bekannt waren. Wayku-Kellner in dunklen Uniformen liefen fast unbemerkt zwischen den Gästen umher, um Tische abzuräumen und bestellte Getränke zu bringen.
Das Hauptthema der Gespräche war der Tod Muad'dibs. An den Tischen wurden leidenschaftliche Debatten darüber geführt, ob Jessicas Sohn ein Erlöser oder ein Ungeheuer gewesen war, ob die korrupte und dekadente Herrschaft der Corrinos der klaren, aber gewalttätigen Politik Paul Muad'dibs vorzuziehen war oder nicht.
Sie verstehen nicht, was er getan hat, dachte sie für sich. Sie werden niemals verstehen, warum er nur so und nicht anders entscheiden konnte.
An einem Tisch artete das Streitgespräch in Schreie und wüste Drohungen aus. Stühle wurden umgeworfen, und zwei Männer mit geröteten Gesichtern erhoben sich, um sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Einer warf ein Messer, worauf der andere einen Körperschild aktivierte. Der Kampf setzte sich fort, bis der Mann mit dem Schild nach einem langsamen Messerstich tot am Boden lag. Die Menge in der Bar hatte zugesehen, ohne irgendetwas dagegen zu unternehmen. Wenig später kamen Sicherheitskräfte der Gilde, um die Leiche fortzuschaffen und den verwirrten Mörder festzunehmen, der anscheinend gar nicht fassen konnte, wozu sein Zorn ihn getrieben hatte.
Während sich die anderen ganz auf die Auseinandersetzung konzentrierten, beobachtete Jessica, wie die Wayku-Kellner die Tische umkreisten. Sie bemerkte einen, der verstohlen bedruckte Blätter auf leere Tische legte und sich dann lautlos entfernte. Es geschah so beiläufig, dass es ihrer Aufmerksamkeit entgangen wäre, wenn sie nicht bewusst darauf geachtet hätte.
»Gurney.« Sie zeigte in die Richtung, und er schlich sich davon, um eine der Broschüren zu holen. Als er zurückkehrte, konnte sie einen Blick auf den Titel werfen: Die Wahrheit über Muad'dib.
Seine Miene verfinsterte sich. »Wieder eins von diesen skurrilen propagandistischen Pamphleten, Mylady.«
Jessica überflog die Seiten. Manche Behauptungen waren so absurd, dass man nur darüber lachen konnte. Andere jedoch nannten die Exzesse beim Namen, die Paul in seinem Djihad zugelassen hatte, und gingen auf die Korruption in Muad'dibs Verwaltung ein. Darin schien deutlich mehr Wahrheit zu stecken. Bronso von Ix machte schon seit Jahren derartige Probleme, und er war so gut bei dem, was er tat, dass er sich bereits einen legendären Ruf erworben hatte.
Jessica wusste, dass weder Pauls größte Kritiker noch seine eifrigsten Bewunderer ihren Sohn wirklich verstanden hatten. Hier in dieser Bar war soeben ein Mann getötet worden, weil er nicht von seinem Glauben abrücken wollte, weil er gedacht hatte, er hätte Pauls Motive und Intentionen begriffen. Muad'dibs Bestimmung war viel zu groß, seine Ziele waren viel zu komplex, subtil und langfristig geplant, als dass irgendjemand, Jessica eingeschlossen, sie jemals in ihrem gesamten Ausmaß erfassen konnte. Das hatte sie inzwischen akzeptiert.
Subakh ul kuhar, Muad'dib! Geht es dir gut? Bist du da draußen?
Fremen-Lied an den Wind und den Sand
Er brauchte die Wüste, den unermesslichen Ozean ohne Wasser, der den größten Teil des Planeten bedeckte. Er war zu lange in der Stadt gewesen, um sich mit Priestern und Vertretern des Landsraads um die Pläne für Muad'dibs Bestattung zu streiten. Nun war Stilgar völlig erschöpft. Und dann diese lärmenden Pilger von anderen Welten! Sie drängten sich überall und ließen ihm keinen Raum, wo er in Ruhe nachdenken konnte.
Nachdem der Gesandte Shaddams IV. dem tragischen Unfall zum Opfer gefallen war, hatte Stilgar sich entschieden, endlich nach Sietch Tabr aufzubrechen, um ins unverfälschte Fremen-Leben einzutauchen. Er hoffte, sich dadurch zu reinigen, so dass er sich wieder real fühlte, als Naib und nicht als Zierrat an Alias Hof. Er unternahm die Reise allein und ließ seine Frau Harah in der Zitadelle zurück, damit sie sich um die Atreides-Zwillinge kümmern konnte.
Im Sietch Tabr bemerkte er jedoch viele Veränderungen, die ihn enttäuschten. Sie waren wie Sandkörner, die langsam an einer Düne hinunterrieselten. Jedes einzelne Korn war viel zu klein, um überhaupt bemerkt zu werden, doch insgesamt bewirkten sie enorme Verschiebungen. Nach so vielen Jahren des Djihads hatten Einflüsse von Fremdwelten die Fremen buchstäblich verwässert. Sie führten ein leichteres Leben und mussten nicht mehr um die bloße Existenz in der Wüste kämpfen. Und mit dem Luxus kam die Schwäche. Stilgar erkannte die Anzeichen. Er hatte die Veränderungen beobachtet und wusste, dass der Sietch ihm nicht mehr die Reinheit bieten konnte, nach der er strebte. Schließlich blieb er nur für eine Nacht.
Am nächsten Morgen ging er in aller Frühe in die offene Wüste hinaus und ritt einen mächtigen Wurm. Als der Gigant ihn zum Schildwall und nach Arrakeen zurückbrachte, fragte er sich, ob die Mutter Muad'dibs zur Bestattungszeremonie ihres Sohnes kommen würde. Jessica war eine vollwertige Sayyadina, und Stilgar hatte das Gefühl, dass der Wüstenplanet einen Teil seiner Seele verloren hatte, als sie beschlossen hatte, zu ihrer Wasserwelt zurückzukehren. Es wäre gut, sie wiederzusehen, obwohl sie sich zweifellos verändert hatte.
Vorsichtshalber würde er seine besten Fedaykin in Arrakeen versammeln, wo sie die Mutter des Messias gemeinsam mit Alias Wachen empfangen konnten – falls sie tatsächlich nach Arrakis kam. Jessica hatte keinen Pomp und Prunk nötig, aber eine Leibwache konnte sie gut gebrauchen.
Stilgar empfand seinen einsamen Ritt durch die Wüste als belebend und reinigend. Als er hoch oben auf den graubraunen Segmenten des Sandwurms saß, lauschte er dem Zischen der Sandkörner, auf denen der riesige Körper schlängelnd dahinglitt. Der heiße Wüstenwind streichelte Stilgars Gesicht – ein Wind, der mühelos die Spur auslöschte, die der Wurm hinterließ, ein Wind, der die Wüste wieder wie unberührt machte. Diese Erfahrung gab ihm das Gefühl, wieder er selbst zu sein, nachdem er den Klopfer gesetzt, den Wurm mit Haken und Klammern bestiegen und das Ungeheuer seinem Willen unterworfen hatte.
Seitdem Muad'dib fortgegangen war, um sich seinem Schicksal zu stellen, behaupteten die abergläubischen Fremen und die Menschen der Ebenen und Senken, dass er sich mit Shai-Hulud vereinigt hatte – buchstäblich und spirituell. In manchen Dörfern stellten die Bewohner seit kurzem leere Töpfe auf Regale oder in die Fenster, als Symbol dafür, dass Muad'dibs Wasser nie gefunden worden war, dass er sich mit dem Sand vermischt hatte, mit der Gottheit Shai-Hulud …
Muad'dib war erst seit wenigen Stunden fort gewesen, als Stilgar von der süßen und trauernden Alia Befehle erhalten hatte, von denen er wusste, dass sie im Widerspruch zu Pauls Wünschen standen. Sie hatte sich die elementaren Glaubensvorstellungen des Naibs und sein Bedürfnis nach Rache zu Nutze gemacht, bis er sich selbst überzeugt hatte, dass der Gegensatz zu Muad'dibs Absichten lediglich ein Test war. Nach so viel Schmerz und Tod hatte Stilgar Blut an den Händen spüren wollen. Als Naib hatte er viele Männer getötet, und als Kämpfer in Muad'dibs Djihad hatte er ungezählte andere abgeschlachtet.
Daran hatte sich eine Nacht des Tötens angeschlossen, als die Einzelheiten der verwickelten Verschwörungen klarer wurden. Korba, ein tapferer Fedaykin, der zugelassen hatte, dass er innerhalb der Priesterschaft zu viel Bedeutung erlangte, war der Erste, der angeklagt wurde. Ein Rat aus Naibs der Fremen hatte ihn einstimmig schuldig gesprochen. Seine Hinrichtung durch Stilgars Hand war einfach, notwendig und blutig gewesen.
Aber Stilgar hatte noch nie zuvor einen Steuermann der Gilde getötet, genauso wenig wie eine Ehrwürdige Mutter der Bene Gesserit. Dennoch hatte er beides auf Alias Befehl hin ohne Zögern getan.
Der inhaftierte Navigator Edric hatte sich auf die Macht der Raumgilde berufen und sein Gewicht als offizieller Botschafter in die Waagschale geworfen, doch seine Unantastbarkeit gründete sich auf zivilisierte Rücksichtnahmen, die Stilgar nichts bedeuteten. Es war einfach gewesen, den Tank einzuschlagen. Als sich das Gewürzgas verflüchtigte und der Steuermann wie ein zerbrechliches Meeresgeschöpf, das an ein lebensfeindliches Ufer geschwemmt worden war, in sich zusammensackte, hatte Stilgar den gummiartigen Körper des Mutanten gepackt und ihm das knorpelige Genick gebrochen. Doch es hatte ihm keine Freude bereitet.
Die Bene-Gesserit-Hexe Mohiam war eine ganz andere Angelegenheit gewesen. Obwohl Stilgar ein großer Krieger der Fremen war, verfügte diese alte Frau über Fähigkeiten, die er nicht verstand, über furchterregende Möglichkeiten, die einen Angriff gegen ihre Person sehr schwierig machen konnten, hätte er nicht den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite gehabt. Es gelang ihm nur deshalb, sie zu töten, weil Mohiam einfach nicht glauben wollte, dass er sich tatsächlich über Pauls Befehl hinwegsetzte, ihr keinen Schaden zuzufügen.
Um seine Aufgabe zu erfüllen, hatte er einen geschickten Vorwand benutzt. Dadurch war es ihm möglich gewesen, sie zu knebeln, damit sie nicht die Macht der Stimme gegen ihn einsetzen konnte, worauf die alte Hexe sich geschlagen gegeben hatte. Hätte sie geahnt, dass ihr Lebensgefahr drohte, hätte sie erbitterten Widerstand geleistet. Stilgar hatte nicht gegen sie kämpfen, sondern sie nur hinrichten wollen.
Nachdem die alte Frau geknebelt und ihre Hände an den Stuhl gefesselt waren, hatte sich Stilgar vor sie gestellt. »Chani – die Tochter von Liet und die Geliebte von Muad'dib – ist gestorben, nachdem sie Zwillingskinder zur Welt gebracht hat.« Mohiams leuchtende Augen weiteten sich. Offensichtlich wollte sie etwas sagen, doch der Knebel in ihrem Mund hinderte sie daran. »Der Ghola Hayt hat seine Indoktrination überwunden und sich geweigert, Paul Muad'dib zu töten.« Der Gesichtsausdruck der Hexe war ein wilder Gewittersturm, als ihr die verschiedensten Gedanken durch den Kopf zuckten. »Dennoch hat Muad'dib sich Shai-Hulud hingegeben, wie es von einem blinden Fremen erwartet wird.«
Stilgar zog sein Crysmesser aus der Gürtelscheide. »Jetzt liegt es an mir, Gerechtigkeit walten zu lassen. Wir wissen von deiner Mitwirkung an der Verschwörung.« Nun kämpfte Mohiam gegen ihre Fesseln an. »Der Gildennavigator ist bereits tot und Korba ebenfalls. Prinzessin Irulan wurde in eine Todeszelle geworfen.«
Er hörte das Geräusch reißender Fesseln … vielleicht waren es auch brechende Handgelenkknochen. Jedenfalls gelang es Mohiam, eine Hand zu befreien. Sie fuhr zum Knebel hoch, doch Stilgars Crysmesser war schneller. Er stach es ihr in die Brust. Eine solche Wunde musste sofort töten, aber die Ehrwürdige Mutter bewegte sich weiter, zwang ihre Hand dazu, sich den Knebel aus dem Mund zu ziehen.
Stilgars Messer biss erneut zu. Es zerfetzte ihren Kehlkopf und schlitzte ihr den Hals auf, worauf die Hexe in sich zusammensackte. Er trat gegen den Stuhl und warf ihn mitsamt des toten Körpers um. Dann betrachtete er seine klebrigen Finger. Als er die milchweiße Klinge am dunklen Gewand der Ehrwürdigen Mutter abwischte, wurde ihm bewusst, dass das Blut der Hexe genauso aussah und roch wie das Blut jedes anderen Menschen …
Es waren nicht die einzigen Hinrichtungen gewesen, die Alia angeordnet hatte. Es war eine lange und schwere Nacht gewesen.
Als sich der große Wurm nun der Lücke näherte, die Pauls Atomwaffen in den Schildwall gesprengt hatten, sah Stilgar die Barriere aus wassergefüllten Qanats, die kein Wurm überwinden konnte – und schon gar nicht ein so erschöpfter wie dieser. Es war besser, das Tier hier auf dem offenen Sand freizulassen. Er hatte schon so viele Sandwürmer geritten und wieder ziehen lassen, dass er irgendwann aufgehört hatte, sie zu zählen. Für einen Fremen war es jedes Mal ein gefährliches Unterfangen, die heiligen Geschöpfe über die Dünen zu manövrieren, aber es war nichts, wovor man sich fürchten musste. Sofern man die korrekten Handgriffe beherrschte.
Kurz vor der Lücke setzte er den Wurm in Bewegung, ließ sich an den rauen Segmenten hinabgleiten und stürzte in den Sand. Dann erhob er sich und blieb reglos stehen, damit das Tier ihn nicht bemerkte. Sandwürmer hatten keine Augen; sie konnten nur Bewegungen und Vibrationen spüren.
Doch das Geschöpf hielt inne und wandte sich in seine Richtung. Normalerweise entfernte sich ein Wurm, sobald sein Reiter ihn freigelassen hatte, in die offene Wüste oder grub sich in den Sand, um in der Tiefe zu schmollen. Dieser jedoch blieb, wo er war, und bäumte sich bedrohlich auf. Er hob den gewaltigen Kopf, der immer noch dem winzigen Menschen zugewandt war. Das Maul war eine runde Höhle, in der es von kleinen kristallinen Messerzähnen wimmelte.
Stilgar erstarrte in der überwältigenden Gegenwart des Geschöpfes. Es wusste, dass er da war, und doch bewegte es sich nicht auf ihn zu, griff ihn nicht an. Mit leichtem Zittern musste der Naib an die geflüsterten Gerüchte denken, denen zufolge Muad'dib in der Wüste mit Shai-Hulud eins geworden war. Der augenlose Kopf des Sandwurms schien ihn auf unheimliche Weise anzublicken, ähnlich wie Muad'dib. Obwohl er blind war, hatte dieser große Mann Stilgar mit seiner Fähigkeit der Vision sehen können.
Er spürte einen kalten Schauder. Etwas war anders. Er atmete langsam und formulierte die Worte in seinen Gedanken, wobei kaum ein Laut über seine Lippen kam. »Muad'dib, bist du hier?«
Es kam ihm absurd vor, doch das Gefühl ließ sich nicht abschütteln. Jeden Augenblick konnte der Sandwurm niederfahren und ihn verschlingen, aber er tat es nicht.
Nach mehreren langen, eindrücklichen Sekunden wandte sich das gigantische Wesen ab und glitt über den Sand davon. Stilgar blieb noch eine Weile zitternd stehen. Er beobachtete, wie sich das Geschöpf entfernte und eingrub, bis kaum noch eine Sandwelle verriet, dass es hier gewesen war.
Mit einem ehrfürchtigen Kribbeln fragte sich Stilgar, was er eigentlich soeben erlebt hatte. Dann rannte er mit wohlgeübten Stolperschritten über die Dünen auf den Schildwall und die dahinter liegende große Stadt zu.
Für Überraschungen gilt die Regel, dass die meisten von ihnen nicht gut sind.
Anonym, von der Alten Erde
Jessica war sehr lange von der Wüste fort gewesen, von den Fremen und von der Denkart, die ganz Arrakis erfüllte. Den Wüstenplaneten. Sie nahm einen tiefen Atemzug und war fest davon überzeugt, dass sich die Luft in der Passagierkabine bereits trockener anfühlte.
Als sich die protzige Staatsfähre vom Orbit herabsenkte, blickte sie von oben auf die ausgedehnte Stadt jenseits des Raumhafens und entdeckte vertraute Landmarken Arrakeens, während ihr gleichzeitig große Bereiche auffielen, die neu erbaut waren. Die gewaltige Zitadelle des Muad'dib dominierte die Nordhälfte der Stadt, obwohl viele weitere Neubauten um einen Platz in der Skyline wetteiferten. Zahlreiche Regierungsgebäude drängten sich an beeindruckende Tempel, die zu Ehren von Muad'dib und sogar von Alia errichtet worden waren.
Mit ihrem Wissen über die Bene-Gesserit-Methoden zur Manipulation von Eindrücken und der Geschichtsschreibung sowie zur Steuerung großer Populationen erkannte Jessica genau, was Paul – oder genauer gesagt, seine Bürokratie – beabsichtigt hatte. Beim Herrschen ging es zu einem großen Teil darum, Wahrnehmungen und Stimmungen zu erzeugen. Vor langer Zeit hatten die Bene Gesserit hier auf Arrakis ihre Missionaria Protectiva lanciert, um Legenden zu säen und die Menschen auf einen Mythos vorzubereiten. Unter Paul Muad'dib war diese Saat aufgegangen, aber nicht auf die Art und Weise, wie die Schwesternschaft es sich erhofft hatte …
Die Fähre landete auf einer besonders ausgewiesenen Fläche, die für prominente Besucher vorgesehen war. Wirbelnde Sandwolken vor der Sichtluke versperrten Jessica die Sicht.
Als sich die Ausstiegsschotten öffneten, roch sie Staub in der Luft und hörte das Raunen einer wartenden Menge. Das Volk hatte sich bereits versammelt – ein Meer aus schmutzigen Roben und verhüllten Gesichtern. In Arrakeen war später Nachmittag, und die weiße Sonne warf lange Schatten. Jessica sah Hunderte von Menschen in braunen und grauen Wüstengewändern und dazwischen einige, die Stadtkleidung in verschiedenen Farben trugen.
Alle waren gekommen, um sie zu sehen. Jessica zögerte noch, die Fähre zu verlassen. »Ich war nicht darauf erpicht, hierher zurückzukehren, Gurney. Ganz und gar nicht.«
Er schwieg für längere Zeit, während er sich erfolglos bemühte, seine Gefühle zu verbergen, sein Unbehagen, vielleicht sogar seine Furcht, der klagenden Menge gegenüberzutreten. Schließlich sagte er: »Was ist dieser Planet ohne Paul? Er ist nicht mehr Arrakis.«
»Der Wüstenplanet, Gurney. Er wird immer der Wüstenplanet sein.«
Obwohl Jessica immer noch nicht trauern konnte, da diese Gefühle in ihr eingekapselt oder gefangen waren, spürte sie nun, wie ihre Augen feucht wurden, ein Brennen, das ein Hinweis auf die Befreiung war, die sie wollte und brauchte. Aber sie gestattete sich keine einzige Träne. Der Wüstenplanet erlaubte ihr nicht, den Toten ihr Wasser zu geben, nicht einmal ihrem Sohn. Außerdem riet die Schwesternschaft zur Unterdrückung von Emotionen, außer zum Zweck der Manipulation anderer. Also verboten ihr beide Philosophien – die der Fremen sowie die der Bene Gesserit –, ihre Tränen fließen zu lassen.